Mirror, Mirror - Cara Delevingne - E-Book

Mirror, Mirror E-Book

Cara Delevingne

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Beschreibung

Der erste Roman von Supermodel, Schauspielerin und Social-Media-Star Cara Delevingne – eine Coming-of-Age-Story über Freundschaft und Identität, in der nichts so ist, wie es scheint. FREUND. LOVER. OPFER. VERRÄTER. WEN SIEHST DU, WENN DU IN DEN SPIEGEL SCHAUST? Red, Leo, Rose und Naomi sind Außenseiter an ihrer Londoner Schule - die einen sicheren Hafen in ihrer Band gefunden haben. Ihr Leben ist alles andere als perfekt, aber ihre Musik verbindet sie, und sie sind gespannt, was die Zukunft für die Band Mirror, Mirror bereit hält. Doch dann verschwindet Naomi und wird später bewusstlos aus der Themse gezogen. Ihre Freunde sind erschüttert und verwirrt. War es ein Unfall – oder ein missglückter Selbstmordversuch, wie die Polizei glaubt? Wenn sie Probleme hatte, warum hat sie ihnen nichts davon gesagt? Wie gut kennen sie ihre Bassistin eigentlich – und einander? Um zu verstehen, was mit Naomi passiert ist, müssen Red, Leo und Rose sich schließlich ihren eigenen dunklen Geheimnisse stellen und das, was sie fühlen, mit dem, was sie der Außenwelt zeigen, in Einklang bringen.

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Seitenzahl: 463

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Cara Delevingne

Mirror, Mirror

Wen siehst du?

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

FISCHER E-Books

Inhalt

Für meine Familie und [...]EinleitungAcht Wochen zuvor …123Ein Jahr zuvor …4567891011Neun Stunden zuvor …12Zwölf Wochen zuvor …131415Acht Monate zuvor …1617181920212223Zehn Monate zuvor …24252627Die Nacht, bevor Naomi weglief …282930313233343536373839404142Sechs Monate später …DankInterview mit Cara Delevingne

Für meine Familie und meine Freunde, die mir durch meine Teenagerjahre geholfen haben.

 

Und für alle, die sich verloren fühlen; ich hoffe, dieses Buch inspiriert euch, euren Träumen zu folgen und nie die Hoffnung aufzugeben. Alles ist möglich.

Einleitung

Heranzuwachsen und den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein zu vollziehen ist eine der interessantesten Phasen im Leben: das Chaos, der Wahnsinn, die Hormone, die ständigen Veränderungen und Extreme. Es ist eine entscheidende Zeit voller Drama und starker Emotionen, die uns zu den Erwachsenen formt, die zu werden wir bestimmt sind.

Die meisten Leute nennen die Teenagerjahre die beste Zeit des Lebens, und es ist wahr, dass es eine sorglose Zeit ist, voller Abenteuer und Freude. Aber sie kann auch unglaublich herausfordernd und schwierig sein, besonders wenn man jemand ist, der nicht mühelos dazu passt.

Durch die sozialen Medien, die eine so große Rolle in unserem täglichen Leben spielen, ist es heute sogar noch schwerer geworden denn je, ein junger Mensch zu sein, durch den wachsenden Druck, perfekt zu erscheinen. Es ist eine Welt, in der Menschen andere schnell verurteilen, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie wirklich zu verstehen, oder zu berücksichtigen, was in ihrem Leben vor sich geht.

Mit Mirror, Mirror wollte ich eine Geschichte erzählen, die den Lesern ein realistisches Bild der turbulenten Achterbahnfahrt der Teenagerjahre zeigt, und Charaktere erschaffen, mit denen sich jeder identifizieren kann. Ich wollte ein Buch über die Macht der Freundschaft schreiben und wie es euch stärker macht, euch mit Menschen zu umgeben, denen ihr Liebe und Vertrauen schenkt.

Vor allem möchte ich meinen Lesern sagen, dass es okay ist, wenn ihr noch nicht wisst, wer ihr seid. Es ist okay, wenn ihr anders und einzigartig seid, weil ihr bereits perfekt seid. Solange ihr herausfindet, was euch glücklich macht, und eurem Herzen folgt, wird alles okay sein. Seid ihr selbst, ganz egal, was passiert. Findet eure Stärken und erkennt, dass ihr die Macht in euch habt, die Welt zu verändern.

 

In Liebe

Cara

Acht Wochen zuvor …

Als wir nach Hause kamen, ging gerade die Sonne auf und erfüllte die Luft mit Sommerhitze. Wir liefen Arm in Arm, mit müden Schritten. Der Kopf von Rose lag auf meiner Schulter, ihr Arm um meine Taille. Ich kann mich noch ganz genau an das Gefühl erinnern, wie ihre Hüfte in versetztem Rhythmus an meine stieß, an ihre Haut an meiner, warm und weich.

Es war kurz vor fünf; durch das frühe Licht, glühend und golden, glänzte jede schmutzige Straße wie neu. Wir hatten diesen Sonnenaufgang schon oft gesehen, wenn wir nach langen Nächten nach Hause gekommen waren, jeden gemeinsamen Moment auskosteten, bis wir die Augen zumachten. Bis zu dieser Nacht hatte sich das Leben herrlich angefühlt, als gehöre es uns und wir ihm; wir füllten jede Sekunde mit etwas Neuem, etwas Bedeutsamem.

Aber diese Nacht war anders.

Meine Augen brannten, mein Mund war trocken, mein Herz klopfte. Wir wollten nicht nach Hause, aber was konnten wir sonst tun? Wir konnten nirgendwo anders hin.

»Warum jetzt?«, fragte Rose. »Alles war gut, Mann. Sie war gut drauf, glücklich. Also, warum jetzt?«

»Ist schließlich nicht das erste Mal, oder?«, meinte Leo. »Deswegen ist es den Bullen egal. Sie hat das doch schon öfter gemacht. Geld, Rucksack voll Essen aus dem Kühlschrank, ihre Gitarre. Ein paar Wochen lang verschwinden. So macht sie das eben.«

»Aber nicht seit Mirror, Mirror«, widersprach Rose. »Nicht seit es uns gibt. Vorher stand sie auf all diesen Mist mit Ritzen und Abhauen und so. Aber nicht seit der Band. Ihr … uns allen ging es gut. Mehr als gut.«

Sie sieht mich an, damit ich ihr recht gebe, und ich muss ihr zustimmen, alles hat sich im letzten Jahr für uns alle verändert. Vor der Band war jeder auf seine eigene Weise verloren, und dann hat es irgendwie bei uns klick gemacht. Und zusammen sind wir stark und cool und krass und einfach der Hammer. Wir alle dachten, Naomi ginge es genauso, dass sie es nicht mehr brauchte, wegzulaufen. Bis zu dieser Nacht.

 

In dieser Nacht waren wir in der ganzen Stadt unterwegs.

Überall, wo wir je mit ihr hingegangen waren, gingen wir noch einmal ohne sie hin.

Zu den Orten, von denen wir unseren Eltern erzählten, und zu denen, von denen sie nichts wussten.

Den Clubs, für die wir eigentlich noch zu jung sein sollten, um reinzukommen, heiß und nach Schweiß und Hormonen stinkend. Wir kämpften uns durch eine wogende Masse aus Tänzern und versuchten, sie irgendwo dazwischen zu entdecken.

Wir drückten uns in den Schatten herum, in den Gassen hinter den Pubs, wo man rummachen konnte, redeten leise mit nervösen Typen mit Schatten als Augen, die uns Tüten mit Gras anboten. In dieser Nacht sagten wir nein.

Wir gingen in Läden hinter unbeschrifteten Türen, wo man jemanden kennen musste, um reinzukommen. Dunkle Kellerräume, wo die Leute noch drinnen rauchten, bis die Luft zum Schneiden dick war, und die Musik so laut, dass einem davon die Ohren dröhnten, die Brust vibrierte und der Bass unter den Füßen wummerte.

Zu all diesen Orten gingen wir und überall sonst hin. Zum Park, wo wir uns immer trafen, um Blödsinn zu machen. Dem Ufer, fremdartig und überschattet von Apartmentblöcken mit Millionärswohnungen. Vauxhall Bridge, unsere Brücke, über die wir so oft gegen den Verkehr anschreiend gelaufen waren, dass sie uns wie eine Art Kumpel, wie eine Art Augenzeuge vorkam.

