Mir fällt Einstein vom Herzen - Helen Czerski - E-Book

Mir fällt Einstein vom Herzen E-Book

Helen Czerski

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Beschreibung

Warum bekommen Enten keine kalten Füße? – Physikalische Alltagsphänomene genial und spannend erklärt Ob Wärmelehre, Schwerkraft oder Beschleunigung, unser Alltag wird von physikalischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt: Was haben Skorpione und Textmarker gemeinsam? Was hat ein Toaster mit dem Universum zu tun? Wieso dreht sich ein hartes Ei schneller als ein weiches? Wie macht man aus billiger Limonade und Rosinen eine Lavalampe? Wie funktioniert eigentlich ein Fahrstuhl? Und kennen Sie den Kaffeerandeffekt? Mit viel Humor und für jeden verständlich erklärt die legendäre Physikerin Helen Czerski, wie und warum die Welt um uns herum eigentlich funktioniert. Physik, die Spaß und schlauer macht!

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Seitenzahl: 492

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Helen Czerski

Mir fällt Einstein vom Herzen

Die Welt verstehen. Physik für alle

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoEinleitung1 Popcorn und Raketen2 Auf und ab3 Klein, aber fein4 Eine Frage der Zeit5 Kleine Wellenkunde6 Warum bekommen Enten keine kalten Füße?7 Stiefel, Sputnik und Spiralen8 Gegensätze ziehen sich an9 Alles im BlickDer menschliche KörperErdeZivilisationLiteraturverzeichnisDankRegister

Für meine Eltern, Jan und Susan

Als Studentin verbrachte ich einmal einige Zeit im Haus meiner Oma, um dort für eine Physikprüfung zu lernen. Oma, eine bodenständige Nordengländerin, war tief beeindruckt, als ich ihr erklärte, dass ich mich mit der Struktur von Atomen befasste.

»Oh!«, sagte sie. »Und was kannst du damit anfangen, wenn du sie kennst?«

Das ist eine sehr gute Frage.

Einleitung

Wir leben am äußersten Rand des Planeten Erde, am Übergang zwischen ihm und dem Rest des Universums. In klaren Nächten können wir Abertausende leuchtende Sterne bewundern, vertraut und beständig, einzigartige Orientierungspunkte für unsere Position im Kosmos. Jede menschliche Zivilisation hat die Sterne betrachtet, doch niemand hat sie je berührt. Unser Leben auf der Erde ist das Gegenteil: Chaotisch, unstet, ständig neu, und es wimmelt von Dingen, die wir jeden Tag in den Händen halten und benutzen. Darauf müssen wir den Blick richten, wenn wir die Funktionsweise des Universums verstehen möchten. Die Welt um uns herum ist erstaunlich abwechslungsreich, eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten und verschiedene Kombinationen immer gleicher Atome bringen ganz unterschiedliche Ergebnisse hervor. Doch diese Vielfalt ist nicht beliebig. Unsere Welt ist von Mustern geprägt.

Wenn Sie Milch in Ihren Tee geben und umrühren, sehen Sie einen Strudel, eine Spirale von zwei Flüssigkeiten, die einander getrennt umkreisen. In der Tasse existiert diese Spirale nur wenige Sekunden, bevor sich die Flüssigkeiten vollständig vermischen. Doch diese Zeitspanne reicht, um sie wahrzunehmen, sie erinnert uns daran, dass Flüssigkeiten beim Zusammenfließen wunderschöne Muster bilden, statt direkt ineinander aufzugehen. Das gleiche Muster findet sich auch an anderen Stellen, aus dem gleichen Grund. Wenn man die Erde vom Weltraum aus betrachtet, sieht man solche Verwirbelungen oft in den Wolken, dort, wo warme und kalte Luft einander umtanzen, bevor sie sich vermischen. Solche Wirbel schieben sich regelmäßig von Westen über den Atlantik auf Großbritannien zu und erzeugen so unser notorisch unbeständiges Wetter. Sie entstehen an der Grenze zwischen kalter Polarluft im Norden und warmer tropischer Luft im Süden. Die kalte und warme Luft jagen einander im Kreis, wie man auf Satellitenbildern klar erkennen kann. Wir kennen diese Verwirbelungen als Tiefdruckgebiete oder Zyklonen, deren Ausläufer uns abrupte Wechsel zwischen Wind, Regen und Sonnenschein bescheren.

Ein solcher rotierender Sturm scheint wenig mit einer umgerührten Tasse Tee zu tun zu haben, doch die Ähnlichkeit der Muster ist kein Zufall. Sie weist auf etwas Grundlegenderes hin, eine systematische Struktur, die über Generationen hinweg von Menschen erforscht und in präzisen Experimenten überprüft wurde. Dieser Prozess – das kontinuierliche Erforschen und Überprüfen von vorhandenem Wissen sowie das Ergründen und Verstehen von neuen Zuständen – nennt sich Wissenschaft.

Manchmal ist es ganz leicht, ein Muster an verschiedenen Stellen zu entdecken. Doch gelegentlich liegt die Verbindung tiefer; dann ist es umso befriedigender, sie zu finden. Ein Beispiel: Es ist schwer vorstellbar, dass Skorpione und Radfahrer viel gemeinsam haben. Doch beide setzen auf den gleichen naturwissenschaftlichen Trick, um zu überleben, wenn auch auf entgegengesetzte Weise.

Eine mondlose Nacht in der nordamerikanischen Wüste ist eine kalte und stille Erfahrung. Es scheint nahezu unmöglich, hier draußen irgendetwas zu finden, da der Boden nur vom schwachen Licht der Sterne beleuchtet wird. Doch wer etwas ganz Besonderes sehen will, schnappt sich eine Spezialtaschenlampe und marschiert in die Dunkelheit hinaus. Die Taschenlampe muss in der Lage sein, für uns nicht wahrnehmbares Licht auszusenden: ultraviolettes Licht, auch »Schwarzlicht« genannt. Wenn ihr Strahl über den Boden gleitet, erkennt man nicht, worauf er gerichtet ist, da das Licht unsichtbar ist. Doch plötzlich blitzt etwas auf, und die Finsternis der Wüste wird durch einen überrascht umherkrabbelnden, seltsam blaugrün gefärbten Fleck durchbrochen. Ein Skorpion.

So suchen Enthusiasten nach Skorpionen. Der Panzer dieser schwarzen Arachniden enthält Pigmente, die das für uns unsichtbare ultraviolette Licht absorbieren und für uns sichtbares Licht abstrahlen. Das ist clever eingerichtet, auch wenn sich die Begeisterung aller, die Angst vor Skorpionen haben, vielleicht in Grenzen hält. Dieser Lichttrick trägt die Bezeichnung »Fluoreszenz«, und das blaugrüne Leuchten der Skorpione ist wohl eine Anpassung, die ihnen hilft, in der Abenddämmerung die besten Verstecke zu finden. Ultraviolette Strahlung umgibt uns immer, doch in der Dämmerung, wenn die Sonne gerade hinter dem Horizont abgetaucht ist, ist ein Großteil des sichtbaren Lichts verschwunden und nur das ultraviolette noch da. Jeder Skorpion, der sich nun im Freien aufhält, leuchtet und kann leicht entdeckt werden, weil es um ihn herum kaum blaues oder grünes Licht gibt. Wenn er nur ein kleines bisschen ungeschützt ist, bemerkt er sein eigenes Leuchten und erkennt daran, dass er sich besser verstecken muss. Es ist ein elegantes und effektives Warnsystem – zumindest war es das, bis die Menschen mit den Schwarzlicht-Taschenlampen auftauchten.

Glück für Arachnophobiker: Man muss nicht unbedingt nachts durch eine Wüste mit Skorpionen laufen, um etwas Fluoreszierendes zu sehen – auch an einem trüben Morgen in der Stadt ist es weit verbreitet. Schauen Sie sich die sicherheitsbewussten Radfahrer einmal genau an: Ihre Signalwesten erscheinen im Vergleich zur Umgebung auffällig farbenkräftig. Es sieht aus, als leuchteten sie – und das tun sie auch. An bewölkten Tagen blockieren die Wolken das sichtbare Licht, doch die ultravioletten Strahlen dringen trotzdem durch. Die Pigmente in der Signalkleidung nehmen sie auf und geben sichtbares Licht ab. Es ist das gleiche Verfahren wie bei den Skorpionen, doch aus dem entgegengesetzten Grund. Die Radfahrer wollen leuchten, dank dieses zusätzlichen Lichts sind sie leichter zu sehen und somit geschützter. Für Menschen ist diese Art der Fluoreszenz ein toller Tausch: Mit dem ultravioletten Licht verlieren wir etwas, das wir ohnehin nicht sehen, und gewinnen dafür etwas, das wir nutzen können.

Dieser Vorgang ist an sich schon faszinierend genug, doch besonders toll finde ich, dass eine physikalische Erkenntnis wie diese nicht nur grundsätzlich interessant ist, sondern auch an vielen Stellen als Werkzeug eingesetzt werden kann. In diesem Fall schützt das gleiche physikalische Prinzip Skorpione und Radfahrer. Außerdem sorgt es dafür, dass Tonic Water im Schwarzlicht aufleuchtet, weil das enthaltene Chinin fluoresziert. Und auch Textmarker und optische Aufheller in Waschmitteln funktionieren auf diese Weise. Wenn Sie das nächste Mal eine angestrichene Passage sehen, denken Sie daran, dass die Textmarkerfarbe auch als Indikator für ultraviolette Strahlung dient; obwohl man sie nicht sehen kann, verrät das Leuchten der Farbe, dass sie da ist.

