Mit Autismus leben (Fachratgeber Klett-Cotta) - Christine Preißmann - E-Book

Mit Autismus leben (Fachratgeber Klett-Cotta) E-Book

Christine Preißmann

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Defizite gut auffangen, Stärken stärken, die Besonderheit von Menschen mit Autismus oder Asperger-Syndrom kennen und einfühlsam reagieren: Die aus der Praxis gewonnenen Erfahrungen und Empfehlungen der Autorin kommen Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten gleichermaßen zugute.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 253

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christine Preissmann

Mit Autismus leben

Eine Ermutigung

Impressum

Die digitalen Zusatzmaterialien haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM86127

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wallbaum/ Weiß Freiburg

Unter Verwendung eines Fotos von © nito – stock.adobe.com

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-86127-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11601-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20443-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Inhalt

Der Beginn – ein Vorwort

Autismus – was ist das?

Symptome und Auffälligkeiten

Häufigkeit

Ursachen

Verlauf und Diagnostik

Das Vorschulalter

Routinen und Rituale

Spielverhalten und abweichende Interessen

Kindergarten

Bedürfnis nach Struktur und Vorhersehbarkeit

Um Hilfe bitten

Probleme beim Sprachverständnis

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Häufige Auffälligkeiten im Kindesalter

Vorschulalter – was ist hilfreich?

Die Schulzeit – »die schlimmste Zeit meines Lebens«

Die Mitschüler

Lernen

Struktur

Inklusion

Den Übergang begleiten

Hilfe für Querdenker

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Schule – individuelle Hilfen

Schule – mögliche Maßnahmen zum Nachteilsausgleich

Klassenkameraden informieren

Eltern und Angehörige

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Situation von Eltern autistischer Menschen

Hilfen für Eltern von Menschen mit Autismus

Was kann das Umfeld tun?

Das Erwachsenwerden – anstrengend für alle

Eine Frau werden

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

Erwachsen werden – mögliche Hilfen

Die Autismus-Diagnose – eine Erklärung für das Anderssein

Wie geht es nach der Diagnose weiter?

Wer soll Bescheid wissen?

Schwerbehindertenstatus

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Diagnose – ja oder nein?

Diagnose – und was dann?

(Wie) sollte man die Diagnose dem betroffenen Menschen und dem Umfeld erklären?

Soll ich einen Schwerbehindertenausweis beantragen?

Therapien und individuelle Hilfen

Psychotherapie

Ergotherapie

Selbsthilfearbeit

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Mögliche therapeutische Maßnahmen

Welches sind die Ziele einer Therapie bei Menschen mit Autismus?

Wie finde ich einen passenden Therapeuten?

Wie kann der Therapeut die Rahmenbedingungen günstig gestalten?

Welche zusätzlichen Hilfen können sinnvoll sein?

Das Studium – noch immer anders als die anderen

Kontakte zu den Kommilitonen

Struktur und Organisation

Offenheit im Hinblick auf die Diagnose

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Studium – wo liegen die größten Schwierigkeiten?

Studium – was ist hilfreich?

Studienbegleiter als Integrationshelfer

Umgang mit dem autistischen Kommilitonen

Arbeit und Beruf

Kontakt zu den Kollegen

Motivation und Interesse

Produktivität als Maßstab?

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Arbeit und Beruf – Fähigkeiten und Ressourcen autistischer Menschen

Arbeit und Beruf – Schwierigkeiten autistischer Menschen

Arbeit und Beruf – was ist hilfreich?

Häufige Auffälligkeiten im Erwachsenenalter

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Mögliche Auffälligkeiten bei Erwachsenen

Freundschaft und Partnerschaft – »Das wäre mein größtes Glück«

Was fehlt? – Freundschaft

Partnerschaft

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Freundschaft und Partnerschaft – Problematik

Persönliche Beziehungen – was ist hilfreich?

Unterschiede in der Kommunikation und mögliche Hilfen

Kann man »Flirten« lernen?

Wie kann man mit einem autistischen Partner gut leben?

Partnerschaften unter autistischen Menschen

Lebensträume und -realitäten

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Eigene Kinder – was ist hilfreich?

Gesundheit und Krankheit

Gesunde Lebensführung

Motorische Auffälligkeiten und Sport

Depressionen

Arztbesuche

Klinikaufenthalte

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Gesunde Ernährung – mögliche Hilfen

Sportliche Aktivitäten – hilfreiche Maßnahmen für Vereins- und Schulsport

Psychische Begleiterkrankungen

Mögliche Hilfen bei Arztbesuchen – Maßnahmen für Ärzte und Patienten

Klinikbehandlung

Wahrnehmungsbesonderheiten

Überempfindlichkeiten und Reizüberflutung

Unterempfindlichkeiten

Detailwahrnehmung

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Hilfen im Hinblick auf die Wahrnehmungsbesonderheiten

Mögliche Maßnahmen bei (drohender) Reizüberflutung

Wohnversuche – und allmähliche Lösungen

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Autismus und Wohnen – hilfreiche Maßnahmen

