Miss McMurray rechnet mit dem Schlimmsten - Jo Cunningham - E-Book
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Miss McMurray rechnet mit dem Schlimmsten E-Book

Jo Cunningham

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Beschreibung

Der erste Fall für Hobbydetektivin Una McMurray

Una McMurray arbeitet bei einer Lebensversicherung und kann mit Zahlen mehr anfangen als mit Menschen. Dass die Menge der Todesfälle in britischen Küstenorten gravierend von ihrer Statistik abweicht, ist ihr unbegreiflich. Bei einem Besuch im beschaulichen Eastbourne, dem Heimatort ihrer Mutter, stößt Una gleich auf zwei eigentümliche Vorfälle: Eine ältere Dame wurde von einem Blumenkorb erschlagen, und ein Rentner starb nach der Kollision mit einem Einkaufswagen. Zu Unas Entsetzen waren beide Opfer mit Ken befreundet, dem neuen Mann an der Seite ihrer Mutter. Sie beschließt, Ken und die rätselhaften Vorfälle in Eastbourne genau unter die Lupe zu nehmen ...

Ein großartiges Cosy-Crime-Debüt mit unvergesslicher Heldin und herrlich britischem Humor

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Una McMurray arbeitet bei einer Lebensversicherung und kann mit Zahlen mehr anfangen als mit Menschen. Dass die Anzahl der Todesfälle in britischen Küstenorten gravierend von ihrer Statistik abweicht, ist ihr unbegreiflich. Bei einem Besuch im beschaulichen Eastbourne, dem Heimatort ihrer Mutter, stößt Una gleich auf zwei eigentümliche Vorfälle: Eine ältere Dame wurde von einem Blumenkorb erschlagen, und ein Rentner starb nach der Kollision mit einem Einkaufswagen. Zu Unas Entsetzen waren beide Opfer mit Ken befreundet, dem neuen Mann an der Seite ihrer Mutter. Sie beschließt, Ken und die rätselhaften Vorfälle in Eastbourne genau unter die Lupe zu nehmen …

Autorin

Jo Cunningham ist in Birkenhead, im Nordwesten Englands, aufgewachsen und lebt inzwischen in London. Sie hat Kreatives Schreiben studiert und verfasst neben Romanen auch Comedy fürs Radio. Jo löst gerne Kreuzworträtsel, schaut Krimiserien oder lernt neue Dinge, die sie nie wieder brauchen wird – zum Beispiel Bühnenkampf oder Buchbinden. »Miss McMurray rechnet mit dem Schlimmsten« ist ihr Romandebüt.

Jo Cunningham

Miss McMurray rechnet mit dem Schlimmsten

Roman

Aus dem Englischen

von Ruggero Leò

Die englische Originalausgabe erscheint 2024 unter dem Titel »Death by Numbers« bei Constable.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2024

Copyright © 2024 by Jo Cunningham

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: © FinePic®, München

Redaktion: Beate De Salve

LS · Herstellung: ik

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-31288-6V001

www.goldmann-verlag.de

1

Das Leben in einer Lebensversicherung

Die Zahlen waren da. Die Zahlen zur Statistik, die die Todesursachen in Küstenorten vorhersagte. Die üblichen Verdächtigen – Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt – wiesen zutreffende Werte auf, das war immerhin ein Trost. Allerdings hatte Una die Anzahl der Unfälle unterschätzt: ein Missgeschick mit einem Einkaufswagen, eine Eselsstampede und eine Blumenampel (Begonien), die nicht länger an ihrem Haken hing.

Sie schaute zu der LED-Lampe direkt über ihr, dann auf ihren Bildschirm und wieder zur Decke. Die Lampe hing noch. Der sechste Stock der Katapult Insurance war nach wie vor ein risikoarmes Arbeitsumfeld. Es war vielmehr ihre Karriere, die in Gefahr war. An diesem Freitag war bis 17:29 Uhr alles innerhalb der Standardparameter verlaufen, doch dann war eine E-Mail von der internen Revisionsabteilung eingetroffen. Zwischen der Anzahl tödlicher Unfälle, die Una prognostiziert hatte, und der Anzahl tatsächlich eingetretener Unfälle bestand eine winzige Diskrepanz. Dabei hatte ihr dieses Projekt die Beförderung zur Teamleiterin einbringen sollen. Normalerweise musste sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob ihre Berechnungen korrekt waren.

Unas Kollegen zogen bereits die Reißverschlüsse ihrer Rucksäcke zu und drückten zum letzten Mal in dieser Woche Strg-Alt-Entf. Sie wollte nicht das ganze Wochenende über die E-Mail nachgrübeln, und Ajay saß noch in seiner Glaskabine, einer von vieren in den Ecken des Großraumbüros. Also nahm sie ihren Lieblingskugelschreiber und ließ ihn immer wieder klicken, während sie zu ihm hinüberging.

Ajay stand an seinem höhenverstellbaren Schreibtisch, sein Headset ruhte auf seinen ergrauenden Schläfen, und er musterte den Bildschirm, als handele es sich um einen Kollegen aus Fleisch und Blut. Als er sie bemerkte, winkte er sie herein und klappte das Headset-Mikrofon hoch.

»Hi, Una, wie läuft’s?«, fragte er.

»Ganz gut«, erwiderte sie und klickte unablässig mit dem Kugelschreiber, während sie ihm gegenüberstand. Es kam ihr falsch vor, sich auf den Stuhl vor seinem Stehtisch zu setzen. »Hast du mal ein paar Minuten?«

Er musterte ihr Gesicht, als läse er eine Power-Point-Präsentation Korrektur. »Klar. Ich wollte dich sowieso über ein paar Dinge auf den neusten Stand bringen. Schieß los.«

»Es geht um die Küstenort-Zahlen. Ich muss die Unfälle mit Todesfolge noch mal prüfen. Sie weisen eine winzige Diskrepanz zu den aktuellen Dreimonatsprognosen auf, die auf den Kundenangaben basieren. Du weißt ja, wie die interne Revisionsabteilung sein kann. Ich mache Überstunden, um das zu bereinigen.«

»Ja, ich hab die Mail gelesen.« Ajay zupfte sich am rechten Ohrläppchen. »Jetzt hör mir mal zu. Ich finde, das sollte jemand prüfen, der weniger betriebsblind ist. Daher hab ich die Sache Tim übertragen.«

Una umklammerte krampfhaft ihren Kugelschreiber. Das war ein Desaster! Ausgerechnet Tim! Bereits seit sie vor fünfzehn Jahren gemeinsam am Graduiertenprogramm teilgenommen hatten, stand sie in seinem Schatten. Er war der einzige Mitbewerber in der Firma, der die nötige Erfahrung für die Teamleitung mitbrachte. Und ihr Boss Ajay würde in seiner Funktion als Abteilungsleiter die Personalentscheidung treffen.

»Ich glaube, es wäre besser, wenn der Fall bei der bisherigen Sachbearbeiterin bleibt«, erwiderte sie mitten im Klick. »Bei mir.«

»Versteh das nicht falsch«, sagte Ajay. »Deine Arbeit ist immer top – du bist in unserer Abteilung die Expertin dafür, Worst-Case-Szenarien zu erkennen. Aber ich habe dir ja schon mal gesagt, dass du dich manchmal scheust, neue Methoden auszuprobieren, und lieber bei den bewährten bleibst. Ich will nicht die interne Revision im Nacken haben.«

»Aber die Statistik basiert auf meinen Recherchen, und ich will herausfinden, wo der Fehler liegt.« Unas Stimme klang zunehmend höher und weinerlicher. Nicht gerade ein Zeichen von Stärke.

Ajay schob sich die randlose Brille die Nase hoch. »Okay, wie wäre es damit? Ihr könnt gemeinsam recherchieren – als Team. Ich will sowieso, dass Tim mehr mit anderen zusammenarbeitet, und du könntest dabei lernen, wie er die Sache angeht. Ein Dream-Team!«

Una hatte beim Kugelschreiberklicken ihren persönlichen Rekord gebrochen. Alle wussten, wie schrecklich Tim darin war, mit anderen zusammenzuarbeiten. Sie wären kein Dream-Team, sondern ein Albtraumpaar.

»Und noch was«, sagte Ajay. »Du kennst ja sicher die Balanced Scorecard unserer Abteilung und weißt, wie wichtig es ist, dass sich alle auf die damit verbundenen Arbeitsprozesse einlassen und sie respektieren.«

Was war die Balanced Scorecard? Glücklicherweise kannte Una aus einem Webinar für aktives Zuhören diverse Arten des Kopfnickens, und so bedachte sie Ajay mit der Variante für »bitte weiterreden«.

