Mit aller Härte. Wie Polizei und Staatsschutz Linksradikale jagen - Frank Brunner - E-Book

Mit aller Härte. Wie Polizei und Staatsschutz Linksradikale jagen E-Book

Frank Brunner

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Beschreibung

MIT aller Härte bietet einen spannenden Einblick in zwei auf den ersten Blick verschiedene Welten: einerseits Polizei und Geheimdienste auf der Jagd nach Staatsfeinden, anderseits ein Biotop aus Kommunisten und Anarchisten, die von der Revolution träumen. Dabei sind beide Gruppen sich ähnlicher, als sie denken: Ermittler und Linksradikale schotten sich ab, pflegen eine eigene Sprache; beide verfolgen ihre Ziele mit einem Furor, der ständig zwischen gnadenlosem Ernst und unfreiwilliger Komik mäandert.

Frank Brunner lässt beide Welten wie in einem Krimi aufeinander prallen. Er beschönigt nichts und stellt trotzdem die richtigen Fragen: Rechtfertigt der Zweck die Mittel oder muss das Ziel auch bei der Wahl der Mittel immer erkennbar bleiben?

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumPrologKapitel 1: VerhaftungKapitel 2: AusnahmezustandKapitel 3: JagdbeginnKapitel 4: LauschangriffKapitel 5: EnttarnungKapitel 6: MaskeradeKapitel 7: AkademikerrundeKapitel 8: OpelprollsKapitel 9: St. OberholzKapitel 10: ParanoiaKapitel 11: KriminalgerichtKapitel 12: Déjà-vuEpilogZwei Jahrzehnte ÜberwachungAnmerkungenDanksagung

Über dieses Buch

MIT aller Härte bietet einen spannenden Einblick in zwei auf den ersten Blick verschiedene Welten: einerseits Polizei und Geheimdienste auf der Jagd nach Staatsfeinden, anderseits ein Biotop aus Kommunisten und Anarchisten, die von der Revolution träumen. Dabei sind beide Gruppen sich ähnlicher, als sie denken: Ermittler und Linksradikale schotten sich ab, pflegen eine eigene Sprache; beide verfolgen ihre Ziele mit einem Furor, der ständig zwischen gnadenlosem Ernst und unfreiwilliger Komik wandert.

Frank Brunner lässt beide Welten wie in einem Krimi aufeinander prallen. Er beschönigt nichts und stellt trotzdem die richtigen Fragen: Rechtfertigt der Zweck die Mittel oder muss das Ziel auch bei der Wahl der Mittel immer erkennbar bleiben?

Über den Autor

Frank Brunner ist Politikwissenschaftler und Journalist, schrieb unter anderem für Tagesspiegel, Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau. Er arbeitete als Textchef für den W. Bertelmann-Verlag, war Co-Autor und Schlussredakteur des Buches Geheimsache NSU (erschienen bei Klöpfer & Meyer). Derzeit ist er Autor bei Zeitenspiegel Reportagen, im »stern«-Büro Baden-Württemberg und Dozent an der Zeitenspiegel-Reportageschule Reutlingen. Er lebt in Berlin und Stuttgart.

Frank Brunner

MitallerHärte

Wie Polizei und Staatsschutz Linksradikale jagen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Katharina Theml, Wiesbaden

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic/shutterstock | © Plainpicture/Stephen Shepherd

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4936-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Prolog

Oliver Rast steht auf der Bühne des altehrwürdigen Maestro-Saals im Künstlerhaus Hannover. Um ihn herum Polizisten, Professoren und Strafvollzugsexperten. Ein früherer Mitarbeiter des Bundespresseamts ist auch dabei. Die Honoratioren strahlen, bilden Trauben um den Ehrengast aus Berlin. Schulterklopfen, Händeschütteln, warme Worte. Später gibt es Häppchen und Sekt. Es ist der 17. September 2016, und die Humanistische Union Deutschlands verleiht den Fritz-Bauer-Preis für Menschenrechte. Fritz Bauer war von 1956 bis zu seinem Tod 1968 hessischer Generalstaatsanwalt. Er zwang die bundesdeutsche Justiz zur Auseinandersetzung mit den Nazi-Verbrechen, kooperierte mit dem israelischen Geheimdienst, um Adolf Eichmann, den Organisator des millionenfachen Judenmords, vor Gericht zu bringen, und war maßgeblich am großen Auschwitz-Prozess 1963 in Frankfurt am Main beteiligt. Die nach ihm benannte Ehrung empfingen Persönlichkeiten wie der Schriftsteller Günter Grass, der FDP-Politiker Burkhard Hirsch sowie der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden.

An diesem regnerischen Spätsommerabend in Hannover tritt kurz nach neunzehn Uhr Kirstin Drenkhahn ans Mikrofon. Sie ist Juniorprofessorin für Kriminologie an der Freien Universität Berlin und eine Art Star im sonst eher drögen Juristenmilieu. Drenkhahn wird die Laudatio auf den diesjährigen Preisträger halten. Sie lobt dessen Organisationstalent, seine Öffentlichkeitsarbeit, seinen Aktivismus. Der Geehrte: Oliver Rast. Er bekommt die Auszeichnung stellvertretend für die von ihm mitgegründete Organisation »Gefangenen-Gewerkschaft«, die seit Wochen bundesweit für Schlagzeilen sorgt. Oliver Rast saß selbst im Knast. Jahrelang hatten ihn Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt gejagt. Als Mitglied der linksradikalen »militanten gruppe« soll er an dutzenden Anschlägen auf Polizeifahrzeuge, Autohäuser und Behörden beteiligt gewesen sein. »Mein politischer Aktivismus war sicher nicht immer zielführend«, merkt Rast in seiner Dankesrede selbstkritisch an. Die feine Gesellschaft im Saal quittiert das Eingeständnis mit verständnisvollem Schmunzeln.

In den Wochen nach der Preisverleihung überschlagen sich die Ereignisse. Fast täglich klingelt das Telefon im Roten Antiquariat, wo Oliver Rast seit seiner Freilassung wieder arbeitet. Redakteure von stern, Welt, Süddeutscher Zeitung und ZDF bitten um Einschätzungen. Als ein mutmaßlich islamistischer Selbstmordattentäter tot in einem Leipziger Gefängnis aufgefunden wird, schicken Mitarbeiter des Deutschlandfunks ein Taxi, um Oliver Rast als Experten ins Studio zu holen. Die Bundeszentrale für politische Bildung porträtiert Oliver Rast in einem Film, die Huffington Post bietet ihm eine eigene Kolumne an; Universitätsdozenten, Gewerkschaftsfunktionäre und Politiker laden ihn zu Podiumsdiskussionen und Hintergrundgesprächen ein.