Urlaub und Reisen

Als Autistin ans Ende der Welt – meine Traumreise in die Antarktis

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Hilfen für Urlaub und Reisen

Anforderungen des Alltags und Freizeit gut gestalten

Einkaufen

Gäste einladen

Friseurbesuch

Mobilität

Freizeitgestaltung – »ich wirke falsch«

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Einkaufen – hilfreiche Maßnahmen

Mobilität – mögliche Hilfen

Öffentliche Einrichtungen und Veranstaltungen – mögliche Hilfen

Einfache Sprache

Friseurbesuch – mögliche Hilfen

Gastgeber sein

Die Freizeit genießen – Tipps und Hilfen

Teilhabe von Menschen mit Autismus – wie und warum?

Leben mit Autismus – ein Nachwort und eine Ermutigung

Kreativität und Authentizität

Strategien, Wege und mögliche Lösungen

Alle müssen mithelfen

Veränderungen – Fluch und Segen zugleich

Ein gutes Leben – Glück oder Verdienst?

Der Beginn – ein Vorwort

Zu Beginn der 1970er-Jahre wurde ich als erstes von drei Kindern meiner Eltern in einer hessischen Kleinstadt geboren – in eine Welt, die mir auch heute noch, im bereits mittleren Erwachsenenalter, über weite Strecken fremd ist. Inzwischen kann ich mein Leben genießen, doch bis zu diesem Punkt war es ein weiter Weg, der noch immer zahlreiche Hürden bereithält.

Größtenteils aber habe ich meinen Platz im Leben gefunden und möchte mithelfen, eine solch ruhige, befriedigende und durchaus auch glückliche Situation ebenso für andere Menschen im Autismus-Spektrum zu erreichen. Deshalb freue ich mich sehr über die Möglichkeiten, die mir in diesem Bereich gegeben sind, meine Vorträge und Publikationen und darüber, nun auch eine eigene Autismus-Sprechstunde in unserer Klinik anbieten zu dürfen. Dort konnte ich bereits zahlreiche Betroffene und Angehörige beraten und ermutigen.

Das vorliegende Buch richtet sich an Menschen im Autismus-Spektrum, ihre Angehörigen und alle, die mit autistischen Menschen arbeiten. Es enthält sowohl eigene Erfahrungen als auch allgemeine Hilfen für die unterschiedlichen Lebensbereiche und Anforderungen. Vieles davon sind Antworten auf die zahlreichen Fragen, die mir im Rahmen meiner Aktivitäten immer wieder gestellt werden. Mein Buch ist deshalb ebenso ein Erfahrungsbericht wie eine Sammlung möglicher Lösungen, Strategien und Wege. Es soll dazu ermutigen, die individuell passende Unterstützung zu finden und vor allem nicht aufzugeben. Es sind immer Hilfen möglich, um ein erfülltes Leben führen zu können – auch mit einer eigenen Autismus-Diagnose oder als Angehöriger eines betroffenen Menschen.

Ich wünsche Ihnen alles Gute und bedanke mich sehr bei den Menschen, die mir dabei helfen: meinen lieben Eltern und meinen Therapeutinnen aus Psycho- und Ergotherapie, die mich bereits seit vielen Jahren unterstützen. Vielen herzlichen Dank! Und ein herzliches Dankeschön auch an Frau Dr. Treml vom Verlag Klett-Cotta für die Hilfe bei der Realisierung dieses Buchprojekts.

Darmstadt, im September 2019Christine Preißmann

Autismus – was ist das?

Derzeit wird noch unterschieden zwischen den einzelnen Formen:

Asperger-Syndrom (F84.5)

Frühkindlicher Autismus (F84.1)

Atypischer Autismus (F84.0).

Auch für Fachleute ist jedoch die Abgrenzung nicht immer leicht, deshalb spricht man heute meist von einer Autismus-Spektrum-Störung, um zu verdeutlichen, dass die Auffälligkeiten in jedem Einzelfall unterschiedlich sind und eine sehr große Bandbreite besteht. Es gibt also ein großes Spektrum an typischen Merkmalen, die sowohl Schwierigkeiten als auch Fähigkeiten umfassen. Während einige autistische Menschen nur leicht betroffen zu sein scheinen, besteht bei anderen eine schwere Mehrfachbeeinträchtigung. Ein Kind mit frühkindlichem Autismus zeigt bereits vor dem dritten Lebensjahr Auffälligkeiten

im sozialen Umgang mit anderen

in der Kommunikation

durch sich wiederholende stereotype Verhaltensweisen.

Das Asperger-Syndrom dagegen lässt sich von den anderen Formen abgrenzen durch eine mindestens durchschnittliche Intelligenz und das Fehlen einer sprachlichen bzw. kognitiven Entwicklungsverzögerung. Es bestehen jedoch Auffälligkeiten in der psychomotorischen Entwicklung und in der sozialen Interaktion.

