Miss Island - Auður Ava Ólafsdóttir - E-Book

Miss Island E-Book

Auður Ava Ólafsdóttir

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Beschreibung

Das humorvolle, mit subtiler Ironie gezeichnete Porträt einer jungen Isländerin Anfang der 1960er Jahre, die sich viel vorgenommen hat – in einer Gesellschaft, in der Künstler männlich sind, die Frau aber nur reüssiert, wenn sie ihre Schönheit zu Markte trägt, um zur Miss Island gekrönt zu werden.

Die Welt ist in Aufruhr. Während in Amerika John F. Kennedy erschossen wird und Martin Luther Kings »I have a dream« zu hören ist, starten in England die Beatles ihre Weltkarriere. Nur in Island steht die Welt still. Das muss auch Hekla erfahren, als sie – 22-jährig mit ihrer Remington-Schreibmaschine, einem Romanmanuskript, dem Ulysses von James Joyce und einem englischen Lexikon – in einen verrauchten Überlandbus steigt, der sie vom elterlichen Hof nach Reykjavík bringt. Dort, in der Stadt der Poeten, will sie ihren Traum verwirklichen und mit Büchern berühmt werden.

Doch schnell stellt sie fest, dass in der konservativen, männerdominierten Gesellschaft das Interesse an einer Miss Island größer ist als das an einer Schriftstellerin …

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Titel

Auður Ava Ólafsdóttir

Miss Island

Roman

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Insel Verlag

Widmung

In Erinnerung an meine Eltern

Motto

Es gibt wohl mancherlei Arten von Stimmen in der Welt, und keine von ihnen ist ohne Laut.

Erster Brief des Paulus an die Korinther

Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Motto

Inhalt

I Mutterland

II Autorin von heute

Nachweise

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Nicht minder ruhig oder leblos ist es in den Eingeweiden der Erde, denn dort tobt unentwegt das entsetzlichste und mächtigste Element, das Feuer.

Jónas Hallgrímsson, Literaturzeitschrift Fjölnir, 1835

1942

Kammer der Frau, die mich geboren hat

Als ich im fünften Monat mit dir schwanger war, stieß ich auf einem Felsvorsprung unten am Fluss auf ein Adlernest, eine zwei Meter große Delle im Strandroggen, in der zwei Adlerjunge kauerten, dicke Federkugeln. Ich war allein unterwegs, und der Adler kreiste über mir und dem Nest, mit schweren Flügelschlägen, eine Schwinge zerfleddert, griff mich aber nicht an. Ich nahm an, dass es das Weibchen war. Es folgte mir bis nach Hause zum Hof, ein schwarzer Schatten über mir wie eine Wolke, die die Sonne verdunkelt. Ich war mir sicher, dass das Baby ein Junge würde, und beschloss, ihn Örn zu nennen – Adler. An dem Tag, als du geboren wurdest, drei Wochen vor der Zeit, flog der Adler wieder über den Hof. Der alte Tierarzt, der gerade bei uns war, um eine Kuh zu besamen, holte dich auf die Welt; es war seine letzte Amtshandlung vor dem Ruhestand, ein Kind auf die Welt zu holen. Als er aus dem Kuhstall ins Haus kam, zog er seine kniehohen Gummistiefel aus und wusch sich mit einem neuen Stück Lux-Seife die Hände. Dann hob er dich hoch und sagte:

»Lux mundi.«

Licht der Welt.

Obwohl er es gewohnt war, dass weibliche Tiere ihren Nachwuchs ohne fremde Hilfe trockenlecken, ließ er Wasser in den Schlachtbottich, um dich zu baden. Ich sah, wie er die Ärmel seines Flanellhemds hochkrempelte und den Ellbogen ins Wasser tunkte, ich beobachtete die beiden – deinen Vater und den Tierarzt –, wie sie sich über dich beugten und mir den Rücken zukehrten.

»Ganz der Papa!«, sagte dein Vater. Dann fügte er hinzu, und ich hörte es ganz deutlich: »Willkommen, kleine Hekla.«

Er hatte den Namen schon festgelegt, ohne sich mit mir abzusprechen.

»Bitte kein Vulkan, nicht das Tor zur Hölle!«, protestierte ich vom Bett aus.

»Irgendwo auf dieser Welt muss ein solches Tor ja sein«, hörte ich den Tierarzt einwerfen.

Schulter an Schulter standen sie vor dem Waschbottich, die Männer, und nutzten meine Wehrlosigkeit aus, ich war eine klaffende Wunde.

Als ich deinen Vater heiratete, wusste ich nicht, dass er von Vulkanen besessen war. Er verschlang Bücher mit Beschreibungen von Vulkanausbrüchen, er korrespondierte mit drei Geologen, er konnte eine Eruption im Traum vorhersehen, er lebte in der ständigen Hoffnung, Rauchwolken am Himmel zu entdecken und die Erde unter den Füßen beben zu spüren.

