Millionen auf Eis - Susanne Toelcke - E-Book

Millionen auf Eis E-Book

Susanne Toelcke

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Beschreibung

Auf ihrem Flug nach San Francisco glaubt die Studentin Karen noch an das schnell verdiente große Geld. Schon bald ahnt sie, dass der geheime Job der Leihmutterschaft für eine prominente Frau sie in einen Strudel der Ereignisse hineinzieht, dessen Ausmaß sie erst begreift, als es Mordanschläge gibt. Nachdem ihr Freund Jan sie in Kalifornien aufgespürt hat und sie zu einer Erpressung der Prominenten überredet, wachsen ihnen die Ereignisse über den Kopf, und sie ahnen auf der Flucht von Kalifornien nach Hamburg, dass Karen offenbar einem milliardenschweren Erben zum Leben verhelfen soll. Doch das will jemand unbedingt verhindern...

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Seitenzahl: 476

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Susanne Toelcke

Millionen auf Eis

Kriminalroman

Copyright: © 2015 Susanne Toelcke

Satz: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Kapitel

Als die Triebwerke der Boeing 747 aufheulen, lehnt sich Karen aufatmend in ihrem Sitz zurück, ganz so, als könne sie die Aufregungen der letzten Wochen damit hinter sich lassen.

Dabei soll das Abenteuer mit diesem Flug erst beginnen. Dies hier ist doch der eigentliche Start in ihr neues Leben. Zum ersten Mal wird sie den Atlantik überqueren, mehr noch: von der Ostküste zur Westküste auch den nordamerikanischen Kontinent, um dann in Kalifornien in eine neue Welt katapultiert zu werden. Die der Schönen und Reichen, die sie bisher auf den Glanzseiten der Illustrierten gesehen hat. Das Haus, in dem sie die nächsten Monate verbringen wird, hat sie auf Fotos gesehen. Die junge Frau weiß, dass die Wirklichkeit es noch übertreffen wird. Sie ist sich sicher, das große Los gezogen zu haben mit diesem Job, den sie mit links erledigen wird. Zweihunderttausend Euro innerhalb eines Jahres! Wer verdient schon soviel? Nach Abschluss ihres Studiums würde sie dafür wohl einige Jährchen brauchen, vorausgesetzt, sie bekäme eine Stellung. Und das war keineswegs sicher. Gewiss, sie konnte ganz gut zeichnen, hatte hier und da recht originelle Ideen, die ihr schließlich zu einem Studienplatz verholfen hatten, aber begabte Leute gab es viele, und die ausgebildeten Designer gaben sich mit ihren Mappen unterm Arm bei der Arbeitssuche die Klinken in die Hand.

Wenn sie an das viele Geld denkt, das bald ihrem sich chronisch im Minus befindlichen Konto eine bedeutsame Schwere verleihen würde, durchströmt sie ein Gefühl der Erleichterung, und sie könnte schreien vor Glück, dass sie unter so vielen Bewerberinnen ausgesucht worden war. Von ihrem eigenen Aufseufzen wird sie aus ihren Gedanken gerissen, und sie schaut auf die Hand ihres Sitznachbarn, die sich beruhigend auf ihren Arm legt.

»Haben Sie doch keine Angst, junge Frau, wir müssen ja alle mal sterben.«

Wenig belustigt schaut Karen in das wabbelige Gesicht, aus dem dieser seltsame Satz kam, und in dem man die Augen erst auf den zweiten Blick erkennt, so tief eingebettet liegen sie zwischen Wülsten und Fleischpolstern, die jedoch das Grinsen des Mannes in speckigen Falten wie auf einem Tablett servieren.

Ablehnend schüttelt sie den Kopf und zieht ihren Arm unter seiner Hand weg.

»Lassen Sie nur, ich habe keine Angst«, entgegnet sie und lehnt ihre Stirn gegen das kühle Fensterglas. Gerade noch rechtzeitig, um sehen zu können, wie die Boeing in rasender Fahrt das Ende der Piste erreicht, mit ihrer gewaltigen Kraft und einem deutlichen Ruck vom Boden abhebt, schnell an Höhe gewinnt und sich in einer scharfen Rechtskurve den Wolken entgegen schiebt. Sie sitzt in dem Flieger, dessen Start sie vor Wochen noch am Flughafen beobachtet hat. Sie erinnert sich deutlich an ihr Misstrauen, das dann der Bewunderung gewichen war, als der Koloss, der sich mit ächzendem Brummen so schwerfällig in Bewegung setzte, ganz am Ende der Startbahn, dort wo schon der Wald begann, dann doch in die Lüfte emporhob und Sekunden später tatsächlich einem Vogel glich, als er in den Wolken verschwand. Nun sitzt sie selbst drin in diesem Vogel und lässt den Flughafen und die Stadt hinter sich.

Sie sieht die Vorortsiedlungen weit unten in artige Quadrate aufgeteilt, durchsetzt von Bäumen, die noch nicht ihr volles Grün ausgebildet haben. Menschen erkennt sie in dieser Höhe bereits nicht mehr, jedoch noch die Autos und einen Zug, der in raschem Tempo in einen Wald einfährt, gerade so wie die Boeing soeben in die Wolkenschicht eintaucht, die Frankfurt an diesem Tage überzieht.

Sie schließt die Augen und lässt sich vom Gemurmel des Piloten über Flughöhe und Route in einen ersten Schlaf hineintragen, während sie sich von Deutschland nicht nur äußerlich entfernt. Mindestens für ein Jahr wird sie nicht zurückkehren, vielleicht auch für länger. Wer will das schon wissen, bei all dem aufregend Neuen, dem sie entgegenfliegt. Ihre Atemzüge sind bereits tief und gleichmäßig, als der Dicke neben ihr Tomatensaft ordert.

Die vielen Flugstunden haben aus der zufällig zusammengewürfelten Menge der Passagiere eine Art Gemeinschaft gemacht, die sofort nach der Ankunft in San Francisco in alle Himmelsrichtungen zerfallen wird. Aber noch sitzt man brav beieinander, hört sich die eine oder andere Geschichte an, macht einander höflich Platz auf dem Gang zur Bordtoilette, begutachtet Einkäufe aus dem Duty-Free-Wagen der Stewardess. Geduldig hat Karen immer wieder dem Palaver ihres dicken Nachbarn zugehört, einem Vater auf dem Weg zu seinem Sohn, der es sicher in den Staaten weiter bringen wird als sein Vater im kleinen Deutschland. Aber der Tabakladen des Alten hat immerhin das Studium ermöglicht!

Karen hat einen bewundernden Gesichtsausdruck aufgelegt und dem unablässig redenden Dicken die Andeutung eines Lächelns geschenkt, während sie gleichzeitig erleichtert an ihre eigene Unabhängigkeit denkt. Niemandem war sie etwas schuldig. Sie war ihren Eltern zwar dankbar für die geruhsame Kindheit in Wald- und Seenähe, aber die Zwänge des ehemaligen DDR- Regimes wirkten noch weit in die nächste Generation hinein.

Inzwischen wohnt Karen in Hamburg aber bereits in ihrer kleinen Wohnung, die sie sich mit einer Mitstudentin teilt. Mit Bafög und dem Job in der Kneipe hält sie sich recht und schlecht über Wasser. Von den Eltern bekommt sie hier und da ein kleines Paket mit Nahrungsmitteln. Mehr ist nicht drin, bei der Mindestrente, die der Vater bezieht und dem kleinen Gehalt der Mutter. Mehr will Karen auch gar nicht, sie ist froh, nicht zu viel danke sagen zu müssen.

Und nun dieser Job! Dieses unglaubliche Glück, einen solchen Batzen Geld zu bekommen, das einem Sorglosigkeit für die nächsten langen Jahre garantierte! Und wer weiß, vielleicht könnte sie sich, wenn sie es geschickt anstellte, auch selbständig machen mit der Kohle. Mit einem kleinen Zeichenbüro, einer winzigen Agentur für winzige Geschäfte, die ja schließlich auch ein bisschen Werbung brauchen, konnte man doch anfangen. Sie müsste es nur in Ruhe angehen lassen können mit den Kunden, auch mal eine kleine Durststrecke überstehen. All das ist dann möglich mit dem Geld, das ihr bald gehören wird. Eine Kopie des Vertrages hat sie bei einem Notar hinterlegt. Wieder wallt dieses Glücksgefühl in ihr auf, und sie lächelt den Dicken neben sich daraufhin wirklich an.

»Nicht wahr, das finden Sie auch?« nimmt er ihre Reaktion dankbar auf. Sie nickt und überlässt sich weiter ihren Gedanken, während der Nachbar unablässig auf sie einredet.