Der atypische Autismus kann diagnostiziert werden, wenn nicht alle Diagnosekriterien (s. u.) vorliegen, gleichzeitig aber keine andere Diagnose in Betracht kommt.

Die nicht selten verwendete Formulierung »autistische Züge« sollte allenfalls dann ihre Berechtigung haben, wenn zusätzlich eine andere Form der Behinderung besteht.

Symptome und Auffälligkeiten

Autistische Menschen nehmen ihre Umwelt anders wahr. Daraus resultiert eine Vielzahl möglicher Symptome, die aber nicht alle in gleicher Weise bei jedem betroffenen Menschen vorliegen.

Allen Autismus-Spektrum-Störungen gemeinsam sind jedoch

Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion

Beeinträchtigungen in der Kommunikation

eingeschränkte und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten.

Weitere häufige Auffälligkeiten bestehen z. B. in

motorischer Ungeschicklichkeit (insbesondere beim Asperger-Syndrom)

isolierten speziellen Fertigkeiten und ungleichen Kompetenzen

dem Bedürfnis nach Gleicherhaltung der Umwelt sowie großer Angst vor Veränderungen und allem Unerwarteten

dem Bedürfnis nach strikten Routinen, täglich wiederkehrenden Ritualen und festen Strukturen (eingespielte, immer gleiche Tätigkeitsabläufe oder bestimmte Speisen, Kleidung etc.)

einer auffälligen Detailwahrnehmung (Kleinigkeiten, winzige Fehler etc. können rasch entdeckt werden, das Erkennen übergreifender Zusammenhänge fällt dagegen oft schwer)

Überempfindlichkeiten hinsichtlich verschiedener Sinnesreize (z. B. können leichte Berührungen, Sonnenlicht, Geräusche oder Gerüche manchmal nicht nur unangenehm sein, sondern regelrecht Schmerzen bereiten)

dagegen evtl. Unempfindlichkeiten gegenüber Schmerz- oder Temperaturwahrnehmung

eingeschränktem Fantasiespiel

Schlafstörungen (Ein- oder Durchschlafstörungen, verschobener Tag-Nacht-Rhythmus etc.).

Neben Schwächen und Schwierigkeiten besitzt jeder Mensch mit Autismus aber auch eine ganz individuelle Kombination aus Stärken und Fähigkeiten. Es ist wichtig, auch diese Seite zu betrachten. Häufige Ressourcen sind:

Ehrlichkeit, Direktheit: Viele autistische Menschen lügen nicht, sie sagen offen, ehrlich und direkt, was sie denken. Hintergedanken, List und Täuschung sind ihnen fremd.

Perfektionismus: Die Betroffenen erledigen das, was sie tun, sehr exakt und genau.

Pünktlichkeit, Verlässlichkeit: Akzeptierte Regeln werden verlässlich befolgt, ein vereinbarter Termin meist sehr pünktlich eingehalten (die Regeln müssen dafür aber manchmal detailliert erläutert werden!).

Hartnäckigkeit, Entschlossenheit: Viele Betroffene verfolgen ihre Ziele sehr hartnäckig und sind hier auch nicht zu Kompromissen bereit.

Detailwahrnehmung: Menschen mit Autismus bemerken oft kleine Einzelheiten, die anderen Menschen gar nicht auffallen. Wenn es z. B. im beruflichen Umfeld darum geht, winzige Abweichungen, Fehler etc. herauszufinden, können sie häufig ihre Stärken ausspielen.

Sensible Sinneswahrnehmung: Oft werden z. B. Geräusche erkannt, die andere Menschen nicht hören.

Gutes Gedächtnis: Es besteht nicht selten eine sehr gute Merkfähigkeit für eine große Anzahl von Fakten.

Besonderer Humor: Manchmal werden autistische Menschen als humorlos beschrieben, was aber nicht stimmt. Vielmehr haben sie oft einen ganz einzigartigen Humor, der sich jedoch meist von dem anderer Menschen unterscheidet und deshalb manchmal nicht richtig erkannt werden kann.

Begeisterung: Wenn sie sich für ein Thema oder eine Tätigkeit interessieren, können sich Menschen mit Autismus mit großer Begeisterung und Ausdauer darin vertiefen und sich viel Wissen darüber aneignen. Manche Betroffene kennen sich auf speziellen Gebieten besser aus als alle anderen Menschen, und sie sind oft ausgesprochen motiviert, wenn es um diese »ihre« Bereiche geht.

Häufigkeit

Die Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen wird mit etwa 1 % angegeben, es ist also von mehreren Hunderttausend unmittelbar betroffenen Menschen in Deutschland auszugehen. Die deutliche Zunahme an Autismus-Diagnosen lässt sich nach Ansicht von Experten aber eher nicht durch eine Zunahme des Autismus als solchem erklären, sondern vielmehr durch die besseren Kenntnisse der Fachleute. Das Bewusstsein für den Autismus hat also zugenommen, vor allem aber auch das Wissen, dass bei einer solchen Diagnose auch Hilfen möglich sind.

