Mit Blindheit geschlagen - Christian von Ditfurth - E-Book

Mit Blindheit geschlagen E-Book

Christian von Ditfurth

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Beschreibung

Stachelmann ist zurück – und in größter Gefahr: Er wird als Mörder verdächtigt Josef Maria Stachelmann ist verzweifelt. Der Dozent für Geschichte an der Universität Hamburg kommt nicht weiter mit seiner Habilitationsschrift, deren Rohmanuskript er seit Monaten überarbeiten will. Und nun hat sein Chef, Professor Bohming, sich auch noch einen neuen Favoriten ausgesucht als Nachfolger auf dem Lehrstuhl: Wolf Griesbach, den es von der Freien Universität in Berlin nach Hamburg zieht. Er genießt Ansehen in der Fachwelt, sieht blendend aus und hat eine atemberaubende Frau, Ines. Nach dem Willkommensempfang für Griesbach geht Stachelmann in eine Kneipe, um sich zu betrinken. Da erscheint Ines. Sie reden und trinken miteinander, schließlich landen sie in Ines' Bett. Griesbach ist noch einmal nach Berlin gereist. Als er nicht wieder auftaucht und sich auch nicht meldet, bittet Ines Stachelmann, ihren Mann zu suchen. Stachelmann lässt sich überreden und fährt nach Berlin. Und gerät in einen Mordfall, in dem es nur einen Verdächtigen gibt: Josef Maria Stachelmann. Alle Beweise sprechen gegen ihn, das Motiv ist offenkundig. Nur Anne glaubt ihm, obwohl er sie bitter enttäuscht hat damals, als sie gemeinsam den Fall Holler in Hamburg lösten.   Mit Blindheit geschlagen ist für den Publikumspreis beim Literaturfestival in Cognac (20. - 23. November 2008) nominiert.

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Seitenzahl: 525

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Christian von Ditfurth

Mit Blindheit geschlagen

Stachelmanns zweiter Fall

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Christian von Ditfurth

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Christian von Ditfurth

Christian v. Ditfurth, Jahrgang 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor bei Lübeck. Er hat zuletzt die viel beachteten Romane »Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus« (1999), »Der 21. Juli« (2001), »Der Consul «(2003), »Das Luxemburg-Komplott« (2005) sowie die Stachelmann-Krimis »Mann ohne Makel« (2002, KiWi 826, 2004), »Mit Blindheit geschlagen« (2004, KiWi 924, 2006), »Schatten des Wahns« (2006, KiWi 1008, 2007) und »Lüge eines Lebens« (2007, KiWi 1060, 2008) veröffentlicht. Das Hörbuch erscheint im Frühjahr 2009 bei Audiomedia.

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Über dieses Buch

Josef Maria Stachelmann ist verzweifelt. Der Dozent für Geschichte an der Universität Hamburg kommt nicht weiter mit seiner Habilitationsschrift, deren Rohmanuskript er seit Monaten überarbeiten will. Und nun hat sein Chef, Professor Bohming, sich auch noch einen neuen Favoriten ausgesucht als Nachfolger auf dem Lehrstuhl: Wolf Griesbach, den es von der Freien Universität in Berlin nach Hamburg zieht. Er genießt Ansehen in der Fachwelt, sieht blendend aus und hat eine atemberaubende Frau, Ines. Nach dem Willkommensempfang für Griesbach geht Stachelmann in eine Kneipe, um sich zu betrinken. Da erscheint Ines. Sie reden und trinken miteinander, schließlich landen sie in Ines' Bett. Griesbach ist noch einmal nach Berlin gereist. Als er nicht wieder auftaucht und sich auch nicht meldet, bittet Ines Stachelmann, ihren Mann zu suchen. Stachelmann lässt sich überreden und fährt nach Berlin. Und gerät in einen Mordfall, in dem es nur einen Verdächtigen gibt: Josef Maria Stachelmann. Alle Beweise sprechen gegen ihn, das Motiv ist offenkundig. Nur Anne glaubt ihm, obwohl er sie bitter enttäuscht hat damals, als sie gemeinsam den Fall Holler in Hamburg lösten.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Nachbemerkungen

Informationen über dieses Buch

Für Gisela

Wer sich gezwungen sieht, mit den Wölfen zu heulen, mag sich in reinster Notwehr befinden. Aber ist das ein Grund, hinterher auch mit den Schafen zu blöken?