Nach einem Zwischenstopp in Chicago rollt die Maschine wieder zur Startbahn. Interessiert nimmt Karen diesen Flughafen auf. In langen Schlangen schieben sich die bunten Flugzeuge der verschiedensten Airlines, darunter eine knallrote mit einem Apfel am Heck aus New York, mit brummenden Motoren zu den Startbahnen, und es geht Schlag auf Schlag nach allen Seiten in den wolkenlosen Himmel hinein. Gerade so, als zeichne ein Riese mit großen Strichen eine Tulpe in die Luft. Während sich die Boeing nun auf ihrer Startbahn in Position stellt, verfolgt Karen fassungslos, wie auf einer benachbarten Startbahn gerade eine Maschine abhebt, eine andere bereits dem Ende der Piste entgegen rast, während sich eine dritte schon wieder am Startbahnanfang in Stellung dreht.

Zeitgleich mit dieser Maschine schleicht auch die Boeing wieder los, um rasch an Fahrt zu gewinnen und sich dann zur letzten Etappe dieser Reise in den blauen Himmel zu schrauben. Gottlob in die entgegengesetzte Richtung als die der synchron Gestarteten. Schaudernd sieht Karen unter sich die nächsten Flugzeuge im Start die Pisten entlangrasen.

Mit einem Gefühl der Erleichterung, diesem Chaos entgangen zu sein, lehnt sie sich wieder in ihrem Sitz zurück.

Sie denkt an die Zugreisen ihrer Kindheit zu den Großeltern in die Ferien. Wenn sie mit nassgeschwitzten Händen ihre Kinderzeitung zum fünften Mal las, weil sie für ein Buch viel zu aufgeregt war. Schon die Station Wittenberg war so unendlich weit fort von ihrem Zuhause gewesen und sie eine Weltreisende von zehn Jahren allein im Zug. Unvorstellbare Entfernungen hatte sie damals bis zu dem kleinen Städtchen Wurzen zurückgelegt, wenn sie dann endlich dem Leipziger Hauptbahnhof entgegenfiebern konnte, der ja tatsächlich etwas Großstädtisches hatte mit seinen riesigen Hallen, in denen sie sich so verloren vorgekommen war, wenn sich der Zug laut schnaufend und mit kreischenden Bremsen da hineinschob, und sie dieses bis in die Eingeweide bohrende Gefühl überkam, ihr Großvater könne den Bahnsteig nicht gefunden haben und sie sei dann ganz allein in diesen Hallen, wo die Tauben weit oben unter dem Glasdach schon so winzig aussahen. Ganz wie sie selbst, wenn sie mit wackligen Beinen die hohen Stufen der alten Eisenbahnwagen herunter stakte, ihren kleinen Koffer fest umklammert. Plötzlich dann umwogt von Menschenmassen mit Gepäckbergen, die alle einem gemeinsamen Ziel entgegen zu strömen schienen, nur sie selbst nicht, sie war verloren in dieser Betriebsamkeit, die nicht zu ihr gehörte und sie aussortierte wie einen Fremdkörper, an dem sich die Vorübereilenden stießen und sie zum Taumeln brachten. Solange bis der Großvater mit seinem weißen Haar wie ein Leuchtturm auftauchte, die Menge mit seinem gewaltigen Leib teilte und ihre kleinen Finger in seiner Schaufelhand barg, um sie dann wie eine Puppe sanft hinter sich herzuziehen. Dann war er die Lok und sie sein kleiner Wagen. Er bestimmte die Richtung, und sie konnte beruhigt das bunte Treiben um sie her beobachten, das mit einem Schlage seine Bedrohlichkeit verloren hatte.

Niemals wieder hatte sie ein solches Gefühl der Sicherheit verspürt, mehr noch, in ihr verdichtete sich die Gewissheit, dass das unwiederbringlich in den Weiten der Kindheit verloren war.

Sie erinnert sich deutlich an das kleine graue Gesicht, das einmal zu dem stolzen Mann gehört hatte, und das sich dann viele Jahre später von der Krankheit gezeichnet in die weißen Kissen grub. Damals hatte sie zum ersten Mal gespürt, dass niemand sie auf irgendeinem Weg hinter sich herziehen könnte.

Das amerikanische Englisch des Piloten reißt Karen aus ihren Gedanken. Sie filtert heraus, dass die Maschine in wenigen Minuten zur Landung in San Francisco ansetzen wird. Sie schnallt sich an, während sie aus dem Fenster sehen kann, wie sich hinter der letzten Bergkette ein schier unendliches Häusermeer in die Hänge schmiegt, wie Glitzerndes ausgeschüttet aus einem Füllhorn. Das Flugzeug sackt tiefer dem Meer entgegen, das sich unter ihm ausbreitet, und auf dem eine bunte Menge von Booten und Surfern ihre Bahnen ziehen. Angesichts dieser märchenhaften Schönheit vergisst Karen zu schlucken, bis das Dröhnen in ihren Ohren unerträglich wird. Die Maschine hängt jetzt direkt über dem Wasser und reiht sich einige Etagen höher in das Heer der Surfer ein und tastet nach der Piste. Karen vergisst zu atmen. Da ist doch keine Landebahn! Unter ihnen ist Wasser – sie rasen schon darauf! Karen presst die Hände auf die Augen und spürt den Ruck, der durch die Maschine geht. Starr vor Angst wartet sie auf Sirenen und Menschenschreie. Als sie den Applaus der Passagiere hört, öffnet sie vorsichtig die Augen, sieht Flughafengebäude an sich vorüberziehen und das Meer, aus dem die Piste zu kommen scheint. Und da ist es plötzlich wieder, das wacklige Gefühl aus der Kindheit in ihren Beinen. Unsicher schraubt sie sich aus ihrem Sitz und hebt die Arme, um ihre Tasche aus dem Gepäckfach zu nehmen. Auch der Dicke fischt nach seinem Handgepäck. Höflich will er ihr den Vortritt lassen.

«Danke, lassen Sie nur«, wehrt sie ab. Soll er doch seine ebenso dicke Reisetasche zuerst da herauszerren. Sie hat keine Eile. Dagmar Assner wird hier am Flughafen auf sie warten. Da ist sich Karen ganz sicher und verspürt das leidige Gefühl in ihren Knien nicht mehr.

Dagmar Assner, diese elegante Frau, deren Stil und Weltgewandtheit Karen vom ersten Moment ihres Kennenlernens bewunderte und die mit der Entscheidung, die kleine Studentin aus den neuen Bundesländern für den Job zu nehmen, dem Selbstbewusstsein Karens einen entscheidenden Kick gegeben hatte. Stolz wirft sie den Kopf in den Nacken, lächelt dem Flugpersonal zu und betritt die Schleuse, um zum ersten Mal in ihrem Leben den Fuß auf amerikanischen Boden zu setzen.

Inmitten eines Pulks von Menschen, die aus verschiedenen Maschinen dem Ausgang entgegen strömen, bewegt sich Karen vorwärts, den Koffer schwer am Arm. Sie hat keinen dieser leichten Plastikdinger, die man an Rollen hinter sich herziehen kann. Bisher hatte es auf allen ihren Reisen stets der große Rucksack getan. Den Koffer hier, der nur das – wie es geheißen hatte – Nötigste beherbergen sollte, hat sie sich von der Mutter geborgt. Ein unauffälliges hellbraunes Etwas, in dem tatsächlich noch eine Menge unterzubringen gewesen war. Sie hatte doch eine ganze Reihe ihrer Sachen mitgenommen, auch wenn ihr versichert worden war, dass sie sich während ihres Aufenthaltes in den USA keine Sorgen um derartige Dinge zu machen brauchte. So vollständig wollte sie sich eben doch nicht dem ausliefern, das da auf sie zukam.

Karen sieht jetzt die Gasse, die sich vor dem Ausgang in die Halle gebildet hat, und aus der sich ständig jemand löst um mit lautem Geschrei, selten mal ganz still, einem der Ankommenden in die Arme zu fallen. Alles scheint ihr hier sehr viel lauter zu sein als in Deutschland, vielleicht aber ist es auch nur die Erschöpfung, die sie doch verspürt nach dem langen Flug.

Durch zwei sich Umarmende hindurch sieht Karen am Ende der Gasse Dagmar Assner stehen. Im gleichen Augenblick hebt die Frau die Hand mit einer gerollten Illustrierten und winkt Karen erfreut zu. Karen winkt zurück und schiebt sich durch die Menge der Ankommenden und Wartenden auf die Frau zu, die in ihrem cremefarbenen Kostüm eine Art Ruhepol in diesem Wirrwarr an Buntheit bildet.

»Wie schön, dass Sie da sind, Karen. Hatten Sie einen guten Flug?« Ein wärmender Blick trifft sie aus den hellgrauen Augen. Karen nickt. »Danke, ja, es war alles sehr aufregend.«

Das anfängliche Gefühl der Beklommenheit beginnt sofort zu weichen, als Dagmar Assner nach dem Koffer greift.

»Ich bitte Sie, Frau Assner, das kann ich doch selbst«.