Dies ist die Geschichte von Oliver Rast. Sie handelt von einem Mann, der mal ein Juso war. Ein Juso, bei dem sich SPD-Bürgermeister Walter Momper für seinen Wahlkampfeinsatz bedankt hatte. Ein Juso, der später einer Gruppe aus »irren Polizistenhassern« und »Polit-Rambos«1 angehörte, wie ein Boulevardmagazin schlagzeilte, und der schließlich vom Feindbild aller braven Bürger zum Liebling des Establishments avancierte.

Dies ist auch die Geschichte der »militanten gruppe«, einer klandestinen Organisation von Linksradikalen, denen ein Richter eine Vorreiterrolle im militanten Kampf gegen das demokratische System bescheinigte. Obwohl die Gruppe nie Menschenleben gefährdete, galt sie unter Fahndern als Fortsetzung der »Roten Armee Fraktion« (RAF) mit anderen Mitteln. Bis heute ist unklar, wer alles unter diesem Label agierte. Sicher ist, dass die »militante gruppe« noch Jahre nach ihrer offiziellen Auflösung das politische Geschehen in der Hauptstadt beeinflusst. Ende 2016 diskutierten Journalisten und Politiker über frühere konspirative Kontakte eines Staatssekretärs der Berliner Senatsverwaltung zu Mitgliedern dieser Gruppe. Wochenlang musste sich deshalb die Linkspartei, die den Mann nominiert hatte, unbequeme Fragen stellen lassen.

Auch für Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz wurden die Militanten zum Menetekel. Zwar konnten Polizisten drei Mitglieder, darunter Oliver Rast, verhaften, die nach einem monatelangen Prozess zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Gleichzeitig hinterließen die Ermittler jede Menge Kollateralschäden. Betroffen waren dutzende Unschuldige, deren Privatleben bis in entlegenste Winkel ausgeleuchtet wurde. Ohne jeden Anfangsverdacht wilderten Beamte in intimsten Geheimnissen, verwandelten selbst Liebe und Eifersucht in Aktenzeichen. All das geschah in einer Zeit, in der Neonazis raubend und mordend durch Deutschland zogen. Während Rechtsterroristen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) unter den Augen von dutzenden V-Leuten des Verfassungsschutzes neun Menschen mit ausländischen Wurzeln und eine junge Polizistin töteten, jagten Staatsschützer auf der linken Spur durchs Land. Sie verfolgten Wissenschaftler und Bürgerrechtler, bespitzelten deren Familien und Freunde. Deshalb ist das auch eine Geschichte von staatlichem Versagen und ein Lehrstück darüber, dass ausufernde Überwachung das Vertrauen der Bürger in den Staat erschüttert, ohne mehr Sicherheit zu garantieren. Wie konnte es dazu kommen?

Der Autor dieses Buches hat den Prozess gegen die »militante gruppe« von Anfang bis Ende verfolgt, mehrere tausend Seiten Ermittlungsakten ausgewertet und die Aussagen von Kriminalbeamten und Verfassungsschützern vor dem Berliner Kammergericht dokumentiert. Er hat mit Anwälten gesprochen, linke Aktivisten getroffen und militante Linksradikale besucht. Auch die Sichtweise der Ermittler vom Bundeskriminalamt sollte in dieses Buch einfließen. Die Behörde sah sich dazu außerstande. »Einen Interviewpartner kann ich Ihnen leider nicht zur Verfügung stellen«, antwortete eine BKA-Pressesprecherin auf die Bitte um ein Gespräch. Doch aus Sachstandsberichten, Observationsprotokollen, kriminaltechnischen Gutachten und Geheimdienstvermerken lässt sich die Arbeit der Staatsschützer von BKA und Verfassungsschutz rekonstruieren.

Die Namen von Polizisten, einigen Aktivisten und früheren Mitgliedern der »militanten gruppe« wurden verändert oder anonymisiert. Oliver Rast heißt wirklich so. Genauso wie Andrej Holm, ein früherer Staatssekretär, der regelmäßig bei öffentlichen Veranstaltungen auftritt. Die Namen von Richtern und Staatsanwälten wurden ebenfalls beibehalten.

Kapitel 1: Verhaftung

Die drei Männer hätten wissen müssen, dass sie in jener Nacht in eine Falle tappen. An Hinweisen hatte es nicht gefehlt. Einen hätten sie übersehen können. Oder zwei. Aber nicht so viele. Ihre Unachtsamkeit werden sie in den kommenden Jahren teuer bezahlen. Zunächst jedoch läuft alles nach Plan.

Dreieinhalb Stunden vor dem Ende seines bisherigen Lebens läutet es an der Tür von Oliver Rast. Es ist 22.41 Uhr an diesem letzten Julitag des Jahres 2007, und der 35-Jährige ist zufrieden. »Fast pünktlich«, denkt er und geht Richtung Flur. Seit ein paar Monaten wohnt er hier in der Tegeler Straße im Berliner Bezirk Wedding. Das Revier zwischen Sprengelpark und Sparrplatz ist kein Szeneviertel. Dönerbuden und Internetcafés ducken sich zwischen ergrauten Altbauten. Feierwütige Erstsemester, schwäbische Partytouristen und andere Hauptstadtplagen verirren sich selten in diese Gegend. Oliver Rast mag dieses Kleine-Leute-Milieu. Sorgfältig kultiviert er sein Image als Proletarier. Dafür besucht er Woche für Woche Heimspiele viertklassiger Fußballvereine oder vollgequalmte Absturzkneipen, wo allein das Wort Rauchverbot einen Aufstand auslösen würde. Mit seinem breiten Kreuz, dem starken Nacken und den raspelkurzen Haaren könnte Oliver Rast auch als englischer Hooligan durchgehen. Dass sich hinter der Fassade ein Bücherwurm versteckt, der druckreif über Politik parlieren kann und sardische Weißweine liebt, wissen nur jene, die ihn länger kennen. »Komm rein«, sagt Rast, als er die Tür öffnet. Schnell huscht der Besucher in die spärlich eingerichtete Wohnung. Was vor dem Haus vor sich geht, ahnen sie nicht.