»Willst du etwa, dass am Rand unserer Heuwiese die Erde aufbricht?«, fragte ich ihn. »Dass sie aufreißt wie eine Frau, die ein Kind gebiert?«

Ich hasste Lavafelder. Unsere Hofwiesen waren von tausend Jahre alten Lavafeldern umgeben, über die man erst kraxeln musste, wenn man Beeren pflücken wollte, und im Kartoffelbeet konnte man keine Spatengabel in den Boden stechen, ohne auf Steine zu stoßen.

»Arnhildur, die Adlerin«, sagte ich unter meinem Federbett, mit dem dein Vater mich zugedeckt hatte. »Die, die geboren wurde, um Schlachten zu führen. In Island gibt es weniger als zwanzig lebende Adler, Gottskálk, aber zweihundert Vulkane.« Das war mein letzter Trumpf.

»Ich koche dir eine schöne Tasse Kaffee«, entgegnete dein Vater. Das war ein Friedensangebot. Ein Kompromiss. Er hatte die Entscheidung schon gefällt. Am Ende drehte ich mich auf die andere Seite und schloss die Augen, wollte nur meine Ruhe haben.

Viereinhalb Jahre nach deiner Geburt brach die Hekla aus, nach einhundertzweijährigem Schlummer. Da bekam dein Vater endlich das dumpfe Dröhnen zu hören, von dem er geträumt hatte, im Westen im Dalir-Bezirk, wie das ferne Echo des unlängst zu Ende gegangenen Weltkriegs. Dein Bruder Örn war zu dem Zeitpunkt zwei Jahre alt. Prompt rief dein Vater seine Schwester auf den Westmännerinseln an und erkundigte sich, was sie durchs Küchenfenster sehen könne. Sie briet gerade Schmalzgebäck und sagte, eine Rauchsäule schwebe über Island, die Sonne sei rot und es regne Asche.

Er hielt die Sprechmuschel zu und wiederholte für mich jeden einzelnen Satz.

»Sie sagt, dass die Sonne rot ist und dass es Asche regnet und stockdunkel ist wie in der Nacht und dass sie das Licht einschalten muss.«

Er wollte wissen, ob der Anblick beeindruckend und furchteinflößend sei und ob der Boden bebe.

»Sie sagt, dass der Anblick beeindruckend und furchteinflößend ist, und dass die Dachrinne mit Asche verstopft ist und der Maschinist, ihr Mann, draußen auf der Leiter steht und versucht, sie freizuschaufeln.«

Er presste das Ohr ans Radio und fasste das Wichtigste für mich zusammen.

»Sie sagen, dass der Eruptionsschlot, die Öffnung des Kraters, wie ein Herz geformt ist, ein Feuerherz.« Oder er fragte mich: »Wusstest du, Steinþóra, dass eine der Lavabomben elf Meter lang, fünf Meter breit und zigarrenförmig ist?«

Irgendwann genügten ihm die Beschreibungen seiner Schwester am Küchenfenster oder ein eingefrorenes Schwarz-Weiß-Foto von der Rauchsäule auf der Titelseite der Tíminn nicht mehr. Er wollte den Ausbruch mit eigenen Augen sehen, er wollte Farben sehen, er wollte glühende Lavabrocken sehen, ganze Felsblöcke, die in die Luft schossen, er wollte rote Feueraugen sehen, aus denen Sternschnuppen sprühten wie Zunder in einer Schmiede, er wollte die schwarze Lavawand sehen, die sich vorwärts wälzte wie eine erleuchtete Metropole, er wollte wissen, ob die Flammen den Himmel rosarot färbten, er wollte die Hitze auf den Augenlidern spüren, er wollte juckende Augen, er wollte mit dem Russenjeep nach Süden ins Þjórsárdalur rasen.

Und er wollte dich mitnehmen.

»Selbst unser Nationaldichter Jónas Hallgrímsson, der Vulkanausbrüche in kunstvollen Stabreimen und Versen beschrieben hat, erlebte selbst nie einen«, meinte er. »Und der Naturkundler Eggert Ólafsson auch nicht. Hekla darf es nicht verpassen, ihre Namenspatronin ausbrechen zu sehen.«

»Warum verkaufst du nicht einfach den Hof und ziehst in den Süden ins Þjórsárdalur?«, erwiderte ich. Ebenso gut hätte ich fragen können: »Warum ziehst du nicht vom Schauplatz der Laxdæla Saga zum Schauplatz der Njáls Saga?«

Er setzte dich auf den Beifahrersitz und schob dir ein Kissen unter, damit du aus dem Fenster schauen konntest, und ich blieb mit deinem Bruder Örn und dem Hof allein. Als er mit angekokelten Stiefelsohlen heimkehrte, wusste ich, dass er zu nah rangegangen war.

»Die gute alte Hekla brodelt noch«, sagte er und trug dich schlafend ins Bett.

