Miss Merkel: Mord in der Uckermark - David Safier - E-Book
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Miss Merkel: Mord in der Uckermark E-Book

Safier David

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Beschreibung

Was macht Angela Merkel, wenn sie in Rente geht? Sie löst Kriminalfälle in der Uckermark. Der herrlich komische neue Roman von Bestsellerautor David Safier: Die Kanzlerin ist seit sechs Wochen in Rente und mit Mann und Mops in die Uckermark gezogen, genauer gesagt nach Kleinfreudenstadt, gelegen am schönen Dumpfsee. Nach dem turbulenten Leben in Berlin fällt es ihr jedoch schwer, sich auf das beschauliche Landleben einzulassen. Nur zu backen und zu wandern, wird halt schnell fad. Als jedoch der Freiherr Philip von Baugenwitz vergiftet in einem von innen verriegelten Schlossverlies gefunden wird, erwacht neues Leben in Angela. Endlich wieder ein Problem, das gelöst werden will! Unterstützt von ihrem liebenden Ehemann und dem sanften Bodyguard Mike macht sie sich auf die gefährliche Suche nach dem Mörder. Wird sie ihn finden? Wird sie in Klein-Freudenstadt heimisch werden? Gar das erste Mal in ihrem Leben eine wahre Freundin finden? Oder wird eine der sechs verdächtigen Frauen ihr zuvor den Garaus machen? Fragen, die nur eine große Detektivin beantworten kann! Ein Cosy Crime mit Deutschlands beliebtester Politikerin.

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Seitenzahl: 365

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David Safier

Miss Merkel

Mord in der Uckermark

Roman

 

 

 

Vita

David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Seine Romane, darunter "Mieses Karma", "Jesus liebt mich", "Happy Family" und "Muh" erreichten Millionenauflagen. Auch im Ausland sind seine Bücher Bestseller. Als Drehbuchautor wurde David Safier unter anderem mit dem Grimme-Preis sowie dem International Emmy (dem amerikanischen Fernseh-Oscar) ausgezeichnet. David Safier lebt und arbeitet in Bremen, ist verheiratet, hat zwei Kinder und einen Hund.

Für Marion, die Liebe meines Lebens.

Für Ben und Daniel, die anderen beiden hell strahlenden Lichter in meinem Leben. Ich bin stolz auf euch!

Und natürlich auch für Max.

1

«Ich muss mich erst mal hinsetzen», sagte Angela und setzte sich erst mal hin. Auf eine verwitterte Holzbank, die an einem kleinen Kiesweg lag und einen phantastischen Blick auf den Dumpfsee bot. Sie tupfte sich mit ihrem kleinen Stofftaschentuch, das ihr einst der Dalai Lama geschenkt hatte, den Schweiß von der Stirn. Gerne hätte sie behauptet, dass sie bereits eine mehrstündige Wanderung in unerträglicher Sommerhitze absolviert hatte, tatsächlich aber war sie gerade einmal fünfundzwanzig Minuten bei angenehmer Mai-Sonne spaziert. Nach all den Jahren in Berlin, in denen sie nur damals in der Corona-Krise auf zehntausend Schritte pro Tag gekommen war, als sie in ihrem Riesenbüro herumtigerte, gab ihre Kondition Anlass zu Trauerbekundungen. Es dürfte eine ganze Weile dauern, bis ihr Körper, der schätzungsweise dreitausend Staatsbankette überstanden hatte, wieder so etwas Ähnliches wie Fitness aufgebaut haben würde.

Angela blickte auf das kleine Gewässer. Es war auf jene unscheinbare Art und Weise lieblich, die genau nach ihrem Geschmack war. Das Schilf hatte die perfekte Länge und wehte anmutig in einem perfekten lauen Lüftchen. Das Wasser besaß das perfekte Blau, und die Vögel waren in ihrem Schwarmflug anmutiger als jedes Ballett-Ensemble, das sie je gesehen hatte. Und Angela hatte enorm viele gesehen, dank der Einladungen bei Staatsbesuchen in aller Welt. Eine der größten Willensleistungen ihres Lebens war, bei einer siebenstündigen chinesischen Oper trotz Jetlag nicht neben dem Präsidenten Chinas einzuschlafen.

Hier auf dieser Bank, an diesem See, bei diesem Wetter vermisste sie Berlin kein bisschen, obwohl sie sich noch nicht so recht an das Leben in ihrem neuen Wohnort Klein-Freudenstadt, gelegen eben an jenem Dumpfsee, gewöhnt hatte. Wie auch? Sie war ja erst seit sechs Wochen hier. Ein paarmal war sie zwar schon durch den ebenfalls auf genau die richtige unscheinbare Weise lieblichen Ort spaziert, aber das reichte nicht, um sich hier bereits heimisch zu fühlen. Würde sie es jemals tun?

Oder würde sie sich schon nach wenigen Wochen nach ihrem alten, hektischen Leben in Berlin zurücksehnen, wie ihr Mann befürchtete und sie insgeheim auch? Dabei hatte sie ihm doch hoch und heilig versprochen, den Lebensabend mit ihm in Ruhe zu genießen. Und was würde geschehen, wenn sie dieses Versprechen brach? Würde ihre Ehe, in der er so sehr hatte zurückstecken müssen, dies aushalten?

«Alles in Ordnung, Schatz?», fragte Achim, der eigentlich Joachim hieß, aber während seines Studiums befunden hatte, dass Achim ein lässiger Spitzname war. Als Quantenchemiker kannte er die wahre Bedeutung des Wortes ‹lässig› nun mal nicht. Achim stand vor ihr in weißem Kurzarmhemd, blauer Halblang-Hose, die seine kurzen behaarten Beine freigab, und grauen Wanderschuhen, die er sich von einer jungen Verkäuferin als modern hatte aufschwatzen lassen. Angela liebte ihren Achim unter anderem auch dafür, dass er keine Ahnung hatte, was schick war und was nicht. Und dafür, dass er grundehrlich war, zu keiner Lüge fähig. Wie oft hatte sie gedacht: Warum sind nicht alle Männer so wie mein Achim? Und dann gab sie sich stets selbst die Antwort: Wenn alle so sanft wären, würde die Menschheit nicht überleben.

«Schatz, ich habe dich was gefragt», hakte er nach, er machte sich immer Sorgen um sie.

«Alles ist gut, Puffel. Mir ist nur ein wenig warm», antwortete Angela.

Achim holte aus seinem Rucksack, den er schon seit DDR-Zeiten besaß, eine alte Wasserflasche, aus der sein Vater schon zu Vor-DDR-Zeiten getrunken hatte und aus der das Wasser stets metallen schmeckte, Angela jetzt aber dennoch erfrischte.

«Vielleicht solltest du», schlug Achim vor, «nicht immer in deiner üblichen Kluft herumlaufen.»

In der Tat trug Angela, wie früher im Beruf, eine schwarze Stoffhose und dazu einen ihrer vielen farbigen Blazer – heute war es ein grüner. Die Wandersachen, die sie sich vor fünf Jahren gekauft hatte, waren ihr zu eng geworden und lagen noch in einem der vielen nicht ausgepackten Umzugskartons.

«Wenn wir am Wochenende nach Templin fahren», antwortete Angela, «kaufe ich mir etwas Passendes.» Online bestellen kam für sie nicht in Frage. Dank der Digitalexperten, von denen sie in ihrem früheren Leben ständig Berichte erhalten hatte, wusste Angela viel zu viel darüber, was mit den Daten von Online-Käufern angestellt wurde. Und überhaupt, was ging es Amazon an, welche Kleidergröße sie hatte?