Martin Kessel

1

»Ziehnse die Vorhaut zurück.«

Er zog die Vorhaut zurück. Der große, hagere Uniformierte betrachtete das Glied des Gefangenen. Dann musste der sich nach vorn beugen und die Gesäßbacken auseinander ziehen. Der Uniformierte beäugte den After des Gefangenen. Dann musste der sich mit dem Gesicht an die Wand stellen. Im Augenwinkel sah der Gefangene, wie ein anderer Uniformierter seine Kleidung durchwühlte. In einer Ecke des Raums stand ein Dritter, er war fett. Er beobachtete. Alle hatten sie Knüppel am Gürtel und auf der anderen Seite ein Pistolenhalfter. Der Hagere gab dem Gefangenen einen Stapel. Darin ein grauer Trainingsanzug, Unterwäsche, Handtücher, blauweißes Bettzeug, obenauf Becher, Teller und Hausschuhe. Er befahl dem Gefangenen, sich anzuziehen. Der Gefangene zog den Trainingsanzug an. Er war verschlissen, die Hose rutschte.

Ein vierter Uniformierter betrat den Raum. Er sagte zum Gefangenen: »Gehnse!« Er zeigte die Richtung an. Sie stiegen Treppen hinauf und hinunter und kamen in einen Gang mit vielen Türen und ohne Fenster. Flecken auf dem Betonboden, an der Decke Neonleuchten, eine flimmerte. An manchen Stellen waren Linien auf dem Boden gezeichnet. Dort musste der Gefangene warten. »Gesicht zur Wand, Hände auf den Rücken!« Der Wächter schaute um die Ecke, dann drehte er an einem Schalter. Das grüne Licht an den Wänden ging aus, rote Lampen leuchteten auf. Sie liefen weiter. »Halt!« Er öffnete eine Tür, der Gefangene erschrak, als er in den Raum blickte. Er wurde hineingeschoben, die Tür fiel zu. Der Raum war klein, die Wände waren aus Beton, statt eines Fensters waren wenige Glasbausteine hochgemauert. Über der Tür brannte hinter einem in die Wand eingelassenen Glas eine Glühbirne. An einer Seite stand eine Holzpritsche mit erhöhtem Kopfteil, an einer anderen ein Klapptisch und ein Stuhl, in einer Ecke ein Porzellan-WC.

Er setzte sich auf die Pritsche und starrte an die Wand. Eine braune Linie zog sich knapp in Bauchhöhe an der Wand entlang, zwei Finger breit. Darüber war die Wand ocker, darunter schmutzig weiß gestrichen. Der Gefangene stützte die Ellbogen auf die Knie und legte sein Gesicht in die Hände. Er merkte, dass er den Kopf schüttelte. Dann dachte er, das ist ein Irrtum. Sie wissen nichts. Du bist spazieren gegangen, sonst nichts. Wer kann etwas dagegen haben, dass einer spazieren geht? Sie müssen dich wieder rauslassen.

Schritte auf dem Gang. Riegel klackten, Türgeknarre, alle Geräusche gedämpft durch die schwere graue Tür. Im Guckloch erschien eine Pupille, sie verschwand gleich wieder. Nasse Kälte kroch dem Gefangenen die Beine hoch.

2

Er schimpfte vor sich hin. Obwohl er aufgepasst hatte, verfehlte er den Abzweig, überraschend war das Schild nach der Kreuzung aufgetaucht. Er kam sich vor wie ein Fremder, dabei hatte er mehr als die Hälfte seiner Schulzeit hier verbracht. Aber auf dem Waldfriedhof war er nie gewesen. Stachelmann bog rechts ab in eine Seitenstraße mit Einfamilienhäusern, fuhr zweimal rechts und war zurück auf der Straße nach Reinbek. Dort fuhr er links und erreichte gleich wieder die Kreuzung. Wieder zu weit, diesmal aus der anderen Richtung. Er hätte geradeaus fahren müssen, als er wieder an der Durchgangsstraße stand. Er schlug mit der Hand aufs Lenkrad und spürte den Schweiß unter den Achseln. Zuvor hatte er fast eine Stunde im Stau verbracht auf der Autobahn zwischen Reinfeld und Bad Oldesloe. Er kam zu spät zur Beerdigung seines Vaters.