»Mir ist aufgefallen, dass du dieses Jahr noch keinen Urlaub beantragt und fünfzehn Tage vom vorigen Jahr mit rübergenommen hast.«

»Ich hatte in letzter Zeit viele Deadlines.«

»Ich weiß dein Engagement zu schätzen, aber unsere Abteilung steht nur bei 99,5 Prozent, und wir brauchen 100, um im grünen Bereich zu sein. Du weißt, die Geschäftsleitung sieht sich diese Zahlen sehr genau an, und dass du zu wenig Urlaub nimmst, beeinträchtigt deinen Scorecard-Wert.«

Una runzelte die Stirn. »Aber ich komme gern zur Arbeit. Ich verstehe nicht, warum ich dafür bestraft werden soll, dass ich hier erscheine.«

Ajay schwieg, was bedeutete, dass er ihre Haltung für falsch hielt, ihr das aber nicht sagen würde.

Die Wahrheit war, dass Urlaub für sie eine Herausforderung darstellte, seit die meisten ihrer Freunde Kinder hatten. Letztes Jahr hatte sie auf einer Gruppenreise die »Juwelen Italiens« besichtigt, doch die Gruppe hatte Unas Sorge über den steigenden Pegelstand in Venedig nicht zu schätzen gewusst und war auf dem anstrengenden Trip zum Schiefen Turm von Pisa sogar richtig feindselig geworden.

»Okay, gut«, sagte sie. »Ich nehme mir definitiv frei. Bald.«

»Danke. Das wäre dann alles. Hab ein schönes Wochenende.« Ajay griff zu seinem Headset. »Ich hab jetzt einen Telefontermin. Würdest du auf dem Weg hinaus die Tür schließen?«

Una verließ das Büro und stierte auf den feuerfesten roten Teppich. Hatte sie etwa ihr Gespür verloren? War es überhaupt die richtige Arbeit für junge Leute, die Lebenserwartung anderer einzuschätzen? Die Überprüfung der strittigen Zahlen würde sie viele Stunden kosten. Zeit für Kaffee.

Auf dem Weg zur Küchenzeile hörte sie das statische Knistern einer Lycra-Hose. Der Stoff rieb rhythmisch aneinander, als ihr Träger in der Gangmitte an ihr vorbeischritt: der neoliberale Tim, in einem orangefarbenen, einteiligen Radsportoutfit.

»Leute, ich bin dann mal weg«, verkündete er. Auf seiner Legomännchen-ähnlichen Frisur trug er einen locker sitzenden Fahrradhelm. »Habt ein tolles Wochenende. Wollt ihr wissen, was ich morgen mache? Ich rolle in meinem Zorb den Parliament Hill runter. Für einen guten Zweck.«

Seine Ankündigung sorgte nur für verhaltenes Raunen im Team, und er zog die Stirn kraus, während er die Küchenzeile ansteuerte. Una folgte ihm dichtauf und erreichte ihn, als er gerade die Milch einer Kokosnuss in eine Wasserflasche umfüllte.

»Hey, Tim, radelst du nach Hause?« Beiläufig schüttete sie den Inhalt ihrer Tasse in die Spüle. »Ich war übrigens gerade bei Ajay. Wie läuft’s mit den Zahlen der Küstenorte?«

»Interessante Lektüre, diese Unfallberichte«, antwortete er. »Viel Standardkram dabei – ausbüchsende Rasenmäher, durchdrehende Saugroboter –, aber auch ein paar neue Sachen. Ich hatte noch nie einen Fall mit einer Blumenampel.«

»Weißt du, Ajay meint, wir sollten als Team daran arbeiten. Wir können ja vielleicht am Montag mal brainstormen.« Innerlich erschauderte sie. Brainstorming ermutigte die Leute dazu, spontan dumme Ideen auszuspucken, statt vorher darüber nachzudenken und sie zu verwerfen. Allerdings wäre das eine gute Gelegenheit herauszufinden, ob Tim bereits etwas Nützliches entdeckt hatte.

Er richtete sich zu voller Größe auf. »Nein, danke. Ich bin ein Tim-Player, kein Team-Player.«

Una schob den Spülschwamm in ihre Tasse und scheuerte sie kraftvoll. »Na gut. Absolut kein Problem.«

»Hör zu, Una, deine ursprüngliche Analyse weist keinen signifikanten Fehler auf. Sie ist solide und kompetent erstellt. Aber machen wir uns nichts vor, du bist nicht gerade dafür bekannt, innovativ oder mutig zu sein. Nimm das nicht persönlich. Ich wurde nur hinzugezogen, um das Ganze einen Gang höher zu schalten. Ich zeig dir gern, was ich herausgefunden habe, sobald ich fertig bin.«

Am Getränkeautomaten drückte Una mit dem Zeigefinger auf die Taste für entkoffeinierten Espresso. Den Knopf drückte sie jeden Tag auf exakt dieselbe Weise. Dann wählte sie die Option für die doppelte Menge. So – das war innovativ und mutig.

»Schön. Ich verfolge sowieso einen eigenen Ansatz – etwas Neues.«

»Echt? Klingt interessant. Erzähl mir mehr«, bat Tim.

»Ich arbeite noch daran.«

»Null Problemo, wir sehen uns am Montag. Und freu dich, zumindest haben wir es nicht mit Haustierversicherungen zu tun.« Er nippte an seiner Flasche und sprintete dann zu den Aufzügen.

Una kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Sie konnte Tim nicht mehr über ihren neuen Ansatz verraten, weil sie keinen hatte. Sie wandte nur ihre vielfach erprobten Methoden an, genau wie Ajay gesagt hatte.

Also begann sie noch einmal von vorn und überprüfte sämtliche Faktoren, die sie zur Vorhersage der Todesursachen aus den Kundendaten genutzt hatte: Alter, Geschlecht, Familienstand und Einkommensniveau. Dann ging sie zu den gesundheitlichen Faktoren über: Rauchen, Alkoholkonsum, Ernährung und Umfang der körperlichen Betätigung. Nach zwanzig Minuten war sie so sehr auf ihren Bildschirm konzentriert, dass sich die bewegungsgesteuerte Deckenbeleuchtung abschaltete und sie aufstehen und winken musste, damit das Licht wieder anging. Eine Gestalt in ihrer Nähe ließ sie zusammenschrecken, und als sie sich ihr zuwandte, blickte sie auf ihre eigene Reflexion im Fenster. Ihr Spiegelbild sah verängstigter aus, als sie sich fühlte.

Allein im Büro über den Computer gebeugt, versorgt mit Kaffee und einer kleinen Packung Rosinen mit Joghurtglasur aus dem Automaten, fragte sich Una, ob sie genug unternahm, um ihre eigene Lebenserwartung zu maximieren. An diesem Morgen hatte sie einen Artikel gelesen, demzufolge ein gutes Maß an sozialer Einbindung das Leben um 2,1 Jahre verlängern konnte. Die meisten Kollegen aus dem sechsten Stock waren zu Naomis Abschiedsfeier gegangen. Im Dog and Bucket würde es laut sein, die Leute würden sich bis auf den Bordstein drängen, und sie hätte Mühe, jemanden zu verstehen. Trotzdem hätte sie vielleicht hingehen sollen, um sich von Naomi zu verabschieden, statt hier zu sitzen, wo ihr nur das Summen der Klimaanlage Gesellschaft leistete.

Ihr Telefon piepte leise – eine SMS von einer unbekannten Nummer.

Hast du das mitbekommen una? ken hat mir ein smartphone geschenkt xx

Ihr Telefon klingelte, diesmal eine bekannte Nummer.

»Hi, Mum.«

Ihre Mutter hockte sicher auf dem Klappstuhl im Flur, am Festnetzanschluss ihrer Wohnung in Eastbourne, in der sie lebte, seit Una damals mit dem Studium begonnen hatte.

»Hast du meine SMS bekommen?«, fragte ihre Mum.

»Ja.«

»Meine allererste SMS! Ken hat mir ein Smartphone geschenkt. Ein Apple-Gerät.«

»Wirklich?«, fragte Una. »In letzter Zeit scheint er mit dem Geld nur so um sich zu werfen.«

Ihre Mutter war in den vergangenen sechs Monaten oft mit diesem Ken »ausgegangen«. Er wohnte in ihrer Nähe, hatte einen Breitbildfernseher und einen Ventolin-Inhalator. Ken war wirklich großzügig – Una musste unbedingt seine Kreditwürdigkeit überprüfen.