Ich habe Physik studiert, da in diesem Fach Dinge erklärt werden, die mich interessieren. Die Physik gestattet mir einen Blick auf die Mechanismen, die unserem Alltag zugrunde liegen. Und das Beste ist: Ich kann einige von ihnen selbst erforschen. Auch heute, da ich hauptberufliche Physikerin bin, entspringen die meisten meiner Erkenntnisse nicht langen Laboraufenthalten, komplizierten Softwareprogrammen und teuren Experimenten. Die befriedigendsten Entdeckungen finden statt, wenn ich zufällig mit irgendetwas herumspiele und eigentlich gar nicht aktiv forsche. Wer ein paar Grundlagen der Physik kennt, für den ist die Welt eine Spielzeugkiste.

Oft werden die wissenschaftlichen Vorgänge, die sich in der Küche, im Garten oder auf der Straße beobachten lassen, ein bisschen herablassend betrachtet, als handle es sich um Kinderkram, triviale Ablenkungen, die den Kleinen viel bedeuten, für Erwachsene jedoch im Grunde nutzlos sind. Erwachsene kaufen sich lieber Bücher über den Aufbau des Universums; das ist ein angemessenes Thema für sie. Doch diese Einstellung missachtet eine sehr wichtige Tatsache: Überall wirken die gleichen physikalischen Gesetze. Jeder Toaster kann uns einige Grundgesetze der Physik nahebringen, und der Vorteil an einem Toaster ist, dass die meisten Leute einen zu Hause stehen haben und selbst untersuchen können, wie er funktioniert. Physik ist so spannend, gerade weil überall die gleichen Muster zu entdecken sind – sowohl in der Küche als auch in den entlegensten Teilen des Universums. Der Vorteil daran, sich zunächst den Toaster vorzunehmen, ist, dass man hinterher weiß, warum das Brot darin geröstet wird, auch wenn sich die Frage nach der Temperatur des Universums nie stellt. Sobald wir mit einem Muster vertraut sind, fällt es uns auch an anderen Stellen auf, sogar bei den beeindruckendsten Errungenschaften der Menschheit. Das Verständnis alltäglicher wissenschaftlicher Vorgänge verschafft uns ein Hintergrundwissen über die Welt, das jeder Bürger braucht, um voll und ganz am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.

Haben Sie jemals ein rohes von einem gekochten Ei unterscheiden müssen, ohne die Schale zu knacken? Es gibt einen einfachen Trick. Legen Sie das Ei auf eine glatte, harte Oberfläche und drehen Sie es im Kreis. Legen Sie nach wenigen Sekunden kurz einen Finger auf die Schale, so dass die Drehung gestoppt wird. Nun liegt das Ei unbewegt da. Doch nach ein oder zwei Sekunden nimmt es möglicherweise wieder Schwung auf. Von außen betrachtet sehen rohe und gekochte Eier gleich aus, doch ihr Inneres unterscheidet sich – und das ist die Erklärung dieses Tricks. Wenn Sie ein gekochtes Ei stoppen, bremsen Sie damit einen kompletten Festkörper. Doch wenn Sie ein rohes Ei anhalten, wirkt sich das nur auf die Schale aus. Die Flüssigkeit im Inneren dreht sich weiter und zieht die Schale nach ein oder zwei Sekunden wieder mit sich, so dass das Ei erneut zu kreisen beginnt. Wenn Sie mir nicht glauben, nehmen Sie ein Ei und probieren Sie es aus. Dahinter steckt das physikalische Prinzip, dass Objekte eine Bewegung grundsätzlich fortführen, wenn nichts auf sie einwirkt. In diesem Fall bleibt das Eiweiß in Bewegung, weil es keinen Anlass für eine Veränderung gibt. Das nennt sich Drehimpulserhaltung und gilt nicht nur für Eier.

Das Hubble-Weltraumteleskop, das seit 1990 seine Runden um unseren Planeten dreht, hat viele Tausend spektakuläre Fotos des Kosmos gemacht. Ihm verdanken wir Bilder vom Mars, der Uranusringe, der ältesten Sterne der Milchstraße, einer Galaxie mit dem wundervollen Namen Sombrerogalaxie, und des gigantischen Krebsnebels. Doch wie hält ein frei durchs All schwebender Gegenstand eigentlich die Position, wenn er auf solche winzigen Lichtpunkte gerichtet ist? Woher weiß man genau, in welche Richtung man gerade schaut? Das Hubble-Teleskop verfügt über sechs Gyroskope, von denen sich jedes 19200 Mal pro Sekunde um die eigene Achse dreht. Aufgrund der Drehimpulserhaltung werden sich diese Rädchen immer gleich schnell weiterdrehen, da nichts da ist, was sie bremst. Und an der Ausrichtung der Drehachse wird sich ohne triftigen Grund ebenfalls nichts ändern. Diese Gyroskope geben dem Teleskop eine Referenzrichtung vor, so dass das optische System so lange wie nötig auf ein entferntes Objekt gerichtet werden kann. Das physikalische Gesetz, auf dem die Lageregelung eines der komplexesten Instrumente unserer Zivilisation basiert, lässt sich anhand eines Eies in der Küche demonstrieren.

Deshalb finde ich Physik so wunderbar. Alles, was man lernt, erweist sich auch an anderer Stelle als nützlich, und es ist ein einziges großes Abenteuer, weil man nie weiß, wohin die Reise als Nächstes führt. Soweit wir wissen, gelten die physikalischen Gesetze, die wir hier auf der Erde beobachten können, im gesamten Universum. Viele der entscheidenden Vorgänge im Kosmos sind für jeden erforschbar. Sie können sie selbst überprüfen. Aus einem Experiment mit einem Ei schlüpft ein Prinzip, das überall Anwendung findet. Wenn Sie mit diesem Küken in der Hand vor die Tür gehen, sieht die Welt plötzlich anders aus.

In der Vergangenheit haben wir solche Erkenntnisse mehr zu schätzen gewusst. Früher war jeder Krumen Wissen hart erarbeitet und wertvoll. Heutzutage leben wir an der Küste eines ganzen Ozeans an Informationen, aus dem sich regelmäßig Tsunamis erheben und uns zu überrollen drohen. Wenn Sie mit Ihrem Leben so zurechtkommen, wie es ist, warum sollten Sie dann nach mehr Wissen und damit nach weiteren Komplikationen streben? Das Hubble-Weltraumteleskop ist ja eine nette Sache, doch bringt es uns irgendetwas, solange es seine Linsen nicht hin und wieder auf die Erde richtet und uns zeigt, wo wir den Schlüssel hingelegt haben, wenn wir zu spät dran sind?

Menschen sind wissbegierige Wesen, und es macht uns Spaß, unsere Neugier zu befriedigen. Noch erfüllender ist es, wenn man selbst herausfindet, wie etwas funktioniert, oder gemeinsam mit anderen auf Entdeckungsreise geht. Und die physikalischen Prinzipien, die Sie spielerisch entdecken können, sind darüber hinaus maßgeblich für neue Verfahren der Medizintechnik, für das Wetter, Mobiltelefone, selbstreinigende Kleidung und Kernfusionsreaktoren. Das moderne Leben steckt voller komplexer Entscheidungen: Lohnt es sich, die teurere Energiesparlampe zu kaufen? Ist es unbedenklich, mit dem Handy neben dem Bett zu schlafen? Kann ich mich auf den Wetterbericht verlassen? Was nützen mir polarisierende Sonnenbrillengläser? Die Grundprinzipien allein verhelfen uns oft noch nicht zu konkreten Antworten, doch sie liefern uns den Kontext, um die richtigen Fragen zu stellen. Und wenn wir daran gewöhnt sind, den Dingen selbst auf den Grund zu gehen, fühlen wir uns nicht so hilflos, wenn sich eine Antwort nicht auf den ersten Blick erschließt. Wir wissen dann, dass wir mit ein bisschen Nachdenken Licht ins Dunkel bringen können. Kritisches Denken ist unerlässlich, um die Welt zu verstehen, vor allem in Zeiten, in denen Werbetreibende und Politiker uns lauthals erklären, sie wüssten es am besten. Wir müssen in der Lage sein, uns mit den Fragen auseinanderzusetzen und zu entscheiden, ob wir den Schreihälsen zustimmen. Und dabei geht es um mehr als nur um unser Alltagsleben. Wir sind für unsere Zivilisation verantwortlich. Wir wählen, wir entscheiden, was wir kaufen und wie wir leben – wir alle tragen dazu bei, wohin die Reise der Menschheit führt. Niemand kann jedes Detail unserer komplexen Welt durchdringen, doch die Grundprinzipien sind tolle Werkzeuge, die sich als nützliches Gepäck erweisen können.

Deshalb halte ich das Herumspielen mit den physikalischen Spielzeugen in unserer Umgebung für mehr als nur »Spaß«, auch wenn ich ein großer Freund von Vergnügen um seiner selbst willen bin. In der Wissenschaft geht es nicht nur darum, Fakten zu sammeln; sie ist ein logischer Prozess, um Dingen auf den Grund zu gehen. Das Entscheidende ist, dass sich jeder die Daten anschauen und zu einer begründeten Schlussfolgerung gelangen kann. Anfangs weichen diese Schlüsse vielleicht noch voneinander ab, doch wenn man mehr Daten zusammenträgt, kristallisiert sich schließlich eine Beschreibung der Welt als die richtige heraus. Das ist es, was die Naturwissenschaften von anderen Fachrichtungen unterscheidet – hier muss eine Hypothese konkrete, nachprüfbare Vorhersagen machen. Das bedeutet: Wenn man eine Idee hat, wie etwas funktioniert, überlegt man als Nächstes, welche Auswirkungen das hätte. Besonders interessant sind dabei Auswirkungen, die überprüfbar sind, vor allem solche, die sich widerlegen lassen. Wenn eine Hypothese jeden Test besteht, der uns einfällt, gehen wir vorsichtig davon aus, dass dies wahrscheinlich ein gutes Modell dafür ist, wie etwas abläuft. Die Naturwissenschaft versucht ständig, sich selbst zu widerlegen, da das der schnellste Weg ist, um herauszufinden, was eigentlich los ist.