Auf dem Parkplatz neben dem Friedhof standen nur wenige Autos. Er stellte seinen alten Golf in die Nähe des Gittertors. Noch im Auto sah er die Kapelle, sie leuchtete weiß. Er ging durch das Tor, vorbei an einem Betonturm, in dem eine Glocke hing. Eisiger Wind ließ ihn frösteln. Der Eingang der Kapelle lag zwischen zwei grau lackierten Stahlsäulen, die das Spitzdach der Kapelle stützten. Stachelmann öffnete die Holztür und sah den Geistlichen auf der Kanzel. In den ersten drei Reihen saßen verstreut ein paar Leute, zwei oder drei schauten sich um nach ihm. Er las Unverständnis in den Blicken. Auf dem Stuhl am Gang in der ersten Reihe saß eine Frau, ganz in Schwarz. Das war seine Mutter. Sie war klein und dünn. Der Platz neben ihr war frei. Stachelmann hörte, dass der Pfarrer sprach, aber er verstand ihn nicht. Er setzte sich neben seine Mutter, die schaute irgendwo auf den Boden. Stachelmann schlug seine Beine übereinander und faltete seine Hände auf dem Knie. Da legte seine Mutter die Hand auf seine und drückte sie kurz. Er schaute nach vorn und nahm erst jetzt den Sarg wahr. Der war bedeckt mit Kränzen und Schleifen. »In Dankbarkeit« stand auf der Schleife des Polizeisportvereins.

Plötzlich war es still. Der Pfarrer verließ die Kanzel. Dann erklang im Hintergrund Musik, ein Largo-Satz aus einem Violinkonzert von Vivaldi. Sein Vater hatte es geliebt und in der Interpretation von Yehudi Menuhin und dem Polnischen Kammerorchester oft gehört. Stachelmann fiel ein, wie sein Vater früher die Platte an manchem Abend auf den Dualplattenspieler gelegt und andächtig gelauscht hatte. Dann mussten alle ruhig sein, während der Vater mit halb geschlossenen Augen hörte und sein Körper kaum sichtbar mitschwang.

Als das Stück beendet war, ging der Pfarrer zur Tür, die Mutter stand auf, Stachelmann folgte ihr. Vier Männer in dunkelgrauer Kluft schleppten den Sarg hinaus. Draußen formte sich der Zug. Der Pfarrer, die Mutter und Stachelmann folgten dem Sarg. Dem voran schritt ein Junge mit einem Kreuz. Die Trauergäste bildeten den Abschluss. Sie liefen auf einem Weg aus Erde, Sand und Kiesel, vorbei an parzellenförmig geordneten Gräbern unter Bäumen mit mächtigen Kronen. Manchmal durchbrachen Sonnenstrahlen die schweren Wolken, dann glänzte die Nässe auf den Grabsteinen. Stachelmann wartete auf die Schmerzen, sie würden kommen, das war gewiss. Er tastete die Knöpfe seines Mantels ab, um sich zu vergewissern, dass sie geschlossen waren. Er fror am Hals, den Schal hatte er vergessen.

Der Zug hielt am Rand des Friedhofs, an einem weißen Grabstein. Daneben war eine Grube ausgeschachtet, zwei Schaufeln lehnten am Zaun. Die Träger stellten den Sarg ab neben der Grube. Der Pfarrer sprach von Asche und Erde, Stachelmann betrachtete den weißen Stein des Nachbargrabs. Er sah aus wie ein Hinkelstein, lief oben spitz zu. Darauf eingraviert in Versalien: Will, Adolf H.; gest. 15. Nov. 2001; geb. 22. April 1954. Was hieß »H.«? Helmut, Heinz, Hans? Da hatten Eltern ihren Sohn Adolf H. getauft, neun Jahre nach Ende des Kriegs. Der Sohn war vor genau zwölf Monaten gestorben, und Stachelmanns Vater würde neben ihm begraben sein. So würde Stachelmann auf Adolf H. treffen, wenn er das Grab seines Vaters besuchte. Aber das war noch nicht ausgemacht.

Während der Pfarrer sprach, fiel Stachelmann das letzte Gespräch mit seinem Vater ein. Das war zwei Jahre her. Sie hatten sich gestritten über die Lebenslüge seines Vaters, der Ende des Kriegs als Postbeamter Hilfspolizist wurde, um ein Bombenräumkommando aus Sträflingen zu bewachen. Er sah immer noch die Verbitterung in den Augen des Vaters. Seit dem Gespräch hatte Stachelmann nicht mehr mit ihm geredet. Nun wartete er auf das schlechte Gewissen; wenn einer tot ist, kann man nichts nachholen. Aber das schlechte Gewissen rührte sich nicht.