«Wie du meinst, Schatz», antwortete Achim. Ein Satz, den er sehr häufig sagte, weil er sein Leben wesentlich leichter machte. Und das von Angela auch.

«Putin hat gemacht», verkündete eine Stimme hinter ihnen. Noch vor sechs Wochen hätte dieser Satz Angela tage-, wenn nicht gar wochenlang in Atem gehalten. Doch jetzt bedeutete er lediglich, dass sie ein Kackertütchen aus ihrer Blazertasche hervorkramen musste. Das kleine schwarze Plastiktütchen in der Hand, ging sie in Richtung eines imposanten Zweimetermannes mit Bürstenhaarschnitt. Er trug einen schwarzen Anzug und eine Sonnenbrille. Es war Mike, ihr fünfundvierzig Jahre alter Personenschützer, der stets sein Jackett zugeknöpft hielt, weil er auf diese Weise seinen leichten Bauchansatz kaschieren wollte. Neben Mike hockte Putin. Nicht der russische Präsident, sondern ein kleiner heller Mops mit schwarzem Fleck ums linke Auge, den Achim aus einem Tierheim geholt und Angela am Tag des Rentenbeginns geschenkt hatte. Mit Hilfe dieses niedlichen Tierchens sollte Angela nun endlich ihre Angst vor Hunden überwinden. Und da Putin – nicht der Mops, sondern der echte – einst seinen großen schwarzen Hund in Angelas Nähe frei laufen gelassen hatte, eben weil er um ihre Angst wusste, hatte sie den knuddeligen Mops nach dem russischen Präsidenten benannt.

«Ich kann das auch aufheben», bot Mike an. Angela wusste genau, wann ein Gegenüber sein Angebot tatsächlich so meinte und wann nicht. Ganz klar: Mike hoffte insgeheim, er müsse sich nicht nach dem Haufen bücken.

«Das ist aber freundlich von Ihnen», antwortete sie deshalb verschmitzt und hielt ihm das Kackertütchen entgegen.

«Ähem, das ist doch selbstverständlich», erwiderte das Kraftpaket, aber seine Stimme vibrierte angesichts der Aufgabe ein wenig. Ein islamistischer Attentäter hätte ihn mit Sicherheit weniger aus der Fassung gebracht – Mike war in der Lage, einen solchen mit nur zwei Fingern in ein sabberndes Etwas zu verwandeln. Kurz bevor er das Tütchen ergreifen konnte, bückte sich die ehemalige Bundeskanzlerin und sagte: «Ach, lassen Sie, ich bin es gewohnt, Putins Mist aufzuräumen.»

Dann sah sie sich um: Nie ist ein Mülleimer in der Nähe, wenn man mal einen braucht.

«Soll ich dir das abnehmen?», fragte Achim, der sich so leicht vor nichts ekelte, weder vor Spinnen noch vor Donald Trump.

«Ich werde es schon selber tragen», lächelte Angela.

«Wer liebt den Mops, trägt dessen Drops.»

«Was habe ich dir zu deinen Wortspielen gesagt, Achim?»

«Dass ich sie bleiben lassen soll?»

«Ganz genau.»

«Na gut», sagte Achim. «Wenn du es willst, dann lass ich sie.»

Angela streichelte ihm mit der freien Hand über die Wange und erklärte: «Und mit diesem schönen Vorsatz wollen wir nach Hause gehen.»

«Bis wir zu Hause sind», grinste Achim. Entwaffnend. Sein freches Lächeln war seine Geheimwaffe, bei dem konnte Angela nicht anders, als selber zu grinsen. So auch diesmal. Dann wandte sie sich an ihren Personenschützer: «Gibt es einen kürzeren Weg zurück ins Dorf? Ich würde gerne noch Äpfel für einen Kuchen kaufen, und die Läden machen bald zu.»

Die frühen Schließzeiten waren einer jener vielen Unterschiede von Klein-Freudenstadt zu Berlin, von denen Angela nicht genau wusste, ob sie sie liebenswert finden sollte oder nur enervierend.

«Apfelkuchen?», fragte Mike. Er liebte Kuchen und schätzte Angelas Backkünste, das wusste sie, zugleich fürchtete er um seine Sportlerfigur und seine Fitness. Seitdem er dem Ehepaar Merkel zugeteilt worden war, hatte er – trotz harten körperlichen Trainings – bereits zwei Kilo und 358 Gramm zugenommen. Solche Probleme kannte Achim nicht, er konnte essen, was er wollte, und nahm kein Gramm zu. Eine der Eigenschaften ihres Mannes, auf die Angela ein wenig neidisch war. Und Mike mittlerweile auch.

«Apfelkuchen», bestätigte Angela. Seitdem sie in Klein-Freudenstadt lebte, backte sie fast jeden Tag einen Kuchen: Erdbeeren, Birnen, Pflaumen. Was die Obststände auf dem Markt vor der kleinen Kirche hergaben. Angela backte nicht nur, um die Stunden zu füllen, die sie noch vor wenigen Wochen mit Sitzungen aller Art verbracht hatte, sondern auch, weil sie das Backen liebte. In einem anderen Leben wäre sie vielleicht nicht Wissenschaftlerin und Politikerin geworden, sondern Konditorin. Vermutlich gab es in einem der vielen Paralleluniversen – als Physikerin glaubte sie an die Theorie, dass es nicht nur das eine gab – eine Angela, die sich glücklich und erfüllt den lieben langen Tag mit Butterkuchen und Quarkbällchen beschäftigte. Vielleicht gab es sogar ein Universum, in dem die backende Angela dabei noch nicht mal an Gewicht zunahm.

«Durch den Wald», checkte Mike auf seinem Handy, «kommen wir schneller wieder in den Ort.»

«Na, dann wollen wir mal», sagte Angela und ging entschlossen voran in Richtung Wald. Gefolgt von Achim, Mike und Putin, der mit seinen kleinen, krummen Beinchen froh war, dass sein Frauchen nicht die Schnellste war.

Sie hatten keine hundert Meter zurückgelegt, da hörten sie Pferdegetrappel. Und nach weiteren fünfzig Metern traf Angela auf jenen Mann, dessen Leiche sie nur wenige Stunden später in einem Verlies auffinden sollte.

2

Das Erstaunliche an Freiherr Philipp von Baugenwitz war nicht etwa, dass sein schwarzer Hengst so edel wirkte, als würde er beim Pferderennen von Ascot bei den anderen Hengsten Minderwertigkeitskomplexe verursachen. Auch nicht die Tatsache, dass er sein Pferd Ferdinand nannte, als er es zum Stehen brachte. Nein, es war der Umstand, dass Philipp von Baugenwitz eine Ritterrüstung trug.

«Und da denkt man», hörte Angela ihren Personenschützer, der den reitenden Ritter schnell als harmlos identifiziert hatte, leise vor sich hin raunen, «man hätte schon alle Sorten von Irren gesehen.»

Angela hatte sich solche Gedanken abgewöhnt, die vielen Jahre in der Politik hatten sie gelehrt, dass stets noch größere Irre auftauchen konnten. Aber auch sie konnte ein gewisses Erstaunen nicht verbergen, während Mops Putin hinter ihren Beinen Zuflucht vor dem Pferd suchte und Achim eine Augenbraue gekonnt hochzog – etwas, das er sich als Kind von Commander Spock aus Raumschiff Enterprise im Westfernsehen abgeschaut hatte.