Man muss kein professioneller Forscher sein, um zu experimentieren. Die Kenntnis einiger grundlegender Prinzipien ermöglicht jedem, eine Menge herauszufinden. Manchmal ist dafür nicht einmal eine strukturierte Vorgehensweise nötig – die Puzzleteile schieben sich fast von selbst auf ihren Platz.

Eine meiner Lieblingsentdeckungen begann mit einer Enttäuschung: Ich wollte Blaubeermarmelade machen, doch sie wurde rot. Magentarot. Das ereignete sich vor ein paar Jahren, als ich in Rhode Island lebte und gerade die letzten Vorbereitungen für meine Rückkehr nach Großbritannien traf. Das meiste hatte ich erledigt, doch ein Projekt wollte ich unbedingt noch vor der Abreise in Angriff nehmen. Ich hatte immer schon gern Blaubeeren gemocht – diese leicht exotischen, köstlichen und wunderbar und skurril blauen Früchte. An den meisten Orten, an denen ich gewohnt hatte, kamen sie nur in frustrierend geringer Menge vor, doch in Rhode Island wuchsen sie überall. Ich wollte einen Teil dieser sommerlichen Fülle zu blauer Marmelade verarbeiten und nach Großbritannien mitnehmen. Also verbrachte ich einen meiner letzten Vormittage damit, Blaubeeren zu pflücken.

Das Aufregendste an Blaubeermarmelade ist sicherlich ihre blaue Farbe. Dachte ich jedenfalls. Doch die Natur machte mir einen Strich durch die Rechnung. Die im Topf blubbernde Masse war vieles, aber nicht blau. Ich füllte die Marmelade in Gläser, und sie war wirklich lecker. Doch die Enttäuschung und Verwirrung verfolgten mich und meine rote Marmelade bis nach England.

Sechs Monate später bat mich ein Freund, ihm bei der Lösung eines historischen Rätsels zu helfen. Er arbeitete gerade an einer Fernsehsendung über Hexen und sagte, es gebe Aufzeichnungen über »weise Frauen«, die Eisenkraut-Blütenblätter ausgekocht und die entstehende Flüssigkeit auf die Haut anderer Leute aufgetragen hätten, um so zu ermitteln, ob sie verhext worden waren. Der Freund fragte sich, ob sie auf diesem Weg vielleicht tatsächlich etwas gemessen haben konnten, wenn auch unbeabsichtigt. Ich forschte nach und fand heraus, dass das durchaus möglich war.

Die violetten Blüten des Eisenkrauts enthalten, wie Rotkohl, Blutorangen und viele andere rote und violette Pflanzen, Farbstoffe namens Anthocyane. Dieser chemischen Verbindung verdanken die Pflanzen ihre leuchtende Färbung. Sie kommt in unterschiedlichen Formen vor, daher variiert die Farbe ein wenig, doch die Molekülstruktur ist immer ähnlich. Doch das ist noch nicht alles. Die Farbe hängt zudem vom Säuregehalt der Flüssigkeit ab, in der das Molekül gelöst ist – dem sogenannten pH-Wert. Wird die Umgebung saurer oder basischer, verändert das Molekül geringfügig seine Form und damit auch die Farbe. Anthocyane sind also chemische Indikatoren und funktionieren wie ein natürlicher Lackmustest.

Auf der Basis dieses Wissens lassen sich in der Küche viele lustige Dinge veranstalten. Man muss die Pflanze auskochen, um den Farbstoff zu gewinnen – kochen Sie daher ein Blatt Rotkohl in Wasser und bewahren Sie diesen Sud (der nun violett gefärbt ist) auf. Geben Sie etwas Essig hinein, und er wird rot. Etwas Waschpulver (eine starke Lauge) färbt ihn gelb oder grün. So können Sie nur mit dem, was sich in der Küche findet, Wasser in allen Regenbogenfarben erzeugen. Das weiß ich, weil ich es selbst ausprobiert habe. Es war eine tolle Entdeckung, denn Anthocyane sind überall und für jeden zugänglich. Ganz ohne Chemiekasten!

Möglicherweise haben die weisen Frauen mit den Eisenkrautblüten also den pH-Wert überprüft, nicht, ob jemand verhext wurde. Der pH-Wert der Haut schwankt von Natur aus, was die unterschiedliche Färbung der Eisenkrauttinktur auf der Haut erklären könnte. Ich habe es geschafft, das Rotkohlwasser von violett zu blau umschlagen zu lassen, als ich verschwitzt von einer Joggingrunde zurückkam, doch es veränderte sich nicht, wenn ich vorher keinen Sport getrieben hatte. Vielleicht bemerkten die weisen Frauen, dass die Farbstoffmoleküle sich bei verschiedenen Menschen unterschiedlich verhielten, und zogen daraus ihre eigenen Schlüsse. Sicher werden wir es nie wissen, doch es erscheint mir plausibel.

So viel zur Geschichte. Und da fielen mir die Blaubeeren und die Marmelade wieder ein. Blaubeeren sind blau, weil sie Anthocyane enthalten. Marmelade besteht nur aus vier Zutaten: Früchten, Zucker, Wasser und Zitronensaft. Der Zitronensaft trägt dazu bei, dass das natürlich in den Früchten vorkommende Pektin die Marmelade eindickt. Das funktioniert, weil er … Säure enthält. Meine Blaubeermarmelade war rot, weil die eingekochten Blaubeeren wie ein den ganzen Topf füllender Lackmustest wirkten. Die Masse musste rot sein, damit die Marmelade richtig eindicken konnte. Die Freude über diese Erkenntnis machte fast die Enttäuschung wett, keine blaue Marmelade gekocht zu haben. Fast. Doch die Entdeckung, dass eine einzelne Frucht einen ganzen Regenbogen von Farben hervorbringen kann, ist so kostbar, dass sie dieses Opfer wert ist.

In diesem Buch geht es um die Verbindung zwischen den kleinen Dingen des Alltags und der großen Welt, in der wir leben. Es ist ein wilder Ritt durch die Physik, der zeigt, wie das Herumspielen mit Popcorn, Kaffeeflecken und Kühlschrankmagneten uns Aufschluss über Scotts Expeditionen, medizinische Tests und Lösungsansätze für unseren zukünftigen Energiebedarf geben kann. Die Naturwissenschaft dreht sich nicht um »die anderen«, sondern um »uns«, und wir alle können dieses Abenteuer auf unsere Art angehen. Jedes Kapitel beginnt mit einer alltäglichen Erfahrung, etwas, das wir schon oft gesehen, über das wir aber vielleicht noch nie nachgedacht haben. Am Ende jedes Kapitels erkennen wir, dass dieselben Muster einige der bedeutendsten naturwissenschaftlichen und technischen Phänomene unserer Zeit erklären. Jede Untersuchung für sich ist lohnenswert, doch der wahre Gewinn zeigt sich erst, wenn sich die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenfügen.

Und es hat noch einen weiteren Vorteil, die Funktionsweise der Welt zu verstehen, auch wenn Wissenschaftler nur selten darüber sprechen. Zu wissen, was die Welt zusammenhält, sorgt für einen Perspektivwechsel. Die Welt ist ein Mosaik aus physikalischen Mustern, und sobald Sie die Grundlagen verstanden haben, werden Sie erkennen, wie diese Muster zusammenspielen. Ich hoffe, dass die naturwissenschaftliche Saat, die in jedem Kapitel ausgestreut wird, sprießt und wächst, während Sie dieses Buch lesen, bis Sie eine ganz andere Welt vor sich sehen. Das letzte Kapitel setzt sich damit auseinander, wie die Muster ineinandergreifen und so die drei Systeme bilden, die für uns lebenswichtig sind – den menschlichen Körper, unseren Planeten und unsere Zivilisation. Doch Sie müssen sich meiner Sichtweise nicht anschließen. Das Wesen der Naturwissenschaft besteht darin, eigenständig Experimente durchzuführen, alle verfügbaren Informationen zu berücksichtigen und dann eigene Schlussfolgerungen zu ziehen.

Die Teetasse ist nur der Anfang.

1Popcorn und Raketen

Die Gasgesetze

Explosionen in der Küche sind in der Regel keine gute Idee. Doch von Zeit zu Zeit bringt eine kleine Detonation etwas Köstliches hervor. Getrocknete Maiskörner enthalten eine Menge Nährstoffe – Kohlenhydrate, Proteine, Eisen und Kalium –, doch die verbergen sich dichtgedrängt hinter einer dick gepanzerten Schale. Das Potential ist verlockend, doch das Maiskorn essbar zu machen verlangt eine extreme Neuordnung. Eine Explosion ist da genau das Richtige, und praktischerweise trägt das Korn den Keim der eigenen Zerstörung schon in sich. Gestern Abend habe ich es am Herd mal wieder ordentlich knallen lassen und Popcorn gemacht. Es ist immer wieder eine Freude zu entdecken, dass sich hinter einem harten, abweisenden Äußeren ein weicher Kern verbergen kann – doch warum erzeugt die Explosion hier ein schaumiges Gewebe statt lauter Fetzen?