Seine Mutter stieß ihn leicht am Arm. Stachelmann schaute auf und sah, der Pfarrer hatte seine Ansprache beendet, die Träger senkten den Eichensarg an Seilen ins Grab. Als der Sarg abgestellt war, traten die Mutter und Stachelmann an den Rand der Grube. In einem Erdhaufen steckte eine kleine Schaufel. Die Mutter nahm sie, hob ein bisschen Erde vom Haufen und warf sie auf den Sarg. Stachelmann tat es ihr nach. Dann stellten beide sich ein Stück seitlich von der Grube auf und warteten auf die Trauergäste. Ein alter Mann warf Erde ins Grab, dann steckte er die Schaufel wieder in den Haufen und näherte sich der Mutter und Stachelmann. Der Mann gab der Mutter die Hand und murmelte etwas von Beileid, dann gab er Stachelmann die Hand. Stachelmann begegnete einem harten Blick, Hass steckte darin. Ein Paar näherte sich, sie hinkte, er ging am Stock. Auch sie drückten der Mutter die Hand, an Stachelmann gingen sie vorbei. Die Mutter warf einen kurzen Blick zu ihrem Sohn, sie schien mit den Achseln zu zucken. Eine Träne stand ihr im Augenwinkel. Von den verbleibenden Trauergästen verweigerte niemand mehr Stachelmann den Händedruck, aber freundlich schaute ihn keiner an.

Als der Letzte auf dem Weg zum Parkplatz war, fragte Stachelmann die Mutter: »Wer sind diese Leute?«

»Freunde deines Vaters.«

»Aus dem PSV?«

»Auch.«

Mitglied im Polizeisportverein war auch Hermann Holler gewesen, erst SS-Sturmbannführer, dann Makler. Wegen seiner Verbrechen in der Nazizeit waren die Frau und die Kinder seines Sohns Maximilian ermordet worden, Jahrzehnte danach. Stachelmann war zufällig in diesen Fall verwickelt worden, hatte den Mörder überführt und den alten Holler gestellt, der den eigenen Tod simulierte, um unterzutauchen. Der Jude Leopold Kohn hatte sich gerächt. Hermann Holler hatte Kohns Familie ermorden lassen und deren Besitz geraubt. Die Lokalpresse überschlug sich, ein Historiker hatte die schrecklichste Mordserie seit dem Krieg aufgeklärt und die Polizei schlecht aussehen lassen. Es war erstaunlich, was die Medien Stachelmann andichteten, wo sie ihn doch nicht kannten und er mit keinem Journalisten sprach. Dann fanden sie eine andere Sensation und ließen ab von Stachelmann. Dessen Vater hatte den alten Holler gekannt, und die Trauergäste hassten Stachelmann, weil er ihre Vergangenheit ans Licht gezogen hatte. Die Polizei hatte nicht nur den Verkehr geregelt in der Nazizeit, ohne sie wären Ausplünderung, Deportation und der große Mord nicht möglich gewesen. Die alten Kameraden des Vaters im Polizeisportverein hatten Grund, Stachelmann zu hassen.

»Du musst nicht mit zum Leichenschmaus«, sagte die Mutter, als sie an dem Glockenturm aus Beton vorbeiliefen.

Stachelmann nickte.

»Aber du musst mich bald besuchen. Wenn das vorbei ist.«

Stachelmann gab der Mutter die Hand. Sie hielt sich gerade, streckte ihr Kreuz, als wollte sie sich wehren gegen die Last. Dann ging er mit schnellen Schritten zu seinem Auto und fuhr los. Er drehte sich nicht um. Unterwegs überlegte er, wann die Trauer käme. Er spürte nichts, vermisste seinen Vater nicht, Wehmut fühlte er nur, wenn er an Episoden dachte, die weit zurücklagen. Spiele mit dem Vater in der Kindheit. Der Vater als Helfer, wenn es Ärger gab in der Schule. Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke. Stachelmann war ein behütetes Kind gewesen, der Zwist kam später, zu spät, Stachelmann hätte den Vater früher fragen müssen. Ihr letztes Gespräch fiel ihm ein, als der Vater berichtete und doch nur Unverständnis erwartete. Die Behörden hätten ihn in den letzten Monaten des Kriegs an einen Platz gestellt, und er habe seine Pflicht getan, wie jeder andere Deutsche auch. Er hatte die Sträflinge nicht verhaftet und nicht abkommandiert zum Bombenräumen. Er passte auf sie auf, und wenn einer weglief, fing er ihn wieder ein. Es war Krieg; einer, der nicht dabei war, kann das nicht verstehen.

An der Universität warteten Hausarbeiten von Teilnehmern seines Hauptseminars. Er hätte längst beginnen müssen mit der Korrektur, aber sie langweilte ihn. Je länger er sie hinausschob, desto stärker wurde der Druck. Es war immer so. Am Abend gab es bei Bohming den Empfang für den neuen Kollegen aus Berlin, Zeit genug, ein paar Arbeiten zu lesen und zu benoten. Stachelmann setzte sich auf den Schreibtischstuhl und lehnte sich zurück. An Holler hatte er schon lange nicht mehr gedacht, jetzt kehrte die Erinnerung zurück. Was wohl Holler junior trieb? Er spielte mit dem Gedanken, Ossi anzurufen, seinen Freund aus Studientagen, der bei der Hamburger Kripo arbeitete. Der wusste gewiss, was Maximilian Holler tat. Der Kontakt zu Ossi Winter war abgerissen, sie hatten sich gestritten bei den Ermittlungen und den Streit danach nicht ausgeräumt. Er wusste nicht mehr genau, um was es gegangen war.