Vor dem Haus wartet Carsten Großmann. Der vierzigjährige Kriminalhauptkommissar hat sich gegenüber dem Hauseingang von Oliver Rasts Wohnung postiert. Neben sich zwei Kollegen. Wie Großmann gehören sie zum Mobilen Einsatzkommando (MEK) des Landeskriminalamts Berlin. Insgesamt neun Beamte hat das MEK zur Observation abgestellt.2MEK-Einheiten sind darauf trainiert, Schwerkriminelle zu observieren und festzunehmen. Heute wurden sie vom Bundeskriminalamt (BKA) angefordert. Seit Wochen überwachen sie Handys und Festnetzanschlüsse von drei Männern, die auf den ersten Blick ein völlig normales Leben führen. Oliver Rast ist Antiquar, sein Freund, den alle nur »den Langen« nennen, ein Sozialpädagoge, und der Dritte im Bunde – er soll in dieser Geschichte »der Schwede« heißen – arbeitet als Altenpfleger. Keiner ist jemals mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Dennoch glaubt man beim BKA, drei große Fische an der Angel zu haben. Vor zwei Tagen schien sich der Verdacht zu bestätigen.

29. Juli 2007, kurz vor halb fünf Uhr nachmittags. Oliver Rast sitzt an diesem Tag an seinem Schreibtisch im Roten Antiquariat und stellte die Verkaufsliste zusammen, die er einmal im Monat an Stammkunden verschickt. Das Geschäft in der Rungestraße ist ein Sehnsuchtsort für Menschen, die noch immer nach Wegen zum Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus suchen oder einst gesucht haben. Und die nun, mit Wehmut und Pensionsanspruch, die zu Buchstaben geronnenen Überbleibsel ihrer rebellischen Jugend kultivieren. Oliver Rast liebt die Arbeit im Roten Antiquariat. Wo sonst wäre er umgeben von Büchern, deren Autoren jede noch so verborgene Schattierung linker Bewegungen ausleuchten. Gebrauchsanweisungen für den Graswurzelwiderstand lagern neben Pulverdampf-Prosa von Mao bis Malatesta. In meterhohen Regalen ruhen jene Utopien, die 1990 für eine schöne neue Welt beerdigt wurden. Zwischen Hardcover gepresste Träume, allmählich verblassend, wie Druckerschwärze auf vergilbtem Papier, aufgetürmt zu Bücherbarrikaden gegen den Kapitalismus draußen vor der Ladentür. Drinnen läutet ein Telefon.

»Ja?«, fragt Rast.

»Der Opel Astra ist im Eimer. Wagenschrott, Elektronik im Arsch«, sagt der Anrufer. Es ist der Lange.

»Was?« Oliver Rast will nicht glauben, was er gerade hört.

»Der Wagen musste abgeschleppt werden.«

»Dann besorg einen anderen, für morgen oder übermorgen.«

Das hat noch gefehlt, denkt Oliver Rast und legt auf. Zwanzig Minuten später greift er wieder zum Hörer und wählt eine Nummer.

»Hi, Schwede, haste was, um dich festzuhalten?«

»Was ist denn los?«

»Einspritzpumpe ist hin, hat der Lange kaputt gemacht, ich krieg das Kotzen«, poltert Oliver Rast. »Ich hab ihn aufgefordert, Ersatz zu besorgen.«

»Ick kann gerade nicht, bin auf Arbeit.«

»Ja, aber du hast verstanden, was Sache ist?«

»Also ich hol das Ding nicht ab, ja?«

»Richtig. Und komm einfach kurz nach der Arbeit zu mir.«

»Mach ick.«

»Jut, bye, bis nachher«, beendet Oliver Rast das Gespräch und widmet sich wieder seinen Preislisten.3

Dass gut sechshundert Kilometer von Berlin entfernt, in Meckenheim, BKA-Beamte in der Leitung mitgehört haben4, weiß er nicht. Seit sechs Jahren leiten Kriminalhauptkommissarin Ute Andernach und ihr Kollege Schubert die Ermittlungen gegen eine mysteriöse Truppe von Linksradikalen, die sich »militante gruppe« nennt und die dutzende Brandanschläge auf Gebäude und Fahrzeuge von Polizei, Justiz und Wirtschaftsverbänden verübt hat. Die Fahnder fürchten, dass irgendwann auch Personen ins Visier geraten könnten. Sie glauben auch, dass sich die »militante gruppe« als Nachfolgeorganisation der Roten Armee Fraktion (RAF) versteht und einen Umsturz plant. Die Fahnder vermuten zudem, dass zur »militanten gruppe« auch Wissenschaftler gehören. Die sprachlich sehr komplex formulierten Bekennerschreiben ließen keinen anderen Schluss zu.

Niemand kann den Staatsschützern vorwerfen, dass sie die Staatsfeinde unterschätzt hätten. 2001, nach Beginn der Anschlagsserie, starteten Andernach, Schubert und ihre Kollegen die Ermittlungen mit großem Eifer. Seitdem überwachten sie E-Mail-Konten und Telefone, erstellten Bewegungsprofile, installierten GPS-Sender in Autos, zielten mit versteckten Kameras auf Hauseingänge, protokollierten Banküberweisungen und observierten tagelang Verdächtige. Doch obwohl die Beamten Vollgas gaben, kamen sie nur im Schritttempo voran. Schuld daran war ein Nebel aus steilen Thesen, der ihnen die Sicht versperrte. Kein Wunder also, dass sie jahrelang von Panne zu Panne schlitterten. Bis zu diesem Tag. Bis zu diesem Telefonat.

Das Gespräch lässt die Ermittler hellhörig werden. Warum reagiert Oliver Rast wegen eines altersschwachen Opel Astra so aufbrausend? Zumal es nicht einmal sein eigener Wagen ist? Hier geht es um mehr als einen Fahrzeugschaden. Davon sind die Polizisten überzeugt. Möglicherweise brauchen die Männer das Auto, um Anschlagsziele auszukundschaften. Vielleicht wollen sie zu einem Treffen mit Gesinnungsgenossen fahren. Dass die Staatsschützer überhaupt auf das Trio gestoßen sind, war purer Zufall. Doch wen interessiert das jetzt noch? Andernach und Schubert brauchen einen Erfolg. Mittlerweile spotten schon Medien über die Ordnungshüter. »Polizei ist ziemlich ausgebrannt«5, titelte die Tageszeitung taz vor wenigen Wochen, nachdem die »militante gruppe« zwei Einsatzfahrzeuge in Flammen hatte aufgehen lassen.