Das männliche Geschlecht ist häufiger betroffen; frühere Angaben von 8:1 zulasten der Jungen scheinen jedoch zu hoch gegriffen. Die Dunkelziffer ist vor allem bei Mädchen und Frauen sehr hoch, denn diese sind in ihrem Verhalten oft ruhiger, wirken weniger auffällig, sodass man ihre Schwierigkeiten häufig nicht oder zumindest nicht auf Anhieb erkennt und sie deshalb nicht selten erst als Jugendliche oder als erwachsene Frauen eine Diagnose und somit eine angemessene Unterstützung erhalten können.

Ursachen

Der Autismus resultiert aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren, insbesondere die Genetik spielt eine große Rolle. Man geht davon aus, dass zahlreiche Gene beteiligt sind. Die exakten Gene konnte man jedoch noch nicht identifizieren. Diskutiert wird aber vor allem eine genetische Prädisposition in Verbindung mit dem Auftreten bestimmter Umweltfaktoren (z. B. Pestizide, Weichmacher, prä- und perinataler Stress, pränatale virale Infektionen wie Röteln-, Masern- oder Zytomegalie-Infektion).

Daneben wurden in Untersuchungen strukturelle und funktionelle Gehirnveränderungen gefunden (u. a. eine schlechtere »Verschaltung« der einzelnen Hirnbereiche untereinander und als Folge eine verringerte Kommunikationsfähigkeit zwischen den Hirnarealen).

Wichtig vor allem für die Bezugspersonen autistischer Menschen ist die Tatsache, dass der Autismus nicht durch etwaige Fehler bei der Erziehung oder durch familiäre Konflikte ausgelöst wird. Und er hat auch nichts mit Unvermögen oder schlechtem Benehmen der betroffenen Menschen selbst zu tun. Menschen mit Autismus finden sich außerdem in allen sozialen Schichten, sämtlichen Ländern und Kulturen.

Verlauf und Diagnostik

Früher wurden Autismus-Spektrum-Störungen als typische Störungen des Kindesalters angesehen, heute jedoch ist unbestritten, dass auch für das Jugend- und Erwachsenenalter eine gute Unterstützung notwendig ist.

Der Autismus wächst sich nämlich nicht aus, sondern besteht lebenslang. In den meisten Fällen kommt es aber über die Lebensspanne zu teils deutlichen Verbesserungen, auch noch jenseits der Jugendzeit. Deshalb unterscheidet sich die Symptomatik im Erwachsenenalter in einigen Punkten im Vergleich zu Kindheit und Jugend, weil die betroffenen Menschen im Laufe der Zeit viele Strategien erlernt haben, um ihre Auffälligkeiten möglichst gut zu kompensieren. Als Erwachsene stoßen sie vor allem dann an ihre Grenzen, wenn Flexibilität und Einfühlungsvermögen in komplexeren sozialen Situationen gefordert sind, vor allem am Arbeitsplatz oder im Hinblick auf Freundschaft bzw. Partnerschaft.

Für eine spezifische Hilfe und Unterstützung ist eine entsprechende Diagnose notwendig. Im Kindes- und Jugendalter ist der Kinderarzt die erste Anlaufstelle für eine orientierende Einschätzung, danach kann eine Vorstellung bei einem spezialisierten Zentrum (Autismus-Therapiezentrum bzw. Sozialpädiatrisches Zentrum) oder einem Kinder- und Jugendpsychiater erfolgen mit dem Ziel, eine spezifische Diagnostik durchzuführen. Diese umfasst standardisierte Verfahren in Form eines Interviews mit den Eltern sowie eines Spielinterviews mit dem Kind. Hierfür werden Situationen geschaffen, die normalerweise soziale Interaktionen hervorrufen (Geburtstagsfeier etc.). Je nach Alter und kognitiver sowie sprachlicher Entwicklung des Kindes können unterschiedliche Module angewandt werden.

Bei Erwachsenen ist die Diagnostik komplizierter. Einerseits gibt es bislang keine standardisierten Diagnoseinstrumente, zudem sind einige typische Symptome nur noch sehr abgeschwächt oder durch gute Kompensationsmaßnahmen auch gar nicht mehr vorhanden. Das macht die Diagnosestellung durch einen Psychiater oder Psychotherapeuten oft zu einer großen Herausforderung.

Das Vorschulalter

Routinen und Rituale

»Ich mochte alles, was einem ritualisierten Ablauf folgte. Katholisch erzogen, liebte ich sehr den bis ins Kleinste vorhersehbaren und strukturierten sonntäglichen Gottesdienst. Später wurde ich Ministrantin, die kirchliche Zeremonie gab mir viel Halt und war vor allem in anstrengenden Zeiten eine große Hilfe für mich.