Sobald das Öl im Topf heiß war, gab ich einen Löffel Maiskörner hinein, schloss den Topf mit dem Deckel und ging fort, um den Teekessel aufzusetzen. Draußen wütete ein Sturm, und dicke Regentropfen schlugen gegen das Fenster. Der Mais lag im Öl und zischte leise. Auf mich wirkte es, als geschehe gar nichts, doch im Inneren war der Startschuss bereits gefallen. Jedes Maiskorn enthält einen Keim, aus dem eine neue Pflanze entstehen kann, und Endosperm, das Nährgewebe für die neue Pflanze. Dieses Endosperm besteht aus Stärkekörnchen und zu etwa vierzehn Prozent aus Wasser. Als die Körner nun im heißen Öl lagen, erhitzte sich das Wasser langsam und verwandelte sich in Dampf. Heißere Moleküle bewegen sich schneller, und die Anzahl der Wassermoleküle, die in Form von Dampf im Inneren der Körner umherraste, nahm stetig zu. Die evolutionäre Funktion der Schale eines Maiskornes ist es, Angriffen von außen zu widerstehen, doch nun hatte sie mit einem inneren Aufstand zu kämpfen – und wirkte wie ein Mini-Schnellkochtopf. Die zu Dampf gewordenen Wassermoleküle waren gefangen und konnten nirgendwohin, also stieg der Druck. Die Gasmoleküle kollidierten ständig miteinander und mit den Wänden des Behältnisses, und als es mehr und mehr wurden und ihre Geschwindigkeit zunahm, donnerten sie immer kräftiger von innen gegen die Schale.

Schnellkochtöpfe funktionieren, weil heißer Dampf Essen sehr effektiv kocht – das ist auch in Maiskörnern nicht anders. Während ich nach Teebeuteln suchte, wurden die Stärkekörnchen zu einer komprimierten, klebrigen Gallertmasse gekocht, und der Druck stieg immer weiter. Dem kann die äußere Schale des Maiskorns nur bis zu einem bestimmten Punkt standhalten. Wenn die Temperatur im Inneren 180 Grad erreicht und der Druck beinahe zehnmal höher ist als der normale Luftdruck unserer Umgebung, steht die klebrige Masse vor dem Sieg.

Ich schüttelte den Topf kurz und hörte das erste dumpfe Knallen. Nach ein paar Sekunden klang es, als würde dort drinnen eine Mini-Maschinenpistole abgefeuert, und ich sah, wie sich der Deckel durch die Schläge von unten hob. Bei jedem Knall strömte eine recht beeindruckende Menge Dampf unter dem Deckelrand hervor. Ich ließ den Topf einen Augenblick allein, um mir eine Tasse Tee einzugießen, und in diesen wenigen Sekunden schob das Trommelfeuer von unten den Deckel hoch, und der aufgepuffte Inhalt drängte ins Freie.

Im Augenblick der Katastrophe verändern sich die Regeln. Bis zu jenem Zeitpunkt ist eine feste Menge Wasserdampf im Korn eingesperrt, und der Druck, den er auf die Wände der Schale ausübt, nimmt mit steigender Temperatur zu. Doch wenn die harte Schale schließlich nachgibt, ist das Innere dem atmosphärischen Druck im Rest des Topfes ausgesetzt und das Volumen nicht länger begrenzt. Das Stärkegallert ist immer noch voller heißer, rasender Moleküle, doch nun drückt nichts mehr von der anderen Seite dagegen. Also dehnt es sich ruckartig aus, bis der Innendruck dem äußeren entspricht. Die dichte weiße Gallertmasse weitet sich zu lockerem, weißem Schaum aus und kehrt dadurch das Innerste nach außen, und mit dem Abkühlen wird er fest. Die Transformation ist abgeschlossen.

Das Umfüllen des fertigen Popcorns offenbarte ein paar übriggebliebene Opfer. Auf dem Boden des Topfes klapperten einige dunkel verbrannte, nicht aufgeplatzte Maiskörner herum. Wenn die Schale versehrt ist, entweicht der Wasserdampf beim Erhitzen, und es kann sich kein Druck aufbauen. Die poröse Schale ist der Grund dafür, warum manche Körner zu Popcorn werden und andere nicht. Ist ein Korn zu trocken, vielleicht weil es zur falschen Zeit geerntet wurde, reicht der Wassergehalt im Inneren nicht aus, um den nötigen Druck aufzubauen, der die Schale zum Platzen bringt. Ohne das gewaltsame Ereignis der Explosion bleibt das ungenießbare Maiskorn ungenießbar.

Ich begab mich mit der Schüssel perfekt gekochten Schaums und dem Tee ans Fenster und betrachtete den Sturm. Zerstörung ist nicht immer etwas Schlechtes.

*

Es gibt Schönheit, die durch Einfachheit besticht. Und noch befriedigender ist es, wenn Schönheit aus einem komplexen Zusammenspiel entsteht. Die Gesetze, die besagen, wie sich Gase verhalten, kommen mir immer wie eines dieser Vexierbilder vor, bei denen man erst ein Bild sieht, doch auf den zweiten Blick ein ganz anderes wahrnimmt.

Wir leben in einer Welt, die aus Atomen besteht. Jedes dieser kleinen Fleckchen Materie ist umgeben von einer charakteristischen Hülle negativ geladener Elektronen, ständiger Begleiter des schweren und positiv geladenen Kerns im Zentrum. In der Chemie dreht sich alles darum, wie sich diese Begleiter ihre Pflichten zwischen einer Vielzahl von Atomen aufteilen, unter stetiger Berücksichtigung der strengen Regeln der Quantenwelt ihre Anordnung ändern und ihre Gefangenen, die Atomkerne, in größere Strukturen namens Moleküle pressen. In der Luft, die ich beim Schreiben dieser Worte atme, befinden sich Paare von Sauerstoffatomen (jedes Paar bildet ein Sauerstoffmolekül), die mit einer Geschwindigkeit von fast 1500 Stundenkilometern auf Stickstoffatompaare treffen, die mit gut 300 Stundenkilometern unterwegs sind, und dann vielleicht gegen ein über 1600 Stundenkilometer schnelles Wassermolekül prallen. Es ist furchtbar chaotisch und kompliziert – unterschiedliche Atome, unterschiedliche Moleküle, unterschiedliche Geschwindigkeiten –, und in jedem Kubikzentimeter Luft gibt es etwa 30000000000000000000 (3 × 1019) einzelne Moleküle, die pro Sekunde mehr als eine Milliarde Mal kollidieren. Man könnte meinen, angesichts dessen sei es der sinnvollste Ansatz, aufzuhören, solange man noch die Chance hat, und auf Hirnchirurgie, Wirtschaftstheorie oder das Hacken von Supercomputern umzusteigen – auf irgendetwas Simpleres auf jeden Fall. Daher ist es vermutlich nur gut, dass die Pioniere, die entdeckten, wie sich Gase verhalten, keine Ahnung von all dem hatten. Unwissenheit hat Vorteile. Das Konzept der Atome war in der Wissenschaft vor Beginn des 19. Jahrhunderts kaum verbreitet, und endgültig bewiesen wurde ihre Existenz erst 1905. Im Jahr 1662 verfügten Robert Boyle und sein Assistent Robert Hooke nur über Glaskolben, Quecksilber, ein wenig eingefangene Luft und genau die richtige Menge Ahnungslosigkeit. Sie fanden heraus, dass sich das Volumen eines Gases verringert, wenn der Druck auf die eingeschlossene Luft erhöht wird. Das ist das Boyle’sche Gesetz, und es besagt, dass der Gasdruck umgekehrt proportional zum Volumen ist. Ein Jahrhundert später entdeckte Jacques Charles, dass sich das Volumen eines Gases direkt proportional zur Temperatur verhält. Wird die Temperatur eines Gases verdoppelt, nimmt es doppelt so viel Raum ein. Es ist beinahe unglaublich. Wie können trotz der komplizierten Zustände unter den Atomen so einfache und beständige Regeln gelten?

*

Ein letztes Einatmen, ein bedächtiger Schlag mit der dicken Schwanzflosse, und der Gigant verschwindet im Wasser. Alles, was der Pottwal die nächsten 45 Minuten über zum Leben braucht, ist in seinem Körper gespeichert, und die Jagd beginnt. Die Beute ist ein Riesenkalmar, ein zähes Monster, das mit Tentakeln, fiesen Saugnäpfen und einem furchteinflößenden Schnabel bewaffnet ist. Um ihn zu finden, muss sich der Wal tief in die absolute Finsternis des Ozeans hinabwagen, an Orte, an die niemals Sonnenlicht dringt. Üblich ist eine Tauchtiefe von 500 bis 1000 Metern, und der gemessene Rekord liegt bei etwa zwei Kilometern. Der Wal erkundet die Dunkelheit mit Hilfe eines extrem präzisen Sonars. Vernimmt er ein schwaches Echo, ist die Mahlzeit nicht weit, während der Riesenkalmar arglos und nichtsahnend dahintreibt, da er taub ist.