»Ich wollte nur wissen, ob du dieses Wochenende Zeit hast und vorbeikommen willst. Das wäre gut, denn bei mir gibt es ein paar Neuigkeiten, von denen ich dir erzählen möchte.«

Una knabberte an einer Rosine. Sie hatte vor, sich am Wochenende im System einzuloggen, um die Statistik in Ordnung zu bringen. Bis auf ihren Spinning-Kurs und ihr monatliches Telefonat mit Amara am Sonntag hatte sie nichts geplant. Sie hatte überlegt, die Fotoausstellung im Naturkundemuseum zu besuchen, wollte aber nicht allein hingehen.

»Mal schauen. Auf der Arbeit gibt es ein paar dringende Dinge, um die ich mich am Wochenende kümmern muss.«

»Überleg’s dir, wir würden uns freuen, dich zu sehen. Du musst morgen nicht zum Bingo mitkommen, wenn du nicht willst, und wir gehen zum Grab deines Vaters, aber ich verstehe, wenn du dich noch nicht danach fühlst.«

»Hör zu, Mum. Wie gesagt, im Moment hab ich viel zu tun.«

»Das ist okay. Ich weiß, dass dir dein Job wichtig ist.«

Im Hinblick auf ihre Beförderung hatte es für Una oberste Priorität, die Zahlen der Küstenort-Statistik zu bereinigen, doch gab es auch noch andere Zahlen, die sie im Stich ließen. Anzahl der Besuche am Grab ihres Vaters: 0. Anzahl der Besuche bei ihrer Mutter, die sie seit dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren wegen Wochenendarbeit abgesagt hatte: 3. Statistisch gesehen war sie eine unterdurchschnittlich gute Tochter, und das ließe sich ändern, indem sie ihre Mum an diesem Wochenende besuchte. Außerdem könnte sie angesichts der merkwürdigen Unfälle am Meer vor Ort eine schnelle Risikobewertung vornehmen. Falls Eastbourne ein Gefahrenherd war, könnte sie ihrer Mum vorschlagen, an einen sichereren Ort zu ziehen. Fort von dem schrecklichen Ken.

Sie seufzte. »Weißt du, was? Ich kann auch bei dir arbeiten. Ich nehme den Zug morgen früh.«

»Großartig! Ich bin den ganzen Vormittag da. Möchtest du etwas Bestimmtes essen? Ansonsten habe ich einige Fertiggerichte im Gefrierschrank.«

»Ich arbeite jetzt besser mal weiter. – Moment mal, was sind das für Neuigkeiten, die du erwähnt hast?«

»Das erzähle ich dir, wenn du hier bist. Kein Grund zur Sorge.«

Ein Satz, der bei Una nur den gegenteiligen Effekt erzielte.

»Okay, tschüss, Mum.«

Una packte ihren Laptop ein und steuerte den Aufzug an. Auf dem Weg hinaus kam sie an Tims Schreibtisch vorbei. Auf einem schmuddeligen Exemplar von The Fountainhead thronte die Plexiglas-Trophäe, die er bei der Auszeichnung zum Nachwuchs-Aktuar des Jahres (London und SE) 2009 gewonnen hatte. Nun, das war die Vergangenheit. Jetzt würde sie, Una McMurray, die zweimal in die engere Auswahl für den Titel Nachwuchs-Aktuarin des Jahres (London and SE) gekommen war, diese Statistik vor Tim bereinigen … und wenn es das Vorletzte wäre, was sie je täte.

2

Das Geschenk für die Aktuarin, die alles hat

Es ist kein Zufall, dass der Begriff für eine Gruppe von Möwen »Shitstorm« lautet. Una hatte an diesem Morgen aufs Ausschlafen verzichtet, um sich auf die Reise ins möwenverseuchte Eastbourne vorzubereiten. Zwar hatte es noch keine Todesfälle durch Möwenangriffe gegeben, aber sie wollte auch nicht das erste Opfer sein. Eine verspiegelte Fliegerbrille schützte ihre Augen – für den Fall, dass eine Möwe sie angriff, würde sie in den Gläsern eine Artgenossin sehen und wieder abdrehen. Außerdem trug Una eine wasserdichte Jacke, um sich vor Attacken von oben zu schützen. So gewappnet machte sie sich zuversichtlich auf den zwanzigminütigen Weg vom Bahnhof Eastbourne zur Wohnung ihrer Mutter.

Es war ein ungewöhnlich sonniger Januarmorgen, doch das ging in Ordnung, denn sie hatte reichlich Creme mit Lichtschutzfaktor 50 aufgetragen. Sie passierte das laute, aber möwenfreie Einkaufszentrum und betrat ein Labyrinth aus gepflegten Reihenhäusern und schmucken Pensionen, bevor sie Morningview Mansions erreichte, einen kleinen Wohnblock aus den 1950er-Jahren in einer der Seitenstraßen, die zur Küste führten. Sie klingelte und stieg zur Wohnung ihrer Mutter hinauf: zwei Schlafzimmer, zwei Bäder (eines davon en suite) und ein Wohn-Ess-Zimmer. Wenn man sich eng an den Kühlschrank drückte, konnte man sogar das Meer sehen.

»Schau dich nur an, du siehst gut aus«, sagte ihre Mum und zog sie in eine Umarmung. »Stell deine Tasche da ab und setz dich. Du kannst deine Sonnenbrille abnehmen, hier drinnen gibt es keine Möwen.«

Una nahm in dem gepolsterten Sessel Platz, und ihre Mum stellte eine dampfende Tasse Tee vor ihr auf den gläsernen Couchtisch (Glas!), bevor sie ihre eigene Tasse auf der Armlehne des Sofas gegenüber platzierte.

»So, bitte sehr. Eine schöne Tasse Tee für dich«, sagte sie, und das frisch gefärbte Haar glitzerte im Sonnenlicht.

Ihre Mum trug ein türkisfarbenes Leinenkleid und eine Kette mit großen orangen Perlen, die hoffnungsvoll auf und ab wippten. Ihr Aussehen hatte sich in den letzten sechs Monaten gewandelt. Das musste an Kens Einfluss liegen.

Una entdeckte diesen »Einfluss« auch im Zimmer.

»Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf den Kaminsims.

Ihre Mum strahlte. »Das ist ein Amazon-Echo, eins von Kens Weihnachtsgeschenken. Er verwöhnt mich immer. Da fällt mir ein, er hat auch ein Geschenk für dich dagelassen.«

Sie öffnete den Schrank in Teakholzoptik, der eine auffällige, aber akzeptable Neigung aufwies – sie hatten letztes Jahr einen anstrengenden Nachmittag damit verbracht, ihn zusammenzubauen, und dabei weniger Wert auf Detailarbeit gelegt als ihr Dad früher. Sie nahm ein Päckchen heraus und legte es Una auf den Schoß.

Vorsichtig entfernte Una das Geschenkpapier und hielt ein mittelgroßes Fernglas in Händen. »Danke, Mum.«

»Danke nicht mir, sondern Ken, das war seine Idee. Er hat im Internet etwas über Leute gelesen, die in der Stadt Vögel beobachten – Urban Birding nennt man das wohl –, und dabei an dich gedacht. ›Ich besorge ihr ein Fernglas‹, hat er gemeint. Und jetzt hast du eins.«

»Aber ich hatte nie Interesse daran, Vögel in der Stadt zu beobachten, geschweige denn woanders.«

An der Haustür rasselte ein Schlüsselbund, dann lugte ein Kopf durch die Tür.

»Hiya!«, sagte Ken, dessen Körper nun nachrückte. Er trug Adidas-Turnschuhe, Jeans, eine schwarze Lederjacke und um den Hals ein gestreiftes Tuch.

»Er hat sich neu eingekleidet«, erklärte Unas Mum. »Bei Debenhams.«

»Macht mich um Jahre jünger.« Ken näherte sich Una und machte Anstalten, sie an sich zu drücken, doch sie verschränkte rasch die Arme vor der Brust, und so entschied er sich für ein herzliches Schulterklopfen. »Wie geht es dir, liebe Una?«

»Ganz gut«, erwiderte sie, während Ken zu ihrer Mum ging und sie auf die Wange küsste. Una vermied den Anblick, indem sie auf die Teetasse ihrer Mum stierte. War die Tasse durch eine uralte, geheimnisvolle Mechanik zur Kante der Sofalehne vorgerückt wie eine Moai-Skulptur zur Küste der Osterinsel?

Ken machte sich auf dem Sofa breit. »Hey, Una, ich zeig dir mal unser neuestes Spielzeug. Jeanette, wie ist das Wetter?«

»Jeanette?«, fragte Una.