»Nein, nein, lassen Sie nur, Sie haben einen anstrengenden Flug hinter sich, während ich hier schon freie Tage genießen konnte. Sie haben da einiges nachzuholen, Karen.«

Sanft aber bestimmt war der Koffer aus Karens Hand in der Dagmar Assners gelandet. »Hier, sie können gern die Zeitung tragen. Auch die haben ein ganz schönes Gewicht heutzutage.«

Karen lächelt die Frau an, die es in ihrer direkten Freundlichkeit wieder einmal geschafft hatte, dass kein Gefühl der Fremdheit zwischen ihnen aufkommen konnte.

»Hier entlang«, dirigiert Dagmar Assner, platziert mit einem schwungvollen Bogen den Koffer auf einem Rollwagen und füttert diesen mit einem Geldstück. »Dann wollen wir mal sehen, ob wir mein Auto wiederfinden, okay?«

Als Karen den riesigen Parkplatz vor sich auftauchen sieht, seufzt sie auf. »Ich würde es hier wohl niemals wiederfinden.«

Dagmar Assner lacht auf und schüttelt dabei ihr fuchsrotes Haar, das in großen weichen Wellen auf ihre Schulter fällt. Verschmitzt zwinkert sie Karen zu. «Keine Sorge, ich habe meine Tricks, und Ihnen werde ich ein paar verraten, Karen.«

Karen zwinkert zurück und folgt der Frau, deren Tricks sie ohne sich lange bitten zu lassen gern beherrschen würde, durch die Parkplatzreihen zu einem dunkelblauen Mercedes-Cabriolet.

Als sie nur wenig später auf den vielspurigen Highway einbiegen, ertönt ein leises Summen und wie von Geisterhand schiebt sich das Dach des Wagens zusammen, um dann mit einem Klicken hinter den Insassen im Inneren der Karosserie zu verschwinden. Karens Erstaunen über soviel technisches Raffinement wird förmlich weggeblasen vom Fahrtwind, der ihr augenblicklich um den Kopf weht.

»Wenn es Ihnen zieht, Karen, im Handschuhfach finden sie Kappe oder Tuch. Ganz wie Sie wollen.«

Karen öffnet das Handschuhfach. Sie wählt die Kappe, durch deren hintere Öffnung sie ihren Pferdeschwanz ziehen kann, woraufhin die Kopfbedeckung festen Halt bekommt. Keck schaut sie zur Fahrerin. »Na, wie sehe ich aus?«

»Wer sagt es denn? California life im Handumdrehen!« Jetzt lacht die rothaarige Frau ausgelassen wie ein Schulmädchen und das abendliche Licht verleiht nun auch ihrem Gesicht einen rötlichen Schimmer. Die Sommersprossen auf dem Nasenrücken und dieses fröhliche Lachen lassen die Mittvierzigerin wie eine der Kommilitoninnen Karens aussehen.

Sie freut sich, denkt Karen, und wieder ist da ein Anflug von Stolz, dass die Freude dieser tollen Frau etwas mit ihr, mit Karen, Studentin für Kunst und Design in Hamburg zu tun hat.

Karen atmet tief ein, legt den Arm auf die Tür und stützt ihren Kopf in die Hand. Sie genießt jetzt den warmen Wind, der ihr Gesicht umspielt, und der den Geruch des Meeres mit sich bringt. Die rötliche Abendsonne scheint zwischen riesigen Palmen hindurch und spiegelt sich wie ein Meer von Flammen in den Fenstern der Hochhäuser, die Karen auf sich zukommen sieht.

»You get it«, verkündet ein riesiges Werbeplakat rechts des Highways. »Yes«, denkt Karen und gibt sich dem Gefühl des Ankommens hin.

»Wir werden über die Golden Gate fahren.«

Karens Müdigkeit ist wie weggeblasen. »Tatsächlich?«

»Jeder, der nach San Francisco kommt, sollte sie gesehen haben. Wir nehmen ohnehin den Highway One über Santa Cruz .«

In Karen breitet sich ein Gefühl der Leichtigkeit aus, eine Art Schwebezustand, gleichsam als habe der Flug über den Teich noch nicht aufgehört, und sie würde die nächsten Monate immer so weiterfliegen von einem Ereignis zum nächsten. San Francisco musste die Stadt sein, die sie in ihren Träumen immer gesehen hatte, hier waren die Hochhäuser Paläste und alle Straßen endeten an Plätzen, auf denen die Menschen in fröhlichen Gruppen zusammenstanden, um sich die freundlichsten Dinge zu erzählen. Selbstverständlich lächelnd, denn Tränen gab es nicht im Paradies. Unwillkürlich lächelt auch Karen, als sie sich bei diesen Gedanken ertappt.

Das Auto nimmt eine Kurve und da erhebt sie sich auch schon majestätisch, die goldene Brücke, durch deren gewaltige Pfeiler man hindurchfährt, als passiere man das Tor zum Land der Riesen.

»Aber sie ist rot?«. Karen schüttelt erstaunt den Kopf.

»Natürlich«, entgegnet Dagmar Assner, »Rot ist doch die Farbe des Herzens.«

»Wenn Großmutter besonders gut zu uns sein wollte, nannte sie uns ‘Gold’.«, erinnert sich Karen.

»Sehen Sie, Karen, wie ähnlich die Menschen sich doch sein können«.

Unter ihnen breitet sich jetzt wieder der Pazifik aus, die weißen Schaumkronen der Wellen und die bunten Segel zum Schmuck angelegt. Karen sieht das zweite Tor der Brücke auf sich zukommen und die Skyline der Stadt hinter dem Meer. »Wahnsinn«, flüstert sie.

»Man kann sich nicht satt sehen. Mir geht es immer wieder so wie Ihnen«, antwortet Dagmar Assner.

Als die Dämmerung langsam hereinbricht, sind sie auf dem Highway One und haben San Francisco längst hinter sich gelassen. Die Straße schlängelt sich am Meer entlang und gibt den Blick frei auf die Steilküste, an die schäumend die Wellen branden.

Karen schmeckt das Salz des Wassers förmlich auf der Zunge.»Jetzt ein Bad, das wär’s!«

»Hier kämen wir kaum hinunter. Und die Steilküste ist mit dornigem Gestrüpp bewachsen«, entgegnet Dagmar Assner.

»Wie hoch wird sie sein?« fragt Karen.

»Vielleicht fünfzig Meter. Aber keine Sorge, Karen, Sie werden noch ausgiebige pazifische Bäder nehmen können. In der Gegend um Monterey haben wir schönste Strände.«

»Wahrscheinlich sind die Wellen heute auch zu hoch«, sagt Karen.

»Da können Sie sicher sein. Selbst dort, wo man Wellenreiter sieht, kann man als Gelegenheitsschwimmer oft nicht hinein. Es wäre selbstmörderisch. Dieser Ozean ist nicht umsonst der größte der Welt.«

Bewundernd schaut Karen die Steilküste entlang, diesen Wall, den das Land wie zum Schutz vor der Gewalt des Wassers vor sich aufgetürmt hat. Hier und da tupfen bereits Lichterpunkte in die aufziehende Dunkelheit.

Sie erreichen Santa Cruz. Scheinbar hat sich das Land bereits mit dem Wasser versöhnt, schiebt sich nur noch leicht hügelig ins Meer und lässt die Wellen sanfte Buchten graben.

Jedoch streift auch hier das Heulen des Windes, der von weit draußen kommen muss, wie eine stete Warnung über das Ufer.

Aus dem Autoradio klingt ein leicht melancholischer Sound. »This is your land …«, verspricht Bruce Springsteen, und Karen würde es gern glauben. Doch in all diesen Traum von einer Ankunft in einem völlig anderen Leben mischt sich plötzlich Furcht. Karen versucht die Gedanken wegzuschieben, setzt ihre Zuversicht, das vor ihr liegende Jahr zu packen und mit dickem Portemonnaie heimzukehren, dagegen. Sie ruft sich zurück, wie sie nach der Bestätigung Dagmar Assners, sie sei unter vielen ausgewählt worden, den ganzen Weg nach Hause gelaufen war, weil sie sich mit dieser Zuversicht, die sie da erfüllt hatte, in der S-Bahn wie ein Tiger im Käfig gefühlt hätte. Doch das Gefühl der Furcht lässt sich nicht verdrängen, und langsam keimt in Karen die Ahnung, dass sie eine Art Grenze vor sich hat, und nicht weiß, wie die Welt dahinter aussehen wird, ob es einen lebbaren Platz für sie darin gibt.

Als hätte Dagmar Assner in Karens Gedanken lesen können, streicht sie ihr leicht über die Hand, die in Karens Schoß liegt.

»Sie werden sich schnell heimisch hier fühlen. Die Amerikaner sind ganz nette Leute, glauben Sie mir.«

Karen will etwas entgegnen, aber der Kloß in ihrem Hals lässt es nicht zu. So nickt sie nur schnell und schaut angestrengt nach vorn, wo bereits die Lichter von Monterey auftauchen.

»Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen, Karen, es ist eines der schönsten Zimmer des Hauses.« Dagmar Assner lächelt Karen aufmunternd zu und wendet sich dann an das Mädchen, das ihnen mit dem Koffer gefolgt war. »Danke, Maria, stell den Koffer dort auf die Bank.« Das Mädchen mit den dunklen Augen und den noch dunkleren Haaren, die sie mit einem Haarreif streng nach hinten geschoben hat, nickt, und verlässt darauf den Raum. »Und ich werde Sie jetzt auch allein lassen. Wir sehen uns morgen zum Frühstück.«

Leise zieht sich Dagmar Assner zurück und wendet sich an der Tür noch einmal um. »Gute Nacht, Karen, schlafen Sie gut«.

»Danke, Frau Assner, Sie auch.« Und wie zur Bestätigung, die Unsicherheit hinter sich gelassen zu haben, richtet sich Karen sehr gerade auf und wendet sich noch einmal zur Tür.

»Frau Assner?«

»Ja?«

»Ich freue mich, dass ich hier bin.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Karen, dass Sie mir helfen werden.« Sehr zerbrechlich sieht sie auf einmal aus und die hellgrauen Augen, die dem Gesicht so oft diesen strahlenden Ausdruck verleihen, haben einen Anflug von Müdigkeit. Und fast so, als sei ein kleines Licht darin ausgegangen, heben sich jetzt die Falten um die Augen deutlich hervor.

Die Frauen nicken einander zu, und Dagmar Assner schließt leise die Tür. Karen steht noch für einige Sekunden mit dem Blick in diese Richtung, bevor sie sich langsam umdreht, um das Zimmer in Ruhe aufnehmen zu können.

Karens erster Blick beim Betreten des Raumes war auf die Fensterfront gefallen, und tatsächlich sind es die bis zum Boden reichenden Scheiben, die dem Zimmer sofort einen offenen Charakter verleihen. Dieser Eindruck wird noch unterstrichen durch die Helligkeit der Farben, vorherrschend weiß. So auch die Schränke an der einen Längsseite des Raumes, die vollständig in die Wand eingelassen sind und eher wie Zimmertüren auf Karen wirken. Sie öffnet mehrere davon und muss angesichts des Volumens, das sich da vor ihr auftut, unwillkürlich lachen. Welche Berge von Kleidung und Wäsche musste man besitzen, wenn man die füllen wollte? Vermutlich hätte schon ihr ganzer Koffer auf einem der Bretter bequem Platz. Karen wandert weiter in den Raum hinein und lässt sich rückwärts auf ein mehrsitziges, hell geblümtes Sofa fallen. Die weichen Kissen geben unter ihr nach und ein leises zischendes Geräusch ist zu vernehmen. »Mach mal halblang«, kichert Karen in die Kissen, »noch bin ich doch wohl ein Leichtgewicht. Wie wird das dann in fünf oder sechs Monaten klingen?« Sie seufzt und ihr Blick richtet sich an die Zimmerdecke, wo ein weißer Ventilator tonlos seine langsame Runde dreht. Karen lässt den Blick weiter wandern und wieder wird er angezogen von der alles bestimmenden Fensterfront, durch die Lichter von draußen dringen. Schnell springt Karen wieder auf und tritt an die Scheiben. Fast verschlägt es ihr den Atem, als sie von oben auf den mit Lampen umgebenen Swimmingpool schaut. Das Leuchten des hellblauen Wassers trotzt der Dunkelheit, wirft wa bernde Schatten auf die Pflanzen der Beete, die bis dicht an das Becken reichen. Über den Garten verteilt tauchen Lampen so weit man sehen kann alles in einen warmen Schein, und all diese Lichtpunkte vermischen sich mit denen, die vom Horizont herüber blinken. Karen zwinkert mit den Augen, als diese Punkte zu tanzen beginnen. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie todmüde ist. Kein Wunder, schließlich ist sie bereits vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, Klima-und Zeitumstellung inklusive. Suchend wendet sie sich wieder in den Raum. In einem Alkoven, durch ein Podest erhöht, entdeckt sie das Bett, das mit seiner einladenden Größe regelrecht nach ihr zu rufen scheint.

Sie fischt in ihrem Koffer nach der Tasche mit den Waschutensilien und begibt sich zu der Tür, hinter der sie das Badezimmer vermutet.

Richtig geraten, die Tür öffnet sich zu einem Nassbereich, der gut und gern eine fünfköpfige Familie zufriedenstellen würde. In einer Ecke eingelassen im Boden eine Wanne, in der sich auch die ganze Familie versammeln könnte. Ein Stück weiter eine Duschkabine und abgetrennt hinter einer kleinen halbhohen Kachelwand die Toilette. Karen huscht in die Dusche und genießt rasch, wie der Reisestaub von ihrem Körper wäscht.

Beim Zähneputzen überlegt Karen noch, dass ihr Hamburger Badezimmerchen hier wohl mehrere Male hineinpassen würde. Doch für derartige Überlegungen fehlt ihr eigentlich die Kraft, und so flüchtet sie sich zu dem Bett, das ihr in der vor ihr liegenden Zeit hoffentlich schöne Träume bescheren würde. Da das Bett in Fensternähe steht, schließt sie die Vorhänge auf dieser Seite des Raumes, gleitet unter die an einer Seite schon einladend aufgeschlagene Bettdecke und ebenso rasch in tiefen Schlaf.

2. Kapitel

Als Karen erwacht, ist es bereits heller Tag. Sie musste fest und traumlos geschlafen haben. Zumindest kann sie sich an keinen Traum erinnern. In der Gewissheit, dass dies ein gutes Vorzeichen sein musste, streckt sie sich kurz und laut gähnend, schlägt unternehmungslustig die Bettdecke zurück und hüpft aus dem Bett. Wieder wird sie magisch angezogen von der großen Glaswand, durch die helles Sonnenlicht ins Zimmer scheint. Und da durchzuckt es sie wieder, dieses Glücksgefühl, die nächsten vielen Monate in Kalifornien zu sein und den Grundstein für eine gesicherte Zukunft legen zu können. Schon durch das Glas spürt sie die Wärme der Sonne, als sie ans Fenster tritt. Wie eine grüne Oase breitet sich der Garten, in dem Palmen das Bild beherrschen, vor ihr aus. Am Pool, von dessen Wasser auch im Tageslicht ein Leuchten ausgeht, steht Dagmar Assner, tropfnass von ihrer morgendlichen Schwimmrunde. Während sie ihr Haar frottiert, schaut sie nach oben, und die Blicke der Frauen treffen sich. Mit den nassen roten Locken, die sich jetzt kleiner kräuseln, scheint sie ihr Winken zu untermalen. Jetzt macht sie eine Drehbewegung mit der Hand und deutet dabei immer zu ihr hinauf. Karen schaut suchend vor sich und entdeckt die Glastür, die sie öffnet, und durch die sie auf eine schmale Veranda treten kann, die sie am Abend gar nicht bemerkt hatte. Von der Veranda führt eine Treppe nach unten in den Garten.

»Kommen Sie, Karen, nehmen Sie jetzt Ihr Bad. Der Pazifik kann noch warten« Wieder winkt Dagmar Assner zu Karen hinauf, und ihr unternehmungslustiger Ton verfehlt seine Wirkung nicht.

»Bin gleich da«, ruft Karen und stürzt ins Zimmer zurück, ihren Badeanzug überzustreifen. Gibt es eine schönere Arbeit als eine, die wie Ferien ist, denkt sie noch, und springt vergnügt die Treppe hinunter, um sich auch gleich in das Becken gleiten zu lassen. Mit einigen kräftigen Schwimmstößen erreicht sie die Mitte, dreht sich auf den Rücken und lässt die Außenfront des Hauses auf sich wirken. Strahlend weiße Fassade, mächtige Glasfenster, so wie ihres also noch viele weitere; im unteren Bereich des Hauses eine riesige Terrasse mit weißen Korbmöbeln. Große geöffnete Glastüren, durch die der Blick ins Innere fällt. Sie entdeckt einen Außenkamin mit schweren Holzscheiten, die fein säuberlich daneben aufgeschichtet liegen. Überall auf der Terrasse auch große Grünpflanzen, vorwiegend Palmen in massigen Bottichen, dazwischen Figuren, eigenartige Tierskulpturen oder auch Phantasiegestalten. Karen hat Recht behalten. Dieses Haus übersteigt ihre Erwartungen, die es auf den Fotos, die sie in Hamburg gesehen hatte, wecken sollte, um ihr den Job im besten Lichte erscheinen zu lassen.

Zufrieden sieht Dagmar Assner vom Beckenrand zu, wie Karen voller Energie unter Wasser taucht, um prustend wieder hochzukommen. »Ich werde Maria sagen, dass wir gleich frühstücken«, ruft sie der Auftauchenden zu und betritt das Haus.