Im Sommer wehte die Asche zu uns in den Westen nach Dalir und ruinierte die Felder. Tiere fand man tot in Mulden, in denen sich Gaslachen gebildet hatten; Füchse, Vögel und Schafe. Da hörte dein Vater endlich auf, über Vulkane zu reden, und kümmerte sich wieder um die Landarbeit.

Du jedoch hattest dich verändert. Du hattest eine Reise unternommen. Du sprachst anders. Du sprachst Vulkanisch und sagtest spektakulär, imposant und kolossal. Du hattest das Oben entdeckt und blicktest zum Himmel. Du begannst, dich davonzustehlen, und wir fanden dich auf der Wiese, du lagst da und schautest in die Wolken; im Winter sahen wir dich auf einer Schneewehe liegen und die Sterne betrachten.

I Mutterland

Wer hat ein schöner Vaterland,

mit Bergen, Tälern, schwarzem Sand,

aus Nordlichtern ein leuchtend’ Band

mit Birken und Bächen am Hang?

Hulda, 1944

1963

Dichter sind Männer

Eine Staubwolke hängt in der Luft hinter dem Überlandbus nach Reykjavík, die Straße ist ein Waschbrett, das sich vorwärts windet, Kurve um Kurve, bald sieht man nichts mehr durch die verschmierten Fenster, gleich verschwindet der Schauplatz der Laxdæla Saga im Dreck.

Der Schalthebel knarzt beim Bergauf- und Bergabfahren, und ich habe den Verdacht, dass der Bus keine Bremsen hat. Der große Riss quer über die Windschutzscheibe scheint den Fahrer nicht zu stören. Es sind kaum Autos unterwegs, und wenn wir ausnahmsweise mal einem anderen Fahrzeug begegnen, drückt der Fahrer kräftig auf die Hupe. Um an einem Planierer vorbeizukommen, muss der Bus an den Rand der Schotterstraße ausweichen und wippt dort auf und ab. Die Straßenplanierung ist eine große Neuigkeit im Dalir-Bezirk und veranlasst die Fahrer dazu, ihre Scheiben herunterzukurbeln, sich aus den Fenstern zu lehnen und ausgiebig miteinander zu schwatzen.

»Man kann froh sein, wenn man keine Achse verliert«, höre ich den Busfahrer sagen.

Dabei befinde ich mich in diesem Augenblick gar nicht kurz hinter Búðardalur, sondern in Dublin, denn mein Finger liegt auf Seite dreiundzwanzig von Ulysses. Ich hatte von einem Roman gehört, der so dick sei wie die Njáls Saga und den man im Englischen Buchladen in der Hafnarstræti kaufen und sich in den Westen schicken lassen könne.

»Is it French you are talking, sir?« the old woman said to Haines.

Haines spoke to her again a longer speech, confidently.

»Irish,« Buck Mulligan said. »Is there Gaelic on you?«

»I thought it was Irish,« she said, »by the sound of it.«

Das Lesen ist mühsam, weil der Bus so stark wackelt, und auch, weil ich kaum Englisch kann. Ich habe das aufgeschlagene Wörterbuch auf dem freien Platz neben mir liegen, aber die Sprache ist schwieriger, als ich dachte.

Ich spähe aus dem Fenster. Lebte auf dem Hof da hinten nicht eine Dichterin? War es nicht genau dieser düstergraue, reißende Fluss, voll mit Sand und Schlamm, der in ihren Adern rauschte? Die Kühe mussten darunter leiden, erzählten sich die Leute, denn während sie dasaß und über die Liebschaften und tragischen Schicksale der Landbevölkerung schrieb, bestrebt, Schaffarben in einen Sonnenuntergang über dem Breiðafjörður zu verwandeln, vergaß sie, die Kühe zu melken. Es gab keine größere Sünde, als dass man vergaß, einen prallen Euter zu leeren. Immer wenn sie benachbarte Höfe besuchte, blieb sie zu lange sitzen, wollte entweder Gedichte rezitieren oder schwieg stundenlang und tunkte Zuckerwürfel in ihren Kaffee. Man erzählte, sie höre beim Schreiben Streichorchester, wecke nachts ihre Kinder und trage sie hinaus auf den Hofplatz, um ihnen das zuckende Nordlichtermeer zu zeigen, wie es in Kaskaden über den schwarzen Himmel wogt, und zuweilen schließe sie sich im ehelichen Schlafzimmer ein und ziehe sich die Bettdecke über den Kopf. Da war so viel Schwermut in ihr, dass sie sich eines strahlend hellen Frühlingsabends in die silbergrauen Fluten des Flusses stürzte. Die Vorfreude auf ein frisches Trottellummen-Ei genügte ihr nicht mehr, denn sie hatte aufgehört zu schlafen. Man fand sie in einem Forellennetz bei der Brücke, zog eine Dichterin mit gestutzten Flügeln an Land, im klatschnassen Rock, mit Laufmaschen in den Strümpfen, den Bauch voll Wasser.