Der größte Schatz, den der Wal mit in die Finsternis hinabnimmt, ist Sauerstoff, den er für die chemischen Reaktionen benötigt, die die Schwimmmuskeln versorgen und ihn am Leben halten. Doch der gasförmige Sauerstoff aus der Atmosphäre ist in der Tiefe eine große Last – die Luft in den Lungen wird schon zum Problem, sobald der Wal die Oberfläche hinter sich gelassen hat. Mit jedem weiteren Meter, den er hinabtaucht, drückt das Gewicht eines weiteren Meters Wasser auf sein Inneres. Stickstoff- und Sauerstoffmoleküle prallen aufeinander und gegen die Lungenwände, und jede Kollision erzeugt einen winzigen Stoß. An der Oberfläche halten sich Innen- und Außendruck die Waage. Doch wenn der Gigant sinkt, presst das zusätzliche Gewicht des Wassers auf ihn ein, der Druck von außen übersteigt den Druck von innen. Also ziehen sich die Lungenwände zusammen, bis wieder ein Gleichgewicht herrscht, bis der Innendruck erneut dem von außen entspricht. Denn so hat jedes Molekül in der Lunge des Wals weniger Platz, und die Zusammenstöße zwischen ihnen nehmen zu. Das bedeutet, dass mehr Moleküle gegen die Lungenwände prallen, so dass der Innendruck steigt, bis von außen und von innen gleich viele Moleküle gegen die Wände hämmern. Eine Wassertiefe von zehn Metern reicht aus, um den Druck um ein ganzes Bar zu erhöhen. Daher schrumpfen die Lungen des Wals schon in dieser Tiefe, wo das Tier noch leicht die Oberfläche sehen könnte (wenn es danach Ausschau hielte), auf die Hälfte ihres eigentlichen Volumens zusammen. Das bedeutet doppelt so viele Kollisionen zwischen Molekülen und Wänden, passend zum verdoppelten Außendruck. Doch der Kalmar kann sich einen Kilometer unter der Oberfläche befinden, und in der Tiefe verlangt der extreme Wasserdruck, dass sich die Lungen auf nur ein Prozent der Ausdehnung, die sie an der Oberfläche haben, verkleinern müssten.

Irgendwann vernimmt der Wal den Widerhall eines der Klicklaute, die er ausgesendet hat. Nun muss er sich mit stark komprimierten Lungen und nur durch den Sonar geleitet in der Finsternis auf die Jagd machen. Der Riesenkalmar ist bewaffnet, und selbst wenn er irgendwann aufgeben sollte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Wal furchtbare Narben davonträgt. Woher nimmt er ohne Sauerstoff aus den Lungen überhaupt die Energie zum Kampf?

Das Problem der auf ein Hundertstel geschrumpften Lungen besteht darin, dass der Gasdruck in ihnen hundert Mal größer ist als der Luftdruck an der Oberfläche. An den empfindlichen Lungenbläschen, wo der Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid zwischen Blut und Lungen stattfindet, würde dieser Druck dafür sorgen, dass zusätzliche Stickstoff- sowie Sauerstoffmoleküle im Blutkreislauf des Wals gelöst würden. Das Ergebnis wäre ein extremer Fall der sogenannten »Taucherkrankheit«, denn wenn der Wal an die Oberfläche zurückkehrte, würde der zusätzliche Stickstoff in seinem Blut Blasen bilden und viel Schaden anrichten. Daher hat die Evolution dafür gesorgt, dass sich die Lungenbläschen ab dem Augenblick, in dem das Tier die Oberfläche verlässt, komplett verschließen. Eine Alternative gibt es nicht. Dennoch ist es in der Lage, auf Energiereserven zurückzugreifen, da sein Blut und seine Muskeln eine enorme Menge Sauerstoff speichern können. Ein Pottwal verfügt über doppelt so viel Hämoglobin wie ein Mensch, und über etwa zehnmal so viel Myoglobin (das Protein, das es ermöglicht, Energie in die Muskeln einzulagern). An der Oberfläche lädt der Wal diese Speicher auf. Pottwale greifen niemals auf die Luft in ihren Lungen zu, wenn sie auf Tauchgang sind. Das wäre viel zu gefährlich. Sie nutzen nicht nur den letzten Atemzug, während sie unter Wasser sind. Sie leben – und jagen – auf der Grundlage des Überschusses in ihren Muskeln, des Vorrats, den sie an der Oberfläche angelegt haben.

Noch nie hat jemand einen Kampf zwischen einem Pottwal und einem Riesenkalmar beobachten können. Doch die Mägen toter Wale enthalten ganze Sammlungen von Kalmarschnäbeln, dem einzigen Teil der Beute, der nicht verdaulich ist. Daher trägt jeder Wal ein ganzes Arsenal seiner gewonnenen Schlachten im Inneren. Wenn der erfolgreiche Wal zurück Richtung Sonnenlicht schwimmt, dehnen sich seine Lungen langsam wieder aus und verbinden sich wieder mit der Blutzufuhr. Während der Druck sich verringert, nimmt das Volumen wieder zu, bis der Ausgangszustand erneut hergestellt ist.

Seltsamerweise bringt die Kombination aus komplexem Molekülverhalten und Statistik (zwei Feldern, die man normalerweise nicht als »einfach« bezeichnen würde) in der Praxis ein relativ schlichtes Ergebnis hervor. Obwohl es derart viele Moleküle, Zusammenstöße und unterschiedliche Geschwindigkeiten gibt, sind doch nur zwei Faktoren von Bedeutung: die Bandbreite der Geschwindigkeiten, mit denen die Moleküle unterwegs sind, und die durchschnittliche Anzahl der Zusammenstöße mit den Wänden des Behältnisses. Diese Anzahl und die Kraft jeder Kollision (abhängig vom Tempo und der Masse des Moleküls) bestimmen den Druck. Das Verhältnis von diesem zum Druck, der außerhalb des Behältnisses herrscht, entscheidet über das Volumen. Doch auch die Temperatur spielt eine Rolle.

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»Wer würde sich zu diesem Zeitpunkt normalerweise Sorgen machen?« Adam, unser Kursleiter, trägt einen weißen Kittel, der über seinem unbeschwert massiven Bauch spannt, er verkörpert die Idealvorstellung eines fröhlichen Bäckers. Der starke Cockney-Dialekt verstärkt das nur. Adam sticht in den traurig aussehenden Teigklumpen, der vor ihm auf dem Tisch liegt und an seinem Finger hängenbleibt, als wäre er lebendig – was er natürlich auch ist. »Was wir für gutes Brot brauchen«, verkündet Adam, »ist Luft.« Ich besuche einen Kurs, in dem man lernt, Focaccia zu backen, ein traditionelles italienisches Brot. Es ist wohl das erste Mal seit meinem zehnten Lebensjahr, dass ich eine Schürze trage. Und obwohl ich schon viel Brot gebacken habe, habe ich doch noch nie einen Klumpen wie diesen gesehen, also habe ich bereits etwas gelernt.

Gemäß Adams Anweisungen rühren wir folgsam unseren eigenen Teig an. Jeder von uns mischt frische Hefe mit Wasser, gibt dann Mehl und Salz hinzu und bearbeitet den Teig mit therapeutischem Eifer, um Gluten zu erzeugen, das Proteingemisch, das dem Brot seine Elastizität verleiht. Während wir das Gebilde ziehen und kneten, ist die lebende Hefe, die darin verteilt ist, die ganze Zeit fleißig dabei, den Zucker durch Gärung in Kohlendioxid umzuwandeln. Dieser Teig enthält, wie alle anderen, die ich je hergestellt habe, keine Luft – nur viele Kohlendioxidbläschen. Er ist ein elastischer, klebriger, goldfarbener Bioreaktor, und da die Produkte des Lebens in seinem Inneren gefangen sind, dehnt er sich aus. Nach dieser ersten Phase erhält er ein nettes Bad in Olivenöl und geht weiter auf, während wir unsere Hände, den Tisch und einen überraschend großen Teil der Umgebung von Teigresten säubern. Jede einzelne Gärreaktion erzeugt zwei Kohlendioxidmoleküle, die von der Hefe ausgestoßen werden. Kohlendioxid oder CO2 – zwei Sauerstoffatome, die an einem Kohlenstoffatom hängen – ist ein kleines, reaktionsträges Molekül, und bei Raumtemperatur verfügt es über genügend Energie, um frei als Gas herumzuschweben. Sobald es sich gemeinsam mit vielen anderen CO2-Molekülen zu einer Blase zusammengefunden hat, spielen sie stundenlang Autoscooter. Jedes Mal, wenn ein Molekül auf ein anderes trifft, findet mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Energieaustausch statt, wie wenn die weiße Kugel beim Billard auf eine farbige trifft. Manchmal verliert eines einen Großteil seiner Geschwindigkeit, während das andere die Energie auf sich versammelt und davonrast. Manchmal teilen sie die Energie zwischen sich auf. Immer wenn ein Molekül gegen die glutenhaltige Wand der Blase prallt, verschiebt es diese ein wenig. Das ist das, was die Blasen zu diesem Zeitpunkt wachsen lässt – und da sie sich mit immer mehr Molekülen füllen, wird der Druck nach außen stärker. Also dehnt sich die Blase aus, bis der Luftdruck außen und der Druck im Inneren ausgeglichen sind. Manchmal sind die CO2-Moleküle flott unterwegs, wenn sie gegen die Wand stoßen, manchmal schleichen sie eher. Bäckern ist es – genau wie Physikern – egal, welche Moleküle mit welcher Geschwindigkeit gegen welche Wand donnern, denn interessant ist nur die Statistik. Bei Raumtemperatur und atmosphärischem Druck legen 29 Prozent von ihnen zwischen 350 und 500 Meter pro Sekunde zurück; welche genau das sind, spielt keine Rolle.