«Sie sind es tatsächlich!», schepperte es aus dem Helm. «Ich freue mich schon auf unsere Begegnung, seit ich gehört habe, dass Sie in unser schönes Klein-Freudenstadt gezogen sind.»

Von der Stimme her zu urteilen, war der behelmte Mann vielleicht Anfang 50. Jedenfalls besaß er Umgangsformen, dachte Angela, obwohl er das Kackertütchen in ihrer Hand gewiss wahrgenommen hatte, sprach er sie nicht darauf an.

«Sicher wundern Sie sich», redete er stattdessen weiter, «warum ich eine Rüstung trage.»

«Die Frage ist mir durchaus in den Sinn gekommen.»

«Ich gebe heute Abend ein mittelalterliches Weinfest auf meinem Schloss und wollte ausprobieren, wie ich mit der Rüstung meines Urahns Balduin zurechtkomme. Und ich muss sagen, ganz, ganz prima! Die werde ich heute Abend auch tragen. Sie haben sicher die Plakate für das Fest in der Stadt gesehen?»

«Und einen Flyer bekommen.» Angela erinnerte sich so genau daran, weil ein Teenager mit blau gefärbten Haaren ihr den Zettel überreicht hatte. Die junge Frau war dabei so mit ihrem Handy beschäftigt gewesen, dass sie von der Exkanzlerin keinerlei Notiz genommen hatte. Nicht erkannt zu werden, war Angela seit Jahrzehnten nicht mehr widerfahren. Es hatte sich erst irritierend, dann jedoch befreiend angefühlt.

«Darf ich mit Ihrem Kommen heute Abend rechnen?», schepperte Philipps Stimme hoffnungsfroh.

Das war Angela bisher gar nicht in den Sinn gekommen. Eigentlich wollte sie sich mit Achim in ihrem neuen kleinen Fachwerkhäuschen erst mal einleben. Doch nun fragte sie sich, wie sie sich in ihrem neuen Haus einleben sollte, wenn sie sich nicht in den Ort einlebte, in dem es stand. Und was gab es Besseres, um damit anzufangen, als ein Fest, zu dem viele Dorfbewohner erscheinen würden?

«Ich werde es mir überlegen», erklärte Angela. Hinter sich hörte sie ein leises Seufzen, es stammte von Personenschützer Mike, der angekündigt hatte, sich an seinem heutigen freien Abend in der Gin-Bar des Städtchens namens Aladins Gin einen schönen Drink gönnen zu wollen. Die Bar war die mondänste in Klein-Freudenstadt – was auch nicht schwer war, denn sie war die einzige. Ansonsten gab es nur den hiesigen Dorfkrug mit Namen Dorfkrug. Kein Wunder, dass Mike nicht begeistert war: Wenn er auf dem Fest auf sie aufpassen müsste, dürfte er sich nicht einmal einen Schluck Wein genehmigen. Dienst ist nun mal Dienst, und Gin ist Gin.

Angela sah zu Achim, der wieder eine Augenbraue hochzog, diesmal die andere. Er hatte das über die Jahre wirklich perfektioniert. Natürlich wusste sie, dass sie ihm versprochen hatte, La Traviata als Live-Übertragung der New York Metropolitan Opera anzusehen. Er hatte dafür extra einen neuen Großbildfernseher im Sonderangebot gekauft. Und bei der Programmierung der Fernbedienung wieder mal bewiesen, dass Quantenchemiker mit Alltagstechnik heillos überfordert waren. Die Fernbedienung funktionierte erst, nachdem Putin mit seinen kleinen Pfoten darübergelaufen war. Welche Tastenkombination der Mops dabei gedrückt hatte, war ein Geheimnis, das kein Quantenchemiker jemals lösen würde.

Weder Achim noch Mike schlugen also bei der Vorstellung, heute Abend zum Weinfest zu gehen, vor Begeisterung Purzelbäume – wobei sich der ungelenke Achim dabei vermutlich ohnehin den ein oder anderen Halswirbel verrenkt hätte –, Angela wollte das Angebot dennoch nicht ablehnen. Sie war viel zu neugierig auf diese Feier in ihrer neuen Wahlheimat und hoffte sehr, dass sie ihr gefallen würde.

«Sie werden es nicht bereuen. Wir sehen uns heute Abend!», rief der Freiherr blechern und ritt davon.

«Hoffentlich nicht», entfuhr es Achim leise.

«Das könnte doch ganz amüsant werden», hielt Angela dagegen.

«Wir wollten doch La Traviata anschauen!»

«Aber das können wir doch tun.»

Achim blickte irritiert drein.

«Es gibt so etwas wie eine Aufnahmetaste», sagte Angela und schmunzelte: «Wenn wir Putin ein paarmal über die Fernbedienung laufen lassen, findet er sie bestimmt.»

«Haha», antwortete Achim, der vieles war, aber nicht schlagfertig.

«Es wird bestimmt schön zu sehen, wie in diesem Dorf Feste gefeiert werden, Puffel.» Ja, Angela setzte ‹Puffel› als Kosenamen gerne auch strategisch ein, wenn es darum ging, ihren Ehemann zu Dingen zu bewegen, zu denen er keine Lust hatte. So hatte sie ihn mit einem gezielten ‹Puffel› dazu gebracht, am Damenprogramm des G7-Gipfels teilzunehmen. Sogar noch, als Melania Trump statt Michelle Obama dazu eingeladen wurde.

Achim zögerte.

Angela legte mit einem Lächeln nach: «Bist du gar nicht neugierig, wie das Gesicht unter dem Helm aussieht?»

«Das», sagte Achim, «kann man auch googeln.»

«Ich mache das gerne für Sie.» Mike zückte bereits sein Handy. Angela war klar, dass ihr Personenschützer die Hoffnung auf den Bar-Besuch noch nicht aufgeben mochte. «Und wenn ich im Netz kein Bild von ihm finde, frage ich die Kollegen beim BKA. Und wenn die keins haben, können sie sein Handy hacken oder ein Foto mit einer Drohne machen …»

«Wir schauen ihn uns alle heute Abend live und in Farbe an», sprach Angela routiniert ein Machtwort. Da Achim und Mike mürrisch dreinblickten, beugte Angela sich zu Putin, tätschelte ihm den Kopf und sagte: «Und für dich gibt es zum Abend ein bisschen leckere Poularde.»

Der Mops freute sich, ‹Poularde› war einer der Begriffe, die er verstand, wie ‹Sitz›, ‹Platz› und ‹Du-darfst-aufs-Sofa-egal-ob-Achim-eine-Augenbraue-hochzieht›.

Angela machte sich auf den Weg, weiterhin mit dem Kackertütchen in der Hand. Und dabei fragte sie sich, welchen Blazer sie wohl zu dem Fest tragen sollte.

3

Die Menschen in Klein-Freudenstadt hatten sich in den vergangenen sechs Wochen schon ein wenig an Angelas Anwesenheit gewöhnt. Natürlich registrierten sie die ehemalige Politikerin, wenn sie, wie jetzt mit Mann, Mops und Bodyguard, über den alten Marktplatz schritt, aber sie wollten keine Selfies mehr mit ihr machen. Sie gafften ihr auch so gut wie gar nicht mehr hinterher oder raunten sich Kommentare über sie zu, von denen der ein oder andere an Freundlichkeit etwas zu wünschen übrigließ. In zwei, drei Monaten, so war Angela sich sicher, würden sich die Bewohner komplett an sie gewöhnt haben.