Er wollte über all das nicht mehr nachdenken, und das war ihm einigermaßen gelungen bis zur Beerdigung des Vaters. Wenn er an den Fall Holler dachte, fiel ihm die Zeit mit Anne ein. Anne, die ihn enttäuscht hatte und von der er manchmal zu wissen glaubte, sie dachte ähnlich über ihn. Auch wenn er nicht wusste, warum sie so denken sollte. Er hatte Abwehrkräfte entwickelt, gelernt, sachlich mit ihr umzugehen, Guten Tag zu sagen und Tschüss und ihr aus dem Weg zu gehen, wenn es möglich war. Er hatte sich darin eingerichtet. Anfangs schaute sie ihn manchmal traurig an, als wollte sie ihn auffordern, mehr zu sagen. Aber dann überzeugte er sich, er bilde es sich nur ein. Ein paarmal hätte er sie fast angesprochen, aber er wusste nicht, was sie erwartete. Und dann war sie eines Tages schwanger gewesen von einem anderen. Als er es hörte, betrank er sich und erschien am nächsten Tag nicht im Philosophenturm.

Er griff nach einer Hausarbeit, sie schilderte die Einführung der Reichsfluchtsteuer in der Weimarer Republik. Diese Steuer diente der Devisenbewirtschaftung in der Weltwirtschaftskrise und wurde später eine der schärfsten Waffen der Nazis, als die daran gingen, die Juden auszurauben. Er las zwei, drei Seiten und schob die Arbeit wieder weg. Sie war nicht schlecht, aber nicht originell. Zusammengeschrieben aus Büchern, viele Zitate. Er war ungerecht, er wusste es. Er verlangte zu viel von seinen Studenten und machte sie verantwortlich für seine Langeweile.

Es klopfte, er dachte an Anne und ärgerte sich. Es war Renate Breuer, die Sekretärin des Historischen Seminars. »Sie denken an den Empfang?«, fragte sie.

Er nickte, Renate Breuer schloss die Tür, nachdem sie ihn einen Augenblick unfreundlich angestarrt hatte. Stachelmann zog die Hausarbeit wieder vor sich, blätterte und schob sie wieder weg. Er verschränkte die Hände hinterm Nacken und rollte mit dem Stuhl ein Stück vom Schreibtisch weg. Dann stand er auf und schaute hinunter auf den Trubel des Von-Melle-Parks. Natürlich dachte er an den Empfang. Professor Wolf Griesbach trat seinen Dienst an, einer, der es fast schon geschafft hatte. Besser C 3 als gar nicht habilitiert. Stachelmann kannte einige Veröffentlichungen des Neuen, auch der beschäftigte sich mit dem Nationalsozialismus. Als Professor ohne Lehrstuhl besaß er alles, was einer haben musste, der eines Tages Hasso Bohming nachfolgen würde, dem Sagenhaften, wie er am Seminar genannt wurde, weil er so blumig berichtete von seiner Beteiligung an all den Historikerschlachten. Er war ein Angeber, aber kein schlechter Kerl. Einer, der es gut meinte mit Stachelmann und doch Griesbach geholt hatte aus Berlin. Stachelmann nahm sich vor, kein schlechtes Wort zu sagen über den Neuen. Griesbach war offenbar gründlich und zurückhaltend, hatte ein gutes Urteilsvermögen, das musste er einräumen. Der hatte erreicht, was Stachelmann anstrebte. Stachelmann erinnerte sich an einen Aufsatz Griesbachs in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, der ihn beeindruckt hatte. Neid keimte in ihm, er mühte sich, ihn wegzuwischen. Ganz gelang es nicht. Er stritt mit sich, erklärte sich seinen Neid mit dem eigenen Versagen. Warum hatten es andere leichter? Weil du es dir selbst schwer machst. Dann fiel ihm die Beerdigung wieder ein. Was bist du für ein Mensch? Dein Vater wurde gerade beerdigt, und du denkst nur an dich. Die Trauer ließ sich immer noch nicht blicken. Vielleicht lag es daran, dass er seinen Vater schon vor zwei Jahren verloren hatte.