Schließlich gingen wir zu diesem verlassenen Wettbüro mit der kaputten Tür und einer Matratze im Hinterzimmer, wo manche Leute hingingen, wenn sie allein sein wollten. Manche Leute, aber ich nie, weil eins der Dinge, die ich wirklich hasse, Alleinsein ist.

Stunde um Stunde dieser Nacht verging, und mit jedem Moment, der verstrich, waren wir überzeugt, dass wir sie finden würden, dass sie nur wieder eine ihrer Nummern abzog, wie sie es tat, wenn sie Kummer hatte und wahrgenommen werden wollte. Wir waren sicher, dass unsere Freundin, unser Bandmitglied Naomi, irgendwo an einem Ort sein würde, den nur wir kannten. Sie würde auf uns warten, damit wir sie fanden.

Weil man nicht einfach an einem Tag noch existieren und am nächsten verschwunden sein kann. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Niemand löst sich einfach in Luft auf, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.

Das war es, was wir uns in jener Nacht einredeten, als wir nach ihr suchten, und in der Nacht darauf und in all den Nächten, die folgten, bis unsere Eltern uns sagten, dass wir damit aufhören mussten, dass sie nach Hause kommen würde, sobald sie bereit dazu war. Und dann hörte die Polizei auf zu suchen, weil sie früher schon so oft weggelaufen war.

Aber für uns fühlte es sich nie so an, es fühlte sich nicht so an wie früher, weil sie nicht mehr dieselbe war wie früher, nicht, dass sie auf uns hörten mit ihren gelangweilten Mienen und leeren Notizblöcken. Was konnten die schon wissen?

Also suchten und suchten wir weiter nach Naomi, lange nachdem alle anderen aufgehört hatten. Wir suchten überall.

Aber sie war nirgends.

Alles, was wir fanden, waren die Orte, an denen sie einmal gewesen war.

1

Heute: Das Leben geht weiter, sagen alle.

Wir müssen weiter aufstehen, in die Schule gehen, nach Hause kommen, über solchen Mist wie anstehende Prüfungen nachdenken. Und »hoffen und beten und vertrauen« und einen Haufen anderen Blödsinn, den sie ständig zu uns sagen.

Das Leben geht weiter, aber das ist eine Lüge, denn in der Nacht, in der Naomi verschwand, hat sie auf einen verdammt großen Pause-Knopf gedrückt. Tage gehen vorbei und Wochen und Jahreszeiten und der ganze Mist, aber sonst nichts. Nicht wirklich. Es ist, als würden wir alle seit acht Wochen den Atem anhalten.

Interessant ist, was sie nicht mehr sagen; sie sagen nicht mehr, dass sie nach Hause kommen wird, wenn sie dazu bereit ist. Ich sehe ihre ältere Schwester Ashira in der Schule, mit gesenktem Kopf, verschlossen, als wolle sie nicht, dass ihr irgendjemand zu nahe kommt. Und ihre Mum und ihr Dad wandern im Supermarkt herum und starren Sachen an, ohne sie wirklich zu sehen. Obwohl Nai diejenige ist, die vermisst wird, sind sie es, die verloren aussehen.

Und ja, früher wäre sie davongelaufen, damit alle nach ihr suchen mussten, früher ja, weil sie damals noch auf diese Art Psycho-Drama stand. Aber das tat sie schon lange nicht mehr und nie so extrem. Sie würde nie wollen, dass ihre Mum und ihr Dad krank vor Sorge um sie sind oder dass Ash aussieht, als würde sie ständig den Atem anhalten, um sich auf schlechte Nachrichten gefasst zu machen. Nai ist kompliziert, aber sie liebt ihre Familie, und ihre Familie liebt sie, sie sind wie ein Leuchtfeuer, das den Rest von uns anlockt wie liebeshungrige Motten. Ihre Familie ist eine, wo man sich wirklich umeinander kümmert.

Also, Naomi würde ihnen das nicht antun, oder uns. Aber niemand will das hören, weder die Polizei noch sonst jemand, noch nicht einmal ihre Mum, denn der Gedanke, dass Naomi ein eiskaltes Miststück sein muss, ist leichter als der Gedanke, dass sie einfach weg ist.

Darum wünsche ich mir manchmal nur, sie würden eine Leiche finden.

So ein Riesenarschloch bin ich. Manchmal wünsche ich mir, sie wäre tot, damit ich es einfach wüsste.

Aber das haben sie nicht. Sie haben nichts gefunden. Und das Leben geht weiter.

Was bedeutet, dass heute der Tag ist, an dem wir einen neuen Bassisten als Ersatz für Naomi suchen.

Einen kurzen Moment lang sah es so aus, als würden wir ohne sie auseinanderbrechen. Der Rest von Mirror, Mirror – ich, Leo und Rose –, wir trafen uns zu einer Probe und fragten uns, ob wir einfach aufhören sollen, wir sagten sogar, dass wir das sollten. Und dann standen wir drei einfach nur da, keiner ging, keiner packte seinen Kram zusammen, und wir wussten, ohne es laut aussprechen zu müssen, dass wir nicht loslassen konnten. Die Band loszulassen hieße das Beste in unserem Leben loszulassen, und es hieße, Nai loszulassen, endgültig.

Naomi hat die Band gegründet, oder zumindest war sie diejenige, die sie von einem lahmarschigen Schulprojekt in etwas Echtes, etwas Bedeutsames verwandelte. Nai ist der Grund, warum wir alle etwas gefunden haben, in dem wir gut sind, weil sie so gut in ihrem Ding war. Ich meine, sie war eine großartige Bassistin, legendär; wenn man hörte, wie sie groovte, war man platt. Aber darüber hinaus kann Naomi schreiben – ich meine, richtig gute Songs. Ich bin auch nicht schlecht, und zusammen sind sie und ich toll, aber Nai hat dieses Etwas, dieses gewisse Etwas, das etwas Bleiernes und Graues zu etwas Strahlendem und Besonderem macht. Vor Mirror, Mirror wusste sie nicht, was ihre Superpower war, aber jetzt weißt sie es, weil wir es ihr gesagt haben. Und je mehr wir es ihr gesagt haben, desto besser wurde sie. Und wenn man eine solche Superpower hat, dann muss man nicht weglaufen.

An dem Tag, an dem wir uns beinahe trennten, kam unser Musiklehrer Mr Smith in den Probenraum. Es war in den Sommerferien, die Schule war größtenteils leer bis auf uns. Wir durften nur wegen ihm im Gebäude sein, er hatte uns die Erlaubnis besorgt und verbrachte seine Ferien damit, herumzusitzen und Zeitung zu lesen, während wir spielten und stritten. Aber diesmal kam er und setzte sich und wartete, bis wir aufhörten zu reden und ihn ansahen. In dem Moment fiel mir auf, wie anders er aussah. Mr Smith ist einer von den Leuten, die einen Raum einnehmen, nicht nur weil er groß und irgendwie muskulös gebaut ist, als würde er trainieren und so, auch wegen seiner Art; er mag das Leben, er mag uns, die Schüler, die er unterrichtet, und das ist selten. Er bringt dich dazu, Sachen machen zu wollen, lernen zu wollen, und das alles wegen dieser Art Energie, die man bei Erwachsenen nicht so oft findet, als würde er sich wirklich für dich interessieren.

Aber an jenem Tag sah er aus, als hätte ihm jemand die Luft rausgelassen, als wären all die Energie und die guten Vibes, die er normalerweise mitbringt, verschwunden. Und es war beängstigend, ihn so zu sehen, weil er einer von den Leuten ist, die immer so stark sind. Das traf mich auf eine Weise, die ich nicht wirklich erklären kann, es brachte mich dazu, ihn sogar noch mehr zu mögen. Zu sehen, wie sehr er sich sorgte, dass Nai vermisst wurde, wirklich sorgte, bedeutete viel. Abgesehen von ihrer Familie und uns schien er einer der wenigen Leute zu sein, die das taten.

Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber in dem Moment, in dem ich ihn an jenem Tag sah, wollte ich ihm helfen, ebenso sehr, wie ich wusste, dass er uns helfen wollte.

»Denkt ihr wirklich darüber nach, euch zu trennen, Leute?«, fragte er.