Nachdem Angela endlich einen Abfalleimer für das Tütchen gefunden hatte, schlenderte sie über den kleinen Markt. Der wirkte selbst für eine nicht gerade zu überbordender Sentimentalität neigende Frau wie Angela geradezu idyllisch. An zehn Ständen wurden Lebensmittel aus der Region verkauft: Käse, Bio-Fleisch, Obst und Gemüse, Honig, sogar Wein, der von dem kleinen Weinberg des Freiherrn stammte. Angela dachte sich, dass sie auf dem Fest diese seltene Rebe ohnehin kosten würde, daher ging sie direkt zu einem Bio-Obststand. Dort sagte sie zu der Verkäuferin, einer jovialen, etwas rundlichen Frau Ende vierzig in blauer Latzhose und mit blau-weißem Kopftuch: «Guten Tag, ich hätte gerne sieben Äpfel.»

«Nehmen Sie acht!», schlug die Standbetreiberin vor.

«Sind die dann pro Stück billiger?»

«Nö, aber dann haben Sie einen mehr.»

Angela musste lachen: «Dann nehme ich acht.»

«Sie werden es nicht bereuen.»

Während Angela die braune Papiertüte mit den Äpfeln entgegennahm, stand Achim am Weinstand mit Putin auf dem Arm. Die Kondition des Hundes war offensichtlich noch schlechter als die seines Frauchens. Wenn das so weiterging, müsste sie den Mops auf Diät setzen und sich selbst gleich dazu.

Achim ließ sich offenbar alles über den Rebenanbau in der Uckermark erklären. Das machte ihr Mann gerne: sich ewig lang beraten lassen und dann doch nichts kaufen. Erstaunlich eigentlich, dass er noch nirgends ein Ladenverbot bekommen hatte.

Personenschützer Mike stand in einigen Metern Abstand und scannte den Marktplatz nach möglichen Gefahren. Angela fand, dass er sich die Mühe sparen könnte. Was sollte ihr hier schon passieren? Klein-Freudenstadt war so ein verschlafener Ort, dass ein Otto-Normal-Attentäter bestimmt noch nicht einmal von seiner Existenz wusste. Und überhaupt, wem würde es jetzt noch etwas bringen, sie zu töten? Angela war absichtlich aus den Augen der Öffentlichkeit getreten. Sie würde auch alles tun, damit es dabei bliebe. Sie würde sich nicht in Talkshows setzen, Zeitungskommentare schreiben oder Vorträge halten und damit den Leuten, die jetzt die Arbeit machten, auf den Wecker fallen. Sie brauchte sich auch nicht wie andere Exkanzler in irgendwelche Aufsichtsräte zu setzen, um noch mehr Geld zu verdienen, als ein normaler Mensch jemals benötigte.

Angela wollte gerade ihren Personenschützer anstupsen und ihm sagen, dass er sich entspannen könne, da trat eine schwangere Schwarze auf sie zu. Sie war vielleicht Mitte dreißig, trug ein weites, grün-rosa Frühlingskleid und einen grünen Haarreif in ihren glatten langen Haaren. Angela hatte bisher nicht viele Einwanderer oder deren Nachkommen in Klein-Freudenstadt getroffen. Da war der Betreiber der italienischen Eisdiele, der aus Serbien stammte, der Besitzer der Schlachterei Müller aus Taiwan und die Schreibwarenverkäuferin aus Schwäbisch Gmünd. Angela vermutete, dass zumindest ein Elternteil der Schwangeren aus einem der sozialistischen Bruderstaaten der DDR stammte: Mosambik, Äthiopien, Benin …

«Hallo, darf ich Sie ansprechen?», fragte die Schwangere freundlich.

«Sie haben es gerade getan», lächelte Angela ebenfalls freundlich.

«Ja, das stimmt», lachte die Frau. Nicht verlegen-verkrampft, weil sie sich etwa ertappt fühlte, sondern fröhlich.

«Was kann ich für Sie tun?», wollte Angela wissen.

«Ich kann etwas für Sie tun!»

«Was denn?»

«Ich heiße Marie Horstmann.»

Es war nicht der erste Name, den Angela bei einer schwarzen Frau erwartet hätte.

«Und ich leite die Touristikzentrale von Klein-Freudenstadt.»

«Klein-Freudenstadt hat eine Touristikzentrale?», staunte Angela.

«Sie hat nur zweimal die Woche für zwei Stunden geöffnet, ich stocke mir da Hartz IV auf.»

«Und was wollen Sie nun für mich tun?»

«Ich kann Ihnen eine Fremdenführung durch unser Örtchen anbieten und Ihnen alles erzählen, was man über es wissen muss und nicht auf Wikipedia steht.»

«Da stehen nur zwei Absätze, und einer warnt davor, Klein-Freudenstadt mit Klein-Freudenstedt in Baden-Württemberg zu verwechseln.»

«Ich nehme an», lächelte Marie, «derjenige, der diesen Eintrag verfasst hat, wurde von seinem Navigationsgerät in die falsche Ecke Deutschlands geführt.»

«Eine plausible Theorie», lächelte Angela.

«Ich kann Ihnen erzählen, welcher Pastor unserer St. Petri Kirche», Marie deutete auf die kleine, für Angela genau auf die richtige Art und Weise unscheinbare Dorfkirche, die an dem Kopf des Marktplatzes stand, «den Messwein ausgetrunken hat und anschließend den ganzen Tag nackt die Glocken läutete. Ich erzähle Ihnen auch, warum der schwarze Stein vor der Kirche den Namen Stein der Tränen trägt und wie Freiherr Balduin von Baugenwitz einst in seiner Ritterrüstung starb.»

Angela schüttelte es ein wenig, war der jetzige Freiherr ihr also eben im Wald in einer Rüstung begegnet, in der sein Vorfahre gestorben war. Entweder hatte der Mann eine morbide Ader, oder er dachte nicht großartig nach über das, was er tat.

«Das klingt alles sehr spannend», antwortete Angela. All die Dinge, die die junge Frau eben erwähnt hatte, hatten nicht im Dossier des Bundesnachrichtendienstes über den Ort gestanden, das sie sich hatte kommen lassen. Nach dem Lesen des Dossiers an ihrem Schreibtisch im Kanzleramt hatte Angela sich gedacht: Ein so unscheinbarer Ort könnte genau das Richtige für mich sein!

«Passt Ihnen», fragte Marie, «morgen Nachmittag um 16.00 Uhr?»

«Ich habe nichts anderes vor», erwiderte Angela mit einem Satz, den sie das letzte Mal im letzten Jahrtausend gesagt hatte. «Mein Mann kommt auch mit. Und mein Personenschützer ebenfalls.»

«Drei verkaufte Tickets», schmunzelte die Fremdenführerin, «das ist der bisherige Jahresrekord.»

«Ich habe», trat Achim hinzu, «eine sehr, sehr gute Nachricht.»

«Ich liebe gute Nachrichten», antwortete Angela, die gelernt hatte, sich über jede dieser seltenen Blüten des Lebens zu freuen.

«Wir können La Traviata doch live sehen.»