Als er in Bohmings Dienstzimmer kam, waren die anderen schon da. Ostermann, zurzeit Bohmings Lieblingsassi, machte auf Kellner. Er hatte sich einen devoten Blick zugelegt und verbeugte sich pausenlos. Mit gespielter Eleganz jonglierte er mit einem Tablett Sekt und Orangensaft. An der Wand waren auf einem langen Tisch Schnittchen mit Fleisch und Fisch ausgelegt, der Neue gab sich spendabel. Stachelmann entdeckte einen Mann, der dem Eingang den Rücken zukehrte, das musste Griesbach sein. Er stand vor Bohming, und der hörte zu. Neben Griesbach sah Stachelmann eine schlanke Frau mit dunkelbraunen Haaren, einem kurzen Rock und langen Beinen. Sie verfolgte das Gespräch zwischen Griesbach und dem Sagenhaften. Stachelmann kannte sie nicht. In einer Ecke entdeckte er Anne im Gespräch mit dem schönen Kugler, der sich mal wieder eingeschlichen hatte von den Politologen, wo er hingehörte und, ging es nach Stachelmann, hätte bleiben sollen. Rolf Kugler war immer auf der Suche nach Frauen, alle witzelten darüber. Kugler kümmerte es nicht und widmete sich seiner Mission mit erstaunlichem Erfolg. Stachelmann ärgerte sich, dass Anne mit ihm sprach. Er schaute weg, aber nicht schnell genug, um nicht einen Blick von ihr einzufangen. Er hatte ihren dicken Bauch gesehen. Er hatte sich gemartert, wer der Vater sei, es aber nicht gewagt, jemanden zu fragen. Sie hatte eines Tages Renate Breuer erzählt, sie sei schwanger, und die Sekretärin hatte es herumgetratscht. Wenn man wollte, dass etwas bekannt wurde, musste man es Renate Breuer erzählen.

Plötzlich stand Ostermann vor ihm mit seinem Tablett. »Herr Historienrat wollen doch nicht verdursten an einem so wunderbaren Tag«, sagte er. Stachelmann nahm einen Orangensaft und wusste nicht, wohin er sich stellen sollte.

Da winkte Bohming plötzlich, rief: »Josef, komm mal her!« Er winkte noch einmal.

Stachelmann stellte sich zu der Gruppe.

»Das ist Josef Maria Stachelmann, nicht nur ein ausgezeichneter Kollege, sondern auch so eine Art Detektiv«, sagte Bohming mit Öl in der Stimme.

Stachelmann winkte ab.

»Ich habe davon gehört«, sagte Griesbach. Er hatte eine sympathische Stimme. Und er sah gut aus. Beides ärgerte Stachelmann, und es ärgerte ihn noch mehr, dass es ihn ärgerte.

»Reiner Zufall«, sagte Stachelmann, »und schon zwei Jahre her.«

»Das ist meine Frau Ines«, sagte Griesbach. »Sie ist Kollegin, wenn zurzeit auch ohne Anstellung, oder sollte man besser sagen, Zeitvertrag.«

Ines lächelte ihn aus braunen Augen an. Sie hatte einen festen Händedruck. Als Stachelmann mit dem Kopf nickte, blieben seine Augen an ihrer Bluse hängen. Sie trug keinen Büstenhalter, die Brustwarzen ragten hervor. Dann merkte er, seine Augen waren einige Augenblicke zu lang hängen geblieben, er schaute auf und spürte, wie er errötete. Sie strahlte ihn an. In ihrem Blick lag ein Einverständnis.

»Auch ich habe von Ihnen gehört. Vor allem, dass Sie ein Tiefstapler sein sollen.« Sie lachte und warf den Kopf nach hinten.

»Mit dem Transportwesen habe ich nun wirklich nichts zu tun, auch wenn ich mich mal in etwas eingemischt habe, das mich nichts anging. Genauer gesagt, ich wurde eingemischt.« Er sah im Augenwinkel Horst Lehmann das Zimmer betreten. »Entschuldigen Sie bitte, da kommt der Kollege Lehmann, mit dem muss ich dringend etwas besprechen.«

»Nur wenn Sie schwören, dass Sie wiederkommen«, sagte sie leise.

Es berührte ihn. Als er ging, sah er, dass Wolf Griesbachs Augen ihm folgten. Stachelmann glaubte, eine Frage darin zu lesen. Er wechselte ein paar Worte mit Lehmann und ging dann zur Toilette. Dort schaute er in den Spiegel. Er fand sich älter als dreiundvierzig Jahre und hässlich. Die Stirnglatze glänzte, die verbliebenen Haare waren zu früh ergraut. Der Bauchansatz wölbte das Hemd über dem Gürtel. Was konnte eine Frau finden an ihm? Er wusch sich die Hände und ging in sein Dienstzimmer. Was für ein Tag. Am Mittag den Vater beerdigt, am Nachmittag gefaulenzt, dann ein Bild eingesammelt von einer Frau, von dem er wusste, er würde es eine Weile mit sich tragen.