»So nennen wir unser …«, begann Ken, doch er wurde unterbrochen.

»Die Temperatur beträgt derzeit zehn Grad Celsius und sinkt zum Abend auf sechs Grad«, erklang eine Stimme vom Kaminsims. »Es wird einige sonnige Abschnitte geben, aber am späten Nachmittag zieht sich die Wolkendecke zu.«

»Das ist unglaublich, sie kennt auch das Fernsehprogramm«, sagte Ken.

»Also … ihr bräuchtet doch bloß aus dem Fenster zu schauen, um das Wetter zu überprüfen«, meinte Una.

»Hast du nicht so ein Ding?«, fragte Ken. »Ich dachte, ihr von der Generation Y wärt ganz begeistert davon. Mein Anton hat mir eins besorgt. Du wirst ihn noch früh genug kennenlernen. Und weißt du, was? Ich glaube, du wirst dich bestens mit ihm verstehen.«

Allein aufgrund dieser Bemerkung freute sich Una nicht darauf, Anton kennenzulernen.

»Ich gehöre nicht zur Generation Y. Und nein, ich habe keins.«

Ein Gerät, das bösartige Mächte hacken könnten, um angeschlossene Geräte in ihrer Wohnung fernzusteuern? Was wäre, wenn sie aufwachen und feststellen würde, dass ihr Staubsauger sie attackierte und mit einem der unangenehmeren Aufsätze an ihr saugte? Oder wenn der Wasserkocher sich einschaltete, obwohl er kaum Wasser enthielt? Nein, völlig undenkbar, eines dieser modernen Ungeheuer in ihre Wohnung zu lassen. Aber den Gedanken sollte sie für ein zukünftiges Projekt festhalten – eine Risikobewertung von Smarthome-Geräten.

»Danke, Jeanette.«

»Gerne geschehen.«

Ken kicherte. »Sie hat gute Manieren, unsere Jeanette.«

»Ich finde, sie ist ein schönes Geschenk.« Ihre Mum drückte Kens Hand.

Una beobachtete die Zuneigungsbekundung mit einer gewissen Distanz. Ken war ausgerechnet dann in Mums Leben getreten, als sie sich allmählich mit Dads Tod arrangiert hatte. Warum hatte sie nicht allein bleiben können, so wie Una? Das Singledasein war prima – zu 95 Prozent.

»Hast du Ken etwas zu sagen, Una?«

Ihre Mum verstand sich gut darauf, Una mit einem einzigen Satz in ihre Kindheit zurückzuversetzen.

»Danke für das Fernglas, Ken.«

»Sehr gern geschehen. Ich kaufe gern Geschenke für andere. Weißt du, was? Ich sollte mal mit dir shoppen gehen.« Ken setzte den Becher, den ihre Mum ihm gereicht hatte, lautstark ab. »Dir ein paar neue Kleider kaufen. Zu deinem Teint passen kräftige Farben. Ein Wintertyp, meiner Meinung nach.«

»Ich brauche keine neuen Sachen.« Una fragte sich, wie Ken seine Geschenkorgie wohl finanzierte.

»Ich mein ja nur, dass du oft ähnliche Kleidung trägst«, fuhr er fort. »Ich fürchte, du bist modisch ein bisschen festgefahren. Nimm’s nicht persönlich, Una. So bin ich eben. Ich sag alles freiheraus.«

»Ich mag es, jeden Tag ähnliche Kleidung zu tragen. Dann muss ich mir darüber keine Gedanken machen.«

Den Tipp hatte sie in einem Chatroom von Women in Statistics aufgeschnappt.

»Tja, heute Abend musst du dich jedenfalls in Schale schmeißen. Wir gehen ins Vereinshaus, wenn du Lust hast«, sagte Ken.

Das lokale Vereinshaus. Ein Ort, an dem Aquarelle gemalt, Bridge gespielt und Brasilianisches Jiu-Jitsu trainiert wurde, was einen hohen Prozentsatz älterer Menschen anlockte. Das war der letzte Ort, den sie aufsuchen wollte. Stattdessen würde sie zu Hause bleiben und mit der Prüfung der Daten fortfahren. Bislang hatte ihre Revision nur ergeben, dass ihre ursprünglichen Ergebnisse korrekt waren. Sie musste irgendetwas übersehen haben, etwas Subtiles, das die Zahlen verfälschte.

»Ich glaube, das lasse ich heute Abend lieber«, antwortete sie. »Ich muss mich vielleicht eine Weile auf der Arbeit einloggen, ein paar dringende Statistiken durchsehen.«

»Niemand hat sich je am Ende seines Lebens gewünscht, mehr gearbeitet zu haben.« Ken trank einen Schluck Tee und schmatzte kurz.

Una teilte seine Ansicht. Sie würde gar nichts zu bedauern haben, da sie früher kam und später ging als ihre Kollegen. Und welche Alternative gab es schon zur Arbeit? Sudoku? Badminton? Die Gesellschaft anderer Leute? Vielleicht sollte sie sich ein bisschen öfter auf den Veranstaltungen von Women in Statistics blicken lassen.

»Tut mir leid, es geht um ein Projekt, das für meine Karriere wirklich wichtig ist.«

»Ist schon in Ordnung, Ken. Sie ist sehr engagiert, was ihre Arbeit betrifft«, sagte ihre Mum. »Das war sie schon immer.«

Unas Magen verkrampfte sich. Sie war dieses Wochenende hergekommen, um ein wenig auszugleichen, dass sie sich in den letzten zwei Jahren zu sehr auf die Arbeit konzentriert hatte, und jetzt verfiel sie schon wieder in ihr übliches Muster.

»Wisst ihr, was? Ich komme heute Abend mit«, beschloss sie. »Ich bin heute Morgen im Zug ein gutes Stück vorangekommen. Und ehrlich gesagt ist es vielleicht besser mitzukommen, als hier rumzusitzen und über Blumenampeln nachzudenken.«

»Blumenampeln?« Wehmütig schwenkte Ken den letzten Rest Tee in seiner Tasse. »Die sind nichts für mich. Wenn man einen Korb aufhängt, kann man die Pflanzen nicht richtig sehen. Nein, ich bevorzuge Terrakotta-Töpfe. Willst du dir einen zulegen? Ich könnte dir bei der Pflanzenauswahl helfen, wenn du möchtest. Das würde deine Wohnung aufpeppen. Ich war ja noch nicht bei dir, ich mutmaße nur.«

»Ich beschäftige mich nur wegen der Arbeit damit.«

»Für deinen Job bei der Versicherung?«, fragte ihre Mum.

»Ja, ich muss bewerten, welche Risiken mit solchen Körben verbunden sind. Ich weiß, das klingt lächerlich, aber selbst eine Blumenampel kann gefährlich sein.«

Ken setzte die Tasse klirrend auf dem Tisch ab.

Una zuckte zusammen. »Was ist?«

»Ich wüsste da was – oder auch nicht«, erwiderte er.

»Eine Bekannte von uns hatte kürzlich einen Unfall mit einer Blumenampel.« Ihre Mum fummelte energisch an ihren orangen Perlen herum.

Una beugte sich vor, plötzlich hellwach. Waren das die fehlenden Daten in ihrer Analyse? Sorgten Blumenampeln in Küstenstädten systematisch für Tod und Zerstörung? Lag es an einer fehlerhaften Charge des Herstellers? War ein Rentner-TikTok-Trend aus dem Ruder gelaufen?

»Im Ernst?«, fragte sie. »Das ist ungewöhnlich. Erzählt mir mehr.«

»Sie war eine Freundin von uns«, berichtete Ken. »Eileen. Tragische Geschichte. Sie gehörte zu unserer Bingorunde.«

»Eileen?«

»Ja, Eileen O’Connor«, sagte Unas Mum. »Erst kürzlich, sehr traurig. Sie war Lehrerin an derselben Schule wie John, Jeans Mann. Du kennst doch Jean?«

»Keine Ahnung, wer das ist. Aber Eileen ist gestorben, weil sie von einer Blumenampel erschlagen wurde?«

Ken nickte. »Ein verrückter Unfall, nichts weiter. Kein Grund, sich damit aufzuhalten. So was passiert eben.«

»Ken hat recht«, meinte ihre Mum. »Hoffentlich bleiben wir von so etwas verschont …«

Könnte Eileens Blumenampel-Unfall in die Sterblichkeitsstatistik eingeflossen sein, die Una gerade überprüfte? Eine sehr ungewöhnliche Todesursache. Die Statistik sollte abstrakt, unpersönlich und auf ihre Arbeitszeit beschränkt sein, nicht Teil der Familienkonversation. Trotzdem schien einer der Fälle aus ihrem Datenpool jemanden zu betreffen, den ihre Mum kannte.