»Sie hat mir das Netz ruiniert«, klagte der Bauer, dem das Stellnetz gehörte. »Ich hab’s für Forellen ausgelegt, aber die Maschen waren doch nicht für eine Dichterin gemacht!«

Ihr Schicksal galt als abschreckendes Beispiel, aber sie war auch mein einziges Vorbild für eine weibliche Schriftstellerin.

Ansonsten waren Dichter Männer.

Ich lernte daraus, niemanden in meine Pläne einzuweihen.

Radio Reykjavík

Vor mir im Bus sitzt eine Frau mit einem kleinen Mädchen, das sich schon wieder übergeben muss. Der Bus schlingert über den losen Schotter und kommt zum Halten. Der Fahrer drückt auf einen Knopf, die Tür öffnet sich der Herbstluft, zischend wie ein Dampfbügeleisen, und die müde aussehende Frau im Wollmantel führt das Mädchen die Stufen hinunter. Bereits zum dritten Mal muss das reisekranke Kind hinausgelassen werden. Die Straßen sind mit Gräben gesäumt, denn die Bauern dränieren das Land und trocknen den Lebensraum der Watvögel aus. Spitzer Stacheldraht ragt hier und dort aus dem Boden, wobei schwer zu erkennen ist, welches Flurstück er abgrenzen soll.

Bald bin ich so weit von zu Hause entfernt, dass ich die Namen der Höfe nicht mehr kenne.

Auf dem Trittbrett setzt die Frau dem Kind eine Wollmütze auf und zieht sie ihm über die Ohren. Ich beobachte, wie sie ihm die Stirn hält, während es einen dünnen Strahl rauswürgt. Dann tastet sie in ihrer Manteltasche nach einem Stofftaschentuch und wischt dem Kind den Mund ab, bevor sie es wieder in den verqualmten Bus hebt.

Ich krame mein Notizbuch heraus, schraube den Füllfederhalter auf und schreibe zwei Sätze. Dann schraube ich den Stift wieder zu und schlage Ulysses auf.

Der Fahrer klopft seine Pfeife auf dem Trittbrett aus, schaltet das Radio ein, und die Männer sammeln sich vorne im Bus, breite Schultern und Hüte drängen sich zusammen, die Ohren gespitzt, gleich beginnt der Wetterbericht, und die Bekanntmachungen. Der Fahrer dreht die Lautstärke hoch, um das Lärmen des Motors zu übertönen. Guten Tag, hier ist Radio Reykjavík, hört man, dann rauscht es, und er fummelt an dem Knopf herum, um die richtige Frequenz zu finden. Der Empfang ist miserabel, aber ich höre, dass auf einem Boot ein Matrose gesucht wird, der sofort losfahren kann. Dann knackt es, und die Stimme des Ansagers bricht ab. Die Männer verteilen sich wieder im Bus und zünden sich Zigaretten an.

Ich blättere die Seite um. Die Hauptperson, Stephen Dedalus, trinkt Tee, als der Busfahrer einen Ferguson-Traktor überholt, der an uns vorbeigefahren ist, während das Kind sich erbrochen hat.

Stephen filled a third cup, a spoonful of tea colouring faintly the thick rich milk.

Wie viele Seiten würde es wohl dauern, einen Traktor zu überholen, wenn James Joyce Fahrgast im Überlandbus nach Reykjavík wäre?

Mutterwale

Der letzte Halt ist an der Raststätte im Hvalfjörður, wo gerade ein Boot mit zwei Pottwalen einläuft. Sie sind seitlich an der Reling festgebunden, jeder Wal ungefähr eine Bootslänge lang, Gischt schäumt über die schwarzen Körper. Das Boot schaukelt in der Brandung, im Vergleich zu den riesigen Säugetieren sieht es aus wie ein Kinderspielzeug, das in einer Badewanne schwimmt.

Der Fahrer steigt als Erster aus dem Bus, gefolgt von den Reisenden. Ein penetranter Geruch weht von den Trankesseln herüber, und die Fahrgäste eilen in die Raststätte. Es gibt Spargelsuppe und paniertes Kotelett mit Kartoffeln und Rhabarbermarmelade, aber ich habe noch keine Arbeit und muss mir mein Geld gut einteilen, deshalb nehme ich nur eine Tasse Kaffee und ein Stück Sandkuchen. Auf dem Weg zurück zum Bus pflücke ich zwei Handvoll Blaubeeren.

An der Walfangstation stößt ein älterer Mann im Mantel zu den Fahrgästen. Er steigt als Letzter ein, lässt den Blick durch den Bus schweifen, erspäht mich und fragt, ob der Platz neben mir frei sei. Ich nehme das Wörterbuch vom Sitz, und als er sich setzt, lupft er seinen Hut. Sobald der Bus vom Parkplatz rollt, zündet er sich eine Zigarre an.