Das Telefonat ändert alles. Deshalb überwachen die Ermittler zwei Tage lang jeden Anruf von Oliver Rast. Deshalb erfahren sie, dass der Lange bei einer Mietwagenfirma am Berliner Hauptbahnhof ein Fahrzeug reserviert hat und damit gegen 23 Uhr in der Tegeler Straße 15 auftauchen will. Deshalb müssen sich Kriminalhauptkommissar Großmann und seine Kollegen Falk Schauer und Polizeihauptmeister Jan Kraulmann die Nacht vor einem Weddinger Mietshaus um die Ohren schlagen. Genau 22.41 Uhr zeigt die Uhr, als der Schwede das Haus von Rast betritt. Eine Stunde später taucht der Lange auf. Zwanzig Minuten sind seitdem vergangen. Doch ein Fehlalarm? Gegen 23 Uhr verlöscht das Licht in der zweiten Etage. Kurz darauf öffnet sich die Haustür, und Großmann, Kraulmann und Schauer sehen, wie Oliver Rast, der Schwede und der Lange auf die schwach beleuchtete Straße treten. Langsam schlendern sie den Gehweg hinunter, biegen in die Kiautschoustraße und bummeln Richtung Pekinger Platz. »Die irren ziemlich ziellos umher«6, denkt Kraulmann, während er ihnen heimlich folgt. Nach einigen Minuten haben die drei ihren Gang ums Karree beendet. Der Lange verschwindet in der Lynarstraße, Rast und der Schwede gehen zurück ins Haus. Kurz darauf stehen sie mit zwei Rucksäcken und einer Plastiktüte7 wieder auf der Straße. Oliver Rast mustert die Umgebung und bemerkt auf der anderen Straßenseite, direkt vor dem türkischen Imbiss, einen Taxifahrer, der vor der geöffneten Haube seines Wagens steht und scheinbar ratlos in den Motorraum starrt. Der Mann wirkt sehr athletisch. »Ein Taxi hier um diese Zeit? Habe ich noch nie gesehen«, wundert sich Oliver Rast. Er glaubt für einen Moment, dass der Fahrer aus den Augenwinkeln zu ihnen herüberschaut. »Alles nur Einbildung«, beruhigt er sich und spaziert mit dem Schweden zum Langen, der bereits im Auto wartet.8

Zwei Stunden vor dem Ende seines bisherigen Lebens steigt Oliver Rast in einen Renault Clio mit Münchner Kennzeichen.9 Am Steuer des Mietwagens sitzt der Lange; der Schwede hat es sich auf der Rückbank bequem gemacht. Kurz nach Mitternacht lassen sie die Tegeler Straße hinter sich, rollen Richtung Seestraße, vorbei am Knast in Tegel, passieren den Spandauer Damm. In der Heerstraße stoppen sie an einer roten Ampel. Mehrere Taxis halten rechts und links neben ihnen. »Seltsam«, denkt Oliver Rast. In jedem Wagen sitzen zwei oder drei Fahrgäste, von denen einige auffällig unauffällig zu ihrem Clio blicken. Ein Pulk Taxis ist keine Seltenheit in Berlin. Auch nicht bei Nacht. Aber alle fast voll besetzt? Mit sportlich wirkenden Männern? »Als würden sie uns eskortieren«, sinniert Oliver Rast. Soll er die anderen darauf ansprechen? Die angespannte Stille stören? Besser nicht. Sonst glauben die noch, er sei paranoid.

Die Ampel schaltet auf Grün, der Lange beschleunigt, und wenig später sind die Taxis verschwunden. Allmählich wird es ruhiger auf den Straßen. Irgendwann verschluckt Finsternis die letzten Lichter Berlins. Aus Plattenbauten werden Backsteinhäuser, statt Supermärkte ziehen nun Felder an den Wagenfenstern vorbei. Der Lange meidet Autobahnen, steuert das Auto über kurvige Alleen und schmale Chausseen, durchquert Orte, die Nauen, Päwesin, Beetzsee und Brielow heißen. Die Männer nehmen diese Route nicht zum ersten Mal. Mehrmals haben sie für diese Tour geprobt. Doch irgendetwas ist heute anders als sonst. Es dauert eine Weile, bis Oliver Rast weiß, was ihn stört. Es sind die Lichtkegel im Rückspiegel. Er kann sich nicht erinnern, bei früheren Fahrten durch die nächtliche Einöde Brandenburgs ständig Fahrzeuge hinter sich gesehen zu haben. »Fahr die nächste Straße rechts rein«, sagt er zum Langen. Der bremst, biegt von der Dorfstraße auf einen holprigen Feldweg und parkt im Schutz der Dunkelheit.

Kriminalhauptkommissar Großmann hat Schwierigkeiten, den Renault Clio im Auge zu behalten. Manchmal verschwinden die Rücklichter und tauchen erst Minuten später wieder vor ihm auf. Solche Observationslücken sind suboptimal. Denn so weiß er nicht, ob zwischenzeitlich jemand zugestiegen ist oder das Auto verlassen hat. Gleich nachdem die Männer in der Tegeler Straße gestartet sind, haben er und seine Kollegen die Verfolgung mit mehreren Wagen aufgenommen. Parallel dazu überwacht auf der Dienststelle ein junger Kommissaranwärter fast zwei Dutzend Telefonanschlüsse. Eventuell kontaktieren die drei Männer während der Fahrt weitere Komplizen.

Doch die Männer haben andere Probleme. Wie reagieren auf den ungewöhnlichen Verkehr um diese Uhrzeit? »Wir ziehen das jetzt durch«, sagt Oliver Rast. Während die Männer beraten, sehen sie, wie die Autos auf der Hauptstraße vorbeifahren. Nach kurzer Beratung entscheiden sie, den Verkehr für Zufall zu halten. Langsam lenkt der Lange den Clio aus seinem Versteck, und es geht weiter über die Dörfer.