Sie suchte mit dem Handy im Internet nach »Tod Eastbourne Blumenampel Eileen«. In der Ergebnisliste tauchte ein Artikel des Eastbourne Enquirer auf:

Eileen O’Connor, eine 76-jährige Geschichtslehrerin im Ruhestand, ist an den Folgen eines tragischen Unfalls gestorben. Am Montag, den 1. Januar, fiel gegen 16:00 Uhr eine Blumenampel auf Frau O’Connor, als sie vor der eigenen Haustür stand. Sie lebte allein in einem Reihenhaus mit zwei Schlafzimmern in der Chamberlayne Road 19 und hatte keine nahen Anverwandten. »Das ist so tragisch«, sagt ihre Nachbarin Rosa Boniface, 39, eine Friseurin, die nebenbei Modedesign studiert. »Ihr Garten war top gepflegt, und sie war eine tolle Nachbarin – nie gab sie einen Mucks von sich.«

»Wir sollten uns fertig machen.« Ken sprang von der Couch auf.

»Auf dem Weg gehen wir kurz am Grab deines Vaters vorbei«, sagte Unas Mum.

»Man muss sich ab und zu darum kümmern, damit es ordentlich bleibt«, fügte Ken hinzu.

»Du darfst uns sehr gern begleiten, aber das ist ganz dir überlassen. Nur wenn du willst.«

Una nippte an ihrem Tee. Nach vier Minuten Abkühlzeit war er zwar noch heiß, stellte aber kein nennenswertes dermatologisches Risiko mehr dar.

Ken verfolgte also die Strategie, sich die Gunst ihrer Mum mit offensichtlichen Gefälligkeiten zu sichern. Una hingegen besuchte das Grab nie.

Jeden Tag auf Sterblichkeitsstatistiken mit aggregierten Zahlen zu schauen, war eine Sache, aber bei Friedhöfen handelte es sich im Wesentlichen um Rohdaten. Zu roh.

Ken und ihre Mum begannen zu packen und umzupacken; sie steckten Zip-Beutel in andere Zip-Beutel, die schließlich in einer Tragetasche für die Fahrt zum Friedhof landeten, wo Ken in einen heiligen Familien-Ort eindringen würde. Einen Ort, den Una eigentlich selbst besuchen sollte.

Allerdings hatte diese überraschende Neuigkeit über Eileen ihre Neugierde geweckt. Sie schaute nach, wo die Chamberlayne Road lag – die Adresse war nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Während ihre Mum und Ken auf dem Friedhof wären, könnte sie sich Eileens Haus ansehen. Vielleicht würde sie einen zusätzlichen Faktor entdecken, der den Aufwärtstrend bei den tödlichen Unfällen in Küstenorten erklärte, oder zumindest den Vorfall mit der Blumenampel – marodes Mauerwerk, Erschütterungen durch eine nahe gelegene Bahnlinie, überambitionierte Bepflanzung. Ein lächerlicher Ansatz für eine so kleine Gruppe von Menschen, die auf so unterschiedliche Weise zu Tode gekommen waren, aber wenn Una eine Verbindung herstellte, auf die sonst niemand kam, würde das vielleicht das Managementteam beeindrucken.

Sich vor Ort selbst umzusehen wäre innovativ und gewagt. Unorthodox. Es fühlte sich übergriffig an, die Datenabweichung als echte Person zu betrachten. Aber das ging schon in Ordnung, schließlich war es ja nicht so, als ob sie Eileen gekannt hätte. Sie würde sich einfach wie ein Profi verhalten, ein neutraler Beobachter, der weitere Daten sammelte, um sie statistisch zu analysieren.

Dad hätte das verstanden. Er hätte gewollt, dass sie eine erfolgreiche Aktuarin wird. Nun, er hätte vermutlich gesagt, sie solle tun, was sie glücklich macht, weil das Leben kurz sei. Im Grunde konnte das Leben nur im Vergleich zur durchschnittlichen Lebenserwartung kurz sein. Und ein beruflicher Erfolg würde sie nach all den Jahren der aufopferungsvollen Hingabe doch bestimmt glücklich machen?

Falls das Leben an der Küste Risiken barg, sollte sie der Sache auf den Grund gehen, schon ihrer Mum zuliebe. Das hätte Dad sicher gutgeheißen; er hatte ihr ein gesundes Verständnis für die Gefahren des Alltags vermittelt.

Sie schnappte sich das Fernglas, hängte es sich um den Hals, ging zum Tisch im Flur und nahm ihren Mantel auf. Ken stand an der Eingangstür und schaute auf sein Handy.

»Ich glaube, du hast recht, Ken«, sagte sie. »Ich gehe an die frische Luft, statt mich auf der Arbeit einzuloggen. Mum, ich nehme mein neues Fernglas mit und widme mich meinem neuen Hobby: Stadtvögel beobachten.«

»Ich dachte mir, dass es dir gefällt«, erwiderte Ken selbstgefällig.

»Viel Spaß, Liebes, bis später!«, rief ihre Mum, die gerade ein paar Blumen auf dem Sofatisch in Papier einschlug.

»Moment mal«, hakte Una nach. »Was hat es mit den Neuigkeiten auf sich, die du gestern Abend erwähnt hast?«

»Das erzählen wir dir später beim gemeinsamen Tee. Wie ich schon sagte, kein Grund zur Sorge.«

3

Urbane Vogelbeobachtung

Una folgte der Promenade und kam an einer Teestube vorbei, die bis zum Bersten mit älteren Leuten aus Eastbourne gefüllt war. Drinnen gab es keine offensichtlichen Anzeichen von Gefahr. Nur die üblichen Risiken, die mit dem Teetrinken einhergingen: dass man von der Scherbe einer zerbrochenen Teetasse aufgespießt wurde, an einem Zuckerwürfel erstickte – alles in allem war die Lage ziemlich sicher. Sie atmete die klare, salzige Luft ein und blickte zu einem Mann am Strand, der Brotstücke für die Möwen auf den Kies warf.

Da Una nicht in Eastbourne aufgewachsen war, kannte sie die Straßen kaum, abgesehen von den Strecken zum Bahnhof oder zur Strandpromenade. Mum und Dad hatten ihren Ruhestand schon immer am Meer verbringen wollen und waren bereits hergezogen, als Una das Elternhaus verlassen hatte. In den ersten sechs Monaten schien es eine schlechte Entscheidung gewesen zu sein, Freunde, Familie und das Wissen um die besten Parkplätze vor Ort zurückzulassen. Letztlich jedoch bot Eastbourne den beiden die Möglichkeit, Leute in ihrem Alter kennenzulernen. Sich zu amüsieren. Bis Dad krank wurde.

Una bog von der Hauptstraße in eine enge Wohnstraße ein und folgte der Handy-Navigationsroute zu Eileens Haus. Blitzschnell wich sie einem Einheimischen aus, der mit einem Elektroroller über den Bürgersteig bretterte, und war dabei gezwungen, eine Weide zu umarmen. Was für einen Führerschein brauchte man für so ein Fahrzeug? Wurden überhaupt regelmäßig Kontrollen durchgeführt, um die Verkehrstüchtigkeit der Fahrer zu gewährleisten? Brauchten sie eine Versicherung? Brauchte sie als Fußgängerin eine? Als sie diese Möglichkeiten durchgespielt hatte, war sie auch schon an ihrem Ziel angekommen.

Una stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor Eileens Haus. Ihr Plan bestand darin, sich als ruhige, neutrale Beobachterin zu geben und nicht aufzufallen. Sie würde das Haus nach Faktoren absuchen, die erklären konnten, warum der Korb herabgestürzt war, und vor ihrer Mum und Ken wieder zu Hause sein.

Die Straße war menschenleer, also nahm sie ihr neues Fernglas zur Hand, um die Fassade zu begutachten. Die erste Inspektion förderte nichts Ungewöhnliches zutage. Die Türschwelle und Bodenfliesen stimmten mit denen der Nachbarhäuser überein. Zwei große schwarze Mülltonnen standen wie Türsteher vor dem Haus. Und doch brauchte Eileen nun keine Versicherung mehr.