Wir sahen einander an, und eine Sekunde lang kam ich mir wieder vor wie damals, bevor wir Freunde waren, einsam und unbeholfen, und die Vorstellung, wieder dahin zurückzukehren, war erschreckend.

»Es fühlt sich falsch an ohne sie«, sagte ich.

»Das verstehe ich.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, dass ihm die blonden Strähnen vom Kopf abstanden. »Aber hört auf mich, wenn ich euch sage, dass ihr es bereuen werdet, wenn ihr jetzt Schluss macht. Ihr vier … ihr drei … Ich bin so stolz auf euch und alles, was ihr zusammen macht. Ich will nicht, dass ihr das verliert, nicht für euch und nicht für Nai. Es gibt zwar nicht viel, das ihr für Naomi tun könnt, aber was ihr tun könnt, ist, dafür zu sorgen, dass die Leute sich an ihren Namen erinnern, bis sie gefunden wird. Sorgt dafür, dass sie nie aufhören, nach ihr zu suchen. Ich habe da diese Idee – wir werden ein Konzert geben, hier an der Schule. Spenden sammeln, um ihrer Familie dabei zu helfen, weiter zu suchen, ihre Geschichte im Licht der Öffentlichkeit zu halten. Die ganze Welt dazu bringen, uns zu sehen, euch zu sehen und zu sehen, wie sehr wir uns um sie sorgen. Das ist es, was ich tun möchte, Leute. Aber das kann ich nicht ohne euch. Seid ihr dabei?«

Und ja, natürlich waren wir dabei.

Es war unser einziger Gedanke.

 

Wir machten weiter, nur wir drei, den ganzen Sommer lang, aber jetzt ist das Konzert fast da, und uns wurde bewusst, was wir tun müssen. Wir müssen einen neuen Bassisten finden. Scheiße, verdammt.

Naomi war … ist … der beste Bassist, mit dem ich je gespielt habe, was komisch ist, weil sie ein Mädchen ist, und Mädchen sind normalerweise nicht gut in so was. Das ist nicht sexistisch, das ist einfach eine Tatsache. Es braucht eine gewisse unbeirrbare Entschlossenheit, unsichtbar zu sein, um wirklich gut Bass zu spielen, und Mädchen – na ja, normale Mädchen – mögen es, wenn man sie ansieht.

Aber heute muss es weitergehen. Ich muss mich zusammenreißen. Also quäle ich mich aus dem Bett und starre den Haufen zerknitterter Klamotten auf dem Fußboden an.

Leo hat es gut, der Typ steigt einfach aus dem Bett und sieht perfekt aus.

Er nimmt seine Gitarre und könnte genauso gut Gott sein; die Mädchen himmeln ihn an, so wie er ist. Das ist irgendwie nicht fair, wirklich, dass er es im Alter von sechzehn schon so draufhat, als wäre er voll ausgewachsen und mit tiefer Stimme, groß und muskulös auf die Welt gekommen.

Ich dagegen, ich bin immer noch in dieser komischen Phase. Ich lebe in dieser komischen Phase, ich bin diese komische Phase. Wenn es ein Emoji für komische Phasen gäbe, würde es aussehen wie ich. Ich rechne fest damit, immer noch in dieser komischen Phase zu sein, wenn ich fünfundvierzig und fast tot bin.

Ich will cool aussehen, aber cool wie Leo; schlichtes weißes T-Shirt, Jeans, Hoodie und makellose weiße Hightops sind nicht die Art von Cool, die ich draufhabe. Es gibt keine Art von Cool, die ich draufhabe, außer die Coolness, die ich mir dadurch ausborge, dass ich Leos Kumpel bin.

Rose hat es auch perfekt drauf, gut auszusehen, aber sie ist echt schön, und Schöne müssen sich nie wirklich anstrengen. Dunkelbraunes Haar, blondiert, aber nicht bis ganz zum Ansatz; sie ist nicht dünn wie manche Mädchen, ihre Möpse und Hüften verdrehen den Jungs der Thames Comprehensive den Kopf.

Aber das ist noch nicht alles, sie trägt tonnenweise Make-up, obwohl sie hübscher ohne aussieht – vielleicht gerade deswegen. Sie kämmt sich das Haar zurück und macht absichtlich Löcher in ihre Strumpfhosen. Rose weiß, was ihr Look ist, und rockt ihn, sie lädt die Luft elektrisch auf und lässt überall um sich herum Millionen kleiner Explosionen knistern, wo auch immer sie geht und steht.

Andere Mädchen versuchen, sie zu kopieren, aber es gibt keine anderen Mädchen wie Rose, denn ich schwör bei Gott, Rose ist das einzige Mädchen, dem ich je begegnet bin, das sich wirklich einen Dreck um die Meinung anderer schert.

Und wenn sie singt … wackeln die Wände. Gesichter werden grün vor Neid. Schwänze werden hart.

Von uns vieren in unserer fabelhaften Familie von Außenseitern war … ist Naomi diejenige, die am meisten wie ich ist. Wenn Leo und Rose das coole Ballkönigspaar der Schule sind, dann sind Nai und ich die Lords of Geek.

Und wenn ich an Naomi denke mit ihrer dicken Brillenfassung, die ihr herzförmiges Gesicht erdrückt und ihre sanften braunen Augen verbirgt, dann bin ich stolz auf sie. Wie sie bis obenhin zugeknöpfte Blusen und Faltenröcke in einer völlig anderen Länge als alle anderen trägt. Ihre vernünftigen Schuhe, geschnürt und poliert. Hinter alldem, den absichtlich nicht zusammenpassenden und ungewöhnlichen Klamotten, ist sie ein absolut kompromissloses Original, das sich keinen Mist bieten lässt.

Manchmal gingen Naomi und ich in der Mittagspause gern in die Bibliothek, um einfach nur dazusitzen und zu lesen. Wir waren still und ruhig. Es war friedlich. Gelegentlich schaute sie mich über den Rand ihres Buchs hinweg an und zog eine Augenbraue hoch, wenn irgendein Möchtegern aus der Neunten vorbeiging, und dann grinsten wir uns an, zwei ungläubige Supernerds, die es irgendwie durch Zufall an die Spitze geschafft hatten.

Und wenn sie spielte … dann war sie genauso gut, sogar besser als die besten Bassisten der Welt. Mit mir am Schlagzeug waren wir der Herzschlag der Band und gaben den Groove mit seltener Präzision vor.

Ich hab keinen Bock, über meinen Band-Look nachzudenken, also scheiß drauf: kariertes Hemd, Jeans, weißes T-Shirt drunter, das ist meine übliche Uniform. Holzfäller-Pro nennt Rose es.

Wenigstens brauche ich mir keinen Kopf mehr wegen meiner Haare zu machen, da ich das meiste davon abrasiert habe.

Karottenkopf.

Feuermelder.

Hirni.

Alles Namen, die ich bekommen habe, nur weil ich ein Rotschopf bin und nicht nur irgendein Rotschopf, sondern auch noch ein lockiger Rotschopf. Herrgott, ich bin mit einem Aussehen aufgewachsen, das praktisch eine Einladung war, mir was aufs Maul zu geben. Dagegen könnte ich etwas tun, sagt Rose gern zu mir. Sie brennt darauf, mir Zeug in die Haare zu schmieren und es zu glätten. Und ich dann so, ähm, nö. Und ungefähr alle drei Tage oder so bietet sie mir an, sie schwarz zu färben, aber wieder sage ich nein, ich bin ein Rotschopf, okay, kommt damit klar.

Außerdem, wenn meine Haare schwarz wären, könnte man mich nicht mehr Red nennen, und mein Spitzname ist das Coolste an mir.

Was ich getan habe, war, es mir, am Tag bevor Nai verschwand, richtig kurz schneiden zu lassen. Ich hab’s niemandem erzählt, bin nur zu einem Friseurladen gegangen und hab ihnen gesagt, sie sollen es an den Seiten rundum abrasieren und oben lang genug lassen, dass es mir in die Augen fällt und wie verrückt herumfliegt und -flippt, wenn ich an den Drums sitze. Mum hat mich eine geschlagene Stunde lang angeschrien, als sie es sah. Ich mach keine Witze, sie sagte, ich sehe aus, als käme ich aus einem Hochsicherheitsknast.

Als Dad von einer seiner die ganze Nacht dauernden »Gemeinderatssitzungen« heimkam, hat sie ihn angeschrien, weil er mich nicht anschrie.

Es war schlimmer als damals, als ich mir vier Piercings ins Ohr hab stechen lassen, also mache ich mir seitdem nicht mehr die Mühe, ihnen von den Dingen zu erzählen, die ich tue, um mich wie ich zu fühlen. Das ist den Stress nicht wert.

Und mir war schon lange vorher bewusst geworden, dass meine Eltern nicht diejenigen sein werden, die mich retten, mich in Ordnung bringen oder mir helfen. Sie sind beide so sehr mit ihrer eigenen Selbstzerstörung beschäftigt, dass ich und meine kleine Schwester Gracie praktisch nicht viel mehr als Kollateralschäden sind. Sobald ich das erkannt hatte, erschien das Leben einfacher, ob ihr es glaubt oder nicht.

Klar, es ist schwer zu ignorieren, dass meine Mutter mich hasst und mein Dad ein Windhund ist. Aber ich geb mir Mühe.

2

Rose beherrscht den Raum, sie bringt die Arschlöcher, die dachten, sie könnten in einer Woche Bassgitarre lernen, mit einem einzigen Todesblick zum Schweigen.

»Herrgott, Toby, so wie du den Bass vergewaltigst, vergeht es mir fürs ganze Leben, Alter«, sagt sie zu ihrem jüngsten Opfer. »Fingerst du deine Freundin auch so?«

»Tut mir leid, Alter«, zuckt Leo mit den Schultern. »Vielleicht solltest du lieber … gar kein Instrument spielen?«

Als Toby sich mit knallroten Wangen davonschleicht, werfe ich einen Blick hinaus in den Flur und sehe mir die Schlange an. Da ist tatsächlich eine Schlange. Früher gehörte ich zu den linkischen Trotteln in der Ecke, die jeder ignorierte, und jetzt stehen die Leute Schlange, um in meiner Band zu sein. Es fühlt sich gut und schlecht zugleich an. Nai hat uns dabei geholfen, diese Band auf die Beine zu stellen, sie ist die beste Songwriterin von uns allen, das Herz des Ganzen. Es waren ihre Melodien, ihre Worte, die die Leute dazu brachten, stehen zu bleiben und zuzuhören. Und jetzt stehen diese Leute Schlange, um sie zu ersetzen.

Ich will diese Band, ich brauche sie. Ich glaube, das ist es, was mich zu einem verdammten Stück Scheiße macht.

 

Einer nach dem anderen geht unter, und ich sehe ihnen dabei zu, sicher hinter meinen Drums, bis nur noch zwei Bewerber übrig sind.

Dieses Mädchen namens Emily, hübsch und cool. Nicht so sexy, dass sie dich bei lebendigem Leib auffressen könnte, aber sexy genug, dass du sie den ganzen Tag ansehen und dir Gedichte über ihr Haar und so Zeug ausdenken könntest.

In der Sekunde, in der Emily zur Tür reinkommt, merke ich, dass Rose nichts davon wissen will. Sie braucht gar nichts zu sagen, man kann die Blitze in ihren Augen regelrecht sehen. Sie ist das heiße Mädchen in unserer Band, da ist kein Platz für zwei.

Was schade ist, denn als Emily zu spielen anfängt, merke ich, dass sie gut ist, ich kann spüren, wie sie sich auf meinen Groove draufsetzt und an jeden Takt schmiegt. Es fühlt sich gut an, richtig gut, intim. Ich ertappe mich dabei, dass ich ihr in die blauen Augen sehe und sie anlächle – denn Schlagzeug spielen ist das Einzige, bei dem ich einem Mädchen zeigen kann, dass ich es mag, ohne mir die Kugel geben zu wollen. Sie lächelt zurück, und ehe ich mich versehe, rutscht mir einer meiner Sticks aus der Hand und fällt klappernd auf den Boden.

»Sorry, Schätzchen«, sagt Rose, ohne Emily überhaupt anzusehen. »Das haut nicht wirklich hin, oder? Aber netter Versuch.«

Emily reagiert nicht, sie zuckt nur supercool mit den Schultern und lächelt mich an, bevor sie geht.

»Ich mochte sie«, sage ich. »Kann ich sie nicht haben?«

Rose boxt mich hart in den Oberarm, und der Schmerz schießt mir in die Schulter. Das Mädchen kann zuschlagen.

»Herrgott, Rose! Lass meine Muckis in Ruhe!«

»Das sind keine Muckis, das sind wohl eher Muschis.« Sie schüttelt den Kopf. »Verdammt, Red, lass die Hose zu. Das hier ist nicht deine Chance, jede x-beliebige Schlampe abzuschleppen, die reinspaziert.«

»Emily ist keine Schlampe«, wirft Leo ein. »Ich mochte sie.«

»Herrgott, ihr simpel gestrickten Schwachköpfe. Es braucht echt nur Titten, damit ihr euch in Schafe verwandelt.«

Leo und ich wechseln einen Blick und verkneifen uns ein Lächeln.

»Regierst du nicht praktisch so die Schule?«, murmelt Leo, und Rose versetzt ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

Als Nächstes kommt Leckraj, dieser unscheinbare Junge aus der Achten. Er erinnert mich an mich mit dreizehn, ohne Plan, wie man im Dschungel der Thames Comprehensive zurechtkommt. Sein Bass ist fast größer als er, aber wenigstens kann er ganz ordentlich spielen. Nicht so gut wie Emily, nicht annähernd wie Naomi, aber es wird reichen. Sieht so aus, als wird es auch reichen müssen, weil er alles ist, was noch da ist.

»Also, Leckraj, ich geb dir jetzt die Bassline für ›Head Fuck‹ vor, okay? Und dann …«

»Leute, könnt ihr mal eine Minute lang aufhören?«

Plötzlich steht Mr Smith mitten im Raum, und er sieht aus wie vom Blitz getroffen. Noch nie habe ich einen solchen Ausdruck wie den auf seinem Gesicht gesehen, als habe er gerade gehört, dass das Ende der Welt naht. Es macht mir Angst. Meine Eingeweide ziehen sich krampfhaft zusammen. Das ist übel, das wird übel werden.

Niemand sagt etwas. Das ist nicht nötig.

Es ist, als würde sich die Luft um uns herum verdichten und die Zeit zum Stillstand bringen, zäh und klebrig in meiner Lunge. Ich kann nicht atmen.

Wir alle wissen, was er uns sagen will.

»Man hat sie gefunden?« Es ist ein Flüstern, das aus meinem Innern kommt, obwohl es sich anhört, als käme es von Lichtjahren weit weg.

Er nickt, unfähig, einem von uns in die Augen zu sehen.

»Ist sie …?« Leo diesmal, die Augen fest auf Smith gerichtet, während er darauf wartet, dass die Axt herabsaust.

»Sie ist …« Mr Smith stockt eine Sekunde lang und schüttelt den Kopf. Schließlich sieht er uns an, mit Tränen in den Augen, sein Mund ist verzerrt, und es dauert einen Moment, bis ich erkenne … dass er lächelt.

»Sie lebt«, sagt er.

3

Die Welt wird mir unter den Füßen weggezogen. Einen Moment lang sehe ich ihr Gesicht, wie es war, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, und wie sie lächelte, die Augen von innen her leuchtend, und alles, was ich will, ist, bei ihr zu sein.

»Na, wo ist sie dann?« Die Worte sprudeln aus Rose heraus. »Wir müssen zu ihr gehen und sie sehen, sofort. Wo ist sie? Ist sie zu Hause? Hier? Ist sie hier?«

»St. Thomas«, sagt Mr Smith.

»Scheiße.« Rose schüttelt den Kopf.

»Im Krankenhaus? Was ist mit ihr passiert?« Ich.

»Hat ihr jemand was getan?« Leo, mit zusammengebissenen Zähnen. »Wer zum Teufel hat ihr weh getan?«

»Hört zu …« Mr Smith hebt die Hände, wie um einen ganzen Raum lärmender Kinder zum Schweigen zu bringen. »Ich weiß, das ist viel zu verarbeiten, deshalb wollte ich derjenige sein, der es euch sagt. Aber ich habe mit euren Eltern gesprochen, und sie sind einverstanden, dass ich euch hinbringe, um mehr herauszufinden. Aber da gibt es etwas, das ihr wissen müsst.«

»Wo war sie?«, fragt Rose, bevor er noch ein weiteres Wort herausbringen kann. »Sie muss doch gesagt haben, wo sie war.«

»Hat sie gesagt, warum?« Leos Stimme ist leise, voller Wut. »Hat sie gesagt, warum sie weggelaufen ist?«

»Was ist mit ihr passiert?« Ich wieder. »Hat sie gesagt, was passiert ist?«

Mr Smiths Schultern sacken herab, als er sich auf die Ecke der Bühne sinken lässt und zu Boden starrt. Ich kann sehen, dass er herauszufinden versucht, wie er das sagen soll, was er als Nächstes sagen muss, dass er versucht, sich selbst einen Reim auf alles zu machen, mit jedem sorgfältig gewählten Wort. Er versucht, uns zu schützen. Das ist schlecht.

»Etwas … etwas ist ihr in den letzten Stunden zugestoßen. Ein paar Arbeiter am Fluss haben sie in den Tauen verheddert gefunden, mit denen die Ausflugsschiffe an der Westminster Bridge festgemacht sind. Im Wasser. Sie war bewusstlos, hat noch geatmet, aber kaum noch. Das Tau hat ihren Kopf über Wasser gehalten … aber sie ist verletzt, schwer. Eine Kopfverletzung, und … noch weiß niemand, wie ernst es ist.«

»Was bedeutet das?« Rose macht zwei Schritte auf ihn zu, so schnell, dass ich einen Moment lang glaube, sie wird ihn schlagen. Langsam sieht er zu ihr hoch und hält ihren Blick.

»Das bedeutet, es besteht ein großes Risiko, dass sie es nicht schafft.«

Von Freude zu Verzweiflung innerhalb eines Herzschlags. Wieder sehe ich ihr Gesicht vor mir und frage mich, wie es möglich ist, jemanden in ein und demselben Moment zu finden und wieder zu verlieren.

 

Da war dieses eine Jahr, als ich zehn war, in dem ich so oft ins Krankenhaus musste, dass das Jugendamt kam, um nach mir zu sehen. Beim ersten Mal brach ich mir das Handgelenk beim Spielen mit dem Nachbarshund; er sprang hoch, ich fiel nach hinten und schlug mit der Hand gegen einen steinernen Blumentopf. Knack; bei dem Geräusch wurde mir schlecht. Dann war mein Knöchel dran, beim Fußballspielen, als Kevin Monk mich mit beiden Beinen umgegrätscht hat. Das hat weh getan wie verrückt. Und ich habe mir ein paar Rippen geprellt, als ich von einem Baum fiel, bei einer Wette, um zu sehen, wer am schnellsten raufklettern kann. Die Wette hab ich aber gewonnen.

Das Witzige ist, mir gefielen diese Ausflüge in die Notaufnahme. Ich mochte die langen Wartezeiten, weil das bedeutete, dass entweder Mum oder Dad neben mir saß und ich sie so lange hatte, wie es dauerte, bis ich untersucht wurde. Obwohl Dad immer irgendetwas Wichtiges versäumte und Mum, die mit Gracie schwanger war, sich unwohl und müde fühlte, solange wir dort waren, hatte ich sie. Sie hörten mir wirklich zu, und wir redeten, lachten, und sie ließen mich Spiele auf ihrem Handy spielen. Nachdem ich vom Baum gefallen war, musste ich über Nacht im Krankenhaus bleiben, weil die Ärzte sich Sorgen um meinen Kopf machten. Mum mietete uns einen Fernseher, und sie saß die ganze Nacht neben mir, eine riesige Tüte Doritos auf ihrem Babybauch, und hielt meine Hand.

Als die Frau vom Jugendamt vorbeikam, redete sie am Küchentisch mit mir, während Mum nervös auf der Stuhlkante saß und an ihren Nägeln knabberte. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum Mum so besorgt aussah, aber ich wollte nicht, dass sie ängstlich ist, mir gefiel dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht. Ich wollte, dass er weggeht. Also erzählte ich der Frau von jedem Unfall, einem nach dem anderen, in allen Einzelheiten; Hund, Fußball, Baum. Und dann musste ich es ihr noch mal erzählen und noch mal, während Mum nicht im Zimmer war, bevor die Frau schließlich wieder ihre Sachen packte und ging.

»Was sagt man dazu?«, hatte Mum gesagt, als sie wieder reinkam, mir die Hand auf den Kopf legte und mir mit den Fingern durchs Haar fuhr. »Mein kleiner waghalsiger Wirbelwind.«

Sie machte mir heiße Schokolade mit Marshmallows, und ich erinnere mich, dass ich am Tisch saß und mich fragte, was ich richtig gemacht hatte.

 

Das letzte Mal war ich hier, als Gracie auf die Welt kam; Dad führte uns durch das Labyrinth aus Fluren in ein Zimmer voller Vorhänge, in dem Mum auf der Kante ihres Krankenbetts saß mit meiner krebsroten kleinen Schwester, die sich die Seele aus dem Leib schrie. Wenn ich wirklich down bin, dann denke ich an diesen Tag, an uns vier um dieses Bett herum, eine Einheit. Eine Familie, der Geruch von Gracies Haar, das Lächeln auf Dads Gesicht. Wie Mum so müde und so glücklich aussah. Ich denke immer an diesen Tag, denn das war das letzte Mal, an das ich mich erinnere, dass ich mich wie in einer Familie fühlte.

Ja, das war das letzte Mal.

Als wir Mr Smith durchs Krankenhaus folgen, gleitet alles an mir vorbei wie irgendeine billig gemachte virtuelle Realität, die glänzenden Böden und langen Flure. Der scharfe Geruch, der in der Luft liegt und meinen Gaumen reizt. Das Schweigen im Aufzug, das Quietschen unserer Gummisohlen beim Gehen, das Flackern der Lampen über uns.

Und dann ist da ein Zimmer, und wir wissen, dass unsere beste Freundin darin liegt. Und vielleicht stirbt sie.

Vor dem Zimmer sehe ich Nais Mum und Dad stehen, die Arme umeinandergeschlungen und die Köpfe am Hals des anderen vergraben. Nais Mum hat die Hände in das Hemd ihres Mannes gekrallt, als habe sie Angst zu ertrinken, wenn sie loslässt.

»Mrs Demir?« Rose ist es, die den ersten Schritt macht und Mr Smith am Aufzug stehen lässt. Normalerweise nennen wir die beiden einfach Max und Jackie, aber in diesem Moment erscheint das irgendwie nicht richtig.

Kaum sieht Nais Mum Rose, streckt sie den Arm nach ihr aus und zieht sie mit in ihre Umarmung hinein. Leo und ich folgen, einer nach dem anderen legen wir die Arme um die Menschen, die uns zu jeder Uhrzeit in ihre Wohnung gelassen haben und uns nie das Gefühl gegeben haben, unerwünscht oder nicht willkommen zu sein.

Einen Moment lang verliere ich mich in der dunklen, warmen Umarmung, die Augen gegen die drohenden Tränen zugekniffen, fest entschlossen, niemanden sehen zu lassen, wie viel Angst ich habe. Dann löst sich der Augenblick auf, als wir einander loslassen, und ich blinzle wieder unter dem Licht der Neonröhren.

»Wie geht es ihr?« Mr Smith hat ein paar Schritte von uns fünf entfernt gewartet und uns beobachtet.

Jackie schüttelt den Kopf, und Max dreht sich zum Fenster, um durch die Lamellenjalousien die Person zu betrachten, die völlig reglos auf einem Bett liegt. Ich bin es gewohnt, Max voller Lachen zu sehen, mit funkelnden dunklen Augen und wackelndem Bauch, immer einen weiteren schlechten Scherz auf der Zunge. Ihn jetzt so zu sehen, mit Schatten in den Falten seines Gesichts, dünn und schwach, ist schwer zu ertragen.

Ich habe das Gefühl, zu ihm rüberzugehen und mich neben ihn stellen zu sollen, aber ich kann es nicht, ich habe Angst. Angst davor, was ich sehen werde.

Eine Kopfverletzung, was bedeutet das? Wird sie anders aussehen, wird da Blut sein? Nai und ich, wenn wir nur zu zweit waren, suchten wir uns den schlimmsten Horrorfilm auf Netflix aus, Kettensägenmassaker und rachsüchtige Dämonen, je blutiger, desto besser. Aber das hier ist echt. Das hier ist Horror. Und es macht mir eine Scheißangst.

Ich halte den Blick auf Jackie gerichtet, auf ihr bananengelb gefärbtes Haar mit den tiefschwarzen Ansätzen, ihre langen, dünnen Arme und die dünnen Beine in engen Jeans, angezogen wie ein Teenager zwanzig Jahre jünger als sie, etwas, das Nai immer wahnsinnig machte. Meine Mum hält Jackie für Abschaum, aber andererseits denkt sie das auch von mir.

»Hat sie schon mit euch gesprochen?« Rose hält Jackies Hand. »Ist sie aufgewacht?«

»Max«, flüstert Jackie ihrem Mann zu, der den Kopf schüttelt und nach einer vorbeigehenden Ärztin die Hand ausstreckt.

»Frau Doktor?«

Eine Frau in einem weißen Kittel bleibt stehen und sieht uns stirnrunzelnd an.

»Das sind die Freunde meiner Tochter, eigentlich quasi auch ihre Familie. Würden Sie ihnen bitte erklären, was passiert ist? Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich es selber verstehe.«

Die Ärztin presst die Lippen zu einem Strich zusammen und zeigt eine Spur von Ungeduld, aber sie faltet die Hände und fängt an zu reden.

»Naomi wurde von der Mannschaft eines Schleppers auf der Themse gefunden, verheddert in ein paar Tauen …«

»Nur ein paar Minuten von zu Hause weg.« Rose sieht Leo an. »Sie war fast zu Hause. Ist sie hineingefallen?«

»Es ist noch nicht klar, wie sie ins Wasser kam, nur dass die Taue, in denen sie sich verfing, sie wahrscheinlich vor dem Ertrinken gerettet haben, durch ihr Schädeltrauma war sie natürlich sehr wahrscheinlich bewusstlos. Das und die starke Kälte der Nacht im Wasser sind die Faktoren, die bisher zu ihrem Überleben beigetragen haben. Also wärmen wir sie gegenwärtig auf, sehr langsam, und wir behalten sie im künstlichen Koma, während wir ihr Gehirn auf Schwellungen und Blutungen überwachen. Morgen sollten wir mehr wissen.«

Jeden Moment rechne ich damit, es zu verstehen, zu begreifen, dass das hier wirklich passiert, aber dieser Moment scheint nicht zu kommen, und es fühlt sich alles wie Fake an.

»Ich meine, es ist schlimm, aber sie kommt doch wieder in Ordnung, richtig? Ich meine, sie kommt doch wieder in Ordnung?«, fragt Leo mit einem scharfen Ton der Verärgerung. Die Ärztin zögert, vielleicht aus Sorge darüber, ehrlich zu antworten und dadurch diesen Jungen aufzuregen, der eins achtzig groß und kräftig gebaut ist. Leo kann manchmal furchteinflößend sein.

»Wir wissen es nicht …«, sagt sie langsam. »Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt eine Zeit im Wasser überlebt hat, dass der Schlag gegen den Kopf sie nicht sofort getötet hat. Sie ist eine Kämpferin, das muss sie sein, sonst wäre sie jetzt nicht hier. Sie bekommt die bestmögliche Versorgung.«

»Können wir sie sehen?«, fragt Rose. »Bitte, ich möchte sie sehen.«

Die Ärztin sieht zu Max, der zustimmend nickt.

Dann mustert sie all unsere Gesichter, und ich hoffe, dass sie vielleicht nein sagt. Aber das tut sie nicht.

»Okay, einer nach dem anderen, jeder drei Minuten. Nicht länger.«

»Wir sollten mit ihr reden, richtig?«, fragt Rose, als Max ihr die Tür aufhält. »Weil sie das vielleicht aufwecken könnte. Im Fernsehen sagen sie, Menschen im Koma können es hören, wenn man mit ihnen spricht.«

»Nun, das hier ist ein künstliches Koma.«

»Ein was?« Rose runzelt die Stirn.

»Wir haben sie sediert und intubiert, um ihrem Körper die Gelegenheit zu geben, zu heilen und sich von allem zu erholen, was sie durchgemacht hat. Mit ihr zu reden wird sie nicht aufwecken, aber es besteht eine gute Chance, dass sie euch hören kann, also … warum nicht.« Die Ärztin lächelt kurz. Mit gestrafften Schultern geht Rose ins Zimmer und schließt leise die Tür hinter sich.

»Wir müssen noch ein paar Anrufe machen, kommt ihr hier klar?«, fragt Jackie freundlich. Ihre Wimperntusche ist ihr in die Fältchen um ihre Augen gelaufen und zieht Spuren über ihr Gesicht. Ich nicke.

»Kommen Sie klar?«, frage ich sie.

»Ehrlich, Red«, ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sie um meinetwillen versucht zu lächeln, »ich weiß es nicht.«

Als wir draußen warten, kommt Mr Smith endlich von seinem Platz, den er neben dem Aufzug bezogen hat, rüber zum Fenster von Nais Zimmer. Als er durch die Lamellen der Jalousien späht, wirft die Nachmittagssonne Streifen aus Schatten auf sein Gesicht. Ich kann mich immer noch nicht dazu bringen, Nai anzusehen, also sehe ich stattdessen ihn an. Sein Gesicht ist vertraut, ein sicherer Ort.

»Sieht sie schlimm aus?«, frage ich.

»Du weißt, dass ich meine Schüler nie anlüge, Red. Oder?«, sagt er.

Ich nicke.

»Sie sieht schlimm aus.« Er nickt in Richtung Naomi. »Ich glaube … Ich glaube, Rose braucht dich.«

Als ich mich schließlich zwinge, durchs Fenster zu schauen, sehe ich Rose mit weit aufgerissenen Augen, die Fäuste geballt vor ihrem Gesicht, sie zittert sichtlich, als sie die Gestalt auf dem Bett anstarrt. Ehe ich mich versehe, bin ich im Zimmer, fasse sie am Handgelenk und ziehe sie zur Tür.

»Nein, nein, nein«, wehrt sie sich gegen mich und reißt ihre Hand los. »Nein. Wir dürfen sie nicht hierlassen, allein. Ich lasse sie nicht allein. Sieh sie dir an, Red. Sie darf nicht allein sein.«

»Rose, komm schon«, dränge ich. »Wir helfen ihr nicht, wenn wir ausflippen.«

»Sieh sie dir an!«, verlangt Rose.

Ich sehe sie an. Ich sehe ihr geschwollenes Gesicht, lila und grau. Und jetzt kann ich nicht mehr aufhören, sie anzusehen, denn dieses Gesicht ist so anders als das, das ich so gut kenne. Es ist schwer zu glauben, dass sie derselbe Mensch ist. Ein Verband umgibt ihren Kopf, und jede Spur ihres langen dunklen Haars ist verschwunden. Ein weiterer Verband ist schräg über ihr Gesicht gewickelt, Spuren von Rot sickern hindurch. Blutergüsse schwärzen und verfärben ihre Haut, wo immer sie zu sehen ist, ein Auge ist zugeschwollen, das andere vom Verband verdeckt, ihre dunklen, funkelnden Augen scheinen für immer ausgelöscht zu sein. Ich sehe die Maschinen, den dicken, unbequemen Schlauch, der aus ihrem Mund kommt, und das sanfte Lächeln, an das ich mich erinnere, zu einem erstarrten Schrei verzerrt. Drähte scheinen aus ihrem Körper herauszuwachsen, als wäre sie halb Maschine, und ich verstehe. Ich verstehe, warum Rose dastehen und sich die Seele aus dem Leib schreien will. Es ist entsetzlich.

»Komm schon«, sage ich und ziehe sie aus dem Zimmer. »Wir müssen uns zusammenreißen. Wir müssen stark sein.«

Ich schließe die Tür hinter uns und umarme Rose.

»Wie geht es ihr?«, fragt Leo. Wir brauchen nicht zu antworten.

»Wenn ich den finde, der ihr das angetan hat …« Leo ballt die Fäuste an den Seiten.

»Was ist, wenn sie sich das selbst angetan hat?« Ashira, Nais Schwester, scheint geradewegs aus dem Nichts aufgetaucht zu sein.

»Ash!« Rose lässt mich los und wirft die Arme um Nais ältere Halbschwester, die stocksteif dasteht und Rose ein paar Sekunden lang in ihr Sweatshirt schluchzen lässt. Ich betrachte Ash, sie ist so still, so gefasst. Äußerlich jedenfalls.

»Du denkst doch nicht … Ich meine, sie hätte doch nicht versucht, sich etwas anzutun«, sage ich. »Nai war glücklich, richtig glücklich. Überschäumend glücklich, bevor sie vermisst wurde. Das war nicht wie früher, als sie davonlief, weil sie gemobbt wurde. Das hat sich alles geändert, als die Band zusammenkam und sie uns hatte. Niemand hat mehr auf ihr rumgehackt. Das ergibt keinen Sinn.«

»Nein.« Ash wendet das Gesicht von Rose ab, und es überrascht mich, wie viel ähnlicher sie Nai sieht, als mir bewusst war, dieselbe lange, gerade Nase und die Wangenknochen, das rabenschwarze Haar mit einem rubinroten Schimmer, das wie ein Spiegel glänzt. Anders als Nai trägt Ash kein Make-up, sie glättet sich nicht die Haare, es ist einfach, wie es ist. Während Naomi immer verrücktere Outfits fand, trägt Ash immer mehr oder weniger das gleiche: Springerstiefel, T-Shirt, Baseballcap, egal wie das Wetter ist. Das gefiel mir schon immer an ihr, dass sie sich einfach einen Dreck um die Welt außerhalb ihres Kopfes schert. Aber jetzt liegt ihre Schwester auf der Intensivstation, und sie wurde zu uns in diese Welt herausgezwungen. Es sieht aus, als schmerze sie das. »Nein, ich schätze, das ergibt keinen Sinn. Nichts ergibt Sinn. Ich muss Dad und Jackie suchen, wisst ihr, wo sie hingegangen sind?«

»Jemanden anrufen«, antworte ich und mache einen Schritt auf sie zu. »Ash, mit dir alles okay?« Sie macht einen Schritt zurück.

»Ich …« Sie zuckt die Schultern. »Bis später.«

 

»Das ist so scheiße«, sagt Leo leise. »Was mit ihr passiert ist, ist so was von scheiße. Das hätte nie passieren dürfen, Mann. Wenn es nur Nai gewesen wäre, die eine ihrer Nummern abzieht, dann hätte es nie so geendet. Irgendwas ist ihr zugestoßen, da wette ich mit euch. Sie hätte nicht versucht, sich umzubringen.«

»Ist es das, was die Leute sagen?« Ich sehe zu Mr Smith, um die Sache klarzustellen, um die Wahrheit von den Lügen zu trennen. Aber er sieht genauso verloren aus wie wir. »Heißt es, dass sie sich umbringen wollte?«

»Ich weiß es nicht«, zuckt er mit den Schultern. »Ich wünschte, ich wüsste es. Ich habe nicht mit der Polizei gesprochen, nur mit Nais Eltern, aber ich nehme an, die Möglichkeit besteht, dass sie versucht hat, sich …«

»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Das ist Blödsinn.«

»Nai hatte Angst vor Wasser«, sagt Rose. »Beim Schwimmunterricht hatte sie immer ihre Periode, um sich davor zu drücken. Wenn sie so durcheinander gewesen wäre, dann hätten wir davon gewusst. Wir hätten sie gerettet.«

Ihre Stimme stockt, und sie schmiegt sich in Leos Arme.

»Ich dachte, sie zu finden würde alles besser machen«, sage ich. »Aber ich weiß nicht, was wir tun sollen.« Mr Smith legt mir die Hand auf die Schulter, und ich lehne mich dagegen.

»Ich weiß nicht, was wir tun sollen«, wiederhole ich und suche seinen Blick. Ich will, dass er mir sagt, dass alles wieder in Ordnung kommt. Wenn er es sagt, dann werde ich es glauben.

»Schaut, das hier war hart für euch alle, wirklich hart. Ich denke, ich sollte euch jetzt nach Hause bringen. Ich glaube, wir müssen Naomis Familie etwas Zeit geben, sich auf das einzustellen, was passiert ist, ihnen etwas Raum geben. Lasst eure Eltern sich um euch kümmern.«

»Ich gehe zu Fuß«, sagt Leo sofort.

»Ich auch.« Ich sehe Rose an, die wiederum Mr Smith mit schief geneigtem Kopf ansieht.

»Kommen Sie klar, Sir?«

»Ich. Natürlich.« Sein müdes Lächeln ist beruhigend. »Schaut, wie die Ärztin schon sagte, Naomi ist eine Kämpferin, alles wird gut werden, ihr werdet schon sehen.«

Als wir gehen, ist er immer noch da und sieht durch die Jalousien in ihr Zimmer.

Die Sache mit Mr Smith ist die, dass er mehr als nur ein guter Lehrer ist, er ist der einzige Erwachsene in meinem Leben, der mich nie im Stich gelassen hat. Und einer Menge Schülern der Thames Comprehensive geht es genauso. Er lügt uns nie an, er verarscht uns nie, er behandelt uns wie Menschen, nicht wie Vieh. Er ist die Sorte Lehrer, mit der man über alles reden kann, und er hört wirklich zu und versucht zu helfen. Er hat mir geholfen, damals, als zu Hause alles schiefzulaufen anfing. Er hat mich dazu gebracht, zu erkennen, dass es okay ist, wer ich bin, dass ich nicht wie meine Eltern bin. Er ist ein guter Mensch, ein gütiger.

»Ihre Eltern sind noch nicht wieder zurück«, sage ich. »Wir können sie nicht allein lassen, bis sie wieder da sind.«

»Geht ihr nur«, erwidert er. »Ich bleibe noch ein bisschen, bis sie zurückkommen.«

Rose nickt und reicht mir ihre Hand. Mit dem anderen Arm hakt sie sich bei Leo unter und führt uns zum Aufzug.

»Das ist so heftig«, sagt sie, als die Aufzugtüren sich schließen. »Also sollten wir uns auch heftig volllaufen lassen.«

Ein Jahr zuvor …

»Hört mal her!« Mr Smith musste schreien, um über die Klasse hinweg gehört zu werden. Es war der erste Schultag nach den Sommerferien, und die meisten Schüler hatten eine Menge zu erzählen. Wer sich mit wem traf, wer wem was angetan hatte, wer es mit wem trieb.

Rose – damals war sie noch eine Fremde für mich, dieses irgendwie sagenhaft umwerfende Mädchen, das ich nur aus der Ferne ansehen konnte – saß in der Ecke auf ihrem Tisch und hielt Hof. Mindestens die Hälfte der Klasse hatte sich umgedreht, um sie anzusehen und nicht Smith, gefesselt von ihren Geschichten, die sie mit wilden Gesten untermalte.

Die Einzigen, die das nicht taten, waren ich hinten in der Ecke, wo ich mit verschränkten Armen tief auf meinem Stuhl hing, Naomi Demir, die wie ein Anime-Girl gekleidet und mit vollem Make-up einschließlich falscher Wimpern ungeduldig mit dem Füller auf den Schreibtisch klopfte, und Leo, der mit seinem Handy beschäftigt war.

»RUHE!«, schrie Smith, und der Lärm legte sich etwas. »Ich will euch nicht alle nachsitzen lassen, aber das werde ich, wenn ihr nicht sofort auf eure Plätze geht. Verstanden?«

Es gab Gemurre, Augenverdrehen, Seufzen. Rose lachte nur und blieb auf ihrem Tisch sitzen, schlug die Beine übereinander und wippte mit den Füßen, dass sie gegen das metallene Tischbein schlugen, peng, peng, peng.

Aber Mr Smith war clever. Er versuchte nicht, sie zu kontrollieren, wie es ein anderer Lehrer tun würde. Er ignorierte sie einfach, und das verunsicherte sie gerade genug, um den Rest der Klasse um sie herum zur Ruhe kommen zu lassen. Ich erinnere mich, dass mir das gefiel, dass ich dachte: Siehst du, wenn man die Person, die man mag, lange genug ignoriert, dann verliebt sie sich irgendwann in dich.

Was für ein Loser ich damals war.

Smith sagte uns, dass er uns in Bands aufteilen würde und dass unsere Aufgabe war, gemeinsam drei Songs zu schreiben und zu performen. Er fing an, die Namen aufzurufen, und ich saß hinten und wurde langsam von totaler Existenzangst erfüllt. Denn damals redete niemand mit mir, und so mochte ich das auch.

Niemand hackte auf mir rum. Vor einem Jahr war ich noch nicht das relativ kleine, drahtige, rothaarige Mitglied einer Band, ich war ein relativ kleines, dünnes – zu dünnes – Kind, und niemand bemerkte richtig, dass es mich überhaupt gab. Das störte mir nicht wirklich, ich wollte mich in meinem eigenen Körper verstecken, mich so unsichtbar machen, wie ich konnte. So war es sicherer. Ich wollte nicht in einer Gruppe sein. Ich wollte nicht mitmachen. Ich hasste mitmachen, verdammt. Und ich wusste, bei allen anderen stand ich auf der Liste von Leuten, bei denen sie mitmachen wollten, ganz unten am Ende. Es war ein Albtraum. Der Rest der Klasse wurde nach und nach in Dreier- und Vierergruppen aufgeteilt und weggeschickt, um sich einen Ort zu suchen, wo sie darüber diskutieren konnten, welche Musik sie schreiben würden, und zu jammen anfangen konnten.

»Red, Naomi, Leo und … Rose.« Mr Smith nickte jedem von uns der Reihe nach zu, und ich erinnere mich, dass ich einen langen Moment die Augen geschlossen und mir gewünscht hatte, dass das nur ein Traum war, ein langer, verworrener Traum, der damit endet, dass ich nur noch wenige Sekunden davon entfernt bin, die Knöpfe der Bluse von Rose zu öffnen, und dann wache ich auf, bevor irgendetwas Gutes passiert, wie üblich.

»Äh, auf gar keinen verdammten Fall«, schrie Leo mehr oder weniger. Beim Ton seiner Stimme flogen meine Augen auf.

»Was ist dein Problem, Leo?« Mr Smith war nicht wütend oder sarkastisch. Leo stand am Fenster, das Handy in der Hand.

»Ich werd verflucht nochmal gar nichts mit diesen Losern machen. Scheiß drauf, das ist doch Bullshit.«

»Warum ist das Bullshit?«, hatte Mr Smith gefragt.

»Ich will nicht mal hier sein.« Leo marschierte zwischen den Tischen hindurch direkt auf Smith zu. Er ist genauso groß wie er, und er stellte sich dicht vor ihn hin und sah ihm direkt in die Augen. Wenn es zu einem Kampf gekommen wäre, hätte ich nicht gewusst, wer gewonnen hätte. »Die Schule interessiert mich einen Scheißdreck.«

»Dann geh«, sagte Smith zu ihm und straffte die Schultern. »Mach nur. Geh schwänzen. Deine Mum wird wieder mal Besuch von der Polizei bekommen, und du wirst diesmal endgültig von der Schule geschmissen. Man wird versuchen, dich ins Erziehungsheim zu schicken, als letzten Versuch, dich wieder auf die richtige Spur zu bringen, aber vor dem Bullshit wirst du dich auch drücken, und eh du dich versiehst, folgst du deinem Bruder in den Knast. Mach nur. Klingt nach einem großartigen Lebensplan.«

Endlich war die ganze Klasse still, gefesselt von der Wut, die wie elektrische Spannung durch Leo hindurchströmte, so stark, dass man sie fast wie einen Heiligenschein um ihn herum sehen konnte und sie jederzeit zuzuschlagen drohte. Wir hatten sie alle schon in Aktion gesehen, wir hatten schon einmal gesehen, wie er von den Bullen abgeführt worden war, nachdem er einen Lehrer niedergeschlagen hatte. Aber Smith ließ sich nicht einschüchtern, er wich nicht zurück.

»Du glaubst, ich hasse dich, aber das tue ich nicht. Ich habe dich spielen gehört, Leo, und du bist besser als irgendjemand sonst, den ich je unterrichtet habe. Du bist ein Naturtalent, du hast eine Gabe. Wirf das nicht weg, denn du bist mehr wert, als du glaubst. Du bist mehr wert als diese Einstellung.«

»Das brauch ich mir von Ihnen nicht sagen zu lassen«, knurrte Leo. »Ich weiß, wer ich bin.«

»Gut«, nickte Mr Smith. »Also gehst du?«

Einen Moment lang regte Leo sich nicht, dann marschierte er zur Tür und riss sie auf. Er drehte sich um und sah Rose, Nai und mich an.

»Kommt ihr jetzt, oder was?«, sagte er.

Ehrlich? Ich hatte eine zu große Scheißangst, um nicht mitzukommen.

Wir folgten ihm den Flur runter zu einem der Probenräume, und Naomi, die in drei Jahren Schule noch nie mit mir gesprochen hatte, lehnte sich dicht zu mir und raunte: »O Mann, wenn der zwangsläufig irgendwann mal an der Schule Amok läuft, sind wir die Ersten, die er abknallt.«

In diesem Moment wusste ich, dass ich sie mag.

Bei dieser ersten Session jammten wir was von AC/DC.

»Was sollen wir spielen?«, fragte Leo, dabei sah er uns alle an. »Was können wir alle?«

Als er mich direkt ansah, machte ich mir fast in die Hose. »Was kannst du?«

Es hörte sich an, als glaube er, dass ich gar nichts kann. Eine Sekunde lang war es so.

»Was von AC/DC?«, schlug ich vor, weil ich nicht wusste, was sie spielen konnten, und das kennt jeder. »You Shook Me All Night Long?«

Er warf einen finsteren Blick zu Nai, die nichts sagte, sondern nur als ein Ja das Riff auf ihrem Bass zupfte. Rose zuckte die Schultern. »Nicht wirklich mein Ding, aber ich versuch’s.«

»Okay, wie wär’s damit?« Leo setzte mit seinem Riff ein, dreckig und laut, voller Scheiß-auf-alles, und ich fand es toll.

»Nett«, sagte Rose nickend, und ich bemerkte, dass sie sorgsam darauf achtete, nicht zu beeindruckt zu wirken. Ich sah Nai an, dankbar dafür, dass sie nicht der geschwätzige Typ war, und gab den Takt an, während sie die Bassline hinlegte und uns mit dem Kopf nickend den Einsatz vorzählte.

»Drei, vier …«

Und ja, es war wunderbar, dieses erste Mal. Wie deine erste Achterbahnfahrt oder dein erster Kuss; es war perfekt, im Bauch kribbelnde Spitzenleistung, genau wie ich es mir immer gewünscht hatte, wenn ich allein zu Hause zu Songs mittrommelte. Nai und ich, wir hatten noch nie ein Wort miteinander gesprochen, und jetzt waren wir genau auf einer Wellenlänge und untermauerten Leos Gitarre, bis es anfing, so zu klingen wie der Song, den wir alle kannten, selbst wenn wir es nicht wussten.

Mit gesenktem Kopf, das Gesicht von ihrem Haar verdeckt, fiel Rose mit dem Refrain ein, und wir alle sahen sie an, gefesselt vom ersten Ton ihrer Stimme, tief und kehlig, rau, als rauche sie zwanzig Zigaretten am Tag, was sie wahrscheinlich auch tat. Es packte mich und traf mich heftig ins Herz. Ich hatte nicht geahnt, dass es möglich war, noch mehr auf sie zu stehen, aber so war es.

Rose kannte den Text nicht, also fing sie an, ihn zu improvisieren, singend und lachend gleichzeitig. Sie hob den Kopf, nahm das Mikro vom Ständer und grinste Naomi an.

»She was an anime girl,

Sometimes wore a tail,

Didn’t take no shit from no second class male.«

Nai grinste zurück, und Rose wandte sich Leo zu.

»He was tall and hot,

Knew just what he got,

Could have been a rock star if he stopped smoking pot.«

O Gott, ich wollte wirklich, dass sie auch eine Strophe über mich machte, und gleichzeitig wollte ich es auch wirklich nicht. Als sie mich ansah, brauchte ich meine ganze Kraft, um weiterzuspielen.

»Give it up for Red.

Bit strange in the head,

Wanders round like a zombie, risen from the dead …«

Okay, dann hat sie mich also nicht groß oder heiß genannt, aber sie hat auch nicht erwähnt, dass ich klein und rothaarig bin, also soweit es mich betraf, war es praktisch ein Liebesbrief.