Er setzte sich wieder an den Schreibtisch. Dann kam der Schmerz, er kroch über die Beine nach oben. Stachelmann streckte den Rücken und durchsuchte seine Taschen nach einer Tablette. In der Jacketttasche fand er eine Diclofenac, er schluckte sie trocken. Es klopfte an der Tür, sie öffnete sich, ohne dass er etwas gesagt hatte. Griesbach guckte durch den Spalt. »Viel zu tun?«, fragte er.

Stachelmann nickte, er hatte einen Kloß im Hals. Er hatte sich verdrückt vom Empfang, das war ihm peinlich. Griesbach blieb in der Tür stehen. »Vielleicht verraten Sie mir demnächst die Geheimnisse?«

»Geheimnisse?«

»Was man hier wissen muss als Neuer. Damit ich nicht in Fettnäpfchen tappe. Das ist gewissermaßen mein Steckenpferd, Sie verstehen?«

Stachelmann musste grinsen. »Dann sind Sie auf diesem Gebiet mein schärfster Konkurrent. Es gibt kein Fettnäpfchen im Philosophenturm, in dem Sie nicht schon Fußabdrücke von mir finden. Kommen Sie rein!« Stachelmann zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

»Was macht Ihre Habil?«, fragte Griesbach.

Stachelmann änderte seine Sitzposition, um dem Schmerz auszuweichen. »So genau weiß ich das selbst nicht.« Er hatte den Berg der Schande aufgelöst, die Aktenstapel, die gewachsen waren, um Stachelmann noch mehr abzuschrecken. Als er nach Hermann Hollers Hinterlassenschaft in Naziakten suchte, hatte er gemeinsam mit Anne den Berg abgetragen. Inzwischen war der Entwurf seiner Habilitationsschrift zur Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald fertig, die Datei lag auf der Festplatte seines Computers, und er fürchtete sich vor dem, was er geschrieben hatte. Er hatte eine Vorstellung, was er schreiben wollte, aber als es geschrieben war, schien es seinem Maßstab nicht zu entsprechen. Ob die Arbeit schlecht war oder sich seine Ansprüche verändert hatten, er wusste es nicht. Aber er wusste, der Entwurf legte ihn fest, noch einmal würde er es nicht schaffen, eine neue Arbeit war nicht vorstellbar, und so musste er den Entwurf verbessern und fürchten, dass er am Ende nicht zufrieden sein würde. Es half nichts, dass er sich einredete, er sei noch nie zufrieden gewesen mit sich und dem, was er schrieb. Warum sollte es diesmal anders sein? Doch seine Sorgen gingen den anderen nichts an.

»Bohming hält ja große Stücke auf Sie«, sagte Griesbach. »Große Stücke.«

Stachelmann stellte sich vor, wie Griesbach seiner Frau die Bluse auszog. »Er übertreibt gerne ein bisschen.« Griesbach hatte volles schwarzes Haar, war drahtig, trug eine leichte Brille mit Tönung. Er trieb Sport, das verrieten sein Aussehen und sein Auftreten. Stachelmann fühlte sich noch hässlicher.

Griesbach grinste. »Sie denken da an seinen Durchbruch im Historikerstreit?«

Stachelmann musste lachen. »Ihr geheimes Spezialgebiet ist offenbar die Militärgeschichte.«

»Gewiss, aber nur solange es um das Gemetzel unter Kollegen geht. Und Kolleginnen natürlich.«

»Denken Sie da an Ihre Frau?« Es rutschte Stachelmann heraus.

Griesbach lachte. Er hatte ein offenes Lachen. »Die darf zurzeit nicht mitmetzeln. Hat sich an der FU, dann an der Humboldt von Zeitvertrag zu Zeitvertrag gehangelt. Aber mit einer Festanstellung wurde es nie etwas. Dabei ist sie spezialisiert auf die SED, man sollte doch denken, dafür gebe es Bedarf. Aber Berlin ist pleite.«

»Dann ist sie jetzt arbeitslos. Haben Sie Kinder?«

Griesbach schüttelte den Kopf. »Die sind nicht freizeitkompatibel.« Er lachte. »Wir reisen gerne und treiben Sport. Aber das ist natürlich nicht so aufregend wie das, was Sie erlebt haben. Bohming hat mir einiges erzählt. Ich weiß natürlich nicht, ob das alles stimmt. Darf ich Sie mal einladen, meine Frau würde sich auch freuen. Dann müssen Sie uns aber etwas von dieser Holler-Geschichte erzählen.«