»Fehlt nur noch ein Dessert«, sagt er. »Eine Schachtel Anthon-Berg-Schokolade wär jetzt höllisch gut.«

Er habe einen Ausflug zum Hvalfjörður gemacht, um seinen Bekannten zu besuchen, dem all die beschissenen Wale im Meer gehörten, und sie hätten zusammen Koteletts gegessen, erzählt er.

»Sie haben im Sommer fünfhundert Wale geschlachtet. Kein Wunder, dass die Isländer zu Scheißegeruch Geldgeruch sagen.«

Dann dreht er sich zu mir.

»Dürfte ich Sie nach Ihrem Namen fragen, Fräulein …?«

»Hekla.«

»Wie überaus passend. Hekla erhebt sich hoch und klar vorm Himmelszelt …«

Er beäugt das Buch, das ich in der Hand habe.

»Und Sie lesen ausländische Bücher?«

»Ja.«

Man hat einen der Pottwale über die Betonrampe auf die Schlachtplattform gezogen, wo er jetzt in ganzer Größe liegt, ein gigantischer schwarzer Tierkörper, so groß wie die Sparkasse zu Hause in Dalir, das Walfangboot an der Landungsbrücke wirkt dagegen wie ein Flaschenkorken. Junge Männer in Anglerstiefeln und Jeanshosen stürzen sich mit gezückten Messern in den bloßen Händen auf das Tier und sind schon damit beschäftigt, Blubber und Fett aus dem Wal zu schneiden, Stahl funkelt in der Herbstsonne. In kürzester Zeit triefen sie von Lebertran. Die Eingeweide liegen neben dem Tier verstreut, darüber kreist ein Schwarm Vögel, und die Männer haben sichtlich Schwierigkeiten, auf der glitschigen Fläche direkt neben den offenen Trankesseln nicht auszurutschen.

»Aha, das Fräulein nimmt die jungen Burschen in Augenschein?«, kommentiert mein Sitznachbar. »Hat ein so hübsches Mädel denn keinen Freund?«

»Nein.«

»Ach was? Steigen die Kerle Ihnen nicht scharenweise nach? Gibt’s da keinen, der Sie beglückt?«

Ich schlage das Buch auf und lese weiter. Ohne Wörterbuch.

Nach einer Weile nimmt der Mann den Faden wieder auf.

»Wussten Sie, dass es verboten ist, Mutterwale zu harpunieren, und dass die Jungs deshalb nur männliche Wale schlachten?«

Er drückt seine Zigarre im Aschenbecher an der Rückenlehne des Vordersitzes aus.

»Es sei denn, aus Versehen«, ergänzt er.

Wir passieren die Militärbaracken und Öltanks der US-Armee, und zwei bewaffnete Soldaten, die an der Straße stehen, winken uns zu. Die Straße windet sich bergan, und vor uns liegt ein weiteres Geröllfeld. Dann öffnet sich endlich der Blick über den Sund auf die Hauptstadt unter einem rosaroten Abendhimmel. Auf einem kahlen Felshügel thront eine halbfertige Kirche, die einem armen Psalmendichter gewidmet ist. Den Turm mit dem Baugerüst sieht man bis hinauf nach Kjós.

Ich klappe das Buch zu.

An der Abzweigung ins Mosfellsdalur kommt uns ein Auto entgegen, und der Busfahrer bremst abrupt ab.

»War das nicht unser Nobelpreisautor?«, fragt ein Mann, und die Fahrgäste werden wach und glotzen durch die verschmierten Fensterscheiben.

»Wenn’s ein viertüriger Buick Jahrgang 54 ist, dann war er’s«, entgegnet der Fahrer. »Gute Federung und leistungsstarke Heizung«, fügt er hinzu.

»Hat er jetzt nicht einen grünen Lincoln?«, wirft ein anderer Mann ein.

Jetzt sind sich die Herren nicht mehr sicher und meinen sogar, eine Frau hinter dem Lenkrad gesehen zu haben. Mit Kindern auf der Rückbank.

Inzwischen sitze ich seit acht Stunden im Bus, mit Sand zwischen den Zähnen.

In der letzten Stunde: Reykjavík, neblig, leichter Sprühregen

Ich stehe auf dem Parkplatz des BSÍ-Busbahnhofs in der Hafnarstræti und warte, bis der Fahrer meinen Koffer und das übrige Gepäck vom Dach heruntergereicht hat. Es wird dunkel, und die Geschäfte haben schon geschlossen, aber ich weiß, dass sich das Schaufenster von Snæbjörns Buchladen, in dem man englische Bücher kaufen kann, ganz in der Nähe befindet. Mich fröstelt nach der langen Busfahrt, ich wickle mir das Tuch fester um den Hals und knöpfe meinen Mantel zu.