Karen schüttelt den Kopf, als sie sich die zweite Tasse Tee eingießt. »Das gibt es doch nicht. Ich merke erst jetzt, dass man von hier auch das Meer sehen kann!«

»Gestern Abend war es schließlich dunkel«, beschwichtigt Dagmar Assner, die in ihrem hellblauen Hosenanzug wieder einen sehr jugendlichen Eindruck macht. Wie weggeblasen scheint die gestrige Müdigkeit, die ihr jenen Anflug von Sorge ins Gesicht geschrieben hatte.

»Heute morgen war es aber hell genug.« Karen nimmt den letzten Bissen ihres Toasts, den sie sich dick mit Honig bestrichen hatte.

»Der Garten ist groß und das Meer ist schon noch ein paar Meter weg.«

Dagmar Assner hat ihre Mahlzeit bereits beendet und schenkt sich noch Kaffee nach.

Karen lehnt sich zurück und atmet in einem Stoß aus. »Sie müssen sehr glücklich sein, so ein schönes Haus zu besitzen.«

»Es gehört einem Freund.« Dagmar Assners Blick gleitet langsam über den Garten. »Aber ich bin natürlich sehr gern hier.« Als sie in Karens fragendes Gesicht sieht, fährt sie fort: »Für die Zeit Ihres Aufenthaltes hier, Karen, hat er mir das Haus überlassen. Er ist geschäftlich viel unterwegs, vorwiegend in Europa. So kann es durchaus sein, dass er hier nicht ein einziges Mal auftauchen wird. Und wenn doch, so würde das sehr lustig sein. Er ist ausgesprochen unterhaltsam.«

»Sind Sie oft in den USA?«

Dagmar Assner lässt sich mit der Antwort Zeit und gießt sich währenddessen Orangensaft in ein Glas. »Eigentlich weniger. Ich habe leider zu selten mehrere freie Tage am Stück.«

Karen nippt an ihrem Tee. »Hauptsächlich sind Sie also auch in Hamburg, so wie ich?«

»Ja, oft. Sie wissen vielleicht, dass ich ein Geschäft am Gänsemarkt habe?«

Karen nickt.

»Ich habe noch eine Filiale in Paris. Dort befindet sich auch mein zweiter Wohnsitz.«

Karen erinnert sich an ihre erste Fahrt nach Paris, als sie gerade zwei Monate in Hamburg war. Dieser Drei-Tage-Trip mit dem Bus in das Hotel im Stadtteil Montparnasse mit Blick zu Sacré Couer, jener ein wenig morgenländisch wirkenden weißen Kirche, die majestätisch auf einer Erhebung über einem Meer von Häusern thront. Wie im Trance war sie stundenlang durch die Stadt getaumelt, um all die neuen Eindrücke, Gerüche, Sprachen gierig in sich einzusaugen, ganz so, als könne sie das über Jahre durch die Zonengrenze von ihr Ferngehaltene mit einem Schlage nachholen. Verträumt hatte sie in einem Straßencafé an den Champs-Élysées gesessen und dem pulsierenden Gewimmel dieser Hauptschlagader der Stadt zugesehen, spätnachts noch stand sie mit schmerzenden Füßen am Fenster der kleinen Absteige, um auch den letzten Zipfel des Nachtlebens, das da durch die kleinen Gassen zu ihr herauf tönte, zu erhaschen. Paris war der Inbegriff des Lebens gewesen – allein der Klang des Namens hatte damals bei ihren in Ostdeutschland eingesperrten Landsleuten den Glanz von Weihnachtslichtern in die Augen gezaubert. Da konnte sie doch nicht einfach schlafen gehen.

»Am meisten mag ich in Paris Montmartre und Sacré Coeur«, hört sich Karen sagen und ist darüber fast beschämt. Das klingt ja beinahe, als habe sie eine Ahnung von der Welt. Welche Reisen hatte sie schon unternommen bisher.

»Nicht wahr?« Dagmar Assner schaut Karen begeistert in die Augen. »Wenn ich in Sacré Coeur bin, möchte ich am liebsten nur noch sehr still sein. Leider sind da ja immer so viele Menschen. Aber man kann es vergessen, wenn man will.«

»Ich glaube, die Franzosen mögen die Deutschen nicht sehr gern«, erinnert sich Karen weiter und fügt schnell hinzu: »Wer kann es ihnen verdenken. Wenn ich Französin wäre, würde ich sie auch nicht mögen. Diese Vergangenheit wird man nie los.«

Dagmar Assner schaut jetzt lange in Karens Gesicht. »Ich bin schon zeitig nach Paris gekommen und habe sehr bald die Sprache beherrscht. Das hat mir sicher geholfen, gute Freunde dort zu finden.« Nach einer kleinen Pause setzt sie lächelnd hinzu: »Ich weiß schon, wenn einer Französisch mit Akzent spricht, sind die Franzosen wohl ein wenig albern.«

Karen schürzt die Lippen. »Mit einem Akzent wäre ich schon sehr zufrieden.«

»Ihr Englisch ist aber recht passabel.«

»Leider konnte ich nicht viel reisen und meine Sprachkenntnisse festigen, weil das in unserer ostdeutschen Familie leider keine Tradition haben konnte. Da schmorte man hübsch im eigenen Saft!«

Dagmar Assner lehnt sich jetzt auch in ihrem Sessel zurück, als sie sich eine Zigarette angezündet hat. Mit einem leisen Geräusch bläst sie den Rauch gerade heraus, stoppt dann, wie um einen Satz zu beginnen, stößt dann auch den letzten Rest des Rauches aus.

Schließlich beginnt sie aber doch. »Ich bin die Tochter eines amerikanischen Besatzungssoldaten. Alles was damit verbunden ist, habe ich voll ausgekostet. Nur dass er nicht noch ein Schwarzer war. Aber das hätte auch nicht mehr viel ausgemacht.«

Karen sitzt sehr still auf ihrem Platz, fast so, als würde es sich nicht gehören, so viel Privates von dieser Frau zu hören.

»Er soll ein netter Mensch gewesen sein, allerdings mit einem ganz entscheidenden Fehler. Er hatte in den Staaten bereits Frau und Kind. Und meine Mutter konnte sich zur Abtreibung nicht entschließen. Zu der Zeit war es ja auch wirklich kein Vergnügen. Es war auch kein Vergnügen, ein lediges Kind großzuziehen. Und für das Kind war es kein Vergnügen, einen Ami zum Vater zu haben, der sich in Luft aufgelöst hatte. Seine Haarfarbe hat mir natürlich auch kaum Freude gebracht.«

Die Sätze klingen fast fröhlich, und tatsächlich entdeckt Karen im Gesicht dieser schönen rothaarigen Frau so etwas wie Heiterkeit oder eher den Ausdruck der Gelassenheit eines Menschen, der sich im Einklang mit seiner Vergangenheit befindet. Als hätte es niemals die Horden von Kindern gegeben, die sich auf den kleinstädtischen Straßen zusammengerottet hatten, um »Amihurenkind« hinter ihr herzurufen. Und nie diese Berge geblümter Stoffe, in die ihre Mutter die kilometerlangen Nähte hinein ratterte, um in stundenlanger Heimarbeit den Lebensunterhalt für sich und das Kind zu verdienen. Mit jenen Kleidern, die an den Körpern der von den Illustrierten strahlenden Mädchen glänzten, die das glückliche Leben führen mussten, von dem sie alle träumten, und die sie für Frauen aus der Nachbarschaft nähte, die dann für Augenblicke vergessen hatten, dass sie eine Amihure war. Das Kind hatte immer dabeigesessen, und mit dem Finger die großen Blumenornamente der Mode dieser Jahre nachgezeichnet, ganz so, als könne es in diesen endlosen bunten Weiten nach der Lösung des Rätsels suchen, warum es selbst anders sein sollte, als all diese, denen der gleiche Grind am Knie klebte, wenn sie beim Rollschuh laufen hingefallen waren und denen dann vom Weinen der gleiche Rotz aus der Nase lief.

Der Geruch frisch geplätteter Stoffe und Schneiderkreide, der sich mit dem billiger Parfums und Körperausdünstungen der zur Anprobe kommenden und beständig schnatternden Nachbarsfrauen mischte, hatte dem Kind immer ein Gefühl von Geborgenheit gegeben.

»Was ich Ihnen damit sagen will ist, dass man mit allem, was man als Makel empfindet, fertig werden kann«, holt Dagmar Assner Karen in die Wirklichkeit dieses kalifornischen Sonnentages zurück.

»Ich glaube sogar, dass es manchmal ganz nützlich sein kann, wenn man sich durchwühlen muss.« Offen lächelt die Frau jetzt zu Karen herüber, und Karen erwidert dieses Lächeln.

In der Terrassentür erscheint das Mädchen und meldet einen Anruf. Dagmar Assner erhebt sich sofort und betritt das Haus, während Maria an den Tisch tritt. »Kann ich abräumen?«

»Ja, gern, warten Sie, ich helfe Ihnen.« Karen schaut freundlich in Marias Gesicht.