Adam klatscht in die Hände, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen, und enthüllt den aufgehenden Teig mit der Geste eines Zauberers. Dann macht er etwas, das mir neu ist: Er zieht den mit Olivenöl benetzten Teig auseinander und faltet ihn zusammen, von jeder Seite in die Mitte. Die Absicht ist, Luft zwischen den Falten einzufangen. Meine erste, unausgesprochene Reaktion lautet: »Das ist Betrug!«, weil ich immer davon ausgegangen war, dass alle »Luft« im Brot ausschließlich von der Hefe produziertes CO2 war. Ich wurde einmal Zeugin, wie ein Origami-Meister in Japan beim Falten eines eckigen Papierpferdes seinen Schülern enthusiastisch die richtige Anwendung von Tesafilm zeigte, und verspürte damals die gleiche unsinnige Entrüstung wie nun in der Bäckerei. Denn warum nicht Luft nehmen, wenn man Luft will? Sobald der Teig gebacken ist, bemerkt niemand den Unterschied. Ich füge mich dem Experten und falte widerspruchslos meinen Teig zusammen. Einige Stunden später, nach mehreren Aufgeh- und Faltdurchläufen, als mehr Olivenöl in den Teig eingearbeitet ist, als ich für möglich gehalten hätte, sind meine werdende Focaccia und ihre Bläschen bereit für den Ofen. Es ist Zeit für den großen Auftritt der »Luft« beider Arten.

Im Inneren des Ofens strömt Wärmeenergie in das Brot. Zwar herrscht dort der gleiche Druck wie draußen, doch die Temperatur im Brot steigt in kurzer Zeit von 20 auf 250 Grad. Auf der Skala der absoluten Temperatur ist das ein Sprung von 293 auf 523 Kelvin, also fast eine Verdoppelung.[1] Bei einem Gas bewirkt das, dass die Moleküle an Tempo zulegen. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ist, dass kein Molekül eine bestimmte Temperatur hat. Ein Gas – eine Anhäufung von Molekülen – kann eine Temperatur haben, einzelne seiner Moleküle hingegen nicht. Die Höhe der Gastemperatur bringt nur zum Ausdruck, wie groß die Bewegungsenergie der Moleküle im Durchschnitt ist, doch jedes einzelne von ihnen wird durch die Kollisionen, bei denen Energie ausgetauscht wird, ständig beschleunigt und wieder abgebremst. Es spielt mit Hilfe der Energie, über die es in dem Augenblick verfügt, Autoscooter. Je schneller die Moleküle unterwegs sind, desto härter stoßen sie gegen die Außenwände der Blase und desto höher ist der Druck, den sie erzeugen. Als das Brot im Ofen ist, gewinnen die Gasmoleküle plötzlich deutlich an Wärmeenergie und Tempo. Ihre durchschnittliche Geschwindigkeit steigt von 480 Meter pro Sekunde auf 660 Meter pro Sekunde. Daher nimmt der Druck auf die Innenwände der Blase enorm zu, und von außen hält nichts dagegen. Also dehnt sich jede Blase entsprechend der Temperatur aus, was den Teig dazu zwingt, sich aufzublähen. Und das Interessante ist: Die Luftblasen (hauptsächlich Stickstoff und Sauerstoff) vergrößern sich exakt in dem gleichen Maß wie die CO2-Bläschen. Das ist das letzte Puzzleteil. Wie sich herausstellt, spielt es keine Rolle, mit welchen Molekülen man es zu tun hat. Wenn man die Temperatur verdoppelt, verdoppelt sich (bei gleichbleibendem Druck) auch das Volumen. Wenn man aber das Volumen konstant hält und die Temperatur verdoppelt, verdoppelt sich der Druck. Die kompliziert erscheinende Tatsache, dass wir es mit einer Mischung verschiedener Atome zu tun haben, ist irrelevant, weil diese Werte für alle Gaskombinationen gelten. Niemand, der das fertige Brot in Augenschein nimmt, könnte sagen, welche der Blasen mit Kohlendioxid gefüllt waren und welche mit Luft. Als das Gebilde aus Proteinen und Kohlenhydraten rund um die Blasen schließlich kochend heiß und dadurch fest wird, steht die Größe der Blasen fest. Wir haben fluffiges, weißes Focaccia-Brot hergestellt.

Das Verhalten von Gasen wird durch die »thermische Zustandsgleichung idealer Gase« beschrieben, auch »allgemeine Gasgleichung« genannt, und es ist faszinierend, wie spektakulär zuverlässig diese Gleichung zutrifft. Sie besagt, dass der Druck einer festen Menge Gas sich umgekehrt proportional zum Volumen verhält (wenn man den Druck verdoppelt, halbiert sich das Volumen), die Temperatur proportional zum Druck (verdoppelt man die Temperatur, verdoppelt sich der Druck) und das Volumen bei unverändertem Druck proportional zur Temperatur. Egal, um welches Gas es sich handelt, relevant ist nur die Anzahl der Moleküle. Die allgemeine Gasgleichung ist das Prinzip, das hinter Verbrennungsmotoren und Heißluftballons steckt – und Popcorn. Und sie gilt nicht nur beim Erhitzen von Gasen, sondern auch beim Abkühlen.

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Das Erreichen des Südpols war ein bedeutendes Ereignis der Menschheitsgeschichte. Die großen Polarforscher – Amundsen, Scott, Shackleton und andere – sind Legenden, und die Berichte über ihre Leistungen und Fehler zählen zu den tollsten Abenteuergeschichten aller Zeiten. Und als wäre es noch nicht genug, sich mit unvorstellbarer Kälte, Nahrungsmangel, stürmischer See und unzureichender Kleidung herumschlagen zu müssen, stellte sich ihnen auch die mächtige allgemeine Gasgleichung entgegen, ganz buchstäblich.

Das Zentrum der Antarktis ist ein trockenes Hochplateau. Es ist von einer dicken Eisschicht bedeckt, doch es schneit dort fast nie. Die blendend weiße Oberfläche reflektiert beinahe das gesamte schwache Sonnenlicht, und die Temperaturen können bis auf minus 80 Grad fallen. Es ist ganz still. In atomarer Hinsicht ist die Luft hier träge, da die Moleküle (aufgrund der Kälte) über wenig Energie verfügen und sich relativ langsam bewegen. Luft aus höheren Luftschichten sinkt über dem Plateau ab, und das Eis stiehlt ihr die Wärme. Kalte Luft wird noch kälter. Der Druck bleibt unverändert, daher verliert die Luft an Volumen und gewinnt so an Dichte. Die Moleküle drängen sich enger aneinander, da sie sich behäbiger bewegen und nicht in der Lage sind, kräftig genug nach außen zu stoßen und sich so gegen die Luft in ihrer Umgebung zur Wehr zu setzen. Da das Land vom Zentrum des Kontinents Richtung Meer abfällt, gleitet diese kalte, dichte Luft von der Mitte aus über die Oberfläche, unaufhaltsam, wie ein langsamer Wasserfall aus Luft. Sie wird durch riesige Täler gedrückt, die abschüssig nach außen Richtung Ozean führen, und nimmt an Geschwindigkeit zu. Das sind die katabatischen Winde der Antarktis, und wer zum Südpol unterwegs ist, dem blasen sie ständig ins Gesicht. Einen fieseren Trick hätte sich die Natur für die Polarforscher wohl nicht ausdenken können.

»Katabatisch« ist nur die Bezeichnung für diese Art Fallwind, der an vielen Orten vorkommt, aber nicht immer kalt ist. Während der Luftstrom absinkt, wärmen sich die trägen Moleküle auf, wenn auch nur ein kleines bisschen. Doch die Folgen können dramatisch sein.

2007 lebte ich in San Diego und arbeitete am Scripps-Institut für Ozeanographie. Ich als Mensch aus dem Norden stand dem ewigen Sonnenschein eher skeptisch gegenüber, aber da ich jeden Morgen in einem 50-Meter-Becken im Freien schwimmen konnte, gab es keinen Grund zu klagen. Und die Sonnenuntergänge waren traumhaft. San Diego liegt an der Küste, mit freiem Blick nach Westen über den Pazifik, und der Abendhimmel bot stets einen atemberaubenden Anblick.

Was ich allerdings vermisste, waren die Jahreszeiten. Es kam mir vor, als verginge einfach keine Zeit, fast so, als lebte ich in einem Traum. Doch dann kamen die Santa-Ana-Winde, und das Wetter wechselte von sonnig und warm zu furchtbar heiß und trocken. Die Santa-Ana-Winde stellen sich jeden Herbst ein, wenn sich Luftmassen aus den hochgelegenen Wüsten über die Küste Kaliforniens hinweg bis aufs Meer hinausschieben. Auch dabei handelt es sich um katabatische Winde, so wie in der Antarktis. Doch wenn die Luft am Ozean angelangt ist, ist sie viel heißer, als sie oben auf dem Hochplateau war. Eines denkwürdigen Tages fuhr ich über die I-5 nach Norden, auf eines der großen Täler zu, welche die heiße Luft Richtung Meer lenken. Am Grund des Tals erstreckte sich eine tiefhängende Wolke. Mein damaliger Freund saß am Steuer. »Riecht es nach Rauch?«, fragte ich. »Sei nicht albern«, meinte er. Doch am nächsten Morgen erwachte ich in einer seltsamen Welt. Nördlich von San Diego wüteten riesige Flächenbrände, die von einem Tal aufs nächste übergriffen, und es schwebte Asche in der Luft. Ein Lagerfeuer war in der Hitze und Trockenheit außer Kontrolle geraten, und die Winde trugen den Brand Richtung Küste. Die Wolke im Tal war Rauch gewesen. Wer zur Arbeit ging, wurde entweder wieder nach Hause geschickt oder drängte sich gemeinsam mit anderen vor einem Radio und fragte sich, ob sein Haus sicher war. Wir warteten. Vor dem Horizont hing ein Schleier, erzeugt durch Aschewolken, die so groß waren, dass man sie aus dem All sehen konnte, aber die Sonnenuntergänge waren spektakulär. Nach drei Tagen lichtete sich der Rauch. Bekannte von mir hatten ihre Häuser in den Flammen verloren. Alles war mit einer Ascheschicht bedeckt, und die Gesundheitsbehörden rieten eine Woche lang davon ab, Sport im Freien zu treiben.