Eine halbe Stunde vor dem Ende seines bisherigen Lebens sieht Oliver Rast das Ortseingangsschild der Stadt Brandenburg an der Havel. Es ist kurz vor zwei Uhr. Scheinbar verlassen liegt eins dieser hässlichen Industriegebiete vor ihnen. Auch die Verfolger erreichen die Ortseinfahrt. Erneut haben sie den Clio verloren. Zu schnell sind die Männer Richtung Gewerbezentrum abgebogen. Erst an der Aral-Tankstelle gerät das Zielobjekt wieder in ihr Blickfeld. 10 Sie sehen, wie der Clio einige Meter nach der Tankstelle auf einem Feldweg neben einer Kleingartenanlage hält. Oliver Rast und der Schwede verlassen den Wagen, schultern ihre Rucksäcke und ziehen Richtung Hellweg-Baumarkt, der am Rande des Industriegebietes liegt. Oliver Rast sieht die zwei Fahrzeuge auf dem ansonsten völlig leeren Parkplatz gegenüber. Doch er hat heute bereits zu viele Merkwürdigkeiten erlebt, als dass ihn das noch wundern würde. In großem Bogen umgehen sie die Aral-Tankstelle, um nicht von den Überwachungskameras erfasst zu werden. Sie bemerken nicht, dass sie einem ihrer Verfolger fast über die Füße stolpern.

Polizeihauptmeister Kraulmann wurde von seinem Kollegen im Industriegebiet abgesetzt. Jetzt läuft er in den Feldweg hinein, um das Gelände zu sondieren. Plötzlich kommen ihm zwei dunkel gekleidete Gestalten entgegen. Direkt vor ihm. Maximal anderthalb Meter entfernt. Nur ein Sprung ins Gebüsch bewahrt ihn davor, entdeckt zu werden. Als Oliver Rast und der Schwede verschwunden sind, schleicht Kraulmann weiter, sieht wenig später den Clio. Bis auf fünf Meter robbt er heran. Kraulmann hat Glück. Für einen kurzen Augenblick hat der Lange die Innenraumbeleuchtung eingeschaltet, und deshalb kann Kraulmann den Mann hinter dem Steuer sehen.11 Während er in den Wagen späht, heften sich Polizeikommissar Schauer und Kriminalhauptkommissar Großmann an die Fersen von Rast und dem Schweden. Es ist ziemlich schwierig, bei Nacht in einem Industriegebiet Verdächtige zu beschatten. Manchmal muss man zu unkonventionellen Methoden greifen.

Oliver Rast und der Schwede haben die blaue Aral-Reklame fast hinter sich gelassen, da taucht wie aus dem Nichts ein stämmiger Kerl auf. Der Kerl hat offensichtlich zu viel getankt. Scheinbar orientierungslos torkelt er durch die Gegend, wankt schließlich zu einer Böschung, wo er sich erleichtert. Wäre Oliver Rast nicht gefangen in seinem Tunnelblick, würde er sich vielleicht fragen, ob in Brandenburg Betrunkene vom Himmel fallen. Denn weit und breit gibt es keine Kneipe, aus der sich ein Zechbruder verlaufen haben könnte, selbst die nächste Siedlung ist kilometerweit entfernt. Erst später sollen Oliver Rast alle diese Merkwürdigkeiten bewusst werden. Normalerweise ist er ein ausgezeichneter Stratege. Kein Draufgänger, sondern extrem detailverliebt. Zumindest wenn es um politische Aktionen geht. Seine Sorglosigkeit in dieser Nacht, die schon an Dilettantismus grenzt, wird ihm ewig ein Rätsel bleiben. Oliver Rast schaut auf sein Handy. 1.52 Uhr zeigt das Display. Nur noch ein paar Sekunden, dann haben sie ihr Ziel erreicht.

Aus dem Gebüsch heraus beobachtet Polizeikommissar Schauer, dass die Männer das Gelände der Firma MAN ansteuern. In den Werkstätten im Innern des zweigeschossigen Zweckbaus lässt die Bundeswehr Spezialfahrzeuge reparieren. Nur ein lächerlicher Zaun trennt die Straße vom teuren Kriegsgerät, das auf dem Werkparkplatz für jeden sichtbar auf die Wartung wartet. Allein in dieser Nacht parkt auf dem Betriebsgelände mindestens ein halbes Dutzend tarngrüner Trucks, darunter zwei Allrad-Zugmaschinen im Wert von jeweils 130 000 Euro. Mittlerweile ist auch Kriminalhauptkommissar Großmann im Industriegebiet angekommen. Er sieht die zwei Männer am Baumarkt vorbeilaufen. Auch er bemerkt die Rucksäcke.12 Am MAN-Gelände verschwinden Rast und der Schwede aus seinem Blickfeld. Nach einer Weile jedoch erscheinen die zwei wieder auf der Bildfläche, laufen zurück zum Wagen. Großmann schaut auf die Uhr. 1.55 Uhr. »Die zwei Personen sind aufgetaucht«, meldet er seinen Kollegen.13

Jetzt sieht auch Polizeikommissar Schauer die Verdächtigen. Die waren auf dem MAN-Gelände. Mit Großmann läuft er Richtung Werkseingang. Sie sehen einen Bauzaunabschnitt, der an den regulären Zaun gelehnt wurde, und steigen darüber hinweg. Schauer blickt sich um. Leuchtet da etwas unter einem der LKW? »Dort brennt etwas«, sagt er. Als Schauer näher kommt, sieht er, dass er richtiglag. Zwei 1,5-Liter-Plastikflaschen mit Klebeband umwickelt, unmittelbar daneben zwei Joghurtbecher, in deren Aludeckeln glimmende Grillanzünder stecken. Auch unter zwei anderen Bundeswehrfahrzeugen finden die Beamten solche Brandsätze. Polizisten kennen die Konstruktion. »Nobelkarossentod«, nennen militante Linke die Vorrichtung. Denn damit können sie in Kreuzberg oder Friedrichshain relativ gefahrlos die Audi, BMW und Mercedes wohlhabender Neuberliner in Altmetall verwandeln. Erst wenn der Grillkohleanzünder heruntergebrannt ist, entzünden sich die mit Benzin gefüllten PET-Flaschen. Bis dahin sind die Gentrifizierungsgegner über alle Berge. Schauer weiß nicht, wann die Brandsätze aufflammen werden. Aber ihm ist klar, dass er schnell handeln muss. Sonst besitzt die Bundeswehr ab heute Nacht ein paar Fahrzeuge weniger. Schnell greift er die Becher und stellt sie fünf Meter neben die Trucks. Kurz darauf erhellen hohe Stichflammen das Areal.14

Während sich Großmann und Schauer auf dem Gelände umschauen, versteckt sich ihr Kollege Kraulmann noch immer in der Nähe des Renault Clio. Deshalb sieht er, dass Oliver Rast und der Schwede zurückkehren. Der Clio startet und verschwindet auf der Brielower Landstraße. Polizeihauptmeister Kraulmann steigt in den Wagen von Kriminaloberkommissar Nick Alison, der neben ihm hält und anschließend die Verfolgung aufnimmt.15 Mehrere MEK-Fahrzeuge schließen sich an.