Maria schaut ebenfalls freundlich zurück. »Nein, danke, ich mache es allein. Vielen Dank.«

Marias rundes Gesicht mit der energischen Nase und den dunklen Augen unter der breiten Stirn hat nichts von seiner Freundlichkeit verloren, während ihr Haarschopf hinter dem Stirnreif im Takt zu ihren Bewegungen wippt. Jeder Handgriff sitzt perfekt, und in nur wenigen Augenblicken befindet sich das gesamte Frühstücksgeschirr auf einem großen Tablett, das von Maria mit Schwung an den Tischrand geschoben und von dort ebenso schwungvoll auf die Arme befördert wird. So schnell, wie sie über den Tisch gefegt war, so schnell war sie auch wieder von der Bildfläche verschwunden. Erstaunt schaut Karen ihr hinterher, wie sie geschickt im fliegenden Gang an Dagmar Assner vorbei segelt, die in diesem Moment auf die Terrasse zurückkommt und Karens Blick bemerkt.

»Sie haben doch nicht versucht, Maria zu helfen?«

»Ich wollte nur ein paar Teller mit auf das Tablett stellen.«

»Das dachte ich mir. Maria fliegt noch ein paar Stundenkilometer schneller, wenn ihr jemand zur Hand gehen will.«

»Wird das hier … ich meine, muss sie das?«

Dagmar Assner legt ein kleines Päckchen mit einer Schleife vor sich auf den Tisch und setzt sich wieder in den Sessel. »Nein … und ja.«

Karen schaut verständnislos. »Ich glaube, das verstehe ich nicht.«

»Maria ernährt mit ihrem Gehalt eine ganze Familie in Mexiko. Sie ist die Älteste von acht Geschwistern, glaube ich. Der Vater ist krank und die Mutter verdient nur sehr wenig. Maria hat hier eine Lebensstellung. Sie ist Wagenbergs guter Geist, hütet das ganze Jahr über sein Haus. Obwohl er sich nie von ihr trennen würde, hat sie immer Angst, die Stellung wieder verlieren zu können. Man kann ihr beim besten Willen nicht klarmachen, dass sie nichts zu befürchten hat.«

Karens Gesicht drückt jetzt eine gewisse Ratlosigkeit aus. »Das finde ich traurig.«

»Ich habe mich daran gewöhnt. Das werden Sie bestimmt auch.«

»Vielleicht«, versucht sich Karen aus dieser Stimmung zu lösen.

»Ich habe hier ein kleines Willkommen für Sie, Karen.« Dagmar Assner schiebt das vor ihr liegende Päckchen zu Karen hinüber.

Karen greift vorsichtig nach dem Päckchen. »Gibt es denn nicht nur zu Weihnachten oder zum Geburtstag ein Geschenk?«

»Ich finde, dass Ihre Ankunft hier schon etwas von einem Geburtstag hat.«

Bevor sich in Karen noch das Gefühl der Verlegenheit ausbreiten kann, setzt sie schnell hinzu: »Machen Sie es schon auf, ich bin gespannt, wie es Ihnen gefällt!«

Karen löst die Schleife und öffnet die kleine graue Schachtel, in der eine der Arbeiten Dagmar Assners liegt, die sie schon in Hamburg in dem edlen Geschäft der Schmuck- und Modedesignerin bewundert hatte. Eine Halskette aus gerolltem Silber mit einem grob geschliffenen, in eigenwillige Form gebrachten grünen Stein.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Die Kette ist wunderschön. Ich freue mich! Danke.«

Karen bewegt vorsichtig die glatte Rolle des Silbers in ihren Fingern und fühlt den Schliff des Steines.

»Es ist ein Alexandrit. Sie werden sich noch wundern, Karen. Abends wechselt er die Farbe.«

»Wie bitte?«

»In künstlichem Licht wird er rot.«

»Das ist ja die reinste Zauberei.« Karen betrachtet ungläubig den Stein in ihrer Hand, dessen Grün ihr so klar entgegen leuchtet.

»Man soll halt nie das Wundern verlernen.«

Vorsichtig tippt Dagmar Assner mit dem Zeigefinger an den Stein. »Bei einigen Völkern ist er der Stein des guten Omens. Deshalb habe ich ihn für Sie ausgewählt.«

Beide Frauen verharren sekundenlang in ihren Bewegungen, bis Dagmar Assner das Schweigen bricht.

« Wie ist es, wollten Sie nicht ans Meer?«

»Sehr gern«, antwortet Karen und will den Schmuck vorsichtig in das Kästchen zurücklegen.

»Nicht doch, Karen, das sollten Sie ruhig gleich mal anprobieren. Warten Sie.« Und schon hat sie ihr die Kette aus der Hand genommen, mit kundigen Handgriffen den Verschluss geöffnet, um ihn an Karens Hals gleich wieder zu schließen.

»Sehr hübsch. Und jetzt schauen wir nach, was der Pazifik heute für Wellen ans Ufer schiebt.«

Schließlich sollen Sie sich ja noch ein paar schöne Tage machen, bevor es in die Klinik geht.«

Dagmar Assner legt den Arm um Karens Schulter. Als die beiden die Terrasse verlassen, bieten sie ein friedliches Bild, beinahe wie zwei Freundinnen, die einen gemeinsamen Weg antreten wollen. Und ein wenig ist es wohl auch so.

Seit Karens Ankunft in Monterey sind nun schon einige Tage vergangen. Längst hat sie die Anstrengungen der Zeitumstellung verarbeitet und sich an das sonnige Klima gewöhnt. Ausgiebige Bäder im Pazifik genossen, dessen starker Salzgehalt sie immer wieder in Erstaunen versetzt, ebenso wie seine unberechenbaren Wellen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, sich erst wenige Meter vor dem Strand aufbäumen, um den Schwimmern dann schadenfroh die Beine wegzuziehen. Mehrfach ist sie von solchen Wellen um und um gewirbelt worden, nicht wissend, wo oben und unten war, schwer atmend wieder aufgetaucht, über sich diese Riesenmöwen, die ihr Geschrei im rasanten Flug wie Hohngelächter hinter sich herziehen. Im Sand vor sich hin dösend, hat sie die Badenden beobachtet, die sich auf diese Holzbretter legen, um sich dann auf den Wellen ans Ufer tragen zu lassen, mitunter in einem solchen Schwung, dass ihnen dabei Hören und Sehen vergangen sein musste. Natürlich hat sie dabei an Jan gedacht, dessen Surfer-Herz hier wohl einige Takte schneller schlagen würde.

Jan. Sie ist sich fast böse, dass ihr der Gedanke an ihn schon nach den wenigen Tagen dieses ziehende Gefühl im Brustkorb beschert, und dass sich sein Bild immer öfter in ihre Vorstellungen schiebt, bei all dem Neuen, das sie täglich zu verarbeiten hat, und das ihre Sinne eigentlich gänzlich beanspruchen müsste. Vor allem aber hat sie doch noch diese lange Zeit vor sich, in der sie ihn nicht sehen kann, in der ihr sogar jeglicher Kontakt zu ihm gänzlich untersagt ist. Sie hat es unterschrieben. Im Vertrag. Hinterlegt beim Notar in Hamburg.

Wie einfach hatte sie sich das noch vorgestellt in den letzten Tagen, die sie mit ihm zusammen gewesen war, und die noch übertönt waren von diesem Wahnsinnsgefühl, einen Volltreffer gelandet zu haben.

Lachend waren sie am letzten Abend um die Alster gedüst, auf den Skatern, mit einer scheinbar unerschöpflichen Kraft, später dann durch die Studentenlokale gezogen. Und alle hatten sich gefreut, dass sie ein Jahr in die Staaten sollte.

Wie eine Verschwörerin hatte sie sich gefühlt mit ihrem Geheimnis, von dem nicht einmal Jan wusste. Und das war das schwerste Stück Arbeit gewesen. Jan davon zu überzeugen, dass sie sich nicht sehen konnten – ein ganzes langes Jahr!

Sie sieht immer wieder seinen ungläubigen Gesichtsausdruck vor sich und fühlt immer wieder ihren Schmerz, ihn so belügen zu müssen. Schließlich hatte sie ihn wohl überzeugen können, dass sie diese ganzen zwölf Monate ständig unterwegs sein müsse, an wechselnden Orten, dass sie keinen Urlaub bekommen könne, und der einzige Lichtblick des Ganzen die vielleicht um einige Wochen frühere Beendigung des ganzen Unternehmens sein würde. Und wieder ist ihr ganz schlecht, als sie daran denkt, mit welcher Überzeugung sie diese Lügen mitten in seine traurigen Augen zu platzieren verstand. Sie fühlt sich schlecht, und vielleicht ist sie es ja auch. Aber wer kann ihr das verdenken für zweihunderttausend Euro. Für eine Chance zu einem beruflichen Start nach ihren Vorstellungen.