«Übertragen sie an einem anderen Tag?», staunte Angela, wusste aber zugleich, dass dies unmöglich war. Ihr Achim irrte sich eigentlich nie, wenn es um Daten, Zahlen und Fakten ging.

«Nein, die Aufführung ist heute. Aber wir müssen nicht zum Weinfest gehen.»

«Nicht?»

«Der Wein, der hier angebaut wird, ist ziemlich mäßig. Und das ist noch eine sehr freundliche Formulierung.»

«Puffel, es geht mir bei dem Weinfest nicht um den Wein.»

«Nicht?», staunte er.

«Nein.»

«Ich bin verwirrt.»

«Das bist du oft.»

«Das ist wohl wahr.»

«Es geht darum, die Menschen kennenzulernen, die hier leben. Und wo wir schon dabei sind, das hier ist Marie Horstmann, sie leitet die Touristikzentrale von Klein-Freudenstadt.»

«Angenehm, mein Name ist Achim Sauer. Sauer wie lustig, nur komplett anders.»

«Ebenfalls angenehm», sagte Marie.

«Sie kommen doch heute sicherlich auch zu dem Fest?», fragte Angela und staunte sogleich, weil die junge Frau, die bisher so fröhlich gewirkt hatte, mit einem Male versteinerte und nur knapp mit «Nein» antwortete. Angela glaubte sogar, ein Zittern bei ihr gesehen zu haben.

«Haben Sie wie wir etwas anderes vor?», fragte Achim.

«Wir haben nichts anderes vor», unterbrach Angela ihren Mann. Und um die junge Frau nicht weiter zu behelligen, sagte sie freundlich zu ihr: «Wir sehen uns dann morgen.»

«Ja, genau … Punkt 16.00 Uhr», antwortete Marie und versuchte, sich dabei ein gequältes Lächeln abzuringen, was ihr jedoch nicht wirklich gelang. «Bis dann.»

Sie ging über den Marktplatz davon, und Achim staunte: «Ich hätte nicht gedacht, dass jemand noch heftiger auf den Wein reagiert als ich.»

«Ich glaube nicht, dass die junge Frau wegen der mangelnden Weinqualität nicht zum Fest geht.»

«Das wäre aber ein guter Grund.»

«Ich befürchte, bei ihr handelt es sich um einen noch besseren Grund», mutmaßte Angela und fragte sich, was die Schwangere wohl so zum Zittern gebracht hatte. Gab es einen Ehemann, der sie nicht ausgehen ließ? Oder lag es an dem Fest selber? War dort jemand, dem sie absolut nicht begegnen wollte?

Angela nahm sich vor, dieser Frage morgen bei der Führung unauffällig nachzugehen. Die junge Frau war ihr sympathisch, und falls sie ihr irgendwie helfen könnte, würde sie es tun.

4

Angela hatte sich ihren roten Lieblings-Blazer angezogen, den sie auch zum WM-Finale 2014 getragen hatte. Achim, der noch nicht mal genau wusste, gegen wen Deutschland damals gewonnen hatte, trug seinen besten und zugleich einzigen Anzug. Den hatte er sich 1997 angeschafft, als er das erste Mal Angela zu einem offiziellen Empfang begleiten musste, um gleich darauf seine Hypothese bestätigt zu sehen, dass ihm solche Termine keine allzu große Freude bereiten würden. Die beiden standen im Wohnzimmer ihres Fachwerkhauses aus dem Jahre 1789. Es hatte niedrige Decken, an deren tiefhängenden Balken sich Zweimetermann Mike im Durchschnitt, wie Achim errechnet hatte, 3,73 Mal am Tag den Kopf stieß. Angela und ihr Mann hatten sich in dem Häuschen gemütlich eingerichtet und dabei von den Vorbesitzern einige alte Möbel übernommen: Schränke aus dem 19. Jahrhundert, einen rustikalen Esstisch mit noch rustikaleren Stühlen und einen wahnsinnig bequemen Polstersessel, von dem Achim gedacht hatte, dass er dort seine Bücher über Teilchenwissenschaft studieren könnte, dann aber feststellen musste, dass Putin den Sessel als seinen Lieblingsschlafplatz auserkoren hatte. Mike verputzte gerade das dritte Stück von Angelas frisch gebackenem Apfelkuchen und seufzte: «Jetzt muss ich morgen wieder eine halbe Stunde länger trainieren.»

«Das tut mir leid», antwortete Angela, ohne echtes Mitgefühl. Sie hatte sogar eine gewisse diabolische Lust daran entwickelt, die eiserne Selbstdisziplin des Mannes aufzuweichen. Morgen würde es extra viel Sahne zum Kuchen geben!

Angela deckte den Kuchen ab, während ihr Mann in der offenen Küche die Spülmaschine nach einem ausgetüftelten System befüllte, das Angela nicht in Frage stellte. Zum einen, weil sie keine Lust hatte, sich Achims Berechnungen anzuhören, denen zufolge man sich jeden 12,7-ten Maschinengang sparen konnte. Aber viel mehr noch, weil Achim der Überzeugung war, dass nur er die Maschine perfekt einräumen konnte, und sie daher diese Aufgabe dankenswerterweise für alle Zeit los war.

«Soll ich», fragte Mike, «den restlichen Kuchen wieder den Obdachlosen im Ort geben?»

«Natürlich.»

«Die beiden Kerle haben», amüsierte Mike sich, «in den letzten Wochen ganz schön zugenommen.»

Auch wenn man es ihm nicht ansah, Mike hatte ein großes Herz. Angela hatte sich im Bewerbungsgespräch für ihn entschieden, als sie erfuhr, dass er geschieden war und eine kleine Tochter in Kiel hatte, die er über alles liebte. Im Gegensatz zu den anderen Kandidaten, die allesamt so wirkten, als würden sie, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Hundewelpen töten, wenn man es von ihnen verlangte. Solche Kerle wollte sie weder sich noch Putin antun, der sich gerade in seinem Körbchen einrollte – jedenfalls soweit sich ein Mops überhaupt einrollen konnte. Als Putin endlich seine ideale Position gefunden hatte, konnten alle im Raum hören, wie sein Darm sich wohlig entspannte. Und leider auch riechen.

«Ich glaube», grinste Angela, «das ist für uns das Signal zu gehen.»

Mike und Achim nickten synchron. So traten alle drei aus dem Haus, atmeten tief ein und machten sich auf den Weg. Mit jedem Schritt auf dem Kopfsteinpflaster der kleinen Straße mit den Fachwerkhäuschen freute sich Angela mehr darauf, die Dorfbewohner bei dem Fest kennenlernen zu dürfen. Das würde ihr gewiss helfen, sich heimisch zu fühlen. Und je eher sie sich heimisch fühlte, desto eher würde der kleine Teil in ihr, der sich zurück nach Berlin sehnte und dessen Existenz sie Achim verheimlichte, zum Schweigen gebracht.

5

Ihr Weg führte vorbei an der St. Petri Kirche aus dem Dorf hinaus, auf eine wenig befahrene Landstraße, von der aus das auf einer Anhöhe gelegene Schloss Baugenwitz zu sehen war. Es stammte aus dem 17. Jahrhundert, sein weißes Mauerwerk strahlte in der Spätnachmittagssonne, und noch mehr leuchteten die scharlachroten Dächer.