Fünf Minuten vor dem Ende seines bisherigen Lebens sieht Oliver Rast im Beifahrerspiegel, wie sich ihnen von hinten ein Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit nähert, ihren Clio überholt und vor ihnen in Schlangenlinien durch die Brandenburger Nacht kurvt. »Sind die betrunken?«, fragt sich Oliver Rast. Trotz Dunkelheit sieht er die Insassen. Kräftige Kerle mit kurzen Haaren. »Die sehen aus wie zweitklassige Hooligans«, sagt er. Der Lange nickt. »Oder Partygänger auf Koks«, mutmaßt der Schwede. Plötzlich taucht auch neben ihnen ein Wagen auf. Ein dritter ist hinter ihnen. Vier Autos, die in halsbrecherischem Tempo eine dunkle Straße entlangbrettern. »Da vorne kommt eine Kreuzung, bieg ab«, ruft Rast. Sein Puls rast jetzt mindestens so sehr wie der Clio, in dem er hockt. Mit quietschenden Reifen steuert der Lange in eine Gasse. Die Männer haben keine Ahnung, wo sie gerade sind. Vor ihnen taucht eine kleine Siedlung auf. Anscheinend haben sie ihre Verfolger abgehängt. Doch die Ruhe währt nur eine halbe Minute. Dann sind die irren Raser erneut da und nehmen den Clio in die Zange. Einer der Wagen überholt und macht eine Vollbremsung. Der Lange tritt ebenfalls in die Eisen. Im letzten Moment kann er einen Crash verhindern. Nun geht alles ganz schnell.

Oliver Rast sieht, wie aus allen Richtungen Vermummte mit Pistolen und gezogenen Schlagstöcken heranstürmen. MEK-Mann Kraulmann ist einer der Ersten am Clio. Er entglast die hintere Scheibe auf der Fahrerseite, will sich den Typen auf der Rückbank greifen. Doch gegenüber hält schon ein Kollege Oliver Rast in Schach. Also zerschlägt Kraulmann die vordere Seitenscheibe, zerrt den Langen am linken Arm hinterm Steuer hervor, bugsiert ihn nach draußen und legt ihm am Boden fixiert Handschellen an. Dann streift er ihm eine Schlafbrille über. Auf keinen Fall sollen die Terrorverdächtigen die Gesichter der Polizisten sehen. Kriminaloberkommissar Alison befördert den Schweden vom Beifahrersitz unsanft ins Freie und bringt ihn mit einem Tritt zu Boden.16 Der Schwede trägt dabei Hämatome am Kopf, Prellungen des Kiefers und Verletzungen im Rippenbereich davon, wie später ein Arzt diagnostiziert. »Einfache körperliche Gewalt«, sagt Alison.17 Sein Kollege Gerd Brieselang, der mit ihm und Kraulmann in einem der Verfolgerfahrzeuge gesessen hatte, sichert die Festnahme ab.18 Wie in Zeitlupe nimmt Oliver Rast das Tohuwabohu um sich herum wahr. Erst als seine Freunde schon bewegungsunfähig auf der Erde liegen, bemerkt er die Pistole vor seinem Gesicht. Ein Finger des MEK-Mannes ist gefährlich nah am Abzug. »Scheiße, der zittert ja«, schießt es Oliver Rast durch den Kopf. Sein Körper ist völlig erstarrt, das Gehirn wie eingefroren, alle Gefühle zusammengeschmolzen zu einem einzigen Gedanken: Nur nicht bewegen. Wie Kaugummi dehnt sich die Zeit vor seinen Augen. Nach einer Ewigkeit kommt eine Polizistin ums Auto gesprintet. »Aussteigen«, befiehlt sie. Nun liegt auch Oliver Rast gefesselt im märkischen Sand. Innerhalb von Sekunden hat das Mobile Einsatzkommando die Situation unter Kontrolle.

Es ist 2.15 Uhr19, als auf der Brielower Landstraße, nahe des Örtchens Radewege, das bisherige Leben von Oliver Rast endet. »Die sind wirklich gut«, denkt er noch, dann packt ihn Polizeikommissar Thomas Graupel, wirft ihn zu Boden und stülpt auch ihm eine Schlafbrille über.20 Später fährt Graupel den Clio zur Polizeiwache nach Brandenburg an der Havel.21

Gleichzeitig bricht anderswo hektische Betriebsamkeit aus. Auf dem MAN-Gelände im Industriegebiet treffen zunächst Brandenburger Polizisten ein, später stoßen Feldjäger der Bundeswehr dazu, noch später ein Team der Kriminaltechnik, das Spuren sichern soll.22 Einer von ihnen ist Kriminalhauptkommissar Kai Kelsen vom Bundeskriminalamt. Kelsen hat Bereitschaft in dieser Woche und muss deshalb an den Tatort. Er untersucht den Maschendrahtzaun, nimmt DNA-Abriebspuren, sichert die Brandsätze der Marke »Nobelkarossentod« und lässt sie zum BKA nach Wiesbaden transportieren.23 Sein Kollege sucht nach Faserresten, um sie später mit der Kleidung der drei Männer zu vergleichen.24 Gegen 2.30 Uhr greift im rheinland-pfälzischen Meckenheim Kriminalhauptkommissarin Andernach zum Telefonhörer und wählt die Nummer von Staatsanwältin Vollmer. »Die drei sind festgenommen«, sagt Andernach.