Mein Sitznachbar aus dem Bus baut sich neben mir auf und erzählt mir, er sitze zufälligerweise im Vorstand des Reykjavíker Verschönerungsvereins, zusammen mit ein paar guten Bekannten, darunter auch dem Eigentümer der Wale im Meer. Ziel des Vereins sei es, die Stadt zu verschönern und den guten Geschmack und Anstand ihrer Bewohner zu fördern, und aus diesem Anlass richte man seit einigen Jahren einen Schönheitswettbewerb aus, anfangs unter freiem Himmel im Vergnügungspark Tivoli in Vatnsmýri, inzwischen jedoch drinnen.

»Wir wollten uns den Wettbewerb nicht jedes Jahr von der Regenvorhersage boykottieren lassen. Außerdem haben die Damen sich draußen erkältet … nun, die Sache ist die«, höre ich den Mann fortfahren, »dass wir für die Teilnahme an dem Wettbewerb ledige Mädchen suchen, die sowohl mit einer guten Figur als auch mit einem hübschen Gesicht gesegnet sind. Ich erkenne Schönheit sofort, wenn ich sie sehe, und deshalb möchte ich Sie einladen, bei Miss Island mitzumachen.«

Ich taxiere den Mann.

»Nein, danke.«

Er lässt nicht locker.

»Ihre Erscheinung so charmant, wie ein Sommertag in Island …«

Er greift in die Tasche seines Jacketts, fischt eine Visitenkarte heraus und reicht sie mir. Auf der Karte stehen sein Name und seine Telefonnummer, hinter dem Namen der Zusatz Finanzier.

»Falls Sie Ihre Meinung ändern sollten.«

Er sinniert einen Moment.

»Sie sehen wirklich verdammt hübsch aus in diesen karierten Hosen.«

Mokka

Ich mache mich mit meinem Koffer zu Fuß auf den Weg zu einer Kellerwohnung in der Kjartansgata. Die Uhr an dem viereckigen Turm auf dem Lækjartorg steht auf kurz vor sieben. An einer Turmseite prangt ein Bild von einer lächelnden Frau in einem ärmellosen hellblauen Kleid mit weitem Rock, die eine Packung Persil in der Hand hält. Auf dem Platz sitzen zwei Frauen in braunen Wollmänteln auf einer Holzbank mit gusseisernen Armlehnen, nahebei pickt eine Möwe nach Brotkrümeln.

Als ich die Bankastræti hinaufgehe, reiht sich auf der Straße ein Auto ans andere, amerikanische Straßenkreuzer in verschiedenen Farben mit ledergepolsterten Sitzen.

Junge Männer fahren Autokorso durch die Innenstadt, hupen mich an und rollen im Schneckentempo neben mir her, Ellbogen aus dem Fenster, Zigarette im Mundwinkel und klebrige Brillantine in den Haaren, kaum älter als Kinder. Es gibt sogar noch mehr Buchhandlungen, als ich dachte, außerdem komme ich an einem Tabakwarenladen, einem Herren-und-Damen-Modengeschäft und an Lárus G. Lúðvíkssons Schuhgeschäft vorbei. Um die Autos loszuwerden, biege ich in den Skólavörðustígur. Dort befindet sich das Mokka, das Café, in dem die Reykjavíker Poeten residieren, die bei uns in der Gegend als missratene Klugschwätzer gelten, die in der Stadt wohnen und den ganzen Tag an öffentlichen Orten herumlungern und Kaffee trinken. Ich bleibe einen Augenblick mit meinem Koffer in der Hand vor dem Fenster stehen und spähe in den dichten Qualm; die Inneneinrichtung ist dunkel, und ich kann die Gesichter der Poeten nicht erkennen.

Kjartansgata

Auf der Türklingel steht Lýður und Ísey, darunter klebt ein Zettel mit der Aufschrift Klingel defekt. Neben der Kellertür steht ein wackeliger Kinderwagen, und vor dem Haus gibt es eine kleine ungepflegte Rasenfläche mit einem baufälligen Gartenzaun.

Als ich anklopfe, reißt meine Freundin Ísey die Tür auf, ein breites Lächeln im Gesicht. Sie trägt einen grünen Rock und hat jetzt kurze Haare, die sie mit einem roten Haarband zurückhält.

Sie umarmt mich und zieht mich in die Wohnung.

»Ich hab mich den ganzen Sommer drauf gefreut, dass du in die Stadt kommst!«, jubelt sie.

Ein Baby sitzt auf dem Boden auf einer Decke und schlägt zwei Bauklötze gegeneinander. Ísey schnappt sich das Kind und eilt zu mir. Die Kleine ist knatschig, weil sie die Bauklötze loslassen musste. Ihre Mutter zieht ihr den Schnuller aus dem Mund, drückt ihr einen Kuss auf die nasse Wange und stellt uns vor. An dem Schnuller hängt ein Sabberstreifen.

»Darf ich dir Þorgerður vorstellen?«, sagt sie. »Þorgerður, das ist Hekla, meine beste Freundin.«

Sie reicht mir das Kind, das seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

Die Kleine windet sich auf meinem Arm und prustet mich an.