Una nahm das Mauerwerk direkt über dem Türrahmen in Augenschein. Man hatte die Blumenampel entfernt, doch sie sah noch die Bohrlöcher, in denen der Halter befestigt gewesen war. Welcher Verrückte war überhaupt je auf die Idee gekommen, einen Korb in dieser Höhe aufzuhängen, dazu noch gleich über einer Tür? Wenigstens verursachte ein solcher Korb weniger Augenkrebs als der Blumenkasten aus rotem Ton, der im zweiten Stock des Nachbarhauses über den Rand des Fenstersimses lugte. War das die Schuld der Versicherungsgesellschaften? Wurden ihre Kunden nach Abschluss einer Lebensversicherung nachlässig, oder gestalteten sie ihre Vorgärten sogar absichtlich mit einer gewissen Todessehnsucht?

Sie recherchierte, welche Wetterverhältnisse in Eastbourne am 1. Januar um 16:00 Uhr vorgeherrscht hatten. Kein Regen und eine Windgeschwindigkeit von 4, daher war es unwahrscheinlich, dass eine plötzliche Böe den Korb gelöst hatte. Schlampige Handwerksarbeit? Das könnte sie bei der Risikoberechnung ihrer Versicherung berücksichtigen. Es könnte aber auch eine dritte Partei beteiligt gewesen sein. Eine verwilderte Katze. Ein Fuchs. Vielleicht ein ausgebüchstes Zootier, etwa ein Leopard, der mit seinen kräftigen Hinterbeinen auf den Korb gesprungen war, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein.

»Sind Sie eine Politesse?«

Una drehte sich um und sah sich einem alten Mann gegenüber. Möglicherweise eine nützliche Datenquelle. Betongraue Hose, graubrauner Anorak – ihr gefiel sein Stil.

»Nein.«

»Warum schauen Sie dann durch dieses Fernglas?«, fragte er. »Sie wollen wohl verhindern, dass die Leute Sie bemerken und wegfahren können. Hinterhältig nenne ich das.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin keine Politesse. Ich betreibe … urbane Vogelbeobachtung.«

»Und was ist das?«

»Ich beobachte Vögel auf der Straße.«

Sosehr sie sich auch über Ken geärgert hatte, musste sie doch zugeben, dass sich das Fernglas für ihre verdeckte Erkundungsmission als nützlich erwies.

»Verstehe«, sagte der Mann. »Dafür müssen Sie in die Caulston Street gehen. Die Frau in Hausnummer 24 stellt immer eine Nussmischung für Vögel auf den kleinen Tisch. Da gibt’s jede Menge dieser kleinen Mistviecher.«

»Okay, danke.«

Er deutete die Straße hinunter. »Gleich dahinten, erste links.«

»Das seh ich mir an. Danke.«

Der Mann schlurfte davon.

Offensichtlich war Una nicht so gut getarnt, wie sie gedacht hatte. Sie war hier, um zu beobachten, nicht um beobachtet zu werden.

Ihre feuchten Handflächen klebten am Fernglas. Sie schaute nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war, und konzentrierte sich dann wieder auf Hausnummer 19. Ihr Blick wanderte über die Mülltonnen vor dem Haus. Neben einer davon schien etwas zu liegen, doch als sie näher heranzoomte, nahm sie eine Bewegung wahr. Eine Frau in den späten Dreißigern trat aus Eileens Nachbarhaus und warf eine schwarze Mülltüte in die Tonne vor ihrem Haus. Ruckartig richtete sich Una auf und steckte das Fernglas in ihren Mantel. Was, wenn die Frau sie beim Spionieren gesehen hatte? Sie könnte auf dumme Gedanken kommen und die Polizei rufen.

Hastig nahm sie ihr Handy heraus und tat so, als würde sie im Internet surfen. Dabei ging sie in Gedanken einige Worst-Case-Szenarien durch, um ihre Nerven zu beruhigen. Ein paar Sekunden später verschwand die Frau wieder im Haus.

»Immer noch hier?« Der alte Mann war zurück, diesmal mit einer Plastik-Milchflasche, die er mit dem Daumen am Henkel trug. Seine Augen verengten sich. »Sie beobachten das Haus, stimmt’s? Sie sind keine Vogelbeobachterin. Nein, ich glaube, Sie sind eine dieser Immobilienmaklerinnen aus London, die mit uns das schnelle Geld machen wollen. Hab ich recht?«

Angesichts solcher Probleme konnte Una ihre professionelle Hausinspektion nicht fortsetzen. Was für ein Mensch kam überhaupt auf solch lächerliche Szenarien? Sie beschloss mitzuspielen.

»Sie haben mich erwischt«, erwiderte sie. »Ja, ich bin an dem Haus interessiert. Wissen Sie, wer vorher dort gewohnt hat?«

»Eileen.« Er bekreuzigte sich. »Aber sie ist vor Kurzem verstorben.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte Una und legte eine kurze Gedenkpause ein. »Wie kam sie zu Tode? Ich frage aus rein finanziellen Gründen, für den Fall, dass es an einem Hausschwamm, Feuchtigkeit oder einem anderen baulichen Problem lag, das den Kaufpreis beeinflussen würde.«

Der Mann zeigte auf die Nummer 19. »Es war der Korb, der früher über der Eingangstür hing. Er ist ihr auf den Kopf gefallen. Das war sehr merkwürdig. So eine Blumenampel …«

»Ja, das ist in der Tat seltsam«, sagte Una. »Warum sollte man sich so was aufhängen?«

»Nein, nein, Mädchen. Ich meine, es ist seltsam, weil diese Körbe gar nicht so schwer sind, und sie hatte Tommo gebeten, ihn aufzuhängen, und Tommo ist ein zuverlässiger Kerl. Aber Unfälle passieren halt.«

»Ich verstehe. Sie kannten Eileen also gut?«

»Ob ich sie kannte? Ich war derjenige, der den Krankenwagen gerufen hat.«

»Was?«

Der Mann schlurfte näher und lockerte den Fußballschal um seinen Hals. »Sie hatte die ganze Clique da, nur ein kleines Treffen, um uns ihre Urlaubsbilder zu zeigen. Ich war zwar nicht offiziell eingeladen, wusste aber, dass ich willkommen sein würde. Also bin ich am späten Nachmittag rübergegangen, als ich davon ausging, dass alle da sein würden. Ich konnte es nicht fassen, als ich sie auf der Türschwelle liegen sah …«

»Und was war mit den anderen Gästen?«

»Die waren schon wieder weg. Der Krankenwagen kam zwar noch, aber man konnte nichts mehr für sie tun.«

Una wusste nicht, wie sie in einem solchen Fall reagieren würde – einen Unfall zu beobachten war nicht dasselbe, wie selbst darin verwickelt zu sein.

»Ich verstehe. Tut mir leid, das muss schockierend gewesen sein. Klingt, als hätten Sie das Richtige getan.«

»Wollen Sie selbst einziehen?«, fragte der Mann und ließ den Milchkanister einen Salto um seinen Daumen schlagen.

»Was?«

»In das Haus? Es wäre schön, eine neue Freundin zu haben. Auch wenn Sie eine geldgierige Sie-wissen-schon sind.«

»Na ja, ich denk drüber nach und seh mir mal die Zinssätze an.«

»Machen Sie das, Sie Gierschlund.« Er hob die Hand und wandte sich seiner Haustür zu. »Man sieht sich.«

Una wartete, bis er drinnen war, und schlich dann zu Eileens Hausfront hinüber. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, hockte sie sich hinter einen Mülleimer. Was würde sie sagen, wenn jemand sie hier entdeckte? Ihr Körper war in Alarmbereitschaft, ihr Kopf hingegen im Analysemodus. An der Seite der Tonne klebten zwei Zahlen, Schwarz auf Gold: eine 4 und eine 1, also 41. Seltsam – das Haus hatte die Nummer 19. Vielleicht hatte hier jemand die falsche Tonne abgestellt?

Sie warf einen Blick nach oben, um sich zu vergewissern, dass keine Leoparden über ihr lauerten. Beruhigt holte sie ihr Handy heraus und fotografierte die Zahlenaufkleber. Wahrscheinlich waren sie bedeutungslos, dennoch war es gut, sie zu dokumentieren. Nachdem sie ein paar Aufnahmen gemacht hatte, hörte sie, wie jemand versuchte, »Smells Like Teen Spirit« zu pfeifen. Schritte näherten sich …

… und gingen zum Nachbarhaus. Als sie sich noch mehr hinter dem Mülleimer zusammenkauerte, fiel das Etui ihres Fernglases auf die Fliesen. Sie erstarrte, als sich die Schritte wieder auf sie zubewegten. Jeden Moment würde man sie erwischen. Was, wenn das ihr Arbeitgeber erfuhr? Bei dem Gedanken geriet sie so sehr ins Schwitzen, dass ihre feuchtigkeitsabweisende Sportweste Schwerstarbeit leisten musste.