Stachelmann sah sich in der Erinnerung mit Anne in seinem Dienstzimmer, wie sie die Akten filzten. »Ich hatte gehofft, es sei vorbei.«

Griesbach schaute ihn erschrocken an. »Tut mir Leid, ich wollte nicht aufdringlich sein.« Er erhob sich. »Aber die Einladung steht, über einen Termin sprechen wir noch. Und wenn Sie keine Lust haben, von Ihren Abenteuern zu berichten, dann reden wir über was anderes.« Er winkte Stachelmann freundlich zu und verließ den Raum.

Stachelmann starrte auf die geschlossene Tür. Es schien ihm, als hätte nichts von dem, was er tat und dachte, einen Sinn. Ihm fielen die alten Leute auf der Beerdigung ein, ihr Hass. Sie trugen dieselbe Lüge mit sich herum wie der Vater. Wir sind nicht schuld, wir haben nur Befehle befolgt, es war unsere Pflicht. Stachelmann überlegte, was geschehen wäre, wenn sein Vater früher darüber gesprochen hätte, von sich aus. Es hätte ihre Beziehung früher zerstört. Ihre beiden Wahrheiten waren nicht zu versöhnen und nicht zu widerlegen. Sie überlappten sich nirgendwo. Ihr Streit hatte sie nicht weitergebracht, sein Vater begriff ihn nicht, so wie er den Vater nicht begriff. Er spürte einen Anflug von Reue. Warum hatte er den Vater bedrängt? Der hätte die Lüge mit ins Grab nehmen können, niemandem hätte es geschadet, und gemessen an den Naziverbrechern gehörte der Vater zu den kleinen Rädchen im Mordgetriebe. Stachelmann überlegte, ob er ungerecht gewesen war. Es wäre nicht mehr gutzumachen. Wenn er nach dem letzten Gespräch an den Vater gedacht hatte, dann im Zorn über die Halsstarrigkeit des Alten.

Da fielen ihm die Spaziergänge im Sachsenwald ein, er mit seinem Vater. Er hatte ihn mit Fragen gelöchert. Wie groß ist der Mond? Warum wird man schneller müde, wenn man schneller läuft, als wenn man dieselbe Strecke langsam zurücklegt? Warum ist der Himmel blau und nicht rot? Und vielleicht waren es Vaters Geschichten über den Alten von Friedrichsruh im Sachsenwald, den der Kaiser Wilhelm zwo aus dem Amt warf und damit Deutschlands Untergang einleitete. Bismarck war Vaters Held, und eine Weile hielt ihn der Sohn für einen Riesen, der jeden Augenblick im Wald vor ihnen stehen konnte. Im Sachsenwald setzte der Vater die Wurzel für die Geschichtsneugier des Sohns, auch wenn sich die zunächst auf Helden richtete, wie Bismarck einer war oder Schlieffen, der ältere Moltke und Hindenburg. Es dauerte seine Zeit, bis Stachelmann das Reich der Helden verließ, in den Träumen war er daraus nie ganz verschwunden.

Vielleicht begann er erst mit dem Tod des Vaters zu verstehen, wie der ihn auf einen Weg geführt hatte, ohne führen zu wollen. Als Stachelmann die Quarta besuchte, erklärte er seinem Vater, er wolle später Historiker werden. Der Vater legte die Zeitung weg und lächelte, wie er über die vorherigen Berufswünsche gelächelt hatte. Als Stachelmann die Bilder sah, spürte er einen Kloß in der Kehle.

* * *

Immer wenn er draußen Schritte hörte, hielt er den Atem an, um vorbereitet zu sein. Aber immer entfernten sich die Schritte wieder, ohne dass jemand die Tür oder die Klappe öffnete; es schien, als hätten sie ihn vergessen. Ab und zu klickte es an der Tür. Unvorbereitet, er hatte niemanden kommen gehört. Er wusste nicht mehr, seit wann er in der Betonhöhle saß.

Irgendwann schlief er ein. Es knallte metallisch an die Tür. »Aufstehen!« Ein Wärter schlug seinen schweren Schlüsselbund von außen gegen das Schloss. Der Gefangene setzte sich auf und starrte an die Wand. Alles verschwamm ihm vor den Augen. Er folgte der Linie, die das Ocker trennte vom Schmutzigweißen. Er begriff nicht, was mit ihm geschah. Gestern früh hatten sie ihn aus dem Bett geklingelt, sie waren zu zweit. Sie durchwühlten die