Die Männer werden derweil in eine Polizeiwache in Brandenburg an der Havel verfrachtet. Als die schwere Tür hinter Oliver Rast zuschlägt, herrscht endlich Ruhe. Müde lässt er sich auf die Matratze fallen. Sein Blick huscht über weiß gekachelte Wände; er sieht die grelle Neunröhre an der Decke und daneben den Ventilator, der vergeblich versucht, gegen die abgestandene Luft anzukämpfen. Der lärmende Lüfter wird jeden Schlaf verhindern. So viel ist sicher. Außerdem haben ihm die Polizisten bis auf Unterhosen und Socken alle Kleidung abgenommen. Spurensicherung. Jetzt steckt Oliver Rast in einem viel zu engen Maleroverall. Über Hände und Unterarme haben die Beamten Alutüten gewickelt, um mögliche Schmauchspuren, die er ausschwitzt, aufzufangen. Höchstens zehn Quadratmeter misst sein Domizil. Aber die Enge der Zelle stört ihn nicht. Viele Menschen, die das erste Mal hinter Gitter müssen, leiden unter Panikattacken und Depressionen. Haftschock, nennen das die Psychologen. Oliver Rast war klar, dass sein Weg irgendwann so enden könnte. Natürlich ist er aufgewühlt. Schließlich liegt seine spektakuläre Verhaftung kaum eine Stunde zurück. Dennoch dämmert er irgendwann weg.

Plötzlich hört er einen Schlüssel im Schloss rasseln, die Tür öffnet sich, und ein Polizist betritt die Zelle. Neben ihm ein bekanntes Gesicht. Das ging aber schnell. »Hallo, Herr Herzog«, begrüßt er den Besucher. Der ist verdutzt. »Sie kennen mich?« Oliver Rast grinst. Natürlich kennt er Thomas Herzog. Jeder in der linken Szene Berlins kennt ihn. Herzog gehört zum Anwaltskollektiv im Kreuzberger Mehringhof, einem der letzten Biotope der Autonomen. Hinter der Toreinfahrt des früheren Fabrikgeländes tobt noch immer die Lust auf bessere Zeiten. An Backsteinmauern künden Plakate und Parolen von der bevorstehenden Revolution – oder erinnern zumindest an die nächste Diskussion über die bevorstehende Revolution. Zwischen den Plenen schwärmen sympathisch-schrullige Weltverbesserer am Kneipentresen von vergangenen Kämpfen gegen das Schweinesystem. Umgeben von kostspielig auf alternativ gebürsteten Schnöselschuppen, trotzt der Mehringhof als gallisches Dorf einer Übermacht aus Yuppies, die Kreuzberg seit Jahren okkupiert haben. Im Mehringhof gibt es alle Zutaten für ein linkes Lebensgefühl: eine antiautoritäre Schule, eine Fahrradwerkstatt, einen linken Buchladen, linke Medien, linke Migrantenvereine und jede Menge anderer linker Projekte. Und weil linke Ideale manchmal mit der Staatsmacht kollidieren, gibt es im Mehringhof auch ein linkes Anwaltsbüro.

Von dort ist Thomas Herzog in den frühen Morgenstunden nach Brandenburg gefahren. Besonders optimistisch sieht er nicht aus. Herzog spart sich jede aufmunternde Vorrede, sondern fällt gleich mit der Tür ins Haus: »Die Bundesanwaltschaft glaubt, dass ihr zur ›militanten gruppe‹ gehört, und wirft euch Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor.« Es geht also nicht nur um den Brandanschlag heute Nacht, schlussfolgert Oliver Rast. »Die werden euch wahrscheinlich nach Karlsruhe fliegen«, legt Herzog nach. Bei solchen Aussichten bleibt nur noch die Flucht in den Sarkasmus. »Wie schön.« Oliver Rast grinst. Thomas Herzog zuckt mit den Schultern. »Hast du Hunger?«, fragt er. »Eigentlich nicht«, antwortet Rast. Herzog besteht trotzdem darauf, dass einer der Wachleute etwas zu essen besorgt. Tatsächlich schiebt sich kurze Zeit später ein leicht schwerfälliger Beamter durch die Tür und überreicht eine Mahlzeit.

Während Oliver Rast eine kalte Currywurst mit pappigen Pommes hinunterwürgt, feilen die Bundesanwälte in Karlsruhe schon am Haftbefehl. Die drei Festgenommenen wollten die »gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen zugunsten einer kommunistischen Weltordnung beseitigen«, heißt es darin. Oliver Rast gilt nun offiziell als Terrorist. Nach sechs Jahren erfolgloser Suche sind die Militanten in die Falle getappt. Oliver Rast ist am Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Eingequetscht in ein viel zu enges Polypropylen-Vlies, das sich an seinem Körper allmählich auflöst, gefangen in einer Brandenburger Ausnüchterungszelle.

Kapitel 2: Ausnahmezustand

Oliver Rast weiß nicht, wie lange er schon in seiner Zelle schmort. Ob seine Freundin schon davon erfahren hat? Wahrscheinlich nicht. Dafür ist es zu früh. Sorgen macht er sich um seine Mutter. Bald werden die Beamten vor ihrer Tür stehen und alles auf den Kopf stellen in ihrer Plattenbauwohnung im Märkischen Viertel. Ein halbes Leben hat Oliver Rast dort gelebt. Der Rapper Sido hat dem Quartier ein Denkmal gesetzt: »Hohe Häuser, dicke Luft, ein paar Bäume – Menschen auf Drogen, hier platzen Träume.« Der Song »Mein Block« machte Sido über Nacht berühmt. Vielleicht war es eine der besten Ideen von Paul Hartmut Würdig, wie der Mann im richtigen Leben heißt, sich als Gangster aus dem Sozialbaughetto zu inszenieren. Dank Sido flimmerte das Märkische Viertel als Videokulisse für Kleinganoven in die Kinderzimmer braver Mittelschichtsprösslinge. Die konnten sich dann unter ihren sanierten Stuckdecken wohlig gruseln.