Während Angela, Achim und Mike gemeinsam mit vielen anderen Menschen die baumbestandene Auffahrt zum Schloss hochgingen, tuckerte ein Traktor an ihnen vorbei. Auf ihm saßen vier Bauern sowie die Obstverkäuferin, allesamt mit grimmiger Miene. Und als sie vorbeigezogen waren, wusste Angela auch, warum: Hinten am Traktor war ein Banner befestigt, auf dem zu lesen stand: Kein Verkauf von unserem Land!

Angela hatte natürlich in dem BND-Dossier gelesen, dass der Freiherr in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Das Schloss erstrahlte nur so hell dank der Subventionen, die er bekommen hatte. Der Hotelbetrieb, der die laufenden Kosten hätte decken sollen, war so defizitär, dass der Betrieb inzwischen eingestellt worden war. Die Verlustzahlen konnten nicht mal im Ansatz durch den kleinen Weinberg und das Verpachten der Ländereien an die Bauern kompensiert werden. Gegenüber der lokalen Presse versicherte der Freiherr stets, dass Schloss und Ländereien nicht zum Verkauf stünden, da er die jahrhundertealte Tradition seiner Familie in der Uckermark bewahren wolle. Doch vor einem Monat war ein lukratives Kaufangebot eines exzentrischen amerikanischen Elektroautoherstellers hereingeflattert, der aus den Ländereien einen Siebzehntwohnsitz mit Golfplatz machen wollte. Seitdem waren die Dorfbewohner sich nicht mehr so sicher, ob die Heimatverbundenheit des Freiherrn groß genug war, um der Verlockung des Geldes zu widerstehen.

Als Angela, Achim und Mike am Schlosstor ankamen, bauten die Bauern schon ihren Proteststand auf: Banner, Flugblätter und ein Megaphon, das beim Einschalten fiepte. Ein besonders zorniger Bauer rief: «Die Uckermark gehört uns! Die Uckermark gehört uns!» Die Tatsache, dass sein Megaphon alle fünf Sekunden rückkoppelte, konnte ihn nicht davon abhalten.

«Streng genommen», sagte Achim zu Angela, «stimmt es nicht, was der Mann da sagt. Der Boden gehört zu einem viel zu großen Teil nicht den Uckermärkern, sondern wenigen Privatpersonen wie dem Freiherrn und dem Staat.»

«Du solltest das gegenüber den Demonstranten nicht erwähnen.»

«Warum?»

«Was habe ich immer zu meinen Ministern gesagt?»

«Kein Mensch mag Klugscheißer?»

«Genau.» Angela nahm nun wahr, dass Mike die Demonstrierenden misstrauisch beäugte, und sagte zu ihm: «Ich glaube, hier besteht keine Gefahr.»

«Keine Gefahr? Überall lauern Gefahren! Wie damals in Johannesburg, als der Außenminister von einem auf den ersten Blick total niedlichen Hund attackiert wurde. Danach hatte er am Hintern ein total großes Loch in der Hose …»

«Mike?», unterbrach Angela.

«Zu viel Informationen?»

«Zu viel Informationen.»

Angela ging zu dem Stand mit der sympathischen Obstverkäuferin und fragte: «Darf ich ein Flugblatt haben?»

«Nehmen Sie zwei …»

«Dann habe ich eins mehr?»

«Sie lernen schnell.»

Die beiden grinsten sich an. In diesem Moment fragte sich Angela, ob es nicht nett wäre, diese Frau näher kennenzulernen. Vielleicht backte sie auch gerne Obstkuchen? Sicher würde sich Angela schneller einleben, wenn sie hier eine Freundin finden würde, mit der sie backen könnte.

Eine Freundin.

Angela hatte in ihrem Leben noch nie eine beste Freundin gehabt. Selbst nicht in der Grundschule, wo sie von den anderen Mädchen oft gehänselt wurde. Sie haben sogar gesungen: Igitt, igitt, Angela hat einen Topfschnitt.

Während Achim schon seit dem Studium seinen besten Freund Tommy hatte, mit dem er alle zwei Tage via Skype Scrabble spielte, hatte Angela die letzten Jahrzehnte mit Verteidigungsministerinnen, Ministerpräsidentinnen und Büroleiterinnen verbracht. Eine echte Freundin konnte man unter denen nicht finden. Es hatte ihr bisher auch nie etwas ausgemacht, denn in der spärlichen Freizeit hatte ihr Achim als bester Freund voll und ganz gereicht. Aber was sollte sie alleine in Klein-Freudenstadt machen, wenn Achim bei seiner jährlichen Drei-Wochen-Tour mit seinem Kumpel Tommy durch die Alpen wanderte? Angela sah sich schon heimlich im Auto nach Berlin fahren, um nicht allein im Fachwerkhäuschen zu versauern. Oder eben, und das wäre zu bevorzugen, Kuchen backen mit einer echten Freundin.

«Dreimal dürfen Sie raten», fragte die, «wie ich heiße.»

Angela überlegte.

«Aber antworten Sie jetzt bloß nicht Mandy!»

«Sandy? Oder Candy?», scherzte Angela.

«Nein», lachte die Frau auf.

«Handy?» Angela hatte, wenn sie sich wohlfühlte, durchaus Freude an sinnlosen Albernheiten.

Die Obstverkäuferin lachte darauf noch mehr: «Nein, ich heiße auch Angela!»

«Ehrlich?»

«Ehrlich!»

Diesmal lachten beide.

«Wollen wir jetzt», drängelte Achim, «zu dem Weinfest?»

«Ja, gleich», antwortete jene Angela, die mit ihm verheiratet war.

«Und wenn Sie schon mal drin sind», sagte jene Angela, die nicht mit Achim verheiratet war, «machen Sie dem sauberen Freiherrn mal klar, dass er die Ländereien nicht verkaufen darf. Nicht nur, dass unsere Existenzen dranhängen! Es wird auch viel Natur vernichtet! Die Amis wollen den See hinter dem Schloss mit all den Laichplätzen trockenlegen.»

«Ich werde sehen, ob sich das im Gespräch ergibt», versprach Angela, ohne wirklich etwas zu versprechen. Nach so vielen Jahren als Politikerin eine ihrer leichtesten Übungen. Dann trat sie mit Achim und Mike durch das Schlosstor auf den Vorplatz. Auf der Rückseite des Flyers war ein Foto der sympathischen Obstverkäuferin. Sie hieß tatsächlich Angela. Angela Kessler. Und sie war nicht nur Bäuerin und Obstverkäuferin, sondern auch Musiklehrerin und … stellvertretende Kreisvorsitzende der AfD???

So viel zum Thema: gemeinsames Kuchenbacken.

Und zu dem, in ihr eine Freundin zu finden.

6

Auf dem Schlosshof tummelten sich die Klein-Freudenstädter und bekamen von Männern in mittelalterlichen Harlekinkostümen Wein serviert und von mittelalterlich gekleideten Frauen kleine Wildschweinbratwürste, deren Grillgeruch Angela vermutlich nicht so schnell aus dem roten Blazer herausbekommen würde. Weiter hinten im Hof spielten Männer mit langen Bärten auf historischen Instrumenten eine sehr gewöhnungsbedürftige Version von La Cucaracha. Die vielleicht zweihundert Gäste unterhielten sich prächtig. Und im Zentrum des Trubels stand der Freiherr in jener Ritterrüstung, in der sein Vorfahre gestorben war. Neben ihm eine attraktive Blondine, etwa Anfang dreißig, in einem ganz und gar nicht mittelalterlichen, dafür enganliegenden schwarzen Kleid. In einer einzigen eleganten Bewegung trank sie ein Glas Champagner aus, stellte es schwungvoll auf dem Tablett eines vorbeilaufenden Harlekin-Kellners ab und nahm sich mit der freien Hand sogleich ein neues.