Oben auf dem Hochplateau hatte sich heiße Wüstenluft abgekühlt, verdichtet und war dann abgesunken, genauso wie die Winde, mit denen Scott in der Antarktis zu kämpfen hatte. Doch die Buschfeuer waren ausgebrochen, weil diese Luft nicht nur trocken, sondern auch heiß war. Warum erhitzte sie sich auf dem Weg bergab? Woher stammte die Energie? Die allgemeine Gasgleichung galt auch hier – es handelte sich um eine fixe Menge Gas, die sich so schnell bewegte, dass keine Zeit für einen Energieaustausch mit der Umgebung blieb. Während dieser verdichtete Luftstrom sich hinabbewegte, presste die Luft, die sich bereits am Fuß des Gebirges befand, dagegen, da dort ein höherer Luftdruck herrschte. Druck von außen ist eine Methode, Energie zuzuführen. Stellen Sie sich Luftmoleküle vor, die gegen die Wand eines Ballons rasen, der sich auf sie zubewegt. Sie prallen mit mehr Wucht zurück, da sie gegen eine sich bewegende Oberfläche stoßen. Also verringerte sich das Volumen der Luft innerhalb der Santa-Ana-Winde, weil sie von der umgebenden Atmosphäre zusammengepresst wurde. Das erhöhte das Energielevel der mitgeführten Luftmoleküle, und die Temperatur des Windes stieg. Dieser Vorgang nennt sich adiabatische Erwärmung. Jedes Jahr zur Zeit der Santa-Ana-Winde geht jeder in Kalifornien besonders vorsichtig mit offenem Feuer um. Wenn die heiße, trockene Luft der Landschaft erst mal ein paar Tage lang Feuchtigkeit entzogen hat, kann ein Funke leicht einen Flächenbrand auslösen. Und die Hitze geht nicht nur auf die kalifornische Sonne zurück, sondern auch auf die zusätzliche Energie der Gasmoleküle, wenn sie durch die dichtere Luft in Ozeannähe komprimiert werden. Alles, was die Durchschnittsgeschwindigkeit von Luftmolekülen erhöht, verändert die Temperatur.

Umgekehrt erfolgt das Gleiche, wenn man Sprühsahne aus der Dose drückt. Die Luft, die mit der Sahne herauskommt, dehnt sich ruckartig aus und drückt gegen ihre Umgebung, daher setzt sie Energie frei und kühlt sich ab. Aus diesem Grund fühlt sich die Düse der Spritzdose kalt an – das Gas, das hindurchströmt, gibt beim Übergang ins Freie Energie ab. Da weniger Energie zurückbleibt, ist die Dose kühl.

Der Luftdruck zeigt im Grunde nur an, wie kräftig die winzigen Moleküle gegen eine Oberfläche hämmern. Normalerweise bemerken wir das gar nicht, weil das Trommeln aus allen Richtungen gleich stark ist – wenn ich ein Blatt Papier anhebe, bewegt es sich nicht, weil es von beiden Seiten gleichermaßen attackiert wird. Ständig prasseln Luftmoleküle auf uns ein, doch wir spüren es kaum. Daher dauerte es eine ganze Weile, bis man herausfand, wie stark dieser Druck tatsächlich ist, und die Antwort war ein kleiner Schock. Das Ausmaß der Entdeckung war leicht ersichtlich, da die Demonstration außergewöhnlich einprägsam war. Es kommt nicht oft vor, dass ein wichtiges wissenschaftliches Experiment als theatralisches Schauspiel durchgeführt wird, doch dieses vereinte genau die richtigen Elemente: Pferde, Spannung, ein erstaunliches Ergebnis und den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches als Zuschauer.

Die Schwierigkeit bestand darin, dass man, um herauszufinden, wie stark die Luft gegen etwas drückt, alle Luft auf der anderen Seite entfernen und ein Vakuum schaffen musste. Im vierten Jahrhundert vor Christus hatte Aristoteles erklärt, dass die Natur die Leere scheue (»horror vacui«), und diese Ansicht herrschte auch beinahe zweitausend Jahre später noch vor. Ein Vakuum zu erzeugen schien außer Frage zu stehen. Doch irgendwann um 1650 erfand Otto von Guericke die erste Vakuumpumpe. Statt eine wissenschaftliche Abhandlung darüber zu verfassen und in der Versenkung zu verschwinden, veranstaltete er ein Spektakel, um seine These zu belegen.[2] Es war vermutlich hilfreich, dass er ein bekannter Politiker und Diplomat war und mit den Machthabern der damaligen Zeit auf gutem Fuß stand.

Am 8. Mai 1654 gesellte sich Ferdinand III., der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und Herrscher über weite Teile Europas, auf dem Reichstag in Regensburg draußen zu seinen Höflingen. Von Guericke hatte eine Hohlkugel aus dickem Kupfer dabei, deren Durchmesser 50 Zentimeter betrug. Sie bestand aus zwei Hälften, die dort, wo sie sich berührten, eine glatte Fläche aufwiesen. Außen an den Halbkugeln befand sich je eine Öse, durch die Seile gesteckt werden konnten, um die Hälften auseinanderzuziehen. Von Guericke fettete die glatte Fläche ein, drückte die beiden Hälften zusammen und nutzte seine neue Vakuumpumpe, um die Luft aus dem Inneren der Hohlkugel abzulassen. Eigentlich hielt nichts die beiden Hälften zusammen, nachdem die Luft abgepumpt war, doch sie verhielten sich, als hätte man sie zusammengeklebt. Von Guericke hatte verstanden, dass ihm die Pumpe eine Möglichkeit eröffnete zu ermitteln, wie stark der Luftdruck war. Milliarden winziger Luftmoleküle trommelten von außen auf die Kugel ein und pressten die Hälften zusammen. Doch im Inneren befand sich nichts, was zurückdrücken konnte.[3] Die beiden Hälften ließen sich nun nur trennen, wenn man mehr Kraft aufwendete, als der Luftdruck ausübte.

Dann wurden die Pferde gebracht. Vor jede Halbkugel stellte man ein Gespann, und sie veranstalteten ein gewaltiges Tauziehen. Vor den Augen des Kaisers und seines Gefolges kämpften die Pferde gegen die unsichtbare Luft. Das Einzige, was die Kugel zusammenhielt, war die Kraft der Moleküle, die auf einen Gegenstand von der Größe eines großen Wasserballs einhämmerten. Doch nicht einmal dreißig Pferde konnten die Halbkugeln trennen. Als das Tauziehen beendet war, öffnete von Guericke das Ventil, das Luft in die Kugel ließ, und die beiden Hälften fielen auseinander. Es war gar keine Frage, wer gewonnen hatte. Der Luftdruck war viel stärker, als irgendjemand vermutet hätte. Wenn man alle Luft aus einer Hohlkugel jener Größe entfernt und sie senkrecht aufhängt, kann der Luftdruck theoretisch bis zu 2000 Kilogramm halten, das Gewicht eines ausgewachsenen Nashorns. Das bedeutet: Wenn Sie einen Kreis mit 50 Zentimetern Durchmesser auf den Boden malen, entspricht die Kraft, mit der die Luft auf dieses Stück Fußboden drückt, ebenfalls dem Gewicht eines zwei Tonnen schweren Nashorns. Die kleinen, unsichtbaren Moleküle prügeln ganz schön auf uns ein! Von Guericke führte dieses Experiment mehrmals vor verschiedenem Publikum durch, und die Halbkugeln wurden nach seiner Heimatstadt als Magdeburger Halbkugeln bekannt.

Die Experimente wurden auch deshalb so berühmt, weil andere über sie schrieben. Von Guerickes Ideen erreichten den wissenschaftlichen Mainstream erstmals durch ein Buch von Gaspar Schott, das 1657 erschien. Es war die dortige Beschreibung der Vakuumpumpe, die Robert Boyle und Robert Hooke dazu veranlasste, ihre Versuche rund um den Gasdruck durchzuführen.

Sie können es selbst ausprobieren, auch ohne Pferde und Kaiser. Nehmen Sie ein dickes, flaches Stück Pappe, groß genug, um die Öffnung eines Glases abzudecken. Am besten führen Sie den Versuch über einem Waschbecken durch, nur zur Sicherheit. Füllen Sie das Glas bis zur Oberkante mit Wasser und drücken Sie die Pappe flach darauf, so dass zwischen der Wasseroberfläche und der Abdeckung keine Luft verbleibt. Drehen Sie das Glas dann um – und nehmen Sie die Hand weg. Obwohl die Pappe nun das gesamte Gewicht des Wassers trägt, löst sie sich nicht vom Glas. Das liegt an den Luftmolekülen, die von unten dagegen drücken. Deren Kraft reicht locker aus, um das Wasser im Glas zu halten.

Der Ansturm der Luftmoleküle ist nicht nur hilfreich, um Objekte an Ort und Stelle zu fixieren. Er kann auch Dinge in Bewegung versetzen, und der Mensch war nicht der Erste, der sich das zunutze machte. Bühne frei für den Elefanten, einen der eindrucksvollsten Experten der Erde, wenn es darum geht, die Umgebung mit Hilfe von Luft zu beeinflussen.