Ísey nimmt sie mir wieder ab und setzt sie auf die Decke zurück, umarmt mich erneut und möchte mir die Wohnung zeigen.

»Ich bin so froh, dich zu sehen, Hekla! Du musst mir unbedingt erzählen, was du gerade liest! Ich komme gar nicht mehr zum Lesen … ich sehne mich so danach. Wenn ich Glück hab, schaffe ich vor dem Einschlafen zwei Gedichte. Ich habe jetzt einen Ausweis für die Bücherei in der Þingholtsstræti, aber wer soll auf das Kind aufpassen, während ich Bücher hole?«

Die Kleine hat das Interesse an den Bauklötzen verloren und robbt von der Decke. Sie klammert sich an eine Stehlampe und versucht aufzustehen, die Lampe wackelt, Ísey packt ihre Tochter und steckt ihr den Schnuller in den Mund, woraufhin die Kleine ihn sofort wieder ausspuckt.

»Es ist wahnsinnig anstrengend, allein mit einem kleinen Kind, Hekla! Wir sind die ganze Woche zusammen, den ganzen Tag und nachts auch, während Lýður im Osten beim Brückenbau arbeitet. Ich wusste nicht, wie wundervoll es ist, Mutter zu sein. Ein Baby zu bekommen, war die beste Erfahrung meines Lebens. Ich bin so glücklich. Mir fehlt es an nichts. Deine Briefe haben mir das Leben gerettet. Ich bin so einsam. Manchmal hab ich das Gefühl, ich wär eine schlechte Mutter. Wenn Þorgerður meine Aufmerksamkeit einfordert und ich mit den Gedanken ganz woanders bin. Ich hab solche Angst, dass ihr etwas zustößt. Ein Kind darf man nie aus den Augen lassen, noch nicht mal beim Windelnzusammenlegen. Sonst steckt sie sich noch irgendwas in den Mund. Die schönste Zeit am Tag ist morgens, wenn Þorgerður draußen im Kinderwagen schläft und ich mir einen Kaffee mache und die Tíminn lese. Ich sage mir jeden Tag aus dem Kaffeesatz die Zukunft voraus. Es sind keine Todesfälle in Sicht. Ich freue mich so darauf, wenn Þorgerður ins Teenageralter kommt und wir uns über Bücher unterhalten können. So wie wir beide früher. Aber bis dahin sind es noch zwölf Jahre. Þorgerður war erkältet und quengelig und schläft bei mir im Bett, aber wenn Lýður am Wochenende nach Hause kommt, besteht er darauf, dass sie in ihrem eigenen Bett schläft. Dann legen wir Ellý Vilhjálms auf und tanzen. Er denkt darüber nach, den Job beim Straßenbauamt zu kündigen. Wir sparen für eine Anzahlung für ein Grundstück am Stadtrand in Sogamýri. Lýður wünscht sich eine Garage, damit er eine eigene Polsterei oder eine Rahmenwerkstatt aufbauen kann. Er sagt, wenn man Vögel ausstopft, kann man auch eine Stange Geld verdienen. Oder er kriegt Arbeit in der Zementfabrik, dann ziehen wir rauf nach Akranes. Letzten Monat ist eine neue Familie in die Kellerwohnung nebenan eingezogen. Lýður hat ihnen geholfen, einen Sekretär reinzutragen. Sie hatten nicht viele Möbel. Die Frau hab ich beim Einzug nur ganz kurz gesehen. Sie scheint in unserem Alter zu sein, sie haben vier Kinder. Das Jüngste und meine Þorgerður sind ungefähr gleich alt. Der Einzug ist schon fünf Wochen her, und am Wohnzimmerfenster hängen immer noch keine Gardinen. Letzte Nacht bin ich wach geworden, hab mich mit einem Glas Milch ans Küchenfenster gestellt und in die Dunkelheit geschaut, und da bemerkte ich, dass die Frau auch an ihrem Küchenfenster stand und in die Dunkelheit starrte. Sie wirkte ziemlich bedrückt. Ich sah mein eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe, und die Frau spiegelte sich auch in ihrer Fensterscheibe, zwei schlaflose Frauen, und für einen kurzen Moment verschmolzen unsere Spiegelbilder, und es kam mir so vor, als stünde sie in meiner und ich in ihrer Küche – ganz schön albern von mir, oder? Der einzige Mensch, mit dem ich tagsüber rede, ist der Fischhändler. Wobei das zwei sind, also Zwillinge, die sich bei der Arbeit abwechseln. Das ist mir gestern erst klargeworden, als beide gleichzeitig im Laden waren und nebeneinanderstanden. Sie sind kaum auseinanderzuhalten. Da begriff ich plötzlich, warum der Fischhändler manchmal mit mir schäkert und mich Liebchen nennt und manchmal nicht – weil es zwei verschiedene sind! Sie wickeln den Fisch immer in Zeitungspapier ein, ins Morgunblaðið, und ich sage jedes Mal zu dem, der mich gerade bedient: ›Bitte keine Nachrufe oder Todesanzeigen, geben Sie mir lieber ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte!‹ Als ich gestern nach Hause kam, hab ich den Schellfisch ganz vorsichtig über dem Spülbecken ausgewickelt, die innerste Lage Papier war klatschnass und kaum lesbar, aber auf der nächsten Seite standen zwei Gedichte von einem der Lyriker, die den ganzen Tag im Mokka sitzen. Ach, entschuldige, dass ich so viel rede … Wirst du ins Mokka und zum Laugavegur 11 gehen und dich zu den Schriftstellern setzen? Ich bin schon mal mit dem Kinderwagen dort vorbeigegangen und hab gesehen, wie sie sich aus einem Flachmann, der in einer braunen Papiertüte steckte, Schnaps in den Kaffee gossen. Die Bedienungen tun so, als würden sie’s nicht sehen. Was wohl passieren würde, wenn ich mit Þorgerður auf dem Arm in ein verqualmtes Café gehen und mir einen Kaffee bestellen würde? Oder mit dem Kinderwagen in eine Abstrakte-Kunst-Ausstellung im Nationalmuseum?«