Auch zu Hause folgte der Ablauf größtenteils einer täglichen oder zumindest wöchentlichen Routine. Meine Eltern gehörten nicht zu der Sorte Mensch, die durch ihr sprunghaftes Verhalten und kurzfristige Planänderungen auffiel, wofür ich ihnen unendlich dankbar war. Auch im weiteren Leben suchte ich mir zur Unterstützung ausschließlich ruhige, strukturierte Menschen, da mir spontane (und damit für mich chaotisch erscheinende) Zeitgenossen sehr viel Stress bereiteten.

Es durfte sich also möglichst nichts verändern. Verspätungen meiner Eltern, etwa zu den Mahlzeiten, endeten oft im Streit – ein Indiz dafür, mit welchem Stress und welcher Angst diese Situationen für mich verbunden waren. Häufig war ich danach verzweifelt, weil ich Auseinandersetzungen nicht mochte und nicht als »böse« wahrgenommen werden wollte, denn das war ich nicht. Aber meine Verzweiflung blieb meist unbemerkt, ich teilte mich nicht mit, denn ich wusste nicht, dass und wie man das tat. Besonders schwer war es für mich jedoch, wenn meine Eltern ihre Bekannten einluden. Ich wollte unser Zuhause nicht mit Fremden teilen müssen, vor allem aber störte mich deren Geruch. Manche Besucher rochen nach Zigarettenrauch, andere hatten eine für mich übelriechende Kleidung. Noch heute bin ich sehr empfindlich, was den Geruchssinn oder auch andere Sinnesreize betrifft.

Eine bis heute anhaltende Vorliebe entstand bereits in früher Kindheit: Ich liebe das Weihnachtsfest. Zunächst waren es die Weihnachtsmärkte, die es mir angetan hatten, denn ich erstellte mir immer einen Plan, in dem ich aufzeichnete, an welcher Stelle welcher Weihnachtsmarktstand zu finden war. Jedes Jahr lief ich mit meinem Plan dorthin und freute mich, wenn alles in Ordnung und jeder Stand an dem Ort war, den mein Plan und ich ihm zugedacht hatten.

Ja – und dann haben meine Eltern das wohl sehr gut gemacht und versucht, diese meine doch sehr isolierte Vorliebe zu einem ganz umfassenden Interesse für das Weihnachtsfest insgesamt auszubauen, also für die Lieder und Geschichten, Gerüche, Dekorationen und Bastelarbeiten, Weihnachtsgebäck, religiöse Aspekte – und für die Menschen, die Weihnachten feiern.

Das möchte ich auch heute immer als Anregung nennen: Oft ist es möglich, aus einem eng umschriebenen Interessengebiet den Blick auf das größere Ganze zu richten und die betroffenen Kinder zu motivieren, sich auch mit Neuem und vor allem mit anderen Menschen zu beschäftigen. Aber hierfür sind eben Anleitung und Begleitung nötig. Falsch ist es dagegen, die Beschäftigung mit dem Spezialinteresse völlig zu unterbinden, denn sie dient ja der Beruhigung, Entspannung und Erholung.

Auch in meiner Lieblingszeit, der Adventszeit, gab es aber schwierige Situationen, die für mich besonders schlimm waren, weil ich diese Wochen so gern mochte. So liebte ich es, mit meiner Mutter Plätzchen zu backen, und brauchte nicht viele Formen dafür. Vielmehr wollte ich immer nur Sterne backen, denn Enten, Herzen oder Kleeblätter passten ja eigentlich gar nicht so recht zu Weihnachten. Ich erinnere mich gut an meine Verzweiflung, als mein Bruder einmal eine »Zimtente« ausgestochen hatte. Ich konnte mich kaum beruhigen, es gehörte sich nun einmal nicht, aus dem Zimtstern-Teig eine Entenfigur auszustechen. Mein Bruder dagegen wusste gar nicht, was eigentlich los war. Heute lachen wir manchmal gemeinsam, wenn wir uns an die »Zimtente« erinnern.

Außerdem war es schwer für mich, überrascht zu werden, auch dann, wenn es sich eigentlich um etwas Schönes und Positives handelte. Ich bekam gern Geschenke, die ich mir gewünscht hatte, aber ich wollte eben vorher wissen, was es sein würde. In meinen ersten Lebensjahren war es deshalb sehr anstrengend an Weihnachten, wenn die Päckchen ausgepackt werden sollten. Ich wusste nicht, was mich erwartete; das bedeutete für mich deutlich mehr Stress als Glücksempfinden. Irgendwann fand ich durch Zufall die Verstecke, an denen meine Eltern die Weihnachtsgeschenke für mich und meine beiden Brüder aufbewahrten, und lief dann jedes Jahr kurz vor Weihnachten in ihr Schlafzimmer, wenn sie gerade nicht zu Hause waren, um im Schrank nachzusehen, was ich diesmal wohl bekommen würde. Für mich war das eine große Hilfe, so konnte ich voller Vorfreude auf die Bescherung an Heiligabend warten.