Den miesen Ruf des Stadtbezirks im Norden Berlins hat Oliver Rast nie verstanden. Kurz nach seiner Geburt 1972 tauschten seine Eltern eine Abbruchbude in Berlin-Neukölln gegen Fahrstuhl, Warmwasser und Zentralheizung. Ein Zehngeschosser in der Quickborner Straße. Damals Luxus für eine Arbeiterfamilie. Bis er zwanzig war, hat Oliver Rast das Märkische Viertel kaum verlassen. Alles, was er brauchte, fand er hier. Freunde, Feinde und Bolzplätze. Oliver Rast gehörte zur Quickborner Gang. Die Kindercliquen hatten ihr Terrain nach Wohnblocks aufgeteilt. Wehe dem, der sich in eine Straße außerhalb seines Reviers verlief. Meist wurden die Revierkämpfe jedoch auf einem der Fußballfelder ausgetragen, die von meterhohen Metallzäunen mit abschließbaren Türen umgeben waren und die deshalb an Raubtierkäfige erinnerten. Zwischen den Gitterstäben kickten die Quickborner gegen die Kerle vom Senftenberger Ring, die sich wiederum mit den Treuenbrietzenern duellierten. Nur sonntags blieben die Raubtierkäfige geschlossen. Dann kämpften die Halbstarken in anderen Oasen der Betonwüste gegen die Langeweile. Sie streunten über die Sandberge, eine staubige Brache am Rande des Viertels, die erst der Frühling gnädig mit Grün zudeckte. Manchmal turnten sie auf dem Carola-Kahn. So hieß eine ausgemusterte Schaluppe, die ambitionierte Künstler auf einem Spielplatz stranden ließen. Im Wäldchen um den Carola-Kahn tauchte manchmal der Pullermann auf, wie die Kinder den ortsansässigen Exhibitionisten nannten. Wobei im Fall der heruntergelassenen Hosen nie klar war, wann Wahrheit endete und Mythos begann. Der wahre Wahnsinn verbarg sich für Oliver Rast sowieso anderswo, nämlich nur wenige Meter von seiner Haustür entfernt.

Dort endete die Welt an einer Mauer. Manche nannten sie Schutzwall, andere Schandmal. Viele Westberliner haderten mit der Insellage, sahen sich als bedrohte Spezies, die nur mit hohen Subventionen aus Bonn artgerecht überleben konnte. Wieder andere stilisierten sich zum letzten Bollwerk gegen den Bolschewismus. Oliver Rast wurde magisch angezogen von der Grenze, hinter der sich die DDR versteckte. Noch Jahre später, längst im schicken Altbau wohnend, war er gefangen vom Zauber im früheren Zonenrandgebiet. »Ein echter MVler«, freut er sich jedes Mal, wenn ihm jemand begegnet, der auch im Märkischen Viertel aufgewachsen ist. So als wäre »MV« ein Gütesiegel für regionale Qualität. Was jenseits der Mauer geschah, war ihm egal. Er hatte zwar Verwandtschaft im Osten, aber von den zwei Besuchen in irgendeinem thüringischen Kaff waren nur verschwommene Erinnerungen geblieben. Manchmal trat die DDR in Gestalt neuer Klassenkameraden, deren Eltern zum Klassenfeind übergelaufen waren, in sein Leben. Mit denen zog er stundenlang am Mauerstreifen entlang, der sich wie ein riesiges Reptil durch die Stadt schlängelte. Wer dem Reptil von der falschen Seite zu nahe kam, konnte dafür mit seinem Leben bezahlen. Oliver Rast lebte auf der richtigen Seite, und für ihn war dieses Revier ein einziger Abenteuerspielplatz.

Möglicherweise sind die Szenen aus dem Märkischen Viertel, die in den Stunden seiner Untersuchungshaft an ihm vorüberziehen, auch nur einer Erinnerung geschuldet, die einem Weichzeichner gleich alle Ecken und Kanten abschmirgelt, bis die Bilder im Rückspiegel milde verschwimmen. Denn unter der Oberfläche der vermeintlichen Idylle verbarg sich jede Menge Sprengstoff.

Wer wissen will, warum, muss ein paar Jahre zurückspulen. Früher begrenzten die Müllkippe Lübars und die Irrenanstalt Wittenau das Areal, auf dem sich heute das Märkische Viertel erstreckt. Dazwischen verschandelten bis in die sechziger Jahre hunderte Bretterbuden die Landschaft. »Kleingartenanlage«, nannten Menschen mit einer positiven Sicht auf das Leben dieses Sammelsurium. »Slum« sagten alle anderen. Vor allem wegen der fehlenden Kanalisation. Die Hinterlassenschaften der Bewohner landeten in Sickergruben, die ihren Inhalt großzügig im Erdreich verteilten. In die kontaminierte Krume bauten die Laubenpieper ihre Brunnen. Damit schufen sie einen biologischen Kreislauf, den ein Berliner Architekt seinerzeit so zusammenfasste: »Die Leute pumpen ihren eigenen Urin in den Kochtopf.«1 Dem Senat schien diese Art des Recyclings anscheinend wenig nachhaltig. Außerdem suchte die Landesregierung Platz für neuen Wohnraum und beschloss, zwischen Deponie und Psychiatrie eine Armada von Hochhäusern aus dem Schlamm zu stampfen. 17 000 Wohnungen für 60 000 Menschen. Im August 1964 zogen die ersten Mieter ein, der letzte Neubau war erst 1974 fertig. Leider vergaßen die Stadtplaner anfangs Krankenhäuser, Kitas, Schulen, Spielplätze, Grünflächen und Sozialarbeiter. Als »Menschenexperiment« bezeichneten Kritiker das Märkische Viertel. »Die Hölle ist det«, zitierte der Spiegel einen Bewohner. »Man schämt sich, hier zu wohnen«, sagte ein anderer, und sein Nachbar glaubte: »Da hilft nur noch Dynamit.«

Der große Knall blieb aus. Aber in den ersten Jahren waberte eine explosive Mischung durch die zugigen Häuserschluchten. Stromernde Kinder, sich selbst überlassen, verwandelten Treppenhäuser in Toiletten; Jugendliche lümmelten gelangweilt vor Hauseingängen, ihre Eltern betäubten trinkend die Tristesse. Viele Mieter wohnten zuvor in den damaligen Arbeiterbezirken Kreuzberg, Wedding und Moabit. Sie wurden aus heruntergekommenen Altbauten, die abgerissen werden sollten, ins Märkische Viertel »umgesetzt«, wie Behördenmitarbeiter das nannten. Einige Bewohner hatten vorher in Notunterkünften und Obdachlosenasylen gelebt. Bald merkten sie, dass sie die steigenden Mieten nicht zahlen konnten.2 Schnell flogen sie wieder aus ihren vier Wänden. Besserverdienende zogen freiwillig weg. Zurück blieben Arbeitslosigkeit, Armut und Aggression.