»Versuch’s doch mal!«

Sie schüttelt den Kopf.

»Du trägst Hosen und gehst deinen eigenen Weg, Hekla.«

Das Baby ist müde und schmiegt den Kopf an Íseys Schulter, und sie trägt es ein paarmal hin und her. Dann sagt sie, ich solle mich ein bisschen umschauen, während sie ihre Tochter schlafen legt.

Das ist schnell getan.

In dem kleinen Wohnzimmer stehen nicht viele Möbel, ein grünes Plüschsofa und an der Wand eine Anrichte mit einem Häkeldeckchen und drei Fotografien in vergoldeten Rahmen: ein Hochzeitsfoto von Ísey mit hochtoupierten Haaren, ein Baby-Foto und ein Bild von uns beiden. Ich beuge mich vor und inspiziere es. Wir stehen lächelnd vor der aufgeschichteten Steinmauer eines Schafsammelpferchs, ich in Latzhose, Islandpullover und den Anglerstiefeln meines Bruders Örn, die mir drei Nummern zu groß sind, gerade zurück vom Eintreiben in der Schlucht, wo ich den ganzen Tag zwei Lämmern hinterhergejagt bin. Meine Freundin hatte nicht mitgemacht beim Schafabtrieb, sondern den Frauen im Verpflegungszelt geholfen, Fladenbrote zu schmieren, Schmalzgebäck zu braten und in einem Dreißig-Liter-Topf Kakao zu kochen. Sie hat braune Locken, trägt einen Rock und eine Strickjacke und legt den Kopf auf meine Schulter. Wer hat das Bild noch mal geknipst, war das Jón John?

Nach einer Weile kommt Ísey mit schläfrigen Augen zurück und zieht leise die Tür hinter sich zu. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie dasselbe Wiegenlied gesungen, das laut einer alten Sage einst eine Mutter ihrem Kind vorsang, bevor sie es in den Wasserfall warf. Sie beteuert noch einmal, wie froh sie sei, mich zu sehen, stellt sich neben mich vor die Anrichte und betrachtet forschend das Foto von uns beiden, als würde sie sich fragen, wer diese Mädchen seien. Das Foto ist zwei Jahre alt.

»Den Rock hab ich nach einem Bild aus einer Zeitung selbst genäht«, sagt sie schließlich nachdenklich. »Jón John hat mir mit dem Schnittmuster geholfen.«

Dann macht sie dasselbe mit dem Hochzeitsfoto: Sie nimmt es in die Hand und mustert es ausgiebig.

»Es fühlt sich seltsam an. Das soll ich sein? Eine verheiratete Frau in Reykjavík mit einem Kind. Lýður war doch noch ein Junge, als er mit dem Arbeitstrupp nach Dalir kam, um die Stromleitung zu legen und eine Reihe von Masten aufzustellen. Sie wohnten in Arbeiterbaracken, er hatte einen Reiseplattenspieler dabei und legte die Shadows auf, seine Stimme war so schön, dass ich ganz weiche Knie bekam, egal, was er sagte, und jetzt ist er Ehemann und Vater. Schon komisch, sich vorzustellen, dass Lýður der Letzte sein wird.«

Ich versuche, mir Lýðurs Stimme ins Gedächtnis zu rufen, aber ich kann mich an nichts von dem erinnern, was er gesagt hat. Wenn wir uns treffen, redet Ísey, und er ist meistens still.

An den Wänden hängen zwei große Gemälde, die nicht zu der spartanischen Einrichtung passen, eins von einem moosbewachsenen Lavafeld und einem funkelnden See in einer Felsschlucht, das andere von einem schroffen Berg.

»Kjarval?«, frage ich.

»Ja, von meiner Schwiegermutter.«