Auch heute noch machen wir uns dies im Kreis der Familie zunutze, indem wir uns rechtzeitig vor dem Fest gegenseitig unsere »Wunschzettel« schicken. So kann jeder sicher sein, Geschenke zu finden, die dem anderen auch wirklich gefallen. Das ist also eine Maßnahme, von der wir alle profitieren. Vor allem aber habe ich eine gewisse Sicherheit und kann mich auf das einstellen, was mich erwarten wird.

Spielverhalten und abweichende Interessen

Zu Hause ging es mir insgesamt aber gut. Problematisch wurde es für mich vor allem dann, wenn ich mit Gleichaltrigen zusammen war. Im Kindesalter spielte ich meist allein, konnte nur wenig mit den anderen Kindern anfangen, aber das störte mich damals noch nicht sehr. Langeweile kannte ich nicht, ich konnte mich immer beschäftigen und wirkte auch auf andere Menschen ausgeglichen. Ein gemeinsames Spiel aber war schwierig, es musste alles nach meinen Vorstellungen und Regeln geschehen, dabei war ich auch durchaus kreativ, wollte aber selbst die Vorgaben machen. Ich ordnete meine Spielsachen lieber nach ihrer Größe, als sie so zu benutzen, wie es vorgesehen war. Andere Kinder waren da eher lästig, weil sie diese meine Ordnung zerstörten. Der Kontakt zu meinen beiden jüngeren Brüdern war vermutlich auch deshalb recht unproblematisch, weil ich als Älteste eben meist bestimmen konnte, was nach welchen Regeln gespielt wurde.

Da ich das erste Kind meiner Eltern war, hatten diese natürlich auch keine Vergleichsmöglichkeiten. Viele meiner Auffälligkeiten wurden deshalb als selbstverständlich hingenommen. Das hatte Vor- genauso wie Nachteile, war aber sicher mit dafür verantwortlich, dass es nur wenig Konflikte mit meinen beiden jüngeren Brüdern gab. Mein Verhalten wurde nicht weiter hinterfragt, ich war einfach so, wie ich war. Hinzu kam, dass ich kein »typisches Mädchen« war. Wenn andere sich mit Puppen, Schminkkoffern, schönen Kleidern oder Pferdebüchern beschäftigten, ging ich lieber mit meinen Brüdern nach draußen, um Fußball zu spielen oder mit der Laubsäge zu hantieren. Fantasiespiele gelangen mir nicht, viel lieber widmete ich mich meinen konkreten Interessen, den Abflugplänen des Frankfurter Flughafens oder meinen Weihnachtsmarktplänen. Stets lernte ich den neuen Flugplan oder das Telefonbuch unserer Stadt auswendig. Das gab mir Sicherheit und entspannte mich. Aber ich beschäftigte mich damit allein und teilte meine Freude daran nicht mit anderen, auch nicht mit meinen Eltern.

Anfangs störte es mich nicht, allein zu spielen, nach und nach aber hätte ich gern auch mal mitgemacht, wenn sich die anderen Kinder miteinander beschäftigten. Schon als Kleinkind analysierte ich manchmal meine Situation. Irgendwann fiel mir auf, dass es wichtig ist, verschiedene Fähigkeiten zu besitzen, um zumindest zeitweise »dabei sein« zu können, ich selbst diese Fähigkeiten aber offenbar nicht besaß.

Wenn ich heute meiner kleinen Nichte bei ihrem Spiel zusehe, so fallen mir deutlich die Unterschiede im Spielverhalten auf. Sie hantiert in ihrer Puppenküche, kocht für die Püppchen in einem winzigen Topf eine »Suppe«, reicht ihnen die imaginäre Flüssigkeit, überlegt sich eine Unterhaltung für sie und legt sie schließlich schlafen. Dies alles wäre mir nie gelungen, und heute noch fällt es mir schwer, mich auf dieses Spiel einzulassen. Meine Nichte ist mir mit ihren nicht einmal fünf Jahren auf diesem Gebiet ein ganzes Stück voraus.

Gut für mich war aber sicher, dass es damals noch nicht so viel Spielzeug gab, das die Sinne so stark beanspruchte, wie das heute oft der Fall ist. Ein Spielzimmer, übersät mit blinkenden oder quietschenden Spielsachen, wäre für mich ganz sicher unerträglich gewesen.

Kindergarten

Obwohl ich im Kindergarten recht zufrieden wirkte, ging ich nicht gern dorthin und verstand auch den Zweck dieser Einrichtung nicht. Beschäftigen konnte ich mich schließlich auch allein, die anderen Kinder waren nicht nötig. Trotzdem aber war der Besuch vorgesehen, und man verständigte sich darauf, dass ich vormittags hinging, nachmittags aber in der Regel zu Hause bleiben durfte. Auch das aber war manchmal schon zu viel für mich.