Unvermittelt öffnete sich die Tür des Nachbarhauses.

»Ken, gut siehst du aus. Tolles Halstuch. Komm rein, komm rein.«

»Hallo, Rosa.«

Ken? Was hatte der hier zu suchen?

Unas Herz schlug 20 Prozent schneller als im durchschnittlichen Ruhepuls. Sie wartete, bis die Tür sich schloss, dann sprintete sie zurück zur Wohnung ihrer Mutter.

4

Neuigkeiten sind kein Grund zur Sorge

Als Una in der Wohnung ihrer Mutter ankam, polierte die gerade ihren Amazon Echo.

»Wie war dein Spaziergang?«, fragte sie. »Die frische Luft hat dir sicher gutgetan.«

Una ließ sich in den Sessel sinken. Ihr Herz pochte noch immer, weil sie fast ertappt worden wäre.

»Ganz gut«, antwortete sie. »Kann ich irgendwie helfen?«

»Nein. Bleib einfach sitzen, ich hab gerade einen Lauf. Und dann mach ich dir was zu essen.«

»Ich bin nicht hungrig, danke.« Ihr Magen war vor lauter Adrenalin ganz verkrampft. »Und, wie war euer Ausflug zum Friedhof?«

»Wir sind danach noch einen Kaffee trinken gegangen, in dem neuen Café in der Dale Street. Ich hatte einen Karamell Latte.«

Una lauschte dem Bericht ihrer Mum nur mit halbem Ohr. Es beschäftigte sie, was Ken in der Chamberlayne Road gemacht hatte.

»Ken ist also nicht wieder mit hergekommen?«

»Nein, er musste irgendwas erledigen.«

»Was denn? Wollte er jemanden besuchen?«

»Wo ich jetzt drüber nachdenke: Das hat er nicht gesagt. Und ich wüsste auch nicht, wieso ich ihn hätte fragen sollen. Jedenfalls will er bald zurück sein.«

Etwas erledigen … Wieso hatte er Unas Mum nicht verraten, was er vorhatte? Warum sollte er Eileens Nachbarin besuchen? Vielleicht war er ein Bigamist. Er sah aus wie ein Bigamist. Oder wie ein Trigamist.

Una holte ihr Smartphone heraus und rief den Artikel über Eileens Tod auf, in dem die Nachbarin erwähnt wurde. Rosa Boniface, 39, eine Friseurin, die nebenbei Modedesign studiert. Sie würde bei Kens Rückkehr darauf achten, ob sein Haar frisch frisiert aussah.

Dreißig Minuten später kehrte Ken zurück. Er zog seine Lederjacke aus, beugte sich über das Echo-Gerät und bat es darum, The Clash abzuspielen.

Una stand auf, um seine Frisur zu inspizieren. Keine Veränderung in puncto Länge oder Kontur, nur das übliche dick eingegelte weiße Haar, das vorn zu einer leichten Tolle geformt war.

Er richtete sich schnaufend auf. »Wie war dein Spaziergang? Hat er dich auf andere Gedanken gebracht?«

»Ja, ich hab ein paar Vögel beobachtet.« Una wich einen Schritt zurück. »Das Fernglas war sehr nützlich.«

»Da siehst du’s«, sagte Unas Mum und drückte Ken die Schulter. »Es ist ein schönes Geschenk.«

»Hast du die Haubentaucher am Pier gesehen?«, fragte Ken. »London lässt grüßen!«

»Nein, die muss ich übersehen haben.« Sie hatte keine Ahnung, was Haubentaucher waren oder was es bedeutete, eine Haube zu tragen. Vielleicht erfand Ken unsinnige Wörter, um sie aufs Glatteis zu führen.

»Schade«, sagte er und warf sich auf die Couch. »Ich bin selbst ein kleiner Ornithologe, weißt du? Wir hatten einen anstrengenden Vormittag. Ich war am Grab deines Vaters. Habe es gepflegt, und deine Mutter hat ein paar neue Blumen draufgestellt. Narzissen.«

Una saß auf der Sesselkante und beäugte besorgt einen losen Knopf an der Armlehne. Ken hatte wichtige Familienpflichten erfüllt, aber auch sie musste Familienpflichten nachkommen.

»Warum bist du so spät zurück, Ken? Musstest du irgendwohin? Jemanden besuchen?«

»Ich musste nur ein paar Besorgungen machen. Keine große Sache. Jeanette, spiel als Nächstes Rock the Casbah.«

»Besorgungen?«

Er erhob sich von der Couch. »Weißt du, was? Ich könnte jemanden ermorden für eine Tasse Tee. Ich setze den Kessel auf.«

»Ken, mach dir keine Mühe«, sagte Unas Mum. »Wir gehen doch gleich noch ins Vereinshaus.«

»Kein Ding, Schatz. Gleich kommen drei Tassen Tee.«

Und mit diesen Worten verschwand er in der Küche.

Das war eine verdächtige Reaktion gewesen. Normalerweise antwortete Ken offenherzig auf Fragen und spickte sie mit unnötigen Details, daher war seine knappe Antwort untypisch.

Als er mit dem Tee zurückkam, streckte er sich neben Unas Mum auf der Couch aus.

»Ich bin todmüde«, verkündete er. »Eigentlich wollte ich heute ein paar Tulpenzwiebeln ins Beet pflanzen, aber daraus wird wohl nichts.«

Unas Mum tätschelte ihm die Hand. »Ken hat einen grünen Daumen.«

Er prustete Tee über die Couch und erwiderte lachend: »Damit sollte ich wohl mal zum Arzt gehen.«

Zum wiederholten Mal knibbelte Una an dem losen Knopf herum. »Nach dem, was ihr vorhin über eure Freundin Eileen gesagt habt, scheint Gartenarbeit in Eastbourne gefährlich zu sein. Verletzen sich die Leute hier in der Gegend oft dabei? Sind zum Beispiel Eileens Nachbarn in Sicherheit?«

»In Sicherheit?«, fragte Ken.

»Sie kommt nach Bob«, erklärte Mum. »Una ist immer sehr vorsichtig.«

Was, bitte schön, sollte daran falsch sein? Angefangen damit, dass man beim Bau einer Sandburg erst ein gutes Fundament legen musste, bis hin zu der Tatsache, dass man keine geschüttelten Coladosen öffnen sollte: Unas Dad hatte sein Bestes gegeben, um sie auf die Welt vorzubereiten. Auf einen Ort, an dem das einzig Sichere die Ungewissheit war.

»Was Eileen zugestoßen ist, war eine einmalige Sache, eine Tragödie«, sagte Ken. »Das Leben ist eine Achterbahn, Una. Eben noch war sie mit dem Geld, zu dem sie gekommen war, auf einer Luxuskreuzfahrt, und im nächsten Moment …«

»Ja, wenigstens hat sie noch die Fjorde gesehen.« Unas Mum stieß einen tiefen Seufzer aus. »Armes Ding. Wenn man bedenkt, dass wir uns kurz vorher noch ihre Fotos angeschaut haben … du weißt schon. Wie gut, dass wir sie alle an dem Tag noch mal gesehen haben. Und die Bilder waren unglaublich, ihre Kamera hat so viele Megapixel.«

»Wartet mal«, hakte Una ein. »Ihr beide wart dabei, als sie starb?«

»O nein, wir waren schon weg, bevor es passierte«, antwortete ihre Mum. »Als sie uns zur Tür gebracht hat, meinte sie noch, sie will alle Pflanzen gießen, und dann … Na ja, man weiß ja nie, oder?«

Der lose Knopf hing jetzt nur noch an ein paar Fäden. Ihre Mum und Ken hatten zu den Besuchern gehört, die der Wichtigtuer in der Chamberlayne Road erwähnt hatte, und dann hatte Eileen die Blumenampel gießen wollen und dabei den Unfall erlitten. Una hatte mit ihrer Vor-Ort-Ermittlung zu Eileens Tod Zeit verplempert, die sie besser darauf verwandt hätte, handfeste Statistiken zu korrigieren. Sie durfte sich nicht so leicht ablenken lassen.

»Wie auch immer«, sagte Ken und knallte seine Tasse auf den Tisch. »Seid ihr beide bereit für zweieinhalb Stunden Bingo? Das ist hier die große Frage.«

»Das wird sicher sehr aufschlussreich.« Obwohl Una aus Pflichtgefühl zugestimmt hatte, die beiden in den Club zu begleiten, könnte sie heute Abend einige nützliche Informationen über ungewöhnliche Todesfälle in der Gegend erhalten.