Der afrikanische Elefant ist ein majestätischer Gigant, der normalerweise friedlich durch die staubtrockene Savanne wandert. Elefantenherden gruppieren sich rund um mehrere Weibchen. Eine ältere Leitkuh, die Matriarchin, führt die Truppe auf der Suche nach Nahrung und Wasser an, ihre Entscheidungen basieren dabei auf ihrem Erinnerungsvermögen. Doch die Tiere setzen nicht nur auf ihre Masse, um zu überleben. Auch wenn Elefantenkörper schwer und plump sind, verfügen die Tiere zum Ausgleich über eines der geschicktesten und sensibelsten Werkzeuge im ganzen Tierreich: den Rüssel. Auf ihrer Wanderung erkundet die Herde die Umgebung ständig mit diesem merkwürdigen Fortsatz, mit ihm wird kommuniziert, geschnuppert, gefressen und geschnaubt.

Der Elefantenrüssel ist in vielerlei Hinsicht faszinierend. Er besteht aus einem Netzwerk aus miteinander verbundenen Muskeln, ist sehr beweglich und in der Lage, mit erstaunlicher Geschicklichkeit Gegenstände aufzulesen und hochzuheben. All das wäre schon nützlich genug, doch was ihn noch besser macht, sind die zwei Nasenlöcher, die über seine gesamte Länge verlaufen. Diese Nasenlöcher sind biegsame Röhren, die die schnuppernde Rüsselspitze mit der Lunge des Elefanten verbinden, und hier geht der Spaß erst richtig los.

Während unser Elefant und seine Herde sich einem Wasserloch nähern, drängt und drückt die »stille« Luft, die sie umgibt, genauso wie auch sonst überall auf sie ein, sie trommelt gegen die runzlige graue Haut, den Boden und die Wasseroberfläche. Die Matriarchin schreitet voran, ihr Rüssel schwingt hin und her, während sie den Tümpel betritt und ihr Spiegelbild sich zu kräuseln beginnt. Dann taucht sie den Rüssel ins Wasser, schließt das Maul, und ihre starken Brustmuskeln heben den Brustkorb und dehnen ihn aus. Sobald sich die Lunge weitet, breiten sich die Luftmoleküle darin aus, um den entstandenen Raum zu füllen. Das hat allerdings zur Folge, dass unten am Ende des Rüssels, wo die Luft in den Nasenlöchern das kühle Nass berührt, weniger Luftmoleküle gegen das Wasser schlagen. Diejenigen, die noch dort herumschwirren, sind genauso schnell wie vorher, doch die Zahl der Kollisionen nimmt ab. Der Druck in der Lunge ist gefallen. Daher gewinnt nun der Luftdruck, der außen auf das Wasser wirkt, das Kräftemessen gegen die Luftmoleküle im Inneren der Matriarchin. Die Luft im Tier kann dem Druck von außen nicht mehr genügend entgegensetzen, und das Wasser ist schlicht das Material, das zwischen den beiden Kontrahenten steht. Und so presst die Außenluft die Flüssigkeit den Elefantenrüssel hinauf, da dessen Inneres nicht zurückdrücken kann. Sobald das Wasser einen gewissen Raum eingenommen hat, drängen sich die Luftmoleküle wieder so eng wie zuvor, und es steigt nicht weiter auf.

Elefanten können nicht durch den Rüssel trinken – sie müssten genauso husten wie Sie, wenn Sie versuchen, durch die Nase zu trinken. Daher bläht die Matriarchin den Brustkorb nicht weiter auf, sobald sich etwa acht Liter im Rüssel befinden. Sie rollt den Rüssel ein und richtet die Spitze auf ihr Maul. Dann presst sie mit Hilfe der Muskeln den Brustkorb zusammen und verringert dadurch das Lungenvolumen. Da die Luftmoleküle im Inneren nun dichter zusammengedrängt werden, kollidieren sie häufiger mit dem Wasser im Rüssel. Das Kräfteverhältnis zwischen der Luft innerhalb und der Luft außerhalb des Elefanten kippt, und das Wasser schießt aus dem Rüssel ins Maul des Tieres. Unsere Matriarchin steuert das Volumen ihrer Lunge, um zu beeinflussen, wie stark die Luft in ihrem Inneren nach außen drückt. Wenn sie das Maul schließt, ist der Rüssel der einzige Ein- und Ausgang, und was auch immer sich gerade an der Rüsselspitze befindet, wird angesaugt oder weggestoßen. Der Rüssel und die Lunge eines Elefanten bilden gemeinsam ein Werkzeug, um Luft so zu manipulieren, dass sie es dem Elefanten abnimmt, Kraft aufwenden zu müssen.

Wir machen das Gleiche, wenn wir eine Flüssigkeit durch einen Strohhalm saugen.[4] Wenn wir unsere Lunge ausdehnen, entsteht dort ein Unterdruck. Am unteren Ende des Strohhalms befinden sich weniger Luftmoleküle, um auf die Oberfläche der Flüssigkeit einzuwirken. Also schiebt die Luft, die außerhalb des Halms gegen die Flüssigkeit drückt, das Getränk den Strohhalm hinauf. Das nennen wir »saugen«, doch eigentlich ziehen wir nicht am Getränk. Die Luft nimmt uns die Arbeit ab. Selbst etwas so Schweres wie Wasser kann bewegt werden, wenn die Luftmoleküle auf einer Seite stärker dagegen prasseln als auf der anderen.

Doch Luft durch einen Rüssel oder einen Strohhalm zu saugen hat seine Grenzen. Je größer der Druckunterschied an beiden Enden ist, desto kraftvoller wird die Flüssigkeit bewegt. Aber der größte Unterschied, den man beim Saugen erzeugen kann, ist der Unterschied zwischen dem atmosphärischen Druck und Null. Selbst wenn man anstelle der Lunge eine perfekte Vakuumpumpe einsetzte, könnte man nicht durch einen Strohhalm trinken, der länger als 10,2 Meter ist, denn höher kann der bei uns herrschende Luftdruck Wasser nicht schieben. Um die Fähigkeit von Gasmolekülen, Dinge zu bewegen, voll und ganz auszunutzen, muss man den Druck erhöhen. Die Luft an sich verfügt über viel Kraft, doch wenn man Gas zu höheren Temperaturen und mehr Druck zwingt, ist die Kraft ungleich größer. Wer genügend winzige Gasmoleküle dazu bringt, oft und schnell genug gegen etwas zu trommeln, kann die Menschheit bewegen.

Dampflokomotiven sind Drachen aus Eisen, zischende, keuchende, kraftvolle Bestien. Vor weniger als einem Jahrhundert waren diese Drachen noch überall, sie schleppten alles durch die Lande, was die Industrie produzierte und die Gesellschaft benötigte, und eröffneten den Passagieren neue Welten. Sie waren gewöhnlich, laut und verschmutzten die Luft, doch sie waren auch Wunderwerke der Ingenieurskunst. Als sie überflüssig wurden, ließ die Gesellschaft sie nicht einfach sterben – sie wollte sie nicht verlieren. Seitdem werden sie von Ehrenamtlichen, Fans und einer enormen Menge Zuneigung am Leben gehalten. Da ich im Norden Englands aufwuchs, prägte die Geschichte der industriellen Revolution meine Kindheit: Mühlen, Kanäle, Fabriken und – mehr als alles andere – Dampf. Doch heute lebe ich in London, was es leichtmacht, das alles zu vergessen. Ein Ausflug mit der Bluebell-Railway-Museumsbahn zusammen mit meiner Schwester brachte die Erinnerungen zurück.

Es war ein kalter Wintertag, absolut perfekt für eine dampfbetriebene Reise, an deren Ende Tee und Scones lockten. Wir verharrten nicht lange im Abfahrtsbahnhof, doch als wir in Sheffield Park eingetroffen waren, traten wir aus dem Zug in eine behäbige Betriebsamkeit hinaus. Die Lokomotiven wurden konstant von einer ständig wechselnden Schar Menschen gewartet, die uns neben den eisernen Bestien winzig vorkamen. Wer für die Loks zuständig war, ließ sich leicht erkennen, so charakteristisch waren die blauen Overalls, die Schirmmützen und das fröhliche Auftreten. Außerdem trugen viele der Männer einen Bart und schienen sich zwischen ihren Pflichten üblicherweise immer irgendwo anzulehnen. Wie meine Schwester bemerkte, hieß offenbar ein überraschend großer Teil von ihnen Dave. Das Schöne an Dampflokomotiven ist, dass das Prinzip dahinter wunderbar einfach ist, doch die rohe Kraft, die entsteht, muss geschürt, gezähmt und genährt werden. Eine Dampflok und ihre Leute bilden ein Team.

Vom Bahnsteig aus war es nur schwer begreiflich, dass die große, schwarze Lokomotive in ihrem Inneren im Grunde ein Ofen auf Rädern war, der einen riesigen Kessel erhitzte. Einer der Daves lud uns in den Führerstand ein. Wir kletterten die Leiter direkt hinter der Lok hoch und fanden uns in einer Höhle voller Messinghebel, Anzeigen und Rohre wieder. Hinter einem Rohr versteckten sich außerdem zwei weiße Emaillebecher und ein Sandwich. Doch das Beste am Führerstand war, dass wir direkt in den Bauch der Bestie schauen konnten. Der riesige Ofen im Zentrum einer Dampflok ist mit glühenden Kohlen gefüllt, die intensiv gelb leuchten. Der Heizer reichte mir eine Schaufel und wies mich an, den Ofen zu füttern, also schippte ich folgsam Kohle aus dem Tender hinter mir ins glühende Maul. Die Lokomotive ist hungrig. Auf der 18 Kilometer langen Strecke verbrennt sie 500 Kilogramm Kohle. Diese halbe Tonne massives schwarzes Gold wird in Gas umgewandelt, in Kohlendioxid und Wasserdampf, und die Verbrennung setzt enorme Mengen Energie frei, so dass die Gase extrem heiß sind. Das ist der Beginn der Energieumwandlung, die den Zug antreibt.