Wenn im Kindergarten freies Spiel verlangt wurde, war ich verloren; standen dagegen konkrete Aktivitäten auf dem Plan, ging es mir dort ganz gut. Besonders gern mochte ich Unternehmungen, bei denen ich etwas lernen konnte, so gefielen mir sehr die Besuche bei der Feuerwehr oder dem Zahnarzt in unserer Gegend. Außerdem liebte ich ruhige Beschäftigungen wie Basteln oder das Anschauen von Büchern, vor allem Sachbücher mochte ich sehr. Dagegen war ich motorisch ungeschickt und hasste Bewegungsspiele im Freien oder die Kletter- und Balancierübungen, die den anderen Mädchen so viel Spaß machten.

Gegen Ende der Kindergartenzeit wurde ich einmal von einem Jungen so unglücklich angerempelt, dass ich vom Balancierbalken abkam und stürzte. Ich hatte keine starken Schmerzen, aber das Bein fühlte sich merkwürdig an und es gelang mir vor allem nicht, wieder aufzustehen. Da ich nicht weinte, sah die Erzieherin zunächst keine Notwendigkeit einzugreifen. Dann aber kam sie hinzu und fragte, was denn los sei. »Ich habe mein Bein gebrochen«, erklärte ich, vermutlich ohne emotionale Beteiligung und ohne natürlich im Kindergartenalter wirklich zu wissen, was das bedeutete. Deshalb lächelte die Erzieherin zunächst auch über diese Worte, rief später dann aber doch den Krankenwagen, als sie sah, dass ich gar nicht aufstehen konnte.

Die Sanitäter zerschnitten rasch ohne jede Vorwarnung meine Hose, da sie mein Bein untersuchen und schienen wollten. Von diesem Zeitpunkt an schrie ich ohne Unterbrechung, sodass man annahm, ich hätte stärkste Schmerzen, und mir eilig Medikamente gab. Diese Präparate aber halfen natürlich nicht gegen meinen Kummer, denn man hatte meine Lieblingshose zerschnitten, eine in meiner Lieblingsfarbe und aus ganz weichem Stoff, ein so schönes Exemplar, wie ich es leider nie wieder fand. Als meine Mutter mich in diesem Stofffetzen sah, wusste sie sofort, was los war, und ihr gelang es dann auch allmählich, mich ein bisschen zu beruhigen. Es ist einfach so wichtig, dass alle zusammenarbeiten, wenn man ein Verhalten nicht versteht. Wäre meine Mutter nicht da gewesen, hätte niemand den Grund für mein Weinen erkannt, denn mir selbst gelang es damals nicht, auf solche Aspekte hinzuweisen, vor allem dann nicht, wenn ich Kummer hatte. Außerdem ging ich davon aus, dass andere wüssten, was mich beschäftigte.

Ich konnte nun nicht mehr den Kindergarten besuchen, was mich nicht sonderlich störte, denn ich beschäftigte mich sehr gut allein zu Hause. Die Erzieherinnen aber hatten eine große Überraschung ausgeheckt, die sie freudestrahlend meinen Eltern präsentierten: Sie wollten mir jeden Tag zwei Kinder aus meiner Gruppe zu Besuch schicken, damit mir nicht mehr so langweilig sein würde (als wäre mir jemals langweilig gewesen! Das Leben hatte doch so viele spannende Dinge zu bieten!). Ich durchlitt eine entsetzliche Zeit und würde mich im Rückblick als sehr verzweifelt beschreiben, denn ich durfte nicht laufen, konnte mich daher nicht von den anderen Kindern entfernen und war ihnen wehrlos ausgeliefert. Notgedrungen entwickelte ich eine sehr wichtige Fähigkeit, ich lernte erstmals, mich mit meinen Schwierigkeiten zu arrangieren und meine Ressourcen gewinnbringend einzusetzen. In diesem Fall sah das so aus, dass ich die Möglichkeit entdeckte, blitzschnell auf dem Boden entlangzurobben, um zu fliehen und allein sein zu können. Das war eine große Erleichterung für mich, endlich hatte ich wieder selbst zumindest ein Stück weit die Kontrolle über die Situation erlangt, was auch in meinem späteren Leben immer wieder eine große Rolle spielen sollte.

Bedürfnis nach Struktur und Vorhersehbarkeit

Wie bereits erwähnt, war schon immer ein geplanter, vorhersehbarer und strukturierter Tagesablauf für mich wichtig, und umgekehrt hatte ich die größten Schwierigkeiten, wenn die Struktur fehlte. Das wurde auch deutlich bei den Urlaubsreisen mit meinen Eltern. Wir waren oft in den Bergen, ich mochte das und kannte es ja auch nicht anders. Als ich älter wurde und gern mal an einen See gefahren wäre, fand man Kompromisse und wählte Gegenden mit schönen Bergseen, in denen ich baden konnte. Das war in Ordnung so. Die ländliche Umgebung kam mir entgegen, ich liebte es, immer zur gleichen Zeit morgens das »Milchauto« zu beobachten, das von den Höfen die Milch abholte. Diese Routinen und die technischen Abläufe gefielen mir.