Für einen Platz in dem Zug, in den so viele längst schon keinen Fuß mehr hineinbekommen, und der immer schneller einer Zukunft entgegen rast, die täglich unberechenbarer wird? Jetzt hat Karen sie in der Hand, die Fahrkarte zu diesem Zug, und unter keinen Umständen wird sie die jemals wieder hergeben.

Im Gegenteil. Sie wird sich weiter vorarbeiten, zu den noch besseren Plätzen. Sie will einen Fensterplatz, wenn sie die Welt an sich vorbeifliegen sieht, sie will nur einen kurzen Weg zum Speisewagen haben, und dort will sie sich von den besseren Menüs kommen lassen, die sie mit ihrem großen Hunger auf neue Kost genussvoll zu sich nehmen möchte, Bissen für Bissen. Sie ist bereit, hart dafür zu arbeiten. Sie wird sich nichts schenken lassen. Und mit diesem Auftrag fängt sie an. Aber ihr Einsatz hier muss teuer bezahlt werden.

Fast trotzig packt sie mit wenigen kantigen Handbewegungen, die scheinbar jedem ihrer Gedankengänge eine Art Unumstößlichkeit verleihen sollen, ihre Strandutensilien in die Lacktasche, die sie sich auf der Einkaufstour mit Dagmar Assner ausgesucht hat. Sie fischt darin nach dem Wagenschlüssel, um ihn gleich bei der Hand zu haben, wenn sie in der brütenden Hitze den Parkplatz erreicht hat. Mit sonnendurchwärmten Gliedern taumelt sie beinahe die ersten Schritte durch den Sand, fängt den Blick eines Mannes auf, der interessiert von seinem Buch aufschaut, als sie seinen Liegeplatz erreicht hat. Unwillig wirft sie zunächst den Kopf zur Seite, dass ihr Blick über die mit Badenden bunt bestückten Wellen gleitet, besinnt sich aber dann anders und erwidert seinen Blick. Im Vorbeigehen lächelt Karen ihm zu, streicht sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn, und ihre Schritte gewinnen an Festigkeit in der Gewissheit, dass ihre Füße sie noch über einige Strände dieser Welt tragen werden. Sie fühlt den Blick des Mannes in ihrem Rücken, ahnt, dass er sich ein wenig unbequem in seiner Seitenlage verdrehen muss, um ihr hinterhersehen zu können. Eine heitere Zufriedenheit steigt in ihr auf, als sie die Strandpromenade erreicht, und die Schaufenster der Boutiquen und Imbisslädchen ihr Spiegelbild zurückwerfen. Das Bild der jungen, schlanken Frau mit den weit ausholenden Schritten, zu denen der blonde Pferdeschwanz im Takt wippt, und von deren anfänglicher Unsicherheit nur noch der genaue Beobachter eine Ahnung haben könnte, so zielsicher reiht sie sich in den Strom der schlendernden Menschen ein. Karen erreicht den grünen BMW und klappt das Verdeck nach hinten. Sie genießt die Fahrt in dem schönen Auto, das ihr für ihren Aufenthalt in Monterey von Dagmar Assner zur Verfügung gestellt wurde. Genauer gesagt vom Hauseigentümer Dietmar Wagenberg, dem sie damit nur einen Gefallen tun würde, wie ihr Dagmar Assner sogleich versicherte, um erst gar keine Verlegenheit über derartige Vergünstigungen aufkommen zu lassen.

War sie überhaupt verlegen gewesen? Schließlich ist es tatsächlich nicht gut für einen Wagen, ständig nur in der Garage zu stehen, und der Hausherr war einfach zu selten da, um das Fahrzeug angemessen zu nutzen.

Sie hat jetzt den Highway am Meer erreicht und steigt wie zur Bestätigung aufs Gas. Sogleich schnurrt der Wagen und schiebt sich an mehreren anderen vorbei. Das Stirnhaar tanzt auf ihrem Kopf und der Fahrtwind trocknet den Schweiß, den die kalifornische Hitze unweigerlich auf dem Gesicht in Tropfen perlen lässt. Im gleißenden Licht liegt der Ozean vor ihr und darüber dieser unendlich blaue wolkenlose Himmel, in dem hoch oben die Seevögel ihre Bahnen ziehen, bevor sie sich schreiend zur Jagd hinunter zum Wasser stürzen.

Karen schiebt eine CD mit den Celine-Dion-Songs in den Player, der sie leise klickend schluckt, um ihr sogleich den Sound der Lieblingssängerin zu präsentieren. Fast unwirklich kommt es ihr vor, dieses Leben, in das sie vor nur wenigen Tagen eingetaucht ist. Spielen hier die anderen? Oder ist sie es selbst, die in eine Rolle geschlüpft ist, in der man ihr so freundlich applaudiert? Für viel Geld immerhin.

Wenn sie für Dagmar Assner das Kind austragen soll, dann kann das nur zu diesem akzeptablen Preis geschehen. Sie stellt sich zur Verfügung, ach was, den Körper, den sie in diesen neun Monaten aus ihrer Gedankenwelt ausklammern wird. Ein Leben im Kopf wird sie führen und das andere mit sich geschehen lassen. Sie weiß, dass sie es schaffen wird. Irgendwie.

Sie fährt durch das blitzsaubere Städtchen, das sie an einen der geleckten Badeorte der deutschen Ostseeküste erinnert.

Ebenso wie an der Lübecker Bucht bieten sich hier für Touristen geschniegelte Einkaufsstraßen den Heerscharen, die von den Pazifikwellen sonnengebräunt an die Ufer geschwappt werden und vielsprachig schnatternd in die Läden und Restaurants einfallen, wo sie doch regelrechte Schneisen schlagen müssten in die üppigen Auslagen und Buffets.

Doch wie im Märchen vom überkochenden Brei-Zaubertopf, ergießt sich unermüdlich das nachgeorderte Warensortiment in die Schaufenster, um sich dort zu nur noch gewaltigeren Bergen aufzutürmen; all das querbeet, Juwelier und Antiquitätenhändler neben dem Nippesladen, Herrenausstatter und Strandboutique neben dem Restaurant.

Wie erschlagen war sie am Abend von der großen Einkaufstour mit Dagmar Assner in das weiße Haus zurückgekehrt. Betäubt von der Fülle der Farben, Formen, Gerüche, die auf sie eingeströmt waren, müde geredet von den Frauen in den Geschäften, die sie für die Kleidung begeistern wollten, die vor ihr ausgebreitet worden war.

Noch nie hatte sie dermaßen viele verschiedene Kleider, Hemden und Hosen probiert, sich vor immer wieder anderen Spiegeln gedreht, sich von den Verkäuferinnen hier eine Falte im Stoff zurechtrücken und dort ein Preisschild aus dem Blick schieben lassen. Ihr Spontaneität und Dagmar Assners Souveränität im Umgang mit den Geschäftsleuten hatten sie eine gute Wahl treffen lassen und ihr zu der Garderobe verholfen, mit der sie sich die nächsten Monate hier wohl fühlen sollte. Zunächst einmal die Stücke, die auch nach Beendigung des Jobs zu ihrer Kleidung gehören würden. Die eigentlichen Umstandssachen würde man dann kaufen, wenn es soweit sei. Darauf einigten sich die Frauen schnell, als Karen spitzbübisch lächelnd in einer weiten Bluse posiert und das Vorderteil mit den Fingern nach vorn gezogen hatte, um einen imaginären Bauchumfang anzudeuten. Schließlich wollte man das Schicksal nicht herausfordern, solange sich der Embryo, der jetzt noch in seinem eisigen Stickstoffbad schlummerte, nicht in ihrem Leib eingenistet hatte. Karen war ein heißes Gefühl des Erschreckens im Hals aufgestiegen, als sie die Erinnerung an das vor ihr Liegenden traf, und sie Dagmar Assners Blick aufgefangen hatte.

Mit Bergen von Tüten waren sie daraufhin schnell in ein in der Nähe befindliches Restaurant eingekehrt, um bei einem Glas Wein und gutem Essen den Gedankengängen eine andere Wendung zu geben. Die Kalbsmedaillons und das zarte Gemüse in Butterschaum zergingen förmlich auf der Zunge und wie ein Vorhang legte sich die Zufriedenheit über ihr Inneres und schob die unangenehmen Gedanken in einen weit entfernten Winkel, so dass sie gemütlich aus ihrem Sessel heraus die Atmosphäre des Lokales in sich aufnehmen konnte.

Eine gutbetuchte Gesellschaft hatte sich hier an den etwas weiter auseinander stehenden Tischen mit der weißen Tischwäsche und dem verschnörkelten Silberbesteck eingefunden.

Am meisten faszinierten Karen diese hochbetagten Damen in der mit Falten und Rüschen besetzten Kleidung in jugendlichen Farben, vorwiegend Rosa, dem schweren Goldschmuck an Arm und Hals, der altersfleckigen, pergamentenen Haut, die sich dünn über die Knochen spannt und dann dem Gesicht den Ausdruck eines geschmückten Totenkopfes verleiht. Wie immer der stark geschminkte Mund dann lacht, es gerät immer zur traurig grotesken Bestätigung, ja Entschuldigung, dass sich hier ein Menschenleben in seiner letzten Phase befindet. Nirgends sah Karen bisher solche Frauen. Hier gehören sie ins Bild.

Karen hat die Straße zum Grundstück Wagenbergs erreicht und biegt mit Schwung in die breite Auffahrt ein. Sie hält die Fernbedienung aus dem Auto, und auf ihren Knopfdruck schiebt sich lautlos das große Eisentor beiseite, um sich nach ihrer Einfahrt ebenso geisterhaft wieder hinter ihr zu schließen.

Langsam fährt sie den asphaltierten Weg, der in einer Kurve zu einem kleinen Rondell führt, an dessen einer Seite das Garagenhaus liegt. Auf gleiche Weise öffnet sie das Tor und parkt den Wagen neben den anderen Fahrzeugen ein. Sie entscheidet sich für den Weg außerhalb der Garage und schließt das Tor, nachdem sie die Garage verlassen hat.

Noch immer ist es sehr heiß, und brütende Wärme wallt von den Pflastersteinen zu ihren Beinen auf, als sie auf die Vorderfront des Hauses zugeht. Der Gärtner, der am Morgen gekommen war, sitzt auf einem Rasenmäher und zieht leise surrende Runden über die Rasenflächen, die sich großflächig über das Grundstück verteilen.

Der Duft von frisch gemähtem Gras erreicht ihre Nase, und die Erinnerung an den Berliner Garten der Eltern steigt in ihr auf, wenn der Vater mit dem mechanischen Roller die kleine Wiese vor dem Reihenhaus schnitt, und die Grashalme rechts und links aus dem krächzenden Gerät hüpften. Sorgfältig waren sie dann später zur kerzengeraden Reihe zusammen gekämmt worden, zum Trocknen in der Sonne, um danach in den Schuppen gebracht zu werden, wo sie als Futter für ihr Kaninchen bis zum Winter lagern würden.

Mit liebevoller Fürsorge hatte sich der Vater um die Büsche und Bäume, die auf der kleinen Fläche um das Haus wuchsen, gekümmert, jede Staude und Rosenpflanze wurde genau beobachtet und für den Winter präpariert, damit sich ihre Blüten im Sommer dann um so prächtiger entfalten konnten. Unwillkürlich lächelt Karen, als sie an die kleinen Kämpfe denkt, die ihre Eltern um einzelne Blüten führten, die sich ihre Mutter für die Vase wünschte, und die der Vater lieber im Garten belassen wollte, um ihr Wachsen bis zum Vergehen an den Pflanzen beobachten zu können.

Sie nimmt dieses Lächeln mit ins Haus, begegnet damit Maria, die ihr mit Handtüchern unterm Arm im Eingangsbereich über den Weg läuft.

Sie will sich gerade der Treppe nach oben zuwenden, hält aber im Gehen inne, als sie eine Stimme hört, die von der Terrasse kommt. Dagmar Assner, gerade aus dem Schwimmbecken gestiegen, mit einem Frottiertuch um den Kopf und in einem dunkel gemusterten Badeanzug, der ihre mädchenhafte Figur mit den immer noch festen Kurven gut zur Geltung bringt, telefoniert.

Irgend etwas am Ton der Stimme lässt Karen verharren, obwohl sie erkannt hat, dass die Frau offenbar in ein sehr persönliches Gespräch verwickelt ist.

»… nein, ganz und gar nicht … Das habe ich mir auch sehr gut überlegt … Danke der Nachfrage … Oh, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen … Nein, ich habe mich da nicht vertan … Diese Dinge solltest du besser mir überlassen, … wir sehen uns sobald es geht in London …«

Dagmar Assners Stimme hat nun wieder den gewohnt sicheren Klang der Businessfrau, als sie sich mit dem Telefon am Ohr dem Haus zuwendet.

Karens Erstarrung weicht rasch, und sie huscht die Treppe ein Stück hinauf, um dann in ein langsames Steigen zu kommen, ganz so, als sei sie soeben erst gekommen.

»… jawohl meine Liebe, alles hat seinen Preis, da siehst du es … ja, ich dich auch … Bye bye!«

Und mit den letzten Worten betritt Dagmar Assner auch schon das Haus. Ihr Blick fällt zur Treppe, auf der sie Karen nach oben gehen sieht.

»Oh, Hallo Karen, wie ist es ihnen am Wasser ergangen?«

»Großartig. Es ist wie in den Ferien. Den schönsten, die ich bisher hatte.« Doch nach diesem Satz, der wie ein Ausruf kam, setzt sie zögernd hinzu: »Es wäre aber trotzdem ganz gut, wenn es bald … ich meine, wenn wir mit der Sache beginnen könnten.«

»Ja, Karen, das denke ich auch. Ich habe heute mit Dr. Richmond telefoniert. Wir werden morgen in San Jose erwartet.«

Karen schaut zu der Frau, die sich betont munter das kringelige Haar frottiert und mit dem dabei schief gelegten Kopf verschmitzt zu Karen hinauf lächelt

Karen schickt einen freundlichen Blick nach unten und dreht sich wieder auf der Treppe um.

»Ist es Ihnen recht, wenn wir gegen Sieben essen?« ruft Dagmar Assner ihr nach, und Karen meint im Unterton der Frage so etwas wie eine Unsicherheit zu spüren, ob sie vielleicht von dem Telefonat etwas gehört haben könnte.

»Gern. Da kann ich vorher noch ein paar Briefe schreiben und morgen dann in San Jose einwerfen. Das passt ja gut«, wirft sie betont heiter nach unten und spürt dabei deutlich, dass sie die Bedenken bei Dagmar Assner nicht beseitigen kann.

Karen steigt die letzten Stufen der breiten Treppe nach oben und betritt ihr Zimmer, in dem sie sich schon heimisch fühlt. Ihr Blick fällt auf die Fotos von Jan und ihren Eltern. Sie greift nach dem Laptop und setzt sich an dem kleinen Schreibtisch in Fensternähe zurecht. Doch die Sätze wollen nicht fließen. Sie kommt nicht über die Anrede hinaus.

Missmutig steht wieder auf und blickt nach draußen in den noch immer blauen Himmel, wo sich am Horizont aber schon eine leichte Röte abzeichnet.

Unruhig wendet sie sich um und betritt das Badezimmer, um nun doch zuerst zu duschen. Mit wenigen Handgriffen entkleidet sie sich und schaut dabei in den großen Spiegel, der das Bild ihres makellosen Körpers zurückgibt. Deutlich hebt sich das Weiß der vom Bikini abgedeckten Stellen von diesem Milchbraun ab, das den Hauptteil der Haut überzogen hat. Sie beugt sich vor und streckt sich unwillig die Zunge heraus, als sie die vielen Sommersprossen auf dem Gesicht sieht, die sich auch unter dem Braun noch deutlich abzeichnen. Sogar auf der Oberlippe ihres schön geschwungenen Mundes sitzen sie wie die I-Punkte über den Zeilen. Als sie den Mund breit zieht, gehen die Punkte weiter auseinander, und sie muss darüber lachen. Aus ihren Augen strahlt jetzt wieder diese Unternehmungslust, die ihr in den letzten Tagen etwas abhanden gekommen war.

Entschlossen wendet sie sich zur Seite, um in der Dusche zu verschwinden, als ihr Blick aber erneut in den Spiegel fällt.

Fast verstohlen betrachtet sie ihren flachen Bauch und die kleinen vollen Brüste, die weit darüber wie zwei knackige Früchte wippen. Sie presst Luft in ihre Lungen und hält den Atem an. Mit der Anspannung aller Bauchmuskeln stülpt sie den Leib nach vorn, und es bildet sich tatsächlich ein runder Bauch, den sie jetzt mit ihren Händen umfängt. Sie spürt die Spannung bis ins Gesäß, und ihr Gesicht läuft rot an. Laut pustend atmet sie aus, und der Bauch ebnet sich wieder ein.

Wenn diese ganze Sache doch nur auch so schnell zu regeln wäre, schießt es ihr durch den Kopf, den sie dann unwillig schüttelt, und sich von ihrem Spiegelbild losreißt, um nun endgültig unter der Dusche zu verschwinden. Dann gäbe es schließlich nicht so viel Geld dafür. Sie hält ihr Gesicht unter das warme Wasser, als könne sie sich damit die quälenden Gedanken herauswaschen.

Wie wird sie die Veränderungen ihres Körpers ertragen? Wird sie den wachsenden Embryo nicht wie einen Fremdkörper in sich spüren und ablehnen? Was wird nach der Entbindung zurückbleiben? Und wenn etwas zurückbleibt, wie wird sie das Jan erklären? Wäre es denn nicht besser, sich von ihm zu trennen, als sich diesen Problemen noch zusätzlich auszusetzen? Sollte sie die lange