«Sie sind gekommen!», schepperte der Freiherr freudig und stakste in seiner Rüstung auf Angela und Achim zu. Mike hypnotisierte indessen eine Wildschweinbratwurst, wie Angela aus dem Augenwinkel bemerkte. Vermutlich fragte er sich, ob nach drei Stück Apfelkuchen noch Platz für eine Wurst war und um wie viele Minuten sich damit sein Trainingspensum morgen verlängern würde.

Die junge Dame im schwarzen Kleid folgte dem Freiherrn champagnerschlürfend. Dem Ring mit viel zu großem Brillanten nach zu folgern, handelte es sich um dessen Ehefrau. Als das Paar Angela und Achim erreicht hatte und der Freiherr gerade zu sprechen ansetzen wollte, raunte ihm seine Frau im Befehlston zu: «Setz bitte endlich das alberne Ding ab.»

«Du hast ja recht», schepperte er und befreite seinen Kopf von dem schweren Helm. Zum Vorschein kam ein grau melierter Anfangfünfziger, und Angela stellte verwundert fest, dass er aussah wie eine Mischung aus Roger Moore und Norbert Röttgen.

«Darf ich Ihnen vorstellen: Das ist meine Frau, Alexa von Baugenwitz», lächelte der Mann mit einem Zahnpastalächeln, das sicherlich viele Frauen betören konnte.

«Ihnen sicherlich», lächelte die Freifrau selbstbewusst, «besser bekannt als Alexa Morgen.»

«Nie gehört», sagte Achim, der für eine Karriere im diplomatischen Dienst nicht vorgesehen war.

«Aus Rote Rosen», versuchte die Frau, ihm auf die Sprünge zu helfen. Und Angela, die wusste, dass ihr Mann von Rote Rosen genauso wenig Ahnung hatte wie von Toten Hosen oder allgemein von Unterhaltungskultur, ergänzte: «Das ist eine Fernsehserie.»

«Meine Alexa», erklärte der Freiherr, «hat darin gespielt. Bis ich sie rettete und zu meiner Frau machte.»

«Da gab es nichts zu retten. Ich war der Star der Serie», widersprach die Frau mit einem gezwungenen Lächeln, das ihre Wut über die Herablassung ihres Mannes nur unzulänglich überdeckte. Offensichtlich war sie nicht die gute Schauspielerin, für die sie sich noch offensichtlicher hielt.

«Was immer du sagst, Liebes», setzte der Freiherr seinen überheblichen Tonfall fort. Es hätte eigentlich nur noch gefehlt, dass er ihr dabei den Kopf tätschelte.

«Ich habe», erklärte die Freifrau, «Dr. Beate Borg gespielt, die Ärztin, der die Frauen vertrauen, obwohl sie ein Alkoholproblem hat.» Dem mittlerweile zu drei Vierteln geleerten Champagnerglas nach zu urteilen, gab es zumindest in diesem Punkt eine Deckungsgleichheit zwischen Rolle und Darstellerin.

«Die Ärztin», spöttelte der Freiherr, «die die Frauen verhauen.»

«Immerhin habe ich mein eigenes Geld verdient», konterte die Freifrau.

«Du sollst nicht so viel trinken!» In Sekundenschnelle hatte sich der Tonfall verändert.

«Es gibt auch ein paar Dinge, die du nicht tun sollst», ätzte sie zurück, wie es nur eine verletzte Frau unter Alkoholeinfluss tun konnte.

«Können wir das später besprechen?»

«Warum nicht jetzt? Jeder kann es hören.»

«Aber», versuchte Angela zu deeskalieren, «vielleicht will es nicht jeder hören.»

«Ich ganz bestimmt nicht», stellte Achim fest.

«Es geht darum, dass mein Mann …»

«Es ist Zeit», unterbrach eine weibliche Stimme, «dass du das Fest offiziell eröffnest, Philipp!»

Alle Köpfe drehten sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine dunkelhaarige Frau um die fünfzig war zu der Gruppe getreten. Mit ihrem schwarzen Hosenanzug und dem Klemmbrett in der Hand sah sie aus, als ob sie die ganze Festivität organisierte.

«Dann werde ich jetzt wohl die Party eröffnen», sagte der Freiherr und klackerte in der Ritterrüstung los, ohne sich von Angela, Achim oder Mike zu verabschieden. Er hatte es viel zu eilig, die unangenehme Szene, die seine Frau ihm bereitet hatte, zu verlassen. Und die wiederum machte sich, ebenfalls ohne ein weiteres Wort, auf die Suche nach Champagner-Nachschub.

«Es tut mir leid, dass Sie davon Zeuge werden mussten», sagte die Frau mit dem Klemmbrett.

«Und mir erst», antwortete Achim.

«Dafür können Sie ja nichts», sagte Angela zu der Frau, die distinguiert und gebildet wirkte. Sie hatte einen Stil, wie man ihn in Klein-Freudenstadt nicht unbedingt erwarten würde. Diese Dame stand ihr, so etwas spürte Angela immer sehr schnell, in Intelligenz in nichts nach. Vielleicht sollte sie sich mal mit ihr verabreden? Nicht fürs Backen, eher für einen schönen Austausch bei einer Tasse Tee über Goethe, Rilke oder sehr gerne auch Shakespeare.

«Gestatten, ich bin Katharina Freifrau von Baugenwitz.»

«Ich dachte, die Dame eben ist die Frau von Don Quijote?», sagte Achim.

«Ich war seine erste Ehefrau.»

«Leben Sie hier alle gemeinsam?»

«Das Schloss ist groß. Wenn man will, kann man sich wochenlang aus dem Weg gehen. Meine Wohnung liegt im Westflügel und mein Büro auch. Ich kümmere mich um den Schlossbetrieb.»

Angela fragte sich, ob sie wohl auch in den Verkauf des Schlosses an den amerikanischen Autoindustriellen involviert war.

«Wenn Sie mögen, gebe ich Ihnen nachher eine kleine Führung.»

«Sehr gerne», sagte Angela, die diese Frau gerne näher kennenlernen wollte.

«Wunderbar. Und wenn ich Sie gleich noch etwas fragen dürfte …»

«Selbstverständlich.»

«Sie haben ja Kontakte zum Justizministerium, und ich hätte da eine Angelegenheit, bei der Sie mir vielleicht helfen könnten.»

Genau um solche Gespräche nie mehr führen zu müssen, war Angela nach Klein-Freudenstadt gezogen. Doch sie lächelte tapfer und versprach erneut etwas, ohne etwas zu versprechen: «Ich werde sehen, was sich machen lässt.» Dabei war sie enttäuschter, als ihr lieb war. Nein, sie hatte keine Lust mehr, mit der Frau Tee zu trinken.

«Danke», sagte Katharina von Baugenwitz. «In einer halben Stunde machen wir die Führung. Ich muss vorher noch ein paar Dinge organisieren, und da ist auch schon das erste. Pia, kommst du mal her?»

Sie winkte eine Jugendliche mit blau gefärbten Haaren und schwarzer Lederjacke zu sich. Es war das junge Mädchen, von dem Angela gestern den Flyer für das Weinfest bekommen hatte, ohne ihr Beachtung zu schenken.