Schwierig dagegen war, dass ich auch sonst alles ganz genau planen und bestimmen wollte, um Sicherheit zu haben, wie der Tag ablaufen würde, und so weniger Angst zu verspüren. Das war meinen Eltern damals so natürlich nicht bewusst, sie wollten ihre Urlaubstage einfach nicht nach einem festgelegten Schema verbringen. »Wir schlafen aus und schauen dann mal, was wir machen wollen« – wie ich solche Sätze hasste! Wir brachen also irgendwann auf, unternahmen Wanderungen zu Zielen, die wir nicht kannten, und wussten nicht, wie lange wir dorthin unterwegs sein würden. Meine Mutter versuchte, mich zu beruhigen: »Wir werden wieder früh zurück sein.« – »Und vielleicht gibt es irgendwo ein Eis«, fügte mein Vater hinzu. Das war so ein Satz, der überhaupt nichts aussagte und deshalb auch nicht zu meiner Beruhigung beitragen konnte: Natürlich wird es wohl irgendwo ein Eis geben – aber wann, wo und welches Eis? Und aufgrund der Erläuterung meiner Mutter rechnete ich mit einer Rückkehr am Vormittag, sie selbst verstand aber unter »früh«, dass wir am späten Nachmittag zurück sein würden. Ach, es war alles zu schwierig … Heute weiß ich, dass ich auf diese Weise meine freie Zeit nicht verbringen kann und nicht verbringen möchte, weil ich das nicht als Erholung empfinde, sondern vielmehr in solchen Momenten noch zusätzlichen Stress habe.

Problematisch war aber auch bereits die Fahrt zum Urlaubsort. Ich litt sehr, weil ich nicht wusste, wie lange es noch dauern würde, und Beteuerungen wie »Wir sind bald da« halfen mir auch nicht weiter, sondern verwirrten mich nur, wenn meine Eltern dann etwas später ankündigten, wir hätten »nun die Hälfte bald geschafft«. Irgendwann erkannten meine Eltern meine Not und stellten mir in der Folge einen Plan unserer Fahrtstrecke mittels Kopien aus dem Straßenatlas zusammen. Da ich die Zahlen lesen konnte, war es mir möglich, die einzelnen Autobahnausfahrten zu identifizieren und so mitzuverfolgen, wo wir uns gerade befanden. Das war das Beste, was man für mich tun konnte: Ich war beschäftigt, wusste, welche Strecke wir schon zurückgelegt hatten, und konnte dann zusammen mit meiner Mutter meinen Vater darauf vorbereiten, wann die Autobahn gewechselt werden musste. Navigationsgeräte waren damals ja noch nicht erfunden.

Häufig fanden meine Eltern also intuitiv Strategien für meine Schwierigkeiten, die es mir ermöglicht haben, die Situation zu bewältigen und auch ein Stück weit zu genießen.

Um Hilfe bitten

Lange war es mir unmöglich, anderen Menschen von meinen Sorgen und Nöten zu erzählen. Ich wusste nicht, dass man das tat, und sah auch keinen Sinn darin – allein durch das Berichten konnte sich ja nichts verändern. Egal, ob es sich um negative oder positive Erfahrungen des Tages handelte, auf die Schilderung meiner Erlebnisse mussten meine Eltern größtenteils verzichten. Und es wäre mir auch nie eingefallen, eine Erzieherin im Kindergarten um Unterstützung zu bitten, ich machte stattdessen problematische Situationen schon als kleines Kind mit mir selbst aus und äußerte kaum eigene Wünsche oder Bedürfnisse. Das führte dazu, dass man mich für ein sehr genügsames Kind hielt, weil ich nie nach etwas fragte. Natürlich hatte ich durchaus manchmal den einen oder anderen Wunsch, kam aber nicht auf die Idee, ihn mitzuteilen, damit er sich erfüllen ließ. Für mich war klar, dass meine Umgebung doch wissen müsste, was ich mir wünschte.

Probleme beim Sprachverständnis

Besonders schwer war es für mich, Äußerungen und Anforderungen zu verstehen, die nicht ganz eindeutig formuliert waren. Egal, ob es sich dabei um Redewendungen handelte oder Sätze wie »Man sollte dieses oder jenes tun« – es gelang mir nicht, Anforderungen, die auf diese Weise ausgesprochen wurden, richtig zu verstehen und dann auch auf mich zu beziehen. Das führte immer wieder zu Missverständnissen oder auch zu Reaktionen, die man für eine Provokation hielt. Ich dagegen hatte mir jeweils gar nichts Böses dabei gedacht.

Bei meinem Unfall im Kindergarten fragte man mich etwa, ob ich meine Hose ausziehen könnte. Natürlich konnte ich das und hielt das für eine reichlich blöde Frage – ich war ja kein Baby mehr. Aber dass ich es auch hätte tun sollen, konnte ich aus dieser Frage nicht heraushören. So zerschnitt man mir sie leider, weil alle annahmen, meine Schmerzen wären einfach zu stark dafür.