Noch wichtiger war aber, dass sie Details über Eileens Nachbarin erfahren könnte – und den Grund für Kens heimlichen Besuch bei ihr.

»Ich bin so froh, dass du mitkommst«, sagte Unas Mum. »Ich freu mich schon sehr auf heute Abend. Du wirst unsere ganze Clique kennenlernen, jetzt wo sich die Dinge endlich wieder normalisieren.«

»Es wird noch besser werden als sonst, mein Engel.« Ken hatte beide Arme um ein Kissen geschlungen. »Ich liebe Bingoabende. Und mit deinen ganzen Mathekenntnissen, Una, bist du darin sicher der Knaller.«

Wie konnte man bei einem reinen Glücksspiel wie Bingo ein »Knaller« sein?

»Ken hat in letzter Zeit eine Glückssträhne«, sagte ihre Mum. »Neulich hat er ein Weinregal gewonnen.«

»So was wie Glück gibt es nicht«, entgegnete Una. »Es gibt nur Wahrscheinlichkeiten.«

»Da liegst du falsch«, widersprach Ken. »Es gibt Zeiten, in denen das Glück auf deiner Seite ist. Sieh mich an – ich fühle mich gut, habe ein Gerät, das jedes Lied abspielt, das je geschrieben wurde, und bin bald mit einer wunderbaren Frau verheiratet. Das sind gute Zeiten.«

»Verheiratet?« Das Wort, das zu hören sie nicht erwartet hatte, platzte förmlich aus Una heraus.

Ken schlug die Hände vors Gesicht. »Tut mir leid, Sheila.«

»Ist schon gut, Ken«, sagte Unas Mum. »Wir wollten es dir beim Essen sagen.«

»Heiraten? Wen denn?«

»Wir zwei werden heiraten, Una, Liebes. Ken hat mir letztes Wochenende einen Antrag gemacht, als wir ins Café im Gartencenter gegangen sind.«

Ihre Mum hob die linke Hand. Neben ihren üblichen Ringen trug sie einen neuen Diamantring. Sein Glitzern zeugte davon, dass er wohl ein Vermögen gekostet hatte.

Una krümmte sich im Sessel zusammen. Plötzlich spürte sie etwas Heißes, Feuchtes am Bauch und blickte auf ihren Schoß.

»Ich hab mich mit Tee bekleckert«, stellte sie fest. »Ich verschütte sonst nie Tee.«

»Ich hole etwas Küchenpapier«, sagte ihre Mum. »Du solltest das Oberteil ausziehen und dich mit kaltem Wasser abtupfen.«

Una stand auf und eilte ins Gästezimmer. Dort setzte sie sich aufs Bett und zog ihr Sweatshirt aus. Der Tee hatte einen schwachen rosa Fleck hinterlassen. Sie trug etwas antiseptische Creme aus ihrer Reiseapotheke auf und zog das Ersatz-T-Shirt an, das sie mitgebracht hatte. Dann klopfte sie dreimal auf das Kissen, plusterte es auf und stierte anschließend auf die Formica-Schranktür, während sie versuchte, die Neuigkeit zu verdauen.

Warum hatte sie das nicht vorausgesehen, wo sie doch den ganzen Tag damit verbracht hatte, die schlimmstmöglichen Dinge zu prognostizieren?

»Tut mir leid, Una«, sagte Ken, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Das war wahrscheinlich ein ziemlicher Schock.«

»Und, was sagst du dazu?« Ihre Mum hockte auf dem Couchrand und sah nervös aus. »Ich wollte es dir nicht am Telefon sagen, sondern lieber persönlich.«

»Wann ist denn eure Hochzeit?«, fragte Una. »Ich nehme an, ihr habt eine lange Verlobungszeit?«

»Der Termin ist Anfang März. Du musst dir den Freitag freinehmen. Ich habe dich letzte Woche am Telefon ausgehorcht und weiß, dass du nicht auf Dienstreise bist.«

»Einen Tag freinehmen? Und das schon in sechs Wochen!« Una brauchte mehr Zeit, um Ken zu überprüfen – seine Finanzen, Strafregisterauszüge, zahnärztliche Untersuchungen und natürlich seine verdächtigen Aktivitäten in der Chamberlayne Road.

»Ursprünglich hatten wir die Feier für einen Samstag im Mai geplant«, sagte Ken, »aber dann wurde der frühere Termin frei, und wir dachten … Das ist Schicksal. Und sie spendieren uns sogar noch eine mittelgroße Eisskulptur.«

»Schicksal? Aber ihr seid doch noch gar nicht so lange zusammen. Warum die Eile?«

»Ich bin achtundsechzig, Una, ich kann nicht mehr rumtrödeln«, erwiderte ihre Mum. »Ich weiß, das ist ein bisschen viel auf einmal, aber weißt du, was? Ich hab im Internet gestöbert, und in der Daily Mail steht, es ist nachgewiesen, dass verheiratete Menschen länger leben. So, da hast du’s.«

»Ich glaube, es gibt Untersuchungen, die diese Theorie stützen, aber die sind umstritten.«

Obwohl ihr klar war, dass ihre Mum sie manipulierte, musste Una zugeben, dass das Argument interessant war. Heiraten als Strategie zur Lebensverlängerung … Sie musste prüfen, wie viele Jahre sich dadurch im Durchschnitt gewinnen ließen, und das mit der Zeit verrechnen, die sie zuvor auf Partnervermittlungsseiten und mit Dates verbringen würde.

Auch wenn Ken extrem nervig war, objektiv betrachtet hatte es Vorteile, wenn jemand bei ihrer Mum war – zum Beispiel, wenn sie krank oder gestresst wäre. Und es war ja nicht so, dass Una sie in den letzten Jahren nennenswert unterstützt hätte. Sie hatte sich nicht einmal dazu durchringen können, heute mit ihr auf den Friedhof zu gehen.

Aber was, wenn Ken ein schwarzes Schaf war? Es oblag ihrer Verantwortung herauszufinden, ob er irgendwelche Leichen im Keller hatte. Und zwar schnell.

»Das wird die beste Hochzeit aller Zeiten«, sagte Ken im Brustton der Überzeugung. »Ich habe viel investiert, damit alles perfekt wird, keine Kosten gescheut.«

»Steiger dich da nicht so rein, Ken«, erwiderte Unas Mum. »Es gibt keinen Grund, dass du es übertreibst und dir Stress machst. Das Wichtigste ist, dass wir den Tag mit unseren Familien und Freunden verbringen.«

Ken nickte. »Du hast recht. Wie immer, mein Schatz. Ich möchte nur, dass alle den bestmöglichen Tag haben.«

»Jeanette, Should I Stay or Should I Go?«

»Und … Una?« Ihre Mum ergriff ihre Hand. »Ich möchte, dass du mich geleitest.«

»Geleitest?«

»Mich zum Trautisch führst. Wir gehen nur zum Standesamt, weil Ken nicht religiös ist, und danach gibt es einen Empfang in einem Viersternehotel.«

»Das stimmt. Ich bin spirituell, aber nicht religiös«, bestätigte Ken.

»Ich geleite dich gern zur Trauung«, sagte Una, ohne die beiden anzusehen. Die Nachricht von der Hochzeit war schon schlimm genug, und jetzt musste sie auch noch öffentlich daran mitwirken. Sie würde schnell etwas über Ken herausfinden müssen.

»Wie auch immer, du verlierst ja nicht deine Mutter …«, Ken streifte sich sein Radiohead-T-Shirt über den korpulenten Oberkörper, »… sondern gewinnst mich dazu.«

»Weißt du, was?«, trällerte Unas Mum. »Warum trinken wir nicht zur Feier des Tages einen Sekt zum Essen? Ich mache eine Fischpastete.«

»Ich wollte eigentlich welchen mitbringen«, fiel Ken ein. »Vergessen. Macht nichts, ich fahre schnell zu Trunnocks und hol ein paar Flaschen.«

»Dr. Santos hat doch gemeint, du musst dich ausruhen«, wandte ihre Mum ein. »Du überanstrengst dich sonst. Das mit dem Sekt ist nicht so wichtig.«

Una wusste, dass dieser spezielle Tonfall ihrer Mum das Gegenteil bedeutete, und ein Spaziergang erschien ihr ohnehin sehr verlockend, solange sie die Neuigkeit noch nicht verdaut hatte.

»Ich gehe den Sekt holen«, sagte sie deshalb.

»Das musst du nicht«, meinte ihre Mum.

»Das ist kein Problem.«

»Ich kann dir das Geld geben.« Ken kramte in seiner Jacke nach seiner Brieftasche.

»Ich habe Geld«, versicherte Una.