«Was ist?», fragte sie in gelangweiltem Tonfall.

«Machst du bitte ein Foto von mir und der Dame für unsere Homepage?»

«Wenn du willst», kam es wenig begeistert zurück.

Motiviert, dachte Angela, war etwas anderes.

«Pia ist meine Tochter aus erster Ehe», erklärte Katharina von Baugenwitz.

«Also die Tochter von Don Quijote?», fragte Achim.

«Nein, Philipp war mein zweiter Ehemann», antwortete Katharina. Und die Art, wie sie das sagte, verriet, dass sie die Ehe mittlerweile für einen schweren Fehler hielt. «Mein erster Mann ist bei einem Autounfall verstorben.»

«Herzliches Beileid», sagte Achim.

«Herzliches Beileid», sagte Angela, auch in die Richtung des blauhaarigen Mädchens. Anstatt zu antworten, ging die wieder ein paar Schritte weg und spielte an ihrem Handy. Ganz so, als ob der Tod des eigenen Vaters sie nichts anginge. Angela wandte sich wieder an die Mutter: «Das muss auch für Ihre Tochter hart gewesen sein.»

«Ja, sie hat ihren Papa abgöttisch geliebt», antwortete die Freifrau mit brüchiger Stimme. «Aber sie weiß, dass ich für sie da bin. Und dass ich alles für sie tun würde. Alles!»

Angela betrachtete das Mädchen: Es musste nicht einfach für sie gewesen sein, als ihre Mutter Philipp zum zweiten Ehemann gemacht hatte und er ihr Stiefvater wurde. Was er nach der Scheidung natürlich nicht mehr war. Die arme Pia hatte also auf ganz unterschiedliche Art und Weise schon zwei Väter in ihrem Leben verloren.

«Kannst du mal von dem Ding aufschauen?», rief ihre Mutter, die ganz offensichtlich nicht weiter über den Tod ihres Mannes reden wollte.

«Kann ich», rief Pia zurück, ohne es zu tun.

«Früher», seufzte Katharina, «hat man sie nicht aus der Bibliothek herausbekommen, und jetzt weiß sie nicht mal mehr, was ein Buch überhaupt ist.»

«Soll ich jetzt ein Foto machen oder nicht?», fragte Pia ungeduldig nach.

«Meine Tochter ist eine Top-Fotografin. Sie müssen wissen, sie ist Influencerin.»

«Besser Influenza …», hob Achim an.

«Was habe ich über Corona-Witze gesagt, Puffel?»

«Dass du sie bis zum Lebensende nicht mehr hören willst.»

«Exakt.»

«Sie nennen Ihren Mann Puffel? Ernsthaft?», fragte Pia.

«Wollen Sie jetzt ein Foto machen oder über unsere Kosenamen reden?», fragte Angela ganz und gar nicht amüsiert.

«Über die Kosenamen reden», antwortete der Teenie feixend. «Wie läuft das denn so bei Ihnen? Sagen Sie: Küss mich, Puffel?»

Mike, der mit einer Wurst hinzugetreten war, kämpfte schwer mit einem Grinsen. Angela und Achim sahen ihn pikiert an, woraufhin er rasch seine Mimik unter Kontrolle brachte.

«Oder», redete das blauhaarige Mädchen unverblümt weiter, «gib’s mir, Puffel?»

Mike musste auflachen.

Angela und Achim schauten ihn noch pikierter an, und er biss sich auf die Lippe.

«Ich denke», sagte Angela, «wir lassen das mit dem Foto bleiben.» Sie wandte sich mit Achim und Mike zum Gehen.

«Pia!», rief ihre Mutter tadelnd, während sich Angela, Achim und Mike entfernten. «Hör endlich auf damit!»

«Warum sollte ich?»

«Wir könnten auf ihre Hilfe angewiesen sein.»

«Okay.»

Und Angela, die dies noch gehört hatte, dachte bei sich: Womöglich bereitete es doch nicht so viel Freude wie gedacht, die Menschen von Klein-Freudenstadt näher kennenzulernen.

7

Der Freiherr trat auf ein kleines Podium, das auf dem Schlossplatz aufgebaut war. Er hatte wieder seinen Ritterhelm aufgesetzt und sprach in ein Mikrophon: «Seid gegrüßt, liebe Untertanen!»

Die Gäste schauten teils irritiert, teils belustigt. Die blecherne Stimme des Freiherrn wurde durch das Mikrophon noch zusätzlich verzerrt, aber auch die Ansprache als Untertanen sorgte für Verwunderung.

«Helm ab!», rief die jetzige Ehefrau ihrem Gatten zu. Ihre Aussprache war bereits ein wenig undeutlich. Ihre Vorgängerin Katharina, immer noch mit Klemmbrett in der Hand, schüttelte missfallend den Kopf. Es war für Angela nicht eindeutig zu erkennen, ob sie es wegen der Rede des Freiherrn oder ihrer mittlerweile angeschickerten Nachfolgerin tat. Vermutlich wegen beidem. Ein paar Meter entfernt stand ihre Tochter und nahm die Rede mit dem Handy auf, gewiss für die Social-Media-Kanäle des Schlosses.

«Verzeihen Sie», sagte der Freiherr in Richtung Publikum, öffnete aber nur das Visier. Dem scharfen Blick nach zu urteilen, den er seiner Frau zuwarf, wollte er ihrem Befehl, den Helm abzusetzen, auf gar keinen Fall nachkommen.

«So wie ich Sie begrüßt habe», las er nun von einem Redemanuskript ab, «hätte mein Urahn und Errichter von Schloss Baugenwitz, Balduin von Baugenwitz, zu Ihnen gesprochen. Und dann vermutlich einige von Ihnen gepfählt, weil Sie Ihren Tribut nicht entrichten konnten.»

Außer dem Redner fand dies keiner amüsant.

«Vielleicht auch gerädert, in eine Eiserne Jungfrau gesteckt oder mit einem Morgenstern dafür gesorgt, dass Sie keinen Abendstern mehr sehen würden.»

Die Zuhörer fühlten sich mittlerweile unwohl.

«Der», raunte Mike leise vor sich hin, «ist ja noch unlustiger als der Sauer.»

Achim schaute ihn pikiert an.

«Hab ich das zu laut gesagt?», fühlte sich Mike ertappt.

Achims Blick gab die Antwort. Und Angela machte sich eine mentale Notiz für das nächste Mitarbeitergespräch. Mike musste darauf achten, dass seine tiefe Stimme auch beim Flüstern weit trug.

«Heutzutage», las der Freiherr weiter vom Blatt, «leben wir ja anders zusammen. Und ich krümme niemandem auch nur ein Härchen. Außer das eine Mal, als ich aus Versehen bei der Jagd unserer Polizistin Fräulein Amadeus mit dem Schrotgewehr einen leichten Streifschuss verpasst habe.»

Jetzt lachten die Leute. Nur die rothaarige Endzwanzigerin in Polizeiuniform, auf die der Freiherr während seiner Rede deutete, hatte ganz offensichtlich schon mal lustigere Sachen gehört. Angela registrierte, dass Mike sie interessiert betrachtete. Anscheinend war sie sein Typ.

«Immerhin», der Freiherr war dank des Gelächters des Publikums wieder ein wenig beschwingter, «bekam ich dafür nur eine Geldstrafe. Während mein Vorfahr Balduin von seiner eigenen Frau mit Schierling vergiftet wurde.»