Miss Austen ermittelt. Die glücklose Hutmacherin - Jessica Bull - E-Book

Miss Austen ermittelt. Die glücklose Hutmacherin E-Book

Jessica Bull

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass jeder gute Kriminalroman eine brillante Detektivin braucht...  Im wunderbar atmosphärischen historischen Krimi »Miss Austen ermittelt. Die glücklose Hutmacherin« löst die junge Jane Austen ihren ersten Fall. Eigentlich will die 20-jährige Jane Austen den Ball in Deane House dazu nutzen, ihren Geliebten Tom Lefroy endlich zu einem Heiratsantrag zu bewegen. Doch plötzlich ist alle Romantik beim Teufel: In einem Wäscheschrank wird die Leiche einer Frau gefunden! Jane erkennt in der Toten die französische Hutmacherin Madame Renault – und bemerkt, dass an deren Hals eine Kette fehlt. Weil Richter Craven sich nicht sehr für die Sache zu interessieren scheint, sammelt die scharfsinnige Jane nach und nach immer brisantere Informationen. Bis der Richter ihr eine schockierende Nachricht überbringt: Die verschwundene Kette wurde bei Janes geistig eingeschränktem Bruder Georgie gefunden. Jetzt bleiben Jane noch sechs kurze Wochen, um den wahren Täter zu finden, sonst droht dem gutmütigen Georgie der Galgen … Historischer Cosy Crime trifft auf Regency Romance Die britische Autorin Jessica Bull entführt mit ihrem historischen Krimi in die englische Grafschaft Hampshire Ende des 18. Jahrhunderts. Ihr intelligenter, unblutiger Kriminalroman verbindet die klassischen Elemente eines Whodunit à la Agatha Christie mit dem aufregenden Charme von Regency-Romanen à la »Bridgerton« und einer Prise Feminismus zu einem einzigartigen Lesevergnügen. »Außergewöhnlich - der Austen-Krimi, auf den ich gefühlt mein ganzes Leben gewartet habe!« SOPHIE IRWIN

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Seitenzahl: 548

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Ähnliche


Jessica Bull

Die glücklose Hutmacherin

Miss Austen ermittelt Kriminalroman

Aus dem Englischen von Susanne Wallbaum

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eigentlich will die 20-jährige Jane Austen den Ball in Deane House dazu nutzen, ihren Geliebten Tom Lefroy endlich zu einem Heiratsantrag zu bewegen. Doch plötzlich ist alle Romantik beim Teufel: In einem Wäscheschrank wird die Leiche einer Frau gefunden! Jane erkennt in der Toten die französische Hutmacherin Madame Renault – und bemerkt, dass an deren Hals eine Kette fehlt. Nach und nach sammelt die scharfsinnige Jane immer brisantere Informationen. Bis Richter Craven eine schockierende Nachricht überbringt: Die verschwundene Kette wurde bei Janes geistig eingeschränktem Bruder Georgie gefunden. Jetzt bleiben Jane noch sechs kurze Wochen, um den wahren Täter zu finden – sonst droht dem gutmütigen Georgie der Galgen.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Personenverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18 Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Anmerkungen der Autorin

Dank

Leseprobe: Miss Austen kehrt zurück

Erstes Kapitel

Für Eliza und Rosina, meine obstinate headstrong girls

Die acht Kinder des Pfarrers George Austen und seiner lieben Frau Cassandra Austen (geborene Leigh) in der Reihenfolge ihrer Geburt, aufgelistet von einer einseitigen, befangenen und unverständigen Familienchronistin:

Pfarrer James Austen (geb. 1765): der Älteste, ein Zufall, den er als göttliche Vorsehung begreift;

 

Mr George »Georgy« Austen (geb. 1766): lehrte mich, noch ehe ich schreiben oder auch nur sprechen konnte, mich mit den Händen auszudrücken;

 

Mr Edward »Neddy« Austen Knight (geb. 1767): mein Lieblingsbruder, weil es nur klug ist, dass der wohlhabendste Bruder einem auch der liebste ist;

 

Lieutenant Henry Austen (geb. 1771): wirklich der grässlichste Bruder, den es je gegeben hat;

 

Miss Cassandra Austen (geb. 1773): das liebste, freundlichste, leichtgläubigste Geschöpf auf Erden;

 

Lieutenant Frank »Fly« Austen (geb. 1774): jung, beharrlich, meistens auf See;

 

Miss Jane Austen (geb. 1775): also bitte, muss ich wirklich vorgestellt werden?

 

Fähnrich zur See Charles Austen (geb. 1779): siehe Frank.

1. Kapitel

Hampshire, England, 11. Dezember 1795

Im Mondschein läuft Jane, den Saum ihres Musselinkleids gerafft, über den ordentlich gestutzten Rasen. Das Feuerwerk ist vorbei, aber sie schmeckt noch den schweflig süßen Schwarzpulverrauch im Mund. Die Streichquartettklänge, die aus dem Tudor-Herrenhaus hinter ihr herüberschweben, werden übertönt vom Gelächter einer lärmenden Menge. Es ist neun Uhr abends, und der Ball fängt gerade erst an. Jane und zwei ihrer großen Brüder, James und Henry, sind vor einer knappen Stunde eingetroffen. Schon jetzt haben die feinen Herrschaften aus ganz Hampshire gut getrunken und sind lauter als die Musik.

Auf ihrem Weg durch den Garten duckt Jane sich hinter jede der riesigen, in Form geschnittenen Eiben und vergewissert sich, dass niemand sie sieht. Schon allein bei der Vorstellung, sie könnte entdeckt werden, schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Gott bewahre, dass sie erwischt wird, wie sie sich unbeaufsichtigt vom Ball wegstiehlt. Sie hat eiskalte Füße; die perlmuttrosa Seidenschuhe sind längst durchweicht. Sie sind für Pirouetten auf poliertem Mahagoniboden gemacht und nicht für Ausflüge über frostklammes Gras.

Ihr Atem bildet weiße Wölkchen. Kahle Goldregenzweige greifen nach ihr wie die Arme eines übergroßen Skeletts, aber sie läuft unbeirrt weiter. An diesem Abend werden ihr kluger junger Mann und sie sich einig werden. Er wird ihr einen Heiratsantrag machen. Sie weiß es einfach. Welche Worte wird Tom wählen? Teure Jane, erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen … Miss Austen, ich bin der Ihre … Sie wird genau hinhören, sich jede Wendung einprägen. Das könnte nützlich sein, wenn der nächsten ihrer Heldinnen ein Antrag gemacht wird.

Aus dem Gewächshaus fällt flackerndes Licht nach draußen und weist ihr den Weg. Sie drückt behutsam die Klinke herunter, die Tür quietscht in den Angeln. Feuchtwarme, süßlich nach Orchideen duftende Luft schlägt ihr entgegen. Sie tastet nach ihrer Frisur. Ihr Mädchen hat ihr das braune Haar zu einem halbwegs eleganten Knoten gesteckt, und kleine Lockenkringel umrahmen das Gesicht. Wenn die sich stärker kräuseln, werden ihre Brüder wissen, wo sie war, und der Mutter von ihren Eskapaden berichten.

Hinter einer Mittelmeerkiefer tritt eine schlanke Gestalt hervor. Blond, mit edlen Zügen, und unverkennbar in seinem elfenbeinfarbenen Schwalbenschwanz. »Mademoiselle.«

Die tiefe Stimme lässt Janes Herz schmelzen und zieht sie unwiderstehlich zu ihm hin. Einen Schritt vor ihm bleibt sie stehen und blickt unter flatternden Lidern zu ihm auf. »Es war sehr ungezogen, mich hierher zu locken.«

Es blitzt in seinen blauen Augen, ein verführerisches Lächeln spielt um seinen Mund. »Dann haben Sie die Botschaft verstanden?«

»Ich verstehe Sie ganz genau, Monsieur Lefroy.« Ihr Blick bleibt an seinen Lippen hängen, und sie lässt zu, dass er sie in die Arme nimmt und an sich zieht. Sein Mund schwebt über ihrem, sie legt den Kopf in den Nacken, um den Kuss zu empfangen. Sie ist nicht ganz, aber beinahe so groß wie er. Das passt gut, sie beide scheinen dazu bestimmt, einander zu lieben. Aneinander klebend taumeln sie gegen eine Regalwand. Neben Jane gerät ein Terrakottatopf ins Wanken, fällt und zerschellt. Rund um ihre Füße liegt Erde auf den Tonfliesen. Sie löst sich aus der Umarmung und bückt sich, um den Wurzelballen aufzuheben und die Pflanze wieder in ihren angeschlagenen Topf zu setzen.

Tom lässt sich auf ein Knie sinken und umschließt ihr Gesicht mit einer Hand. Ist der Moment gekommen, macht er ihr jetzt den Antrag? Er sucht ihren Blick. »Lassen Sie doch das dumme Unkraut, Jane. Wen kümmert das?«

»Aber ich muss – wir sind hier zu Gast, das wäre doch ungehörig.« Während sie die Orchidee wieder zu den anderen ins Regal stellt, wird aus dem Hämmern in ihrer Brust ein normaler Herzschlag. Sie richtet den hohen Stiel, an dem papierdünne hellgrüne Blüten sitzen, bis die Pflanze wieder aussieht, als sei nichts geschehen. Tom schubst mit der Spitze seines Tanzschuhs ein paar Scherben unter das Regal. »Außerdem kommt sonst heraus, dass wir hier waren …«

Er bringt sie mit Küssen zum Schweigen. Langsam zieht er ihr einen seidenen Handschuh vom Arm. Jane presst die bloße Hand gegen seine, ihre Finger verschränken sich. Unter halb geschlossenen Lidern hervor sieht sie Kondenswasser die Glaswand hinabrinnen. Und sie horcht auf die Streicher, wann spielen sie wieder auf? Ein Wassertropfen platscht zu Boden.

»Warten Sie. Da stimmt etwas nicht. Ich höre keine Musik.« Sie streckt die Hand zur Glaswand aus, reibt einen Flecken klar und späht hinaus. Die Terrassentüren des Ballsaals sind weit offen. Gäste stehen in Grüppchen beieinander, stecken die Köpfe zusammen. Die Tanzfläche ist leer.

Tom löst sich von ihr, strafft die Schultern. »Sie haben recht, es ist zu still. Sir John bringt doch nicht etwa schon den Toast aus? So früh am Abend?«

Jane runzelt die Stirn. »Ich nehme an, Mrs Rivers brennt darauf, dass Lady Harcourt und der Baronet es verkünden. Jonathan Harcourt ist die beste Partie von ganz Hampshire. Gewiss fiebert Sophy Rivers bereits den Glückwünschen zu ihrer Verlobung entgegen. Ich sollte hinübergehen. James und Henry werden mich schon suchen. Ich habe bereits vor Wochen um eine halbe Krone mit ihnen gewettet, dass Sophy diejenige sein wird, die sich Jonathan Harcourt schnappt.«

Tom gibt sich geschlagen. »Sie gehen voraus. Ich folge Ihnen.«

»Wir könnten später noch einmal zusammenkommen?« Es fällt ihr nicht leicht, die Gelegenheit ziehen zu lassen, ohne dass Tom und sie ihre gemeinsame Zukunft beschlossen haben. Einen besseren Ort als das Gewächshaus gibt es nicht für Toms Antrag. Andererseits – wenn ihren Brüdern auffällt, dass sie beim Ball fehlt, besteht die Gefahr, dass ihre ohnehin begrenzte Freiheit noch weiter beschnitten wird. »Hier? Sobald wieder getanzt wird?«

Er bedenkt sie mit einem schiefen Lächeln. »Nun, dann gehen Sie. Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit, zur Besinnung zu kommen.«

Jane wendet sich zum Gehen und presst die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen.

»Warten Sie!« Er wedelt mit ihrem weißen Handschuh.

Kichernd läuft sie noch einmal in seine Arme. Wie hätte das ausgesehen, wenn sie mit nur einem Handschuh in den Ballsaal zurückgekehrt wäre? Hätten ihre Brüder geargwöhnt, dass sie den anderen beim Stelldichein mit einem Mann verloren hat, den sie erst seit so kurzer Zeit kennt, sie wären fuchsteufelswild geworden. Sosehr James und Henry Tom vielleicht auch schätzen, Jane ist ihre kleine Schwester, und über deren Tugend zu wachen ist nun einmal ihre Pflicht. Das höchste Gut, das eine Dame besitzt, ist ihr tadelloser Ruf. Das gilt besonders für eine junge Dame wie sie, die nicht gerade üppig mit sonstigen Mitteln ausgestattet ist, die sie als Heiratskandidatin empfehlen würden.

Sie nimmt das gestohlene Pfand wieder an sich, beugt sich vor zu einem letzten Kuss und eilt hinaus in den Abend. Nun, Tom hat ihr noch keinen Antrag gemacht, aber nach dem Strahlen seiner blauen Augen und der Leidenschaft in seinen Küssen ist sie sich seiner glühenden Zuneigung sicher.

 

Die Flügel der wuchtigen, mit schweren Beschlägen bestückten Eichentür stehen halb offen. Es fällt Licht nach draußen, und das Gedränge gut betuchter Gäste im Innern strahlt Wärme ab. Als sie die Grasflecke auf ihren Seidenschuhen sieht, zögert Jane. Auch der Saum ihres besten Musselinkleides ist nicht verschont geblieben. Cass, ihre große Schwester, der das Kleid offiziell gehört, wird höchst ärgerlich sein. Aber gerade kann Cass ihr weder wegen des Kleides Vorwürfe machen noch wegen ihres liederlichen Benehmens im Gewächshaus, denn Cass ist nicht hier. Sie verbringt Weihnachten bei ihrem Verlobten in Kintbury, um ihre künftige Familie kennenzulernen.

Jane kann also mit ihrer Tugend Schindluder treiben, um sich ebenfalls einen Verlobten zu sichern. Sonst ist sie am Ende noch das einzige der acht erwachsenen Austen-Kinder, das im Pfarrhaus von Steventon ausharren muss. Ein grausameres Schicksal als das, eine alte Jungfer zu werden, die sich um die tatterigen Eltern kümmern muss, kann sie sich nicht vorstellen. Sie füllt ihre Lunge noch einmal mit kühler Abendluft, und dann tritt sie ein.

Unter der hohen gewölbten Eichenholzdecke des elisabethanischen Saals stehen die Mitglieder von vielleicht dreißig Familien in kleinen Gruppen beisammen. Arrogant dreinschauende Damen flüstern hinter ihren Fächern, einige der Gentlemen runzeln die Stirn oder schütteln den Kopf. Janes unschickliches Verhalten kann doch nicht schon die Runde gemacht haben? Mit dem Rücken zur gobelingeschmückten Wand schiebt sie sich seitlich an der Menge vorbei. Über ihrem Kopf brennen große Fackeln in schmiedeeisernen Wandhaltern. Die Musiker auf der Empore unterhalten sich und trinken ein Glas, während ihre Instrumente, locker auf seidenumhüllte Knie gestützt, schweigen.

Gesprächsfetzen hängen in der Luft. »Ein Vorkommnis … Sir John fortgerufen …«

Dem Himmel sei Dank. Nicht ihre Verfehlung ist der Grund, weshalb das Fest unterbrochen wurde, sondern etwas anderes; vielleicht hat ein Gast die Punschschüssel umgestoßen oder sein Lorgnon in die Suppenterrine fallen lassen. Armer Sir John, arme Lady Harcourt – Gäste mit solch schlechtem Benehmen!

Sophy, die älteste der Rivers-Schwestern und dem Vernehmen nach das Objekt zarter Gefühle von Jonathan Harcourt, sitzt auf einem Sofa und betrachtet die blendend weißen Seidenrosen auf ihren Schuhen. Sie könnte wirklich ein wenig mehr Begeisterung an den Tag legen. Welchen Grund überhaupt je eine der Rivers-Töchter – mit ihren austauschbar hübschen Gesichtchen und jeweils dreißigtausend Pfund Mitgift – haben sollte, finster dreinzuschauen, ist Jane ein Rätsel. Gerade Sophy! Sie hat sich den begehrtesten Junggesellen der Grafschaft geangelt und trägt – Sophys bescheidene Art, wie man sie kennt – ein diamantenbesetztes Halsband, an dem ein geschnitztes Elfenbeinbildnis von ihr selbst hängt.

Aber der Ausdruck ihrer grauen Augen ist düster, und sie lässt die Mundwinkel hängen. Sicher wartet sie ungeduldig darauf, dass die Sache öffentlich bekannt gegeben wird. Eine junge Dame, deren Name bereits mit einem Gentleman verknüpft ist, ohne dass sie im Gegenzug den Schutz des seinen genießt, befindet sich in einer heiklen Lage. Hinter Sophy steht die verwitwete Mrs Rivers und gleicht die Verdrießlichkeit ihrer Tochter durch unentwegtes Gequassel aus. Der verblichene Mr Rivers hatte sein Vermögen mit Baumwolle gemacht, doch seine Witwe gibt Seide und Pelzen den Vorzug. Heute Abend glänzt sie in schwarzem Bombasin mit Sarsenett-Besatz.

Auf der anderen Seite des Saals verschwindet gerade die hochgewachsene Gestalt von Jonathan Harcourt durch die schwere Eichentür in den Hauptflügel des Hauses. Vielleicht hat er es sich anders überlegt und ist nicht mehr gewillt, sich an die Tochter eines Parvenus zu binden. Jonathan ist erst kürzlich von seiner Grand Tour über den Kontinent zurückgekehrt. Dass er auf Reisen war, nimmt Jane noch mehr für ihn ein, aber nicht so sehr, dass sie wünschte, sie selbst wäre seine künftige Braut.

Sowohl Jonathan als auch sein älterer Bruder Edwin wurden von Janes Vater unterrichtet und haben ihre frühen Jahre mit ihr im Pfarrhaus von Steventon verbracht. Das ist das Problem mit allen alleinstehenden Gentlemen in ihrer Umgebung. Nachdem sie sie als Schuljungen nur zu gut gekannt hat, gelingt es ihr nicht, sich irgendeinen von ihnen als möglichen Liebhaber vorzustellen.

Ihr Interesse können ausschließlich Neuankömmlinge wecken, der reizende Tom Lefroy etwa. Oder vielleicht auch Douglas Fitzgerald, der junge Anwärter auf die Pfarrerwürde, den Mrs Rivers gerade mit einem Wortschwall überschüttet. In diesem Saal wimmelt es von Geistlichen, aber keiner ist so wie er. Er ist der natürliche Sohn von Mrs Rivers’ Schwager, Captain Jerry Rivers. Captain Rivers besitzt eine Plantage in Jamaika und hat Mr Fitzgerald nach England geschickt, damit er hier ausgebildet wird. Der junge Mann ist auffallend groß und sticht ins Auge. Er trägt eine silbrige Perücke mit Locken an den Schläfen, ein faszinierender Kontrast zu seinem dunklen Teint.

Jane wird jetzt James und Henry suchen und ihnen zeigen, dass sie sich benimmt, wie es sich für eine junge Dame ihres Standes geziemt. Und sobald Sir John sich um das Vorkommnis – was auch immer es sein mag – gekümmert hat und die Streicher wieder zu ihren Bögen greifen, wird sie zurück ins Gewächshaus eilen, Tom Gehör schenken und die Sache besiegeln. Lächelnd nimmt sie einen Kristallkelch mit Madeirawein vom Tablett eines der weinrot livrierten Diener und trinkt einen großen Schluck, um ihren Durst zu löschen. Der Wein wird warm serviert und schmeckt nach Orangenschale und Karamellzucker.

James steht im hinteren Teil des Saals, groß und etwas hochmütig, im Gewand des Geistlichen, die schulterlangen Locken leicht gepudert. Seine Züge sind eine abgewandelte Form ihrer eigenen. Alle Austen-Geschwister haben die gleichen blitzenden dunklen Augen, eine hohe Stirn, eine lange, gerade Nase und einen kleinen Mund mit vollen, rosigen Lippen. James ist der Älteste – ein Zufall, den er als göttliche Vorsehung begreift.

»Da bist du ja!« James drängt sich durch das Meer aus Menschen in ihre Richtung. »Wo warst du? Ich habe dich überall gesucht.«

»Ich habe mir nur ein neues Glas geholt«, schwindelt Jane und hebt zum Beweis ihren Kelch. »Ich wollte nicht ohne dastehen, wenn es mit den Reden losgeht.«

James reibt sich den Nacken. »Im Augenblick bin ich mir nicht sicher, ob es überhaupt irgendwelche Toasts geben wird.«

»Warum? Hat Jonathan in letzter Sekunde versucht, den Kopf aus der ehelichen Schlinge zu ziehen?«

»Sei nicht albern, Jane. Jonathan würde es nie wagen, seine Eltern so zu enttäuschen. Nicht nach …«

Der Sache mit Edwin. Jonathans älterer Bruder wurde vor fünf Jahren, am Vorabend seiner Vermählung mit der Tochter eines Herzogs, von seinem Vollbluthengst abgeworfen und war auf der Stelle tot. Brach sich das Genick und seinen Eltern das Herz. Lady Harcourt, ohnehin von nervöser Konstitution, hat die Tragödie furchtbar zugesetzt. Selbst jetzt klammert sie sich an den Arm eines Dieners, während ihr Kopf so ruckartig zu den Gästen herumfährt, dass die himmelhohe Haartracht wankt wie ein extravaganter Wackelpudding.

»Wo ist Henry?« Jane schaut sich in dem vollen Saal um. Sollte das Vorkommnis ein ernstes sein, hofft sie von Herzen, dass Henry nicht darin verwickelt ist. Eigentlich müsste er leicht zu entdecken sein. Unter den hier Versammelten tragen nahezu alle Damen helle Kleider, während die Herren in dunkelblauen oder schwarzen Fräcken stecken. Einzig Tom Lefroy trotzt der Mode, indem er mit seinem schrecklichen elfenbeinfarbenen Schwalbenschwanz Tom Jones imitiert, einen der freundlichsten Schwerenöter der englischen Literatur, und Henry ist vorhin noch in seiner scharlachroten Uniformjacke herumstolziert wie ein Pfau.

James verzieht das Gesicht. »Zuletzt habe ich ihn mit der liebreizenden Mrs Chute tanzen sehen.«

Mrs Chute zählt sechsundzwanzig Lenze, hat ein lebhaftes Wesen und ein äußerst ansprechendes Äußeres. Seit Kurzem ist sie die Gemahlin eines reichen alten Mannes, der Gesellschaften scheut und daher heute Abend nicht zugegen ist. Jane findet es empörend, dass Henry bei seinen Tändeleien nicht halb so sehr auf der Hut sein muss wie sie.

Vom anderen Ende des Saals lächelt Tom ihr verschwörerisch zu. Er muss unmittelbar nach ihr hereingekommen sein.

Hinter James schwingt die Tür zum Hauptteil des Hauses ein weiteres Mal auf, und Mrs Twistleton schlüpft in den Saal, die Haushälterin der Harcourts. Mit ihren leicht schräg stehenden Augen, dem schwarzen Seidenkleid und den weißen Spitzenmanschetten erinnert sie Jane an die beste Mäusejägerin, die die Austens je hatten – die kleinste Katze auf dem Hof hat ein schwarzes Fell und weiße Pfötchen. Den ganzen Tag sitzt sie in der Sonne, leckt sich die Pfoten und lauert auf die nächste Beute.

Mrs Twistleton packt den Butler am Arm und raunt ihm etwas zu. Er reißt die Augen auf und wird blass. Welches Unglück kann im Hause Harcourt vorgefallen sein, dass der stets ungerührt dreinschauende Butler dermaßen die Fassung verliert? Jane nimmt James’ Arm. Plötzlich ist sie dankbar, die vertraute Gestalt ihres Bruders neben sich zu haben.

Der Butler fasst sich und läutet energisch seine Messingglocke, dann ruft er laut: »Ladys und Gentlemen, befindet sich möglicherweise ein Arzt im Saal?«

Es ist, als schnappten alle gleichzeitig nach Luft. Der ortsansässige Doktor erhebt sich rotgesichtig, schwankt und plumpst zurück auf seinen gut gepolsterten Allerwertesten. Jane rümpft die Nase. Der Mann hat eindeutig zu tief ins Glas geschaut. Mrs Twistleton erhebt sich auf die Zehenspitzen und flüstert dem Butler etwas ins Ohr. Der fährt zurück. Sie hebt die Brauen und nickt.

Einen Augenblick steht er mit offenem Mund da, dann läutet er die Glocke noch einmal. »Bitte um Vergebung, Ladys und Gentlemen, ist unter Umständen ein … Geistlicher zugegen?«

Hier und da ertönt nervöses Gelächter. Über die Hälfte der anwesenden Herren gehört der Geistlichkeit an. In dieser Hinsicht ist Hampshire geradezu überlaufen.

James breitet die Arme aus und lässt sie wieder sinken. Der Zufall will es, dass er der am nächsten stehende Geistliche ist. »Ich sollte wohl hingehen. Kann ich dich allein lassen?«

»Ich komme mit.« Jane drückt ihren halb geleerten Kelch einem Diener in die Hand. »Schon, um sicher zu sein, dass es nicht Henry ist.«

Die Falte auf James’ Stirn vertieft sich, und er eilt zur Tür. Jane folgt ihm. Sie wird sich vergewissern, dass Henry sich nicht irgendwelchen Ärger eingebrockt hat, und dann wird sie klammheimlich verschwinden. Hofft sie doch, dass noch nicht alles verloren ist und Tom, bevor der Abend zu Ende geht, eine zweite Gelegenheit erhält, seine Absichten zu erklären. Sie will ihm noch rasch einen Blick zuwerfen, doch er hat sich unter die Gäste gemischt und kehrt ihr den Rücken zu.

James erreicht die Tür zum Hauptflügel im selben Moment wie Mr Fitzgerald, sodass ihre Schultern aneinanderstoßen. Der angehende Pfarrer mag noch kein Beffchen tragen, aber er ist eifrig darauf aus, seinen geistlichen Pflichten nachzukommen. Er blinzelt kurz, dann verneigt er sich, um anzuzeigen, dass er James und ihr den Vortritt lässt. An den Wänden flackern Bienenwachskerzen in Messinghaltern, werfen Licht und Schatten über die Ölporträts, die dort hängen. Generationen von Harcourts starren Jane kalt an, während sie vorbeigeht. Das lange Gesicht, die gebogene Nase, das spitze Kinn – genau die Züge auch des gegenwärtigen Titelträgers und seines Sohnes. Dicht hinter Jane sind die Schritte von Mrs Twistleton und Mr Fitzgerald zu hören.

Schließlich erreichen sie die große, über zwei Stockwerke gehende Eingangshalle. Von oben hängt an einer schweren Kette ein Messingleuchter herab. Das Licht Hunderter Kerzen fällt auf die Eichenpaneele und das kunstvoll geschnitzte Geländer der Treppe, die zu den oberen Etagen des Herrenhauses führt.

Unten, vor einer kleinen Tür in der Täfelung, steht Henry in seiner ganzen Offizierspracht aufgepflanzt: die Füße hüftweit auseinander, die Rechte am Griff seines blitzenden Säbels. Die rote, doppelreihige Uniformjacke bringt seine hochgewachsene Figur besonders gut zur Geltung, die goldenen Epauletten betonen seine breiten Schultern. Aus Protest gegen die Pudersteuer hat er sich die kastanienbraunen Locken kurz schneiden lassen – und sich damit ein verwegenes Aussehen zugelegt. Er erinnert so sehr an einen Zinnsoldaten, dass Jane sich das Lachen verbeißen muss. Zugleich ist sie sehr erleichtert.

»Was ist passiert?«, fragt James.

Henry schweigt, seine Miene ist ungewöhnlich ernst. Er nickt in Richtung von Mrs Chute, die auf einem blutroten Damastsofa sitzt und sich weinend ein Taschentuch vors Gesicht presst, vor ihr kniet ein Hausmädchen und reicht ihr ein grünes Fläschchen mit Riechsalz. Gleich daneben steht ein sehr junges Mädchen und taucht einen Scheuerlappen in einen Eimer mit Seifenwasser. Sie ist klein und rundlich, hat ein breites Gesicht und einen kräftigen Hals, aber sie ist kreidebleich und zittert am ganzen Leib.

Mrs Chute schnäuzt sich kräftig, sodass die blassgoldenen Straußenfedern an ihrem Kopfschmuck erbeben. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie da ist. Ich bin fast über sie gestolpert!«

Jane greift sich an den Hals. »Wer ist denn da drin?«

»Zum Henker, wenn das jemand wüsste!«, ruft Sir John Harcourt, der auf dem türkischen Läufer auf und ab stampft. Sein Gesicht unter den langen Lockenwürsten der graufleckigen Perücke ist dunkelrot. Mit seinem stattlichen Bauch und den breiten Schultern ist er immer eine beeindruckende Erscheinung, aber heute wirkt er besonders bedrohlich.

Henry macht einen Schritt zur Seite. »Ich fürchte, wir haben einen … nun, einen Leichnam entdeckt.«

James stößt die Tür auf. Schreckt zurück. Schnell tritt Jane neben ihn und späht in den Raum. Es handelt sich um eine kleine Kammer. Ein scheußlicher metallischer Geruch schlägt ihr entgegen, wie in einem Schlachterladen. Auf dem Boden liegt etwas. Im Lichtschein, der aus der Halle in die Kammer fällt, erkennt sie gerade eben einen gemusterten Chintzrock. Er hat große dunkle Flecken. Darunter schauen zwei braune Schnürschuhe hervor. Damenschuhe, die Ledersohlen schon recht abgetreten.

»Lieber nicht.« Henry legt Jane die Hand auf den Arm und will sie zurückhalten.

Mr Fitzgerald schiebt sich mit einer Kerze an ihr vorbei. Er kniet neben dem Rock nieder, in dem engen Raum wird es hell.

Jane wird übel, doch sie schluckt es herunter.

Es ist eine junge Frau. Sie hat die Arme weit ausgebreitet. Ihr Gesicht ist aschfahl und in nacktem Entsetzen erstarrt. Der Mund steht offen, der Blick der aufgerissenen Augen ist leer. Aus der klaffenden Wunde an ihrer Schläfe ist Blut gequollen und hat sich rund um sie auf dem Boden gesammelt.

»Gütiger Gott.« Jane weicht einen Schritt zurück, kann aber den Blick nicht von der Frau wenden.

Mr Fitzgerald beugt sich vor und lauscht an der Brust der Frau. Kurz darauf legt er ihr zwei Finger an den Hals, harrt einen Augenblick so aus und schüttelt schließlich den Kopf. »Möge der Herr in seiner Gnade ihr ewigen Frieden schenken«, sagt er leise und streckt die Hand aus, um ihr mit Daumen und Zeigefinger die Augen zu schließen.

Doch es gelingt ihm nicht – offenbar sind ihre Lider erstarrt.

Also zieht er die Hand zurück, neigt den Kopf und schlägt das Kreuz. Und da plötzlich, als das Kerzenlicht über der leblosen Gestalt flackert, dämmert es Jane. Sie stößt einen spitzen Schrei aus. Das passt so wenig zu ihr, dass es sie selbst schockiert. Ihre Knie werden weich. Sie klammert sich Halt suchend an James’ Rock, starrt aber weiter auf das nun bekannte Gesicht hinab.

Es muss Anfang Oktober gewesen sein, als sie die feinen Züge das erste Mal gesehen hat; jedenfalls war die Luft noch mild. Sie war mit Alethea Bigg nach Basingstoke gefahren, und dort, in dem überdachten Markt, saß auf einem Holzstuhl Madame Renault, die Hutmacherin. Vor ihr stand ein mit grünem Fries bedeckter Tisch, auf dem sie ein paar Strohhüte und allerlei zarte Spitzenhauben drapiert hatte. Gekleidet war sie nicht nach der neuesten Mode, aber ausgesucht und gepflegt. Sie trug ein Chintzkleid mit einer ins Mieder gesteckten Kette aus Gold und Perlen, und auf dem dunklen Haar saß eine ihrer Spitzenhauben. Jane war versucht, etwas zu kaufen, das sie Cass schenken könnte. Einige der Häubchen waren so hübsch – ganz das Richtige für eine Braut.

Aber wie üblich siegte die Eitelkeit über ihre guten Absichten. Statt eines Häubchens für Cass kaufte sie sich selbst einen Strohhut. Eigentlich wollte sie ihn nur zum Spaß aufprobieren, aber dann stand er ihr so gut! Sie versuchte den Preis zu drücken, indem sie erklärte, sie habe vermutlich nicht genügend Geld bei sich und müsse ein andermal wiederkommen. Madame Renault zuckte nur mit den Schultern. Dann sagte sie in gebrochenem Englisch, sie arbeite meistens auf Bestellung und zahle die Gebühr für einen Marktstand nur, wenn sie genügend überzählige Stücke zum Verkaufen beisammenhabe. Daher könne sie nicht sagen, wann – oder ob überhaupt – sie das nächste Mal in Basingstoke sein werde. Womöglich könne sie sich bereitfinden, einen Auftrag anzunehmen – sofern sie genügend Zeit habe.

Alethea fand die Hutmacherin überheblich, aber Jane war so beeindruckt von deren Selbstbewusstsein, dass sie die vollen zwölf Shilling und Sixpence zahlte. Madame Renault wusste offensichtlich ganz genau, was ihre Kunstfertigkeit wert war, und vertraute darauf, dass ihre Arbeiten immer gefragt sein würden. Wie befreiend, zu der Sorte Frauen zu gehören, die auf ihre Arbeit stolz sein kann!

Die Begegnung hat Jane zu kühnen Träumen verleitet, wie sie selbst an einem Marktstand sitzt, vor sich, auf grünem Tuch ausgelegt, all ihre Manuskripte, fein säuberlich abgeschrieben und in marmorierte Pappdeckel gebunden.

Jetzt steht sie da, presst sich die Faust gegen den Mund und unterdrückt ein Schluchzen, während sie wie gebannt auf den furchtbar zugerichteten Leichnam der Hutmacherin starrt.

James legt ihr den Arm um die Schultern. »Komm fort von hier, Jane, das regt dich viel zu sehr auf.«

»Aber ich kann nicht! Ich kenne sie.«

Jetzt schauen alle erwartungsvoll zu ihr.

»Wer zum Teufel ist sie denn?« Donnernd geht Sir Johns feiste Faust auf den Türrahmen nieder. »Und wieso liegt sie tot in meiner Wäschekammer?«

Jane windet sich aus James’ Arm und tritt durch die offene Tür, um das blutige Gesicht genauer in Augenschein zu nehmen. Ehe sie etwas sagt, muss sie ganz sicher sein.

Mr Fitzgerald hält die Kerze neben die Wange der Frau, und Jane wird es schwer ums Herz. Mit einem Mal ist alles anders. Dies ist kein beschwingter Abend mehr. Sie wird keinen romantischen Antrag erhalten, wird nicht auf ein paar heimliche Küsse zu ihrem Liebsten ins Gewächshaus zurückkehren. »Das ist Madame Renault. Eine Hutmacherin – ich habe auf dem Markt in Basingstoke einen Hut bei ihr gekauft.«

Henry nickt, als wüsste er nun alles, was er wissen muss. »Ich habe nach dem Gemeinde-Constable geschickt. Der Friedensrichter ist ohnehin zum Ball geladen.«

Mr Fitzgerald breitet ein Tuch über Madame Renaults Gesicht und stopft es rund um ihre Schultern fest, als könnte es sie selbst nach dem Dahinscheiden noch warm halten.

James führt Jane hinaus. »Komm, ich lasse die Kutsche holen und bringe dich auf direktem Weg nach Hause. Das war ein furchtbarer Schock. Für uns alle.«

Jane stolpert Richtung Tür und wendet den Kopf, um einen letzten Blick auf Madame Renault zu werfen. Als sie sieht, wie sich das Tuch, mit dem Mr Fitzgerald den Leichnam zugedeckt hat, mit Blut vollsaugt, steigt erneut Übelkeit in ihr hoch. Wie konnte hier, inmitten von so viel Heiterkeit, eine so entsetzliche Tat begangen werden? In Janes sicherer, respektabler Umgebung haben Gewalt und Mord keinen Platz. Und doch liegt da Madame Renault, totgeschlagen von jemandem, der nicht weit entfernt sein kann von dem Fleck, an dem Jane gerade steht. Wer aus ihrer Welt könnte dieses abscheuliche Verbrechen begangen haben?

2. Kapitel

Am Morgen nach dem Ball springt Jane die beiden Stufen von ihrem Zimmer zum Treppenabsatz hinauf, eilt die enge Treppe zur Küche hinunter und von dort hinauf in den Salon der Familie. Das Pfarrhaus von Steventon ist ein zusammengestückeltes Gebilde; der Grundriss offenbart, wie die Behausung im Lauf der vergangenen beiden Jahrhunderte ziemlich planlos Stück für Stück gewachsen ist. Aus Sorge, dass Tom ein Frühaufsteher sein könnte, hat Jane sich in aller Eile angekleidet. Er wird ihr heute doch sicher seine Aufwartung machen. Nachdem er gestern Abend so schmerzlich davon abgehalten wurde, sich zu erklären, brennt er gewiss darauf, ihre Antwort zu erhalten – so wie sie darauf brennt, zu hören, welche Worte er für seinen Antrag wählt. Auf keinen Fall will sie riskieren, dass er die anderthalb Meilen Fußmarsch vom Pfarrhaus in Ashe, wo er bei seinem Onkel zu Besuch ist, zurücklegt, bevor sie empfangsbereit ist.

Ein paar dunkle Löckchen ringeln sich aus ihrem Zopf, und die Schnürbänder des kanariengelben Kleides hängen lose herunter. Sally, das Hausmädchen der Austens, stellt leise summend das Tablett mit schmutzigem Geschirr, das sie gerade hinaustragen wollte, ab und hilft Jane mit dem Band am Ausschnitt.

Die ganze Familie ist im Salon versammelt, im Kamin brennt ein schönes Feuer. In der Mitte des Raums sitzt Janes Mutter, Mrs Cassandra Austen, an einem altmodischen Kirschholztisch, der mit weißem Tischtuch fürs Frühstück gedeckt ist. Mrs Austen hält Anna, James’ Tochter, eine Holzschüssel mit Apfelkompott hin, und die Kleine lehnt sich gefährlich weit aus ihrem Hochstuhl, um sich einen Löffel voll zu sichern.

Mr George Austen, Janes Vater, studiert die gestrige Zeitung. Ein freundlicher Nachbar bringt sie immer herüber, wenn er selbst damit durch ist. James liest einen anderen Teil derselben Ausgabe. Mr Austen hat sie in zwei Hälften geteilt, sodass James die Anzeigen und Klatschspalten durchsehen kann, während er selbst die Marine-Nachrichten durchstöbert, immer auf der Suche nach Meldungen über die Königlichen Schiffe Glory und Daedalus. Beide wurden zuletzt vor der Küste der Westindischen Inseln gesichtet, und beide haben eine außerordentlich kostbare Fracht an Bord, nämlich einen jungen Austen. Frank, der zweiundzwanzig ist, und der siebzehnjährige Charles tun Dienst bei der Royal Navy.

Genau genommen hat James als seines Vaters Vikar für das nahe gelegene Dörfchen Overton sein eigenes Haus. Doch seit in der ersten Jahreshälfte seine junge Frau so unerwartet gestorben ist, findet er Trost darin, ins Familiennest zurückzukehren. Er schläft und predigt in Overton, aber die Mahlzeiten nimmt er in Steventon ein, und auch seine Wäsche bringt er her. Die kleine Anna ist ständig in Steventon, in der Obhut ihrer Großmutter. Wie sie immer geweint und nach ihrer »Mama« gerufen hat, war herzzerreißend. Dass sie es jetzt nicht mehr tut, ist fast noch schlimmer.

»Das nehme ich, vielen Dank!« Mrs Austen zwingt die kleine Faust auf und entwindet ihr ein Medizinfläschchen. »Wer hat das denn herumliegen lassen?«

Eine Entschuldigung murmelnd, lässt Sally das Fläschchen in den Falten ihrer Schürze verschwinden. Jane weist nicht darauf hin, dass es Mrs Austen selbst war, die die Medizin auf dem Tisch hat stehen lassen. Als Jane nach Hause kam und ihren fassungslosen Eltern von dem Vorfall erzählt hat, war Sally schon im Bett. Mrs Austen holte das Fläschchen aus dem stets verschlossenen Medizinschrank, um Jane auf den Schreck hin einen Tropfen Laudanum zu verabreichen, Jane aber kniff die Lippen zusammen und weigerte sich. Ihr Verstand ist die schärfste Waffe in ihrem Arsenal. Die lässt sie sich nicht stumpf machen. Wenn Tom heute kommt – und er kommt bestimmt –, wird er sie auffordern, die wichtigste Entscheidung zu treffen, die eine junge Frau im Leben zu treffen hat. Vielleicht die einzige wichtige Entscheidung, die sie überhaupt jemals selbst treffen wird. Wie sollte sie dem gewachsen sein, wenn ihr Verstand noch von Laudanum-Resten vernebelt wäre?

»Habe ich Henry verpasst?« Jane zieht sich einen Stuhl heran, wobei die hölzernen Beine über die Steinfliesen scharren. An den weiß gekalkten Wänden des gemütlichen Raums hängen Pferdeplaketten aus Messing und Kreuzstich-Mustertücher; nichts, was den Lärm ihrer lebhaften Familie dämpfen würde.

James streicht seinen Teil der Zeitung glatt und nickt. »Er ist gleich heute Morgen wieder nach Oxford aufgebrochen.« Henry ist Student, ein weiterer der vielen Hampshire-Jungen, die für die Geistlichkeit bestimmt sind, aber angesichts der drohenden Jakobiner-Invasion von der anderen Seite des Kanals hat er sich freiwillig zur Milizarmee gemeldet. Und weil er eben Henry ist, hat er irgendwie erreicht, dass sein Regiment direkt vor den Toren Oxfords stationiert wurde; so kann er König und Land dienen und gleichzeitig seine Studien fortsetzen.

»Wie schade. Ich wollte noch mit ihm sprechen.« Jane hebt die schwarze Basaltteekanne an und schenkt sich ein. Sie hat schlecht geschlafen. Kaum hat sie die Augen zugemacht, sah sie die im Tod eingefallenen Wangen und den offen klaffenden Mund von Madame Renault vor sich, als sei dieses Bild in ihre Lider gebrannt.

Als Tochter eines Pfarrers hat sie schon so manchen Leichnam gesehen. Die Armen aus der Gemeinde können sich keinen Sarg leisten. Geht es an die Beerdigung, werden sie in ein Leichentuch gewickelt, in der Gemeindekiste zum Gottesdienst gebracht und anschließend in das frisch ausgehobene Grab gekippt. Durchs Fenster der Postkutsche hat sie sogar schon die Überreste von Straßenräubern gesehen, die an einer Wegkreuzung in Ketten am Galgen baumelten. Ihre verwesenden Körper, von Maden zerfressen und von Fliegen umschwärmt, werden unweit des Schauplatzes ihrer Missetaten gut sichtbar ausgestellt, auf dass andere davor zurückschrecken, ähnliche Sünden zu begehen.

Aber der Anblick einer Frau, deren Leben gerade erst und so brutal ausgelöscht worden ist, hatte eine ganz andere Wucht. Sie weiß jetzt schon, dass er sie ihr Leben lang verfolgen wird.

»Ich schätze, er hatte Sorge, der alte Mr Chute könnte ihn zum Duell fordern – um die Ehre seiner Frau«, wirft Mr Austen ein, ohne den Blick von seiner Lektüre zu heben.

Jane verschluckt sich an ihrem Tee bei der Vorstellung, wie der gebrechliche Mr Chute den jungen Lieutenant Austen fordert, seinen Gehstock fallen lässt, um die Pistole zu ziehen, vornüberkippt und mit der Nase im Gras landet.

»Das ist nicht lustig, Vater.« James blickt über den Rand seines Zeitungsteils hinweg. Obwohl es gestern so spät wurde, ist er makellos rasiert und peinlich korrekt gekleidet.

»Wem sagst du das?« Mr Austen trinkt einen Schluck Tee. Er trägt einen rostroten Hausmantel über seinem geistlichen Gewand, und auf dem weißen Haar sitzt eine Kappe in derselben Farbe. »Sollte Mr Chute wegen ›Frevels‹ klagen, werde ich gezwungen sein, alles hier zu verkaufen, um Henry aus dem Schuldgefängnis freizubekommen.«

Jane nimmt einen hastigen Schluck Tee und verbrennt sich die Kehle. Für Angehörige der Mittelschicht gestalten sich Scheidungen so umständlich und teuer, dass sie praktisch unmöglich sind. Und da eine verheiratete Frau über keinerlei eigenen Besitz verfügt, bleibt einem gehörnten Ehemann als einziger Weg der Vergeltung, ihren heimlichen Freund wegen »frevlerischer Konversation« zu verklagen. Kurz gesagt bezieht sich dieser Ausdruck auf den Versuch, sich für die Entwertung eigenen Besitzes entschädigen zu lassen. Vor dem Auge des Gesetzes hat eine Ehefrau kaum einen höheren Stellenwert als ein Lieblingspferd. Beide dürfen geschlagen werden und sich zu Tode schuften, aber nur das eine kann, wenn es nicht mehr von Nutzen ist, legitimerweise geschlachtet werden. Eine wirklich widerwärtige Tatsache.

»Vielleicht hat Mr Chute das junge Ding deswegen geheiratet.« Mrs Austen ist groß und dünn und hat eine Adlernase, die sie als Beleg für ihre adlige Abstammung betrachtet. »Weil er hoffte, sie würde einen wohlhabenden jungen Burschen in eine Affäre verwickeln und er könnte den Schadenersatz einstreichen?« Sie fährt ihrer Enkelin mit einem feuchten Lappen über das pausbäckige Gesicht.

Klagen wegen »frevlerischer Konversation« sind so einträglich geworden, dass man schon einigen Männern vorgeworfen hat, sie hätten ihre Frau regelrecht angespornt, mit wohlhabenden Bekannten zu flirten, weil sie hofften, sie auf frischer Tat zu ertappen. Mr Chute ist viel zu reich, um solche Ränke zu schmieden, aber zugleich ist er von der Sorte, die stets Appetit auf noch mehr hat.

Gut, dass Janes derzeitige Heldin, die diabolische Lady Susan, Witwe und damit über derart peinliche Gerichtsverfahren erhaben ist. Vielmehr steht es ihr – auf einen Strich von Janes Feder hin – frei, ihrerseits Ungemach über das männliche Geschlecht zu bringen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass eine Frau sich einem Ehemann erst unterwerfen und ihn dann überleben muss, um wahre Freiheit zu erlangen.

»Aber warum hat er sie dann überhaupt in Henrys Nähe gelassen?« Mr Austen stellt seine Tasse zurück auf die Untertasse und richtet den Henkel exakt parallel zur Tischkante aus. »Er hätte sie lieber auf Jonathan Harcourt ansetzen sollen.«

»Bei Jonathan hätte Mrs Chute kein Glück gehabt«, sagt James. »Sehr unwahrscheinlich, dass es irgendwem gelingen würde, ihn von Miss Rivers wegzulocken.«

Mrs Austen presst die Lippen zusammen. »Sophy ist natürlich ein nettes Mädchen, und ich kann mir denken, dass ihre Mitgift selbst den Harcourts sehr willkommen ist …«

Als sie hört, wie ihre Mutter die ehrgeizige Erbin beschreibt, knirscht Jane fast mit den Zähnen. Sophy ist ungefähr ein Jahr älter als sie und hat es natürlich genau geschafft, am Neujahrstag 1775 zur Welt zu kommen. Obwohl sie fast gleichaltrig sind und nahe beieinander wohnen, seit die Rivers sich vor über zehn Jahren in Kempshott Park niedergelassen haben, war die neureiche Sophy nie sonderlich »nett« zu Jane.

Anna greift mit einem kompottverschmierten Händchen nach Mrs Austens Spitzenhaube. »… aber ich hatte immer die Hoffnung, Jonathan würde eine Frau finden, die ihm hilft, sich zu entfalten, ganz er selbst zu werden. Eine, wie du es bist, Jane«, sagt Mrs Austen und müht sich, die Kinderhand abzuwehren.

»Ich?« Jane reißt die Augen auf. »Verzeih, Mutter, aber dafür ist es nun zu spät. Es sei denn, du möchtest, dass ich Jonathan nach Gretna Green entführe, damit wir uns von einem Hufschmied trauen lassen.«

»Ich meinte nicht, dass er dich heiraten soll, sondern nur … eine wie dich.« Mrs Austen löst die kleinen Finger von den Rüschen ihrer Haube. Die ist inzwischen so mit Kompott bekleckert, dass sie ausgezeichnet zu ihrer fleckigen Baumwollschürze passt. »Eine junge Dame, die etwas freieren Geistes ist und sich nicht von seinen Eltern einschüchtern lässt.«

Unsicher, ob sie sich geschmeichelt fühlen oder beleidigt sein soll, streicht Jane Butter auf ihren Toast und gibt etwas hausgemachte Erdbeermarmelade darauf. »Und hat Henry nun unser aller Ruf ruiniert?«

»Kaum«, meint James. »Der grausige Fund hat seine Indiskretion in den Hintergrund gedrängt. Wir konnten glaubhaft machen, dass Mrs Chute über den Leichnam stolperte und Lieutenant Austen ihr erst zu Hilfe eilte, als er sie schreien hörte.«

»Wie galant.« Jane lächelt.

»In der Tat«, sagt James und runzelt die Stirn.

»So eine Aufregung!« Mrs Austen seufzt. »Inzwischen wünschte ich, ich wäre auch da gewesen.« Anna taucht ihren Löffel ins Apfelkompott und bewirft ihre Großmutter damit.

»Ich habe ja gesagt, du sollst mitkommen«, erwidert Jane und beißt in ihren Toast.

»Kein Gedanke! Es ist viel zu kalt. Das hätte meine Konstitution nicht zugelassen.« Mrs Austen hebt die Kleine aus dem Hochstuhl und nimmt sie auf den Schoß. »Außerdem hätten wir die liebe Anna nicht allein lassen können.«

»Die liebe Anna?« Jane beugt sich vor und fährt der Kleinen durch den flaumweichen goldblonden Schopf. »Uns allein zu lassen hat dir nicht das Geringste ausgemacht. Wir mussten bei Dame Culham bleiben, bis wir doppelt so alt waren.«

Da sie sich um einen Haufen Schuljungen zu kümmern und den Hof zu bewirtschaften hatte, hat Mrs Austen, solange ihre Kinder klein waren, das tägliche Einerlei mütterlicher Aufgaben abgegeben. Kaum waren sie entwöhnt, wurden alle Austen-Babys zu einer Kinderfrau im Dorf gegeben und erst wieder ins Pfarrhaus geholt, wenn sie allein zurechtkamen.

Mrs Austen kräuselt die Lippen. »Wir haben euch jeden Tag besucht, Jane.«

Jane lächelt. »Oh, wie aufmerksam. Und wenn wir gerade ausgegangen waren – habt ihr dann eine Visitenkarte dagelassen?« Tausendmal hat sie sich angehört, wie ihre Mutter dieses unübliche Vorgehen gerechtfertigt hat. Wenn sie sieht, wie viel Zeit und Energie Anna verlangt, seit sie im Pfarrhaus lebt, kann Jane es im Rückblick fast verstehen. Und doch, es bleibt ein leiser Kummer, dass sie während ihrer ersten Jahre von zu Hause verbannt war. Umso mehr, als eins der Austen-Kinder nie imstande sein wird, selbstständig zu leben. George, Georgy, ist Janes zweitältester Bruder. In dem Alter, in dem andere Kinder anfangen zu sprechen, begann er unter den heftigen Anfällen zu leiden, die seine geistigen Fähigkeiten einschränken und ihn körperlich sehr mitnehmen. Sprechen hat er nie gelernt, aber da er ein echter Austen ist, hält ihn das nicht davon ab, sich verständlich zu machen. So hat er Jane, noch ehe sie schreiben oder auch nur sprechen konnte, gelehrt, sich mit den Händen auszudrücken.

Er ist fast zehn Jahre älter als sie, und in ihrer kindlichen Naivität wäre sie nie darauf gekommen, dass sie ins Pfarrhaus zurückkehren würde, während er im Cottage von Dame Culham blieb. Aber Georgys Schwierigkeiten, auch alltägliche Gefahren zu erfassen – etwa, wie schnell eine sechsspännige Kutsche ist, die auf der Landstraße auf ihn zurast, oder warum es nicht ratsam ist, in einem von Blutegeln verseuchten Tümpel zu baden –, sowie sein Bedarf an medizinischer Versorgung machen es erforderlich, dass er durchgehend begleitet wird.

Zugegeben, Mr und Mrs Austen haben mehrmals versucht, ihn nach Hause zu holen und mit seinen Geschwistern aufwachsen zu lassen, aber nach jenem schrecklichen Tag, als sie glaubten, er sei in den Brunnen gefallen und sie hätten ihn verloren, haben sie sich entschlossen, ihn in der Obhut der Kinderfrau zu lassen. Wahrscheinlich ist es am besten so, Georgy ist glücklich im Dorf, wo er zahlreiche Freunde und Nachbarn hat, und die Familie bemüht sich auch, ihn oft bei sich zu haben, aber am Ende bleibt er ausgeschlossen, und dieser Gedanke tut Jane weh.

Jetzt ist es meist Georgy, der die Familie besucht, leise schleicht er sich herein, um seine Schwestern zu sehen, während er der besorgten Mutter aus dem Weg geht. Besonders gern taucht er unversehens in der Pfarrhausküche auf, um sich an Sallys unvergleichlichem Pfefferkuchen gütlich zu tun, bevor der Rest der Familie auch nur probieren konnte.

Mrs Austen saugt die Wangen ein und starrt Jane grimmig an, während Mr Austen leise vor sich hin lacht. James lässt die Zeitung sinken und schaut aus dem Fenster. Da kommt eine stämmige Gestalt mit Topfhut und braunem Cape die Straße heraufgestapft.

»Ist das Mary Lloyd?«, fragt James.

Jane nickt und seufzt geräuschvoll.

Normalerweise sind Cassandra, sie selbst und Mary samt deren älterer Schwester Martha ein hervorragendes Vierergespann. Cassandra und Martha gleichen mit ihrem sanften Wesen die Schroffheit der beiden Jüngeren aus. Aber Martha, die eine Cousine der Fowles ist, hat Cassandra auf ihrer Reise nach Kintbury begleitet, und so müssen Jane und Mary sich während der gesamten Weihnachtszeit allein durchschlagen. Eine gerechte Strafe für die vielen schönen Anlässe und Ausflüge, die sie beide mit ihrem Gezänk verdorben haben. Wären Cassandra und Martha nicht so empörend gutmütig, sie müssten sich in diesem Augenblick ins Fäustchen lachen.

Sally öffnet Mary die Tür und führt sie in den Salon.

Mary bleibt an der Tür stehen und starrt auf ihre Stiefelspitzen. »Ich bitte um Verzeihung. Störe ich beim Frühstück?«

Als kleines Mädchen hatte sie die Pocken. Die Narben sind verblasst, aber sie war immer kränklich und kann schrecklich gehemmt und verlegen sein. Vor allem, wenn James zugegen ist. Und noch mehr, seit er Witwer ist. Er ist unter Janes Brüdern der größte, dunkelste und grüblerischste.

Mrs Austen reicht den Brotkorb weiter. »Kommen Sie nur herein, meine Liebe. Möchten Sie eine Tasse Tee?«

Mary läuft rot an. »Ich will keine Umstände machen. Ich wollte nur Jane abholen.«

Mrs Austen stützt die Hände auf die Tischplatte und stemmt sich hoch. »Unsinn, Sie machen keine Umstände.«

»Abholen? Zu was?«, fällt Jane ihrer Mutter ins Wort.

Unsicher macht Mary einen Schritt näher zu James hin. »Onkel Richard bittet alle, nach Deane House zu kommen und zu helfen, den Mörder zu fangen.« Marys Onkel, Mr Craven, ist der Friedensrichter der Grafschaft. Sie linst unter dem flachen Rand ihres Hutes hervor. »Oh, Mr Austen, ich hörte, dass Sie geholt wurden, um vor den sterblichen Überresten der Toten zu beten. Das muss furchtbar gewesen sein.«

Die anderen blicken verwirrt, bis ihnen dämmert, dass Mary James angesprochen hat und nicht Janes Vater.

James wirft sich in die Brust. »Nun, ich …«

Hätte Mary gesehen, wie er beim Anblick von Madame Renaults geschundenem Leichnam erbleichte, wäre sie nicht so beeindruckt, denkt Jane. Oder vielleicht wäre sie es, bei ihrer blinden Ergebenheit ihm gegenüber, umso mehr. »Ich komme später nach«, sagt sie.

Mrs Austen schnalzt tadelnd mit der Zunge. »Du darfst Mr Craven nicht warten lassen, Jane.«

Jane starrt auf die Teeblätter in ihrer Tasse. Sie ist fest überzeugt, dass Tom auf dem Weg zu ihr ist. Wenn sie jetzt geht – wer weiß, wann sie wieder eine Gelegenheit finden, miteinander zu sprechen? Womöglich denkt er, sie gehe ihm aus dem Weg, nachdem sie so Hals über Kopf vom Ball verschwunden ist. Laut Cassandra braucht ein Gentleman sehr viel Ermutigung, um einen Heiratsantrag zu machen. Cassandra hat ein schmeichelhaftes Aquarell von Mr Fowle nach dem anderen malen müssen – sogar mit Turteltauben am Rand, du liebe Güte –, bis er schließlich begriffen und ihr die Frage gestellt hat. »Es ist nur so, ich bin heute Morgen ganz erschöpft. Ich habe sehr schlecht geschlafen.«

»Nun, ich habe dich gewarnt …« Mrs Austen verschränkt die Arme.

Marys Kinn bebt. »Oh, Jane, du musst mitkommen. Ich habe gehört, du warst diejenige, die sagen konnte, wer die Tote ist.«

Jane fingert an ihrer Teetasse herum.

James blickt von seiner Zeitung auf. »Falls du hierbleiben willst, weil du denkst, Tom Lefroy kommt vorbei – das kannst du dir sparen. Er wird sich an der Suche nach dem Halunken, der das getan hat, beteiligen. Wie alle anständigen jungen Gentlemen hier in der Gegend.«

Jane hat getan, was sie nur konnte, um ihre Tändelei mit Tom geheim zu halten. Nicht, dass sie Sorge hätte, ihre Familie könnte ihn ablehnen. Er sitzt zwar noch nicht fest im Sattel, aber er ist über die Maßen klug und strengt sich sehr an. Mit noch nicht einmal zwanzig Jahren hat er bereits einen Abschluss vom Trinity College in Dublin und will jetzt am Lincoln’s Inn Rechtswissenschaft studieren. Bis sie wirklich heiraten können, wird es vielleicht noch etwas dauern, aber sie ist sich sicher, dass ihr Vater der Verbindung seinen Segen geben wird. Wenn ihre Mutter und sie ihm ein wenig gut zureden, auf jeden Fall. Trotzdem lässt es Janes Stolz nicht zu, dass irgendjemand, außer Cassandra, weiß, dass sie ernsthaft Toms Antrag erwartet.

»Woher weißt du das?«, fragt sie.

»Der Gemeinde-Constable ist herumgegangen und hat gefragt, wer freiwillig dabei ist. Er sagte mir, dass Tom sich bereits gemeldet hat.«

»Wann?«

»Heute Morgen, als du noch mit dem Schlaf gekämpft hast«, sagt James mit einem spöttischen Lächeln. »Gleich nach dem Frühstück breche ich ebenfalls auf. Wenn du willst, sattle ich Greylass und überlasse dir meine Hunde. Dann kannst du Jagd auf Lefroy machen.«

Jane funkelt ihren Bruder böse an.

James versteckt sich kichernd hinter seiner Zeitung.

Greylass ist das Pony von Cassandra. Theoretisch kann Jane reiten, aber sie zieht es vor, es nicht zu tun. Vor allem weil sie die Theorie, seit sie mit zwölf Jahren von einer unruhigen Stute abgeworfen wurde, nie wieder überprüft hat. »Heißt das, sie wissen, wer der Schuldige ist?«

James lässt die Zeitung wieder sinken und runzelt die Stirn. »Nein, das glaube ich nicht.«

»Woher wisst ihr dann, nach wem ihr sucht?«

»Nun, wir sammeln zunächst mal die Vagabunden ein«, sagt James achselzuckend. »All die üblichen windigen Burschen.«

Jane gibt sich geschlagen. »Warte hier, Mary. Ich hole rasch meine Haube.«

Wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass es hilft, den wahren Mörder zu finden und eine andere arme Seele vor falschen Anschuldigungen zu bewahren, muss sie Mr Craven sofort erzählen, was sie über Madame Renault weiß. Es ist ihre Pflicht der Toten gegenüber, sich in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen. Dass sie zu Hause bleiben wollte, war sehr selbstsüchtig. Und wenn Tom heute nicht kommt, hat sie zumindest etwas länger Zeit, sich eine nicht gar so offenkundig begeisterte Antwort zurechtzulegen. Schließlich muss eine junge Dame den Anstand wahren.

3. Kapitel

Während sie auf den Eingang von Deane House zusteuert, nickt Jane unaufhörlich Bekannten zu, die ihr in einem nicht abreißenden Strom entgegenkommen. Mary muss die Bitte ihres Onkels auf dem Weg nach Steventon überall verbreitet haben: Auf der kiesbestreuten Auffahrt drängen sich gut gestellte Familien ebenso wie Kaufleute und Bedienstete. Eine Frau aus der Gemeinde ihres Vaters, eines seiner treuesten Schäfchen, tupft sich mit dem Taschentuch die Augen, während der Knecht neben ihr mit zusammengebissenen Zähnen vor sich hin murmelt.

Jane hat Seitenstechen. Sie haben den Weg von Steventon herauf zügigen Schrittes zurückgelegt. Dass zwischen Mary und ihr kaum ein Wort gefallen ist, haben die Rotkehlchen in der Hecke mit ihrem Gesang wettgemacht.

»Sag, Mary, wieso glaubt dein Onkel, es könnte ihm bei seinen Nachforschungen helfen, wenn die ganze Grafschaft Madame Renaults Leichnam in Augenschein nimmt?«

»Sei nicht dumm, Jane. Jeder weiß, dass die Seele eines Mordopfers noch im Diesseits verweilt. Sie kann erst in die Ewigkeit eingehen, wenn sie den Lebenden die Einzelheiten des Ungemachs, das ihr widerfahren ist, übermittelt hat.«

Jane nickt trotz ihrer Skepsis. Sie will das Gespräch mit dem Friedensrichter schnell hinter sich bringen und dann sofort nach Hause zurückkehren für den Fall, dass Tom auf dem Heimweg von der Verbrecherjagd im Pfarrhaus vorbeikommt. Auch wenn das nicht eben romantisch klingt. Nun, da sie vor der Fachwerkfassade des Tudor-Herrenhauses steht und an den Schauplatz der Tat zurückkehren soll, ist ihr beklommen zumute. »Und hat dein Onkel schon viele Mörder auf diese Weise dingfest gemacht?«

»Möglicherweise nicht.« Mary marschiert voraus, nimmt die Stufen zu dem schweren Portal im Laufschritt. Deane House scheint ganz und gar aus Winkeln und scharfen Kanten zu bestehen, aus schwarzen Balken und steilen Dächern. Selbst die Fensterscheiben sind angeschliffen, sodass sie blitzen wie Diamanten. »Meistens wird er gerufen, um Wilderer zu fassen, und ich glaube nicht, dass Fasane oder Rebhühner eine Seele haben.«

Jane zögert. Sie sieht wieder Madame Renaults ausgebreitete Arme und die Pfütze aus Blut vor sich, die sich rund um das bleiche Gesicht gesammelt hat. »Geh nur voraus, ich komme gleich nach.«

»Was ist denn? Fehlt dir was? Du bist ein wenig blass.«

»Nein, ich möchte nur zu Atem kommen.«

Achselzuckend setzt Mary ihren Weg fort und verschwindet im Inneren des Hauses.

Kaum ist sie weg, schließt Jane die Augen, um ihr Schwindelgefühl niederzukämpfen. Als sie sie wieder öffnet, sieht sie aus dem Buschwerk neben dem Haus ein vertrautes Hinterteil ragen. Während sie sich langsam fängt, folgt sie dem Weg bis zu der Stelle, an der es raschelt. Hinter dem Bleiglas des Erkerfensters im ersten Stock, direkt über ihr, erkennt sie die verkniffenen Züge von Lady Harcourt. Sie hebt grüßend die Hand, doch die zerbrechliche Gestalt rührt sich nicht. Nur ihr stechender Blick ist deutlich auszumachen.

Anscheinend ist sie nicht in der Stimmung, die Schaulustigen in ihrem Haus willkommen zu heißen. Warum sollte sie auch? Erst hat sie ihren Ältesten durch einen tragischen Unfall verloren, nun muss sie erleben, wie durch einen weiteren ebenso grausamen wie sinnlosen Tod Jonathans Verlobung verdorben wird – das muss unerträglich sein.

Geduldig wartet Jane ab, bis der Eigentümer des Hinterteils fertig ist mit dem, was auch immer er im Gebüsch zu tun hat. Schließlich richtet er sich auf und dreht sich zu ihr um. Er ist groß und hat ein hübsches Gesicht wie alle ihre Brüder, aber er ist rundlicher und weniger förmlich gekleidet. Anders als die anderen reitet er nicht und geht nicht zur Jagd, und er ist ein leidenschaftlicher Esser.

»Georgy! Was um Himmels willen machst du da?«

Georgys Augen leuchten auf, und auf seinem Gesicht erscheint ein breites Lächeln. Er greift nach ihrer Hand, nimmt sie in seine beiden und schüttelt sie stürmisch. Als er sie schließlich loslässt, hebt er eine Hand zum Mund und macht eine Geste, als beiße er in etwas hinein.

»Du möchtest ein Plätzchen?«, fragt Jane.

Dame Culham hat früher bei einer gehörlosen Familie in Schottland gearbeitet und konnte Georgy einen ganzen Katalog von Gesten und Handbewegungen beibringen, die er nun benutzt, um sich mit anderen zu verständigen. In der Folge haben alle Austen-Kinder einfach durch das Zusammensein mit ihrem Bruder gelernt, mit den Händen zu reden, auch wenn es Georgy Spaß macht, sie gelegentlich an der Nase herumzuführen, indem er neue, selbst erfundene Zeichen verwendet. Jane ist überzeugt davon, dass er hätte lesen lernen können, wenn nur ihre Mutter oder ihr Vater die Zeit und die Geduld aufgebracht hätte, es ihn zu lehren.

»Also, da im Gebüsch wirst du keins finden, oder?«

Georgy wiederholt die Beiß-Geste umso energischer.

Da kommt Jack Smith um die Hausecke gelaufen. Jack ist Dame Culhams Sohn, ein paar Monate jünger als Jane. Als er Georgy sieht, bleibt er stehen, stützt die Hände auf die Knie und japst nach Luft. »Miss Austen«, keucht er, nimmt den Filzhut ab und drückt ihn an seine Brust. »Diesmal dachte ich wirklich, er ist mir entwischt.«

Als Georgy einundzwanzig wurde, heuerte Mr Austen Jack als seinen Beschützer an. Seitdem begleitet Jack ihn bei seinen Abenteuern und tut sein Bestes, um ihn vor Schwierigkeiten zu bewahren. Jack war damals gerade mal elf, aber er hat sich der Aufgabe vom ersten Tag an mit bewundernswertem Ernst gewidmet und sich in den zehn Jahren seither nie schwankend gezeigt. Georgy muss regelmäßig essen und schlafen, um ausgeglichen zu bleiben – was er, wenn er auf sich gestellt wäre, immer wieder vergessen würde.

Jane zeigt auf die kahlen Rosenbüsche unter dem Erkerfenster. »Da habe ich ihn gefunden, er ist in den Sträuchern herumgekrochen.« Was kann Georgy hier so Faszinierendes entdeckt haben? Jetzt, gegen Ende des Jahres, sitzen nur noch die dicken roten Hagebutten an den Zweigen, und auf dem nackten Boden ist gar nichts zu sehen.

»Ach Georgy, was mach ich nur mit dir?« Lachend stülpt Jack sich seinen Hut wieder auf den Kopf. »Wenn du nicht aufpasst, muss ich dich ans Gängelband nehmen.«

Georgy zeigt mit einer ganz und gar unangebrachten Geste, was er mit Jack anstellen wird, sollte der ihn so behandeln.

»Ich glaube, er hat Hunger«, versucht Jane das schlechte Benehmen ihres Bruders zu entschuldigen.

»Hunger? Georgy? Wir haben doch gerade erst gefrühstückt!« Jack hebt die Arme. »Von der schrecklichen Sache gestern Abend haben Sie gehört, schätze ich?«

Jane schaudert. »Ja, entsetzlich.«

»Wir wollten der armen Frau nur die Ehre erweisen. Sie haben Mutter geholt, damit sie die Frau aufbahrt. Eben noch war Georgy neben mir, und dann, kaum schau ich einmal weg, ist er verschwunden.« Er schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

Georgy sieht ihn finster an. Es war damals nicht einfach für ihn einzusehen, dass Jack, der wie ein kleiner Bruder für ihn war, von einem Tag auf den anderen zu seinem Betreuer wurde. Die meiste Zeit behandelt er Jack wie einen willigen Komplizen, und sie stromern gut gelaunt draußen herum, aber manchmal betrachtet er Jack als ein Ärgernis, das er loswerden muss – wie ein Pferd versucht, mit dem Schwanz eine Fliege zu verscheuchen.

Doch Jane hat noch den lauten Schrei im Ohr, den ihre Mutter ausstieß, als sie merkte, dass Georgy aus dem Pfarrhaus verschwunden war. Die anderen kleinen Kinder, auch sie selbst, rannten auf dem Hof herum wie kopflose Hühner und suchten ihn überall. Als sie ihn nirgends entdecken konnten, setzte Mrs Austen sich in den Kopf, dass Georgy über den Rand des Brunnens geklettert und hineingefallen sein musste. Er hatte so oft Kieselsteine hineingeworfen und sich über das Platschen gefreut, wenn sie in fünfzehn Meter Tiefe auf das Wasser schlugen. Mr Austen lief in die Scheune, um ein langes Seil zu holen, während James sich die Kleider vom Leib riss, um hinunterzuklettern und seinen Bruder zu bergen.

Gottlob fand Henry Georgy (er war fast bis Kempshott Park gewandert, wo die Köchin von Mrs Rivers ihm einmal unerlaubterweise eine Makrone zugesteckt hatte) und brachte ihn auf seinem Pferd zurück, bevor sie das Seil an der Eiche beim Brunnen festgemacht hatten. Bis heute ist die Viertelstunde, in der ihr Bruder verschwunden war, die längste in Janes Leben gewesen.

»Das ist unser Georgy. Er geht wirklich gern auf Wanderschaft.« Seufzend streichelt sie Georgys Arm. Sie ist sehr froh, dass Madame Renault die gebührende Ehre erwiesen worden ist. Vielleicht wird es gar nicht eine solche Prüfung, an den Schauplatz des Verbrechens zurückzukehren. Wie man allerdings noch Spuren oder Hinweise entdecken will, wenn der Leichnam fortgebracht worden ist, begreift sie nicht, selbst wenn man Marys Behauptung, Madame Renault werde noch vom Grab aus versuchen, mit dem Diesseits in Verbindung zu treten, Glauben schenken sollte.

»Als ob ich das nicht wüsste! Komm, Georgy, wir gehen runter ins Deane Gate Inn. Vielleicht hat Mrs Fletcher ja schon eine Pastete fertig? Du weißt, die beste hebt sie immer für dich auf.« Jack streckt eine Handfläche aus und beschreibt mit dem anderen Zeigefinger einen Kreis darüber.

Georgys Augen weiten sich, und eifrig nickend wiederholt er die Geste.

Jack sieht Jane an und tippt sich leicht errötend an den Hut. »Einen guten Tag, Miss Austen.«

Jane blickt dem Gespann hinterher, dem großen Georgy in seinem Gehrock aus schwarzblauer Wolle und dem kleineren Jack in seinem schlichten braunen Kammgarn-Anzug, und spürt eine Welle der Zuneigung. Sie erinnert sich gut an Zeiten, da Jack und sie nicht so furchtbar förmlich miteinander umgegangen sind – als sie Kinder waren, jagten sie einander durch Dame Culhams altes Cottage und hatten ihre Geheimnisse miteinander.

 

Als Jane die Einganghalle von Deane House betritt und ihr Blick auf die Tür zur Wäschekammer fällt, schnürt sich ihr die Kehle zu. Die Tür ist geschlossen, in der Eichentäfelung kaum auszumachen. Der türkische Läufer ist entfernt worden, und es liegt der Geruch von Essig und Bienenwachs in der Luft. Der Boden der Halle und vermutlich auch die enge Kammer sind ordentlich geschrubbt worden, sämtliche Spuren von Madame Renaults gewaltsamem Tod getilgt.

Jane verzieht das Gesicht. Die Zuständigen gehen das vollkommen falsch an. Es mag verständlich sein, dass die Harcourts alles beseitigt haben wollen, was an den schrecklichen Vorfall erinnert, aber wenn Mr Craven glaubt, irgendjemand könne vom blanken Parkett ablesen, wer der Mörder ist, erweist er sich als Dummkopf. Wenn man nur auf eine Botschaft von den Toten zu warten brauchte, bliebe kein Verbrechen ungestraft, und die großen Rätsel der Geschichte Englands wären gelöst. Man sollte doch meinen, dass wenigstens einer der beiden kleinen Prinzen, die im Tower of London hingemetzelt wurden, sich dann aufraffen und der Welt mitteilen würde, wo ihre Überreste abgeblieben sind.

Von oben ist Mrs Twistletons Stimme zu hören. »Und finden Sie nicht, dass er ein sehr gut aussehender Gentleman war, Miss?«, sagt sie in ihrem süßlichen, schleppenden Ton. Sie steht oben auf dem Treppenabsatz, neben einer Büste von Edwin Harcourt auf einem Marmorsockel.

Mary neben ihr starrt Jane Hilfe suchend an, während die Haushälterin das milchweiße Steingesicht des verblichenen Harcourt-Sohnes zärtlich streichelt. Die Büste hat keine überzeugende Ähnlichkeit mit dem ausgelassenen jungen Mann, den Jane einst kannte. Das Kinn wirkt schlaff, die Wangen ausgemergelt. Allerdings ist die Büste nach einem Gipsabdruck seiner Totenmaske entstanden. Sir John, in tiefer Trauer und unglücklich darüber, dass es kein Bildnis seines Ältesten für die Ahnengalerie gab, hat sie kurz nach dessen Tod in Auftrag gegeben.

»Ich jedenfalls kenne keinen hübscheren.« Mrs Twistleton fährt mit den Fingern über die polierten Marmorlocken. Ihr Benehmen ist geziert, als spräche sie einen Shakespeare-Monolog. »Ich kam erst nach der Tragödie erstmals nach Deane House, aber es heißt, er schlage seinem Vater nach, und ich finde die Ähnlichkeit unübersehbar.«

»Da bist du ja, Jane.« Mary kennt sich mit Trauer aus. Ihr kleiner Bruder hat die Pocken, die sie für immer gezeichnet haben, nicht überlebt. Nur dass sie um seine Totenmaske nicht so ein morbides Spektakel aufführt. »Fühlst du dich jetzt in der Lage, die Tote zu sehen?«