Mindset - Sebastian Hotz - E-Book
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Sebastian Hotz

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Beschreibung

Maximilian Krach hat alles, was sich ein im Internet sozialisierter junger Mann im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wünschen kann: teure Uhren, eine amtliche Anzahl Follower, eine so einfache wie geniale Geschäftsidee und einen unerschütterlichen Glauben an die eigene Einzigartigkeit. Da ihm daran gelegen ist, seine Erkenntnisse und Einsichten zu teilen, nimmt er sich alle paar Wochen die Zeit, um einem vollbesetzten Seminarraum in mittleren und kleinen deutschen Großstädten seine Ideen zuteilwerden zu lassen. Es geht um Wölfe und Schafe, um berühmte Einzelgänger und um den Schlüssel zum Erfolg, der nicht, wie so viele glauben, irgendwo da draußen liegt, sondern viel, viel näher: im richtigen Mindset.   Doch wer deswegen glaubt, der Weg nach ganz oben sei nicht beschwerlich und fordernd, nicht gesäumt von dornigen Chancen und unbelehrbaren Bedenkenträger*innen, hat natürlich nichts verstanden. Es sind Lektionen, die auch Mirko noch bevorstehen, der sich aufmacht, mit Maximilians Hilfe aus seinem trostlosen Alltag auszubrechen. Und so werden Präsentationen gestrickt und Postings geplant, Sportwagen gemietet und NFTs gemintet, bis eine arglos abgesetzte Pizzabestellung in einer Gütersloher Winternacht Erkenntnisse bereithält, die sich nur sehr schwer in wichtige Learnings übersetzen lassen. Ein Roman über Männer, die keine Zeit und keine Lust haben, an ihrer Durchschnittlichkeit zu verzweifeln, und eine Gesellschaft, die deren Ausflüchte irgendwie bewältigen muss. Als ob es nicht schon genug Probleme gäbe.

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Seitenzahl: 271

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Sebastian Hotz

Mindset

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Sebastian Hotz

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2 

Kapitel 3 

Kapitel 4 

Kapitel 5 

Kapitel 6 

Kapitel 7 

Kapitel 8 

Kapitel 9 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Irgendwo auf ihrem Weg von den Bäumen in die Hütten und weiter, bis in viel zu teure Singleapartments, hat die Menschheit die Stille getötet. Irgendwann zwischen Erfindung der Dampfmaschine und dem ersten Download einer Meditations-App ist ein Grundrauschen entstanden, das erst verstummen wird, wenn die moderne Zivilisation eine verblassende Erinnerung ist. Selbst in den leisesten Stunden einer schlaflosen Nacht ist irgendwo noch das Summen irgendeiner überforderten Steckerleiste zu hören, das mit den rasiermesserscharfen Kanten ihrer 50-Hertz-Frequenz die ersehnte Ruhe zerschneidet. Und wenn es keine Steckerleiste ist, dann ist es ein Netzteil. Ein Router. Der leerlaufende Motor eines Aufzugs im benachbarten Häuserblock, dessen Schwingungen sich über die Wände übertragen. Eine glucksende Wasserleitung, irgendein Rohr, vielleicht das Heizungsventil. Vielleicht auch nur irgendeine selbsterhaltende Funktion des Gehirns, die Geräusche simuliert, um zu verhindern, dass die Undenkbarkeit tatsächlicher Ruhe eintritt.

MEEEBRÖÖÖÖÖÖÖÖ-FA-FA-FA-FA-CCHCHCHCHCHCHCHCHCHchchchch, »Na, haste heute schon wieder Frühschicht?«.

Das Fauchen des Kaffeevollautomaten und die viel zu fröhliche Stimme ihres Kollegen reißen Yasmin aus ihrem Gedankenstrom, zurück in die unangenehme Gegenwart, die für sie bedeutet, am klebrigen Tisch des Personalraums im »Holiday Inn Express Mülheim a.d. Ruhr« zu sitzen, noch drei Minuten bis zum Beginn ihrer Frühschicht zu haben und sich jetzt in den dreißigsekündigen, aber trotzdem viel zu langen Small Talk begeben zu müssen, den sie seit vier Wochen jeden Morgen mit diesem Typen von der Nachtschicht führen muss, bevor sie ihren Platz an der Rezeption einnehmen kann.

»Jo, Hannes, Frühschicht – wie war die Nacht?«

»Gestern Abend paar Besoffenen ’ne neue Zimmerkarte validieren müssen, aber seit eins isses ruhig, alles wie immer, musste dir keine Sorgen machen.«

Hannes, der eigentlich Johann heißt, in einem hilflosen Versuch, doch noch jugendlich zu wirken, aber darauf besteht, Hannes genannt zu werden, redet so unangemessen mit Yasmin, wie sechsundfünfzig Jahre alte Männer eben mit jungen Frauen sprechen. Einerseits väterlich, oberflächlich freundlich und fürsorglich, in den entscheidenden Momenten aber etwas zu persönlich und seltsam bevormundend. Immer wieder driftet er ab, sie sei ja so schön und wenn er in ihrem Alter wäre, also dann würde er es schon mal bei ihr versuchen, und dann lacht er, um zu überspielen, wie ernst er das meint.

»Na dann.«

»Na dann.«

Etwas überhastet macht Yasmin die letzten drei Schlucke ihres Kaffees zu einem, stemmt sich leise ächzend am Tisch hoch und drückt sich am mittlerweile mit seinem Heißgetränk versorgten Johann vorbei Richtung Tür.

»Frohes Schaffen, Yasmin!«

»Schönen Feierabend dir!«

Der Job als Rezeptionistin in einem Ketten-Hotel in einer mittelgroßen Stadt wie dem Holiday Inn Express in Mülheim an der Ruhr ist die schlechteste Mischung aus langweilig und abwechslungsreich. Das Stammpublikum aus gestressten Geschäftsreisenden, die mit ihren Rollkoffern spätabends einchecken und ihre Zeit mit irgendwelchen Terminen in der Stadt verbringen, ist anspruchslos. Die wenigsten erwarten hier irgendwas, wenn sie es allerdings tun, öffnen sich die Tore der Hölle. An Entspannung ist trotz der langen Leerlaufzeiten nicht zu denken, die bloße Möglichkeit, dass gleich ein wütender Gast an die Rezeption stürmen könnte und sich über die Größe des Zimmers, die Qualität des Kopfkissens oder den Geruch der Handseife im Badezimmer beschweren könnte, ist Schreckensszenario genug, um ständig auf der Hut bleiben zu müssen. Scheißjob, aber nicht beschissen genug, um sich wirklich darüber beschweren zu können, irgendwer hat es schließlich immer schwerer als man selbst.

Yasmins Frühschicht verläuft wie immer. Von sechs bis sieben Uhr passiert kaum etwas, wer jetzt auscheckt, hat es eilig, muss irgendeinen Zug oder einen Flieger am Düsseldorfer Flughafen erwischen. Die kurze Stressphase beginnt ab sieben, wenn der größte Teil der Gäste aufsteht und sich schlaftrunken über das karge Frühstücksbüfett hermacht, das aus nicht viel mehr als gekochten Eiern und einer breiten Auswahl an Wurstaufschnitten besteht und vielleicht gerade deshalb im Durchschnitt so gut ankommt. Routiniert nimmt sie mit einem »Das tut uns leid, als Entschädigung würden wir Ihnen gern eine Gratiserfrischung aus der Minibar anbieten!« den Wind aus den Segeln der Wut der drei Typen, die sich heute über fehlende Sender auf ihrem Zimmerfernseher oder die zu dünnen Decken beschweren. Gegen neun ebbt die Flut seelenloser Geschäftsreisender langsam ab, sie verschwinden in Taxis und Dienstwagen, in Büros und Konferenzräumen. Zurück bleiben ein leeres Hotel und Yasmin, die jetzt immer öfter auf ihr Handy schauen kann und es jetzt sogar wagt, sich verstohlen Kopfhörer in die Ohren zu stecken. 9.12 Uhr, bald ist die Hälfte ihrer Schicht geschafft, Arbeit wird sie heute wohl keine mehr erwarten, die übliche Flaute um die Mittagszeit beginnt schon kurz nach neun.

»HALLO, AUFWACHEN!«

Noch bevor Yasmin reagieren kann, schnellt eine Hand über den Tresen der Rezeption und schnippst ihr einen Kopfhörer aus dem Ohr.

»Wird hier auch gearbeitet oder nur am Handy gedaddelt?«

Was für eine Art Mensch muss man sein, um im Holiday Inn Express in Mülheim an der Ruhr einen allzeit aufmerksamen Portierservice zu erwarten? Und in was für einer Welt muss man leben, um sich durch den Status als Gast in ebenjenem Hotel als Erziehungsberechtigter des Personals aufzuführen? In einer perfekten Welt würde sie jetzt aufstehen, den Becher mit den benutzten Kugelschreibern packen und ihn so lange gegen die Schläfe dieses Arschlochs schlagen, bis ihn sein wie auch immer geartetes Anliegen nicht mehr interessiert. In einer etwas weniger perfekten, aber realistischeren Welt würde sie ihn in einem rasiermesserscharfen Tonfall anfahren, was ihm überhaupt einfalle, ihr einfach ans Ohr zu langen, was er sich bitte einbilde? Wenn er sich dann nicht entschuldigt, würde sie ihm die Bedienung verweigern, theoretisch hätte sie sogar das Recht, ihn aus dem Hotel zu verweisen, die Dienstvorschriften lassen ihr diese Freiheit; allein zu welchem Preis? Auseinandersetzungen, ob körperlich oder nur sprachlich, kosten Energie, viel zu viel davon, Energie, die Yasmin ihre Arbeit schlicht und einfach nicht wert ist. Im schlimmsten Fall müsste Yasmin den Sicherheitsdienst rufen, der Typ vor ihr würde sich sicherlich beschweren, dann müsste sie mit ihrem Chef reden, der sie ermahnen würde, dass »der Kunde König« sei oder so ein Scheiß, und als Rache für den Ärger würde sie dann nur noch in der Nachtschicht eingeteilt werden, weshalb dann Hannes auf sie sauer wäre, weil er den Nachtzuschlag dringend für die Gebühren der Kunsttherapeutinnenausbildung seiner Tochter braucht. Lange Geschichte.

Yasmin pfriemelt sich den zweiten Kopfhörer aus dem Ohr, setzt ein pflichtbewusstes Dienstleistungslächeln auf, wählt den Weg des geringsten Widerstandes und trägt damit dem bedauernswerten Umstand Rechnung, nicht in einer perfekten Welt zu leben.

»Oh, entschuldigen Sie bitte vielmals. Kann ich Ihnen helfen?«

Als der Wecker seines iPhones um Punkt sechs Uhr beginnt, den eingestellten Klingelton abzuspielen, ist Maximilian bereits hellwach. Matchday, Baby, heute wird getanzt. In einer fließenden Bewegung steht Maximilian auf, das Licht der Straßenlaterne, das durch die halb geschlossenen Jalousien scheint, reicht aus, um zu beleuchten, wie er mit militärischer Strenge sein Bett macht. Kante auf Kante, Ecke auf Ecke, dem Federbett wird mit chirurgischer Präzision jeder Anschein von Wärme und Kuschligkeit ausgetrieben. Der ganze Prozess dauert höchstens fünfundvierzig Sekunden, ist aber essenziell, denn Bett machen ist eine sogenannte Schlüsselgewohnheit. Minimaler Aufwand, auf lange Sicht maximale Wirkung, ein Investment in den Tag und vor allem: in sich selbst. Bett machen, das hat eine amerikanische Studie herausgefunden, könnte sogar eine Voraussetzung für dauerhaften Erfolg sein. Denn ein gemachtes Bett ist nicht nur ein gemachtes Bett, sondern ein Indikator für Gewissenhaftigkeit, Ordnungsliebe und Selbstdisziplin, also für alles, was erfolgreiche Menschen ausmacht. Und Maximilian ist ein erfolgreicher Mensch.

Frisch geduscht packt Maximilian seinen Rollkoffer, steckt seinen Anzug in den Schoner und macht sich in einer unauffälligen Kombination aus Jeans, Sneakern, schwarzem Shirt und einem schwarzen Mantel auf den Weg zum Gütersloher Hauptbahnhof. Seine heutige Verbindung ist der RE6 Richtung Köln, die schienengewordene Hauptschlagader Nordrhein-Westfalens, dem bundeslandgewordenen Herzen der alten Bundesrepublik. Bis Mülheim an der Ruhr sind es nur neunzig Minuten Fahrt, aber Zeit ist Geld und Geld ist Zeit und von beidem kann man nicht genug haben. Deshalb knallt Maximilian direkt nach Einnahme seines Platzes das Aluminiumgehäuse seines MacBooks auf den kleinen Klapptisch und beginnt sofort, fieberhaft den Vortrag einzuüben, den er seit Monaten perfekt beherrscht. Lieber sinnlos arbeiten als gar nicht. Wer rastet, rostet.

Als sich die Zugtüren in Mülheim öffnen, ist Maximilian der Erste, der den Bahnsteig betritt. Mit der linken Hand den Rollkoffer ziehend, mit der rechten den Anzugschoner vor sich haltend, folgt er strengen Schrittes den Wegweisern in Richtung WC.

In der langen Geschichte der Bahnhofstoiletten wurde noch nie eine von ihnen freiwillig betreten. Egal welcher der Vielzahl an möglichen Beschäftigungen man darin nachgehen möchte, eigentlich würde man es lieber woanders machen. Nur widrige Umstände zwingen die Menschheit dazu, einen Euro in einen Automaten zu werfen, damit ein Drehkreuz freigegeben wird, das es ihr gestattet, ihren wie auch immer gearteten Geschäften nicht in der Öffentlichkeit nachgehen zu müssen. In Maximilians Fall besteht das Geschäft darin, sich seiner alltagstauglichen Hülle zu entledigen und in eine zu schlüpfen, die sein wahres Ich nicht mehr verbirgt.

Maximilian verlässt das Sanifair-Klo des Bahnhofs in Mülheim an der Ruhr in einem Anzug, der ihn weltmännisch, aber vor allem reich aussehen lassen soll. Elegantes Hellgrau, eng geschnitten, das Bein endet über den Knöcheln, die in weißen Sneakern der Art stecken, von der man sofort weiß, dass sie so viel kosten wie ein neues iPhone. Maximilian sieht jetzt aus wie jemand, der nicht in Mülheim sein sollte, aber um ehrlich zu sein sieht kein Mensch, der noch einen Funken Lebenswillen besitzt, so aus, als ob er in Mülheim sein sollte. Maximilian zieht es weiter, das trostlose Ambiente der Bahnhofshalle, die übliche Mischung aus McDonald’s, überteuertem Backshop, Drogerie und einer dieser seltsamen Buchhandlungen, in denen Thriller und der Spiegel die einzigen Produkte zu sein scheinen, würdigt er keines Blickes. Seine Augen sind an das Display seines Handys gefesselt, auf dem ihn ein blauer Pfeil anweist, den Bahnhof nach links zu verlassen und der Straße »Tourainer Ring« zu folgen. Die 1,1 Kilometer bis zum Hotel Holiday Inn Express sollen innerhalb von exakt 14 Minuten zurückzulegen sein.

Die für einen Februartag mittlerweile fast schon gewohnt warme Luft bringt Maximilian auf seinem kurzen Weg leicht ins Schwitzen. Die natürliche Reaktion seines Körpers auf die kleine Anstrengung des kurzen Fußwegs ist ihm peinlich, denn Schweiß gehört ins Fitnessstudio, vielleicht ins Bett, doch niemals in einen noblen Anzug wie seinen. Die Schweißperlen auf der Stirn werden ihn gleich wie einen Konfirmanden aussehen lassen oder, schlimmer noch, wie einen dieser leberkäsbrötchen-fressenden Sparkassenangestellten, die beim kleinsten Risiko in Schnappatmung verfallen. Keinesfalls darf er sich die Blöße geben, auch nur ansatzweise mit den Insignien eines dieser Lowperformer aufzutreten, das würden sie ihm nie verzeihen, sich auf ihn stürzen wie ein Rudel Wölfe. Ein kurzer Blick auf seine silberne PATEK PHILIPPE NAUTILUS beruhigt ihn, 9.08 Uhr, noch locker genug Zeit, um dieses Malheur zu beheben, den sich bildenden Schweißgeruch zu übertünchen, die dunkelblonde Frisur gerade zu ziehen, die Flecken unter den Armen zu trocknen, alles halb so wild. Improvise. Adapt. Overcome.

Als sich die automatische Tür des Hotels vor ihm teilt, ist Maximilians leichter Anflug von Angst beinahe verschwunden. Selbstsicher betritt er die Lobby und steuert geradewegs auf die Rezeption zu, als er bemerkt, nicht bemerkt zu werden. Das einzige Augenpaar des sonst menschenleeren Eingangsbereiches ist gebannt auf einen Handybildschirm gerichtet. Ein Affront, nicht nur gegen ihn, sondern gegen den gesamten Hotelleriestandort Deutschland, der mit jeder abgelenkten Rezeptionistin weiter im Sandsturm seiner eigenen Servicewüste zu versinken droht. Maximilian weiß, dass das eigentlich nur eine Lappalie und somit seiner Energie nicht wert ist. Natürlich könnte er sich einfach laut hörbar räuspern, natürlich würde sie sich dann entschuldigen und lächeln und beide könnten einfach mit ihrem Tag weitermachen, ohne Energie auf diese komplett nebensächliche Begegnung zu verschwenden. Natürlich ginge das, ein Mal kann man so ein Fehlverhalten schon durchgehen lassen, ein Mal kann man ein Auge schon mal zudrücken. Vielleicht auch zweimal. Dreimal wäre auch nicht schlimm. Aber dann kommt das vierte, das fünfte, das sechste und das siebte Mal und irgendwann bildet sich ein Trampelpfad auf dem Weg des geringsten Widerstands und innerhalb kürzester Zeit würde sich Maximilian von jeder Ticketkontrolleurin, von jedem Barista, von jeder Busfahrerin und von jedem Supermarktangestellten herumschubsen lassen. Wer etwas Besseres ist und seine Umwelt nicht zu jeder Gelegenheit daran erinnert, etwas Besseres zu sein, ist nicht bescheiden, sondern einfach nichts Besseres.

Maximilian bleibt deshalb keine andere Wahl, als sich vor den Tresen zu stellen, sich aufzubauen, der Rezeptionistin eine letzte Chance zu geben und sich dann das zu holen, was ihm zusteht: die gesamte Aufmerksamkeit.

»HALLO, AUFWACHEN!«

Noch bevor sie reagieren kann, schnipst Maximilian ihr den kabellosen In-Ear-Kopfhörer aus dem Ohr. Ganz sicher war das gerade ein Schritt zu viel, deutlich zu heftig, doch was geschehen ist, ist geschehen, die Blickrichtung der Gewinner ist vorwärts und vielleicht kann sie bei der Suche nach dem Kopfhörer überdenken, wie sich dieses Vorkommnis hätte vermeiden lassen können.

»Wird hier auch gearbeitet oder nur am Handy gedaddelt?«

Im Bruchteil einer Sekunde durchläuft die Mimik der Rezeptionistin die drei Phasen, die Menschen immer durchlaufen, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, das die längst verinnerlichten gesellschaftlichen Konventionen durchbricht. Erstaunen, Wut, Rückkehr zum vorgeschriebenen sozialen Protokoll. Der ungläubig aufgerissene Mund schließt sich, die Lippen werden zu einem wütenden Strich, bevor sie sich zu einem kalten Lächeln nach oben biegen. Typisch Schaf, typisch Schläfer, jeder, der auch nur einen Blick hinter die Kulissen dieser Welt erhaschen konnte, hätte ihm jetzt die Meinung gegeigt, doch was ist von einer Rezeptionistin zu erwarten?

»Oh, entschuldigen Sie bitte vielmals. Kann ich Ihnen helfen?«

Und ob sie das kann. Maximilian lässt keinen Zweifel an der maximalen Dringlichkeit seines Anliegens.

»Krach Consulting, ich habe den Tagungsraum 1 für heute zwischen zehn und achtzehn Uhr reserviert. Kein Lunch, kein Tagungspaket, nur den Raum.«

Zwei Klicks am Rezeptionscomputer und eine geöffnete Schublade später hält Maximilian den Schlüssel zum »Tagungsraum 1« in der Hand. Den Gang runter, Damentoilette, Herrentoilette, dritte Tür links, Schlüssel ins Schloss. Als der riesige Anhänger aus Metall mit der eingravierten Eins laut gegen die Tür schlägt, fragt sich Maximilian, warum der Tagungsraum 1 »Tagungsraum 1« heißt, obwohl es hier offensichtlich nur diesen einen Tagungsraum gibt. Der Tagungsraum sieht exakt so aus, wie der Anblick der Lobby es erwarten lässt. Die bodentiefen Fenster sind auf den Innenhof ausgerichtet, die undurchsichtige Milchglasfolie soll wohl eher die Tagungsgäste vor dem Anblick des Draußen schützen als das Innere vor neugierigen Zuschauern. Maximilian macht sich sofort an die Arbeit, löst die Klassenzimmeranordnung auf, schiebt die Tische an die hintere Wand und beginnt, die Stühle in Theaterposition zu bringen. Maximilians Seminare sind kein Unterricht, sondern eine Performance. Krach Consulting ist keine Firma, Krach Consulting ist eine Bewegung.

Aus den Tiefen seines Rollkoffers werden vier kleine Bluetoothboxen in die Ecken des Raumes befördert. Ein kleiner Adapter verbindet das mitgebrachte MacBook mit dem von der Decke hängenden HDMI-Kabel des Beamers, bevor Maximilian geflissentlich die Systeme checkt. Routine ist tödlich. Der silberne Minutenzeiger auf dem blauen Ziffernblatt der PATEK steht kurz vor der Zehn, eine gute Nachricht, denn so bleibt Maximilian noch genug Zeit, um die Frisur, Gesichtsbehaarung und seinen Körpergeruch in den Optimalzustand zu versetzen, bevor sein Publikum die noch leeren Stühle besetzen und er den Verstand der Anwesenden ein weiteres Mal kapern wird. Maximilian lässt die Fernbedienung des Beamers in der Innentasche seines Sakkos verschwinden, zieht die Vorhänge des Seminarraums zu und macht sich auf den Weg nach nebenan.

Die in Grau gehaltene Farbpalette eines Februartages in Mülheim an der Ruhr wird von der Herrentoilette neben dem Tagungsraum 1 um mehrere Dutzend weiterer Graustufen ergänzt. Graue Fliesen an Wand und Boden, graue Abtrennwände zwischen den Kabinen, graue Urinale, graue Papierhandtuchspender, die mit grauem Papier befüllt sind, ein ergrauter Kondomautomat kündet von den »Joys of Sex«, die man erleben könne, wenn man fünf graue Ein-Euro-Münzen für eine »Travelpussy« ausgibt. Maximilian stellt sich in das graue Licht, das aus den Leuchtstoffröhren an der Decke und den blickdicht abgeklebten Fenstern dringt, und begutachtet den Schaden, den die Anreise bei ihm hinterlassen hat. Der enge graue Anzug trägt ein paar verzeihbare Falten, der akkurate Dreitagebart lässt trotz Zugfahrt keinerlei Zweifel aufkommen, ob er gewollt oder Produkt einer versehentlichen Verwahrlosung ist, der leichte Schweiß des Fußwegs ist längst getrocknet, einzig und allein der zementierte Scheitel der dunkelblonden Haare muss mit einem einfachen Handgriff korrigiert werden. Alles gar nicht so schlimm, alles genau so, wie es sein soll, wie es zu sein hat. Und ganz im Ernst, so schlecht sieht er nicht aus. Natürlich sieht kein Mann im Anzug wirklich schlecht aus, doch ein Anzug wie dieser würde jeden kleinen Makel seines Körpers, jeden Ansatz eines Bauches gnadenlos herausarbeiten, wenn er denn einen hätte. Ein wacher Geist in einem gesunden Körper. Gesund, aber auf keinen Fall übertrainiert, niemand soll denken, er habe zu viel Freizeit, wahren Fleiß belegt der Kontostand, nicht der Körperfettanteil.

Komplett eingenommen vom fleischgewordenen Monument seines eigenen Anspruchs nach Vollkommenheit, nimmt Maximilian der Reihe nach mehrere einstudierte Posen ein.

Hand an der Krawatte, kritischer Blick in die Ferne? Ein Mann von Welt.

Hand am Kinn, wissendes Lächeln? Ein gewitzter Gelehrter.

Zeigefinger an der Schläfe, gewieftes Grinsen? Ein Dompteur in der Manege dessen, was andere Realität nennen.

Arme vor der Brust, Kinn nach oben? Sag uns, wo es langgeht. Maximilian wähnt sich bereit.

Als er bemerkt, dass der Minutenzeiger der PATEK die Elf überschritten hat und erbarmungslos auf die volle Stunde zusteuert, fängt sein Puls an, schneller zu werden. Innerhalb von Sekunden überschreitet er das Niveau eines angemessenen Lampenfiebers und schnellt in Höhen, die nur für Leistungssport, die Reaktion auf den Biss eines Werwolfs und Treppensteigen vorgesehen ist. Schweiß schießt aus Maximilians Poren und macht sich daran, das eben erst getrocknete Hemd zu durchnässen. All die minutiöse Planung, der eisern einstudierte Ablauf, die perfekte Choreografie, sonst ein Rettungsring im Wellenbad seiner achtstündigen Seminartage, zieht sich jetzt um ihn zusammen und drückt ihm die Luft aus der Lunge. Seine Gedanken, gerade noch ein Hochgeschwindigkeitszug auf den Schienen der Planbarkeit, sind entgleist, aus den brennenden Trümmern des Wracks seines Bewusstseins steigen Rauchwolken aus Was-wenns auf.

Was, wenn der Beamer doch nicht funktioniert?

Was, wenn der Ton der Boxen hängt?

Was, wenn er sich verhaspelt, was, wenn er seinen Text vergisst?

Was, wenn der Funke dieses Mal nicht überspringt, was, wenn Krach Consulting doch keine Bewegung ist, was, wenn er stolpert, hinfällt, seine Anzughose zerreißt? Was, wenn jemand bemerkt, dass die Stellrädchen seiner Uhr deutlich mehr aus dem Gehäuse herausragen als bei einer echten PATEK, was, wenn ihn heute jemand im Zug gesehen hat? WAS WENN WAS WENN WAS WENN?

Die Anzahl möglicher Katastrophen verdoppelt sich im viel zu schnellen Tempo seines Herzschlags, alles ist im Rutschen, Maximilians Knie werden weich. Als sein Magen ankündigt, sich demnächst der letzten Reste seines Abendessens und der in ihm befindlichen Magensäure zu entledigen, stürzt Maximilian in eine der Kabinen, verschließt hektisch die Tür und erbricht sich mit tränenden Augen in die Schüssel und auf bedeutende Teile der Klobrille. Angeekelt von der eigenen Schwäche, dem Geruch seines Mageninhalts und dem beißenden Zitrusgeruch des etwas zu großzügig verwendeten Toilettenreinigers, wendet sich Maximilian ab und wischt sich sitzend, an der Kabinenwand lehnend, mit dem Handrücken die Galle von den Lippen, nur um von einer Welle weiterer Was-wenns erfasst zu werden. Was, wenn sie seine Schwäche riechen können? Was, wenn heute niemand kommt? Was, wenn sie es alle längst wissen und nur noch kommen, um sich heimlich über ihn lustig zu machen?

Ob Sekunden, Minuten oder Stunden vergehen, bis die Panik abzuebben beginnt, weiß Maximilian nicht. Als irgendwann langsam die klaren Gedanken in Maximilians Gehirn zurückkehren und er sich beinahe bereit fühlt, sich an der Wand der Klokabine aufzurichten, vibriert sein Handy. Ein Anruf. Etwas mühsam bugsiert er es aus der Tasche seiner eng geschnittenen Hose. Das Schwarz des Sperrbildschirms seines iPhones wird nur von den weißen Ziffern der Uhrzeit durchstochen, der Meldung eines eingehenden Anrufs aus der Region Mülheim, Nordrhein-Westfalen, und einem einzelnen in goldenen Lettern geschriebenen Wort auf dem Hintergrundbild. MINDSET.

»Krach Consulting, hallo?«

Die Aussicht, sich ab halb zehn entspannt Richtung Schichtende treiben zu lassen, war einfach zu schön, um wahr zu sein, irgendwas musste sie vergessen haben. Die unangenehme Begegnung mit diesem Consulting-Typen war so etwas wie die Bestrafung des Universums dafür, sich auch nur eine Sekunde wohlzufühlen. Vorwürfe macht sie sich keine, warum auch? Ein Job ist ein Job, ihr Leben hängt nicht von ihm, sondern nur von dem Geld ab, das ihr seinetwegen am Monatsende überwiesen wird, und ein angepisster Anzugträger, der etwas gegen ihre Arbeitsmoral einzuwenden hat, wird ihr keinen Cent weniger einbringen. Neben dem Verbleib ihres aus dem Ohr geschnipsten Kopfhörers beschäftigt Yasmin nur ein einziges Problem: Wer einen Tagungsraum reserviert, erwartet Gäste, und wenn schon der Auftritt des Gastgebers Grund genug ist, das Wort »Jungunternehmer« für immer als Beleidigung zu benutzen, dann erwartet die Hotellobby in den nächsten Minuten ein Schaulaufen der unangenehmsten Gestalten, die sich jemals nach Mülheim an der Ruhr verlaufen haben.

Die Entourage lässt nicht lange auf sich warten, schon zehn Minuten vor dem Beginn der Reservierung trudeln die ersten Teilnehmer ein. Enger Anzug, auffällige Uhr, freigelegte Knöchel in weißen Sneakern, akkurat gestutzte Frisuren. Ihre Interaktion mit Yasmin beschränkt sich aufs Allernötigste, ihre Blicke sind missbilligend, als wäre sie ihrer Aufmerksamkeit nicht wert, und wahrscheinlich denken sie genau das. Vielleicht ist es Rassismus, vielleicht ist es Misogynie, vielleicht ist es pure Verachtung für Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit tatsächlicher Arbeit bestreiten müssen. Einen nach dem anderen verweist sie an die dritte Tür links im Gang links vor ihr, hinter der sie verschwinden und hoffentlich erst wieder hervorkommen, wenn Yasmin längst Feierabend gemacht hat. Kurz nach zehn verebbt der Strom an Gästen, der allenfalls ein kleines Rinnsal war. Tschüss, ihr Trottel, viel Spaß bei eurem dämlichen Seminar.

Gerade als Yasmin ihren Posten auf eigenes Risiko für ein paar Minuten verlassen möchte, um den Koffeinspiegel in ihrem Blut mit einer weiteren Tasse Kaffee nach oben zu korrigieren, tritt einer der Männer an die Rezeption.

»Der Herr Krach, also … ich bin von GENESIS EGO, diesem Seminar hier von Krach Consulting, und der ist noch nicht da, also der Herr Krach, wissen Sie, ob der hier schon eingecheckt hat, also ob der schon da ist?«

Gerade, als ihr Hass auf die Anzugmänner weiß glühend geworden war, brachte der stotternde Typ, der kaum mehr war als ein in einen H&M-Anzug gesteckter Junge, wieder alles so weit ins Wanken, dass sie beinahe Mitleid mit ihm hatte. Das ängstliche Lämmchen sucht seinen Schäfer, kein Wunder, dass keiner von denen sich traute, mit ihr zu sprechen. Fast niedlich, aber immer noch zutiefst verachtenswert, ein Widerspruch, den es auszuhalten gilt.

»Herr Krach hat hier vor fast einer Stunde eingecheckt und ist in den Tagungsraum 1 gegangen, mehr weiß ich leider nicht. Könnten Sie ihn nicht einfach anrufen?«

Das Wort »anrufen« lässt den Anzugjungen zusammenzucken, als hätte Yasmin ihn gefragt, ob er nicht mal kurz ins Holz der Rezeption beißen könne, damit er nicht so schreit, wenn sie ihm den Hintern verdrischt.

»Niemand ruft den Chef an, also der Chef mag es wirklich gar nicht, angerufen zu werden, er meint immer, also der Chef, dass Anrufe verlorene Zeit sind und dass Elon Musk, also der telefoniert auch nie, also Elon Musk …«

Yasmin grinst ihn an, als sie Maximilian Krachs Onlinebuchung aufruft und die hinterlegte Handynummer in das Festnetztelefon der Rezeption eintippt. Der Anzugjunge wird aschfahl, als er das leise Tuten des Freizeichens hört, und noch fahler, als es abbricht. Krach hat tatsächlich abgenommen.

»Hallo Herr Krach, Yasmin Kara vom Holiday Inn Express Mülheim hier, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich hab hier einen jungen Herren stehen, der sich wundert, wo Sie sind und ob bei Ihnen alles in Ordnung ist. – Alles klar, richte ich ihm aus. Danke Ihnen!«

Lächelnd legt Yasmin den Hörer zurück auf die Gabel, beinahe mütterlich ist ihr Ton, als sie dem sichtlich aufgelösten Seminarteilnehmer erklärt, dass Herr Krach einen »beruflichen Notfall« hatte, der sich aber geklärt habe, und dass Herr Krach jetzt auf dem Weg sei. Der Anzugmann beruhigt sich und verschwindet schneller Richtung Tagungsraum 1, als Yasmin ihn fragen kann, ob das sein Konfirmationsanzug ist. Sie bleibt allein mit der hartnäckigen Wolke schweren Parfüms, die er in der Lobby hinterlässt, und dem noch hartnäckigeren Eindruck, dass hier irgendetwas nicht stimmen kann. »Beruflicher Notfall«, klar, irgendeine Boshaftigkeit wird dieser Herr Krach schon haben, die er dringend zu veranlassen hat, aber wohin ist er in der Sackgasse des Gangs zum Tagungsraum und den Toiletten verschwunden? Warum hat er seinen Gästen nicht Bescheid gesagt? Warum traut sich niemand, ihn anzurufen? Warum war dieser Anzugjunge so unendlich weinerlich, warum klang Krachs Stimme am Telefon so gebrochen, warum atmete er so schwer? Und was zur Hölle soll Krach Consulting überhaupt sein? Fragen über Fragen, die …

MEEEBRÖÖÖÖÖÖÖÖ-FA-FA-FA-FA-CCHCHCHCHCHCHCHCHCHchchchch

… aufhörten, sie zu interessieren, als der Kaffeevollautomat im Personalpausenraum des Holiday Inn Express Mülheim an der Ruhr begann, ihren Cappuccino auszuspucken, der heute genauso schlecht schmecken würde wie an jedem anderen Tag.

EINE HALBE STUNDE.

Eine halbe Stunde hatte Maximilian damit verbracht, auf den rutschfesten Fliesen einer Klokabine zu sitzen und irgendwie wieder klarzukommen. EINE HALBE STUNDE! Maximilian hätte nicht mal mehr sicher sagen können, ob nicht irgendwer währenddessen den Toilettenraum betreten hat, was für eine Blamage, was für eine unendliche Blamage. Nebenan wartet ein Raum voller hoch motivierter Menschen, die bereit sind, alles dafür zu geben, sich und die Welt um sie herum mittels seiner Methoden zu optimieren, während er nichts Besseres zu tun hat, als apathisch am Boden zu sitzen und sich selbst zu bemitleiden, eine kaum zu überbietende Peinlichkeit, wie unendlich unangenehm. »Was wenn was wenn was wenn was wenn«, was, wenn er endlich seinen verweichlichten Arsch hochbekommt und den Menschen das gibt, wofür sie stundenlang angereist sind? Maximilian schämt sich, in dieser Verfassung ist er kaum besser als die musikhörende Rezeptionistin, die ihn mit ihrem Anruf aus seinem Zustand gerettet hat. Arbeitsverweigerung ist Arbeitsverweigerung, wer sich zum Untertan seiner eigenen Psyche macht, wird in jedem Streben nach Erfolg nur zweiter Sieger werden.

Maximilian ist sich nicht sicher, ob die Rezeptionistin das Brechen seiner Stimme bemerkt oder ob sie das mit dem »beruflichen Notfall« tatsächlich geglaubt hat, ist aber auch egal. Denn so außergewöhnlich Maximilian auch ist, für sie ist er nur ein beliebiger Gast, sogar einer von den schlechteren, schließlich hat er nicht mal ein Zimmer, sondern nur den schäbigen Tagungsraum gebucht. Jeder Gedanke, den sie an ihn verschwendet, wäre einer zu viel, er wird erst wieder Teil ihrer Realität, wenn er heute am frühen Abend den Schlüssel zurückgibt. Lügen sind dann am effektivsten, wenn niemand an der Wahrheit interessiert ist.

Für Maximilian geht es jetzt um Schadensminimierung. Nachdem er den Kampf um die Kontrolle seines eigenen Körpers gewonnen hat, ist es jetzt an der Zeit, auch das Heft des Handelns wieder zu übernehmen. Er tritt vor die Tür der Klokabine, um ein zweites Mal im erbarmungslosen Licht der Leuchtstoffröhre sein Äußeres im Spiegel über dem grauen Waschbecken zu überprüfen. Seine Ansprüche sind dieses Mal deutlich niedriger, doch gerecht wird er ihnen nicht, zu tief sind die Krater, die die Panik in seinem Gesicht hinterlassen hat. Zerzauste Haare, am Hinterkopf platt gedrückt von der Kabinenwand, das Gesicht gerötet, der Anzug zerknittert. Die Melange aus Zitrusreiniger, altem Schweiß, Erbrochenem und ACQUA DI PARMA lässt ihn wie eine Dorfdisco riechen, doch das wird heute ausreichen müssen.

Ein letztes Mal durchatmen, dann tritt Maximilian entschlossen aus der Toilette zurück auf den Gang und steuert in Richtung des Tagungsraums, dessen Tür dankbarerweise geschlossen ist. Er befindet sich jetzt im Tunnel. Sein Blickfeld verengt sich, er atmet gezielt schneller, das soll die Sauerstoffsättigung in seinem Blut erhöhen, um seine Sinne weiter zu schärfen. Volle Konzentration, das Einzige, was zählt, ist, dass er weiß, was die Teilnehmer seines Seminars von ihm erwarten, und dass er weiß, dass er es ihnen geben wird – auch an einem Tag wie diesem. Sie wollen Krach, Maximilian Krach, den CEO von Krach Consulting. Aber vor allem wollen sie hören, wie sie ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Sich aus Zwängen befreien können. Sie wollen hören, wie sie mit seinem eigens entwickelten Programm GENESIS EGO ihr eigenes Ich neu schöpfen können. Und das wird er ihnen zeigen. Vor der Tür muss Maximilian innehalten, noch mal fummelt er sein Handy aus der engen Hose und wartet quälend lange Sekunden darauf, dass es eine Verbindung mit den im Tagungsraum platzierten Bluetoothlautsprechern herstellt. Dann wählt er die Datei »Intro_neu.wav« aus, drückt auf Play und wartet vor der Tür stehend auf seinen Einsatz. 00:00, 00:01, 00:02, 00:03. Der kleine Punkt auf dem Playbalken wandert beständig weiter nach rechts. Als er bei 00:07 angekommen ist, hört Maximilian den verheißungsvoll anschwellenden Bass bis vor die Tür des Tagungsraums. Jetzt.

Maximilian öffnet die Tür und betritt den dunklen Raum. Niemand hat es gewagt, die Vorhänge zu öffnen, natürlich nicht. Der Bass ist zu einem epischen Dröhnen geworden, das die Boxen an ihre Belastungsgrenzen bringt. Er drückt auf die Fernbedienung in der Tasche seines Sakkos, der Beamer erwacht aus dem Ruhezustand, beleuchtet Maximilian wie ein Scheinwerferlicht und projiziert einen goldenen Schriftzug auf die Wand hinter ihm.

GENESIS EGO. Schöpfe dein ICH.

Maximilian ist sich der beeindruckenden Wirkung seines Auftritts bewusst und genießt das angespannte Schweigen. Gegen das gleißende Licht des Beamers sind seine Augen machtlos, sein Publikum kann er nur erahnen. 00:11, 00:12, der Bass hat mittlerweile eine Lautstärke erreicht, bei der die Boxen aufgeben, die rohe Gewalt des Tons geht verloren in der technischen Limitierung des Equipments. Bei 00:13 ebbt der Ton schließlich ab, die einkehrende Stille ist fast noch erdrückender als die Lautstärke, die ihr vorausging. Unerträglich lange Sekundenbruchteile der Stille, bis sich Maximilian endlich erbarmt, den Raum und die Ohren seines Publikums mit dem Klang seiner Stimme zu füllen.

»Was unterscheidet das Schaf von den Wölfen? Das Schaf ist nicht langsamer als der Wolf, beide können bis zu fünfzig Kilometer pro Stunde schnell werden. Das Schaf ist nicht schwächer als der Wolf, beide können mit der Kraft eines Kleinwagens zubeißen. Beide sind Säugetiere, beide bewohnen ähnliche Lebensräume, beide kümmern sich gemeinschaftlich um den Aufzug des Nachwuchses. Was also unterscheidet das Schaf von den Wölfen? Die Biologie kann uns darauf keine Antwort geben.«

Niemand im Tagungsraum 1 denkt auch nur im Entferntesten daran, Maximilians rhetorische Fragen zu beantworten oder gar seine Ausführungen zu unterbrechen. Nicht mal der durch die Fenster in den Raum dringende Verkehrslärm der Mülheimer Innenstadt kann die Konzentration der Seminarteilnehmer brechen, die so gebannt an Maximilians Lippen hängen, dass sie nicht mal bemerken, dass er gerade behauptet hat, dass Wölfe und Schafe dasselbe Tier wären.

»Den Unterschied zwischen Wolf und Schaf kann uns einzig die Psychologie erklären. Der Wolf ist Jäger und das Schaf ist Gejagter, aber nur, weil ihr Mindset ihnen das vorschreibt. Es gibt keinen biologischen Grund dafür, dass sich Schafe nicht umdrehen und anfangen, die Wölfe zu jagen, das Einzige, was sie davon abhält, ist ihr Gehirn. Aber Schafe können sich nicht ändern, Schafe sind dazu verdammt, Schafe zu bleiben, Schafe können niemals begreifen, dass sie mehr sind als Grasfresser und Proteinlieferanten. Das einzige Tier, das die Macht hat, vom Schaf zum Wolf zu werden, ist der Mensch.«

Tiermetaphern sind die Butter auf dem Brot jedes Redners. Von Jesus bis Joseph Goebbels hat jeder ernst zu nehmende Rhetoriker sich ihrer bedient. Maximilian muss nicht besonders tief in die Trickkiste greifen, um die Seminarteilnehmer für sich einzunehmen. Wölfe, Schafe, die Sprachbilder sind eingeübt, der weitere Verlauf der Rede ist allen im Raum bekannt. Doch Maximilian weiß, dass niemand hier gekommen ist, um den eigenen Horizont zu erweitern. Der Tagungsraum 1 im Holiday Inn Express in Mülheim an der Ruhr ist ausschließlich mit Menschen gefüllt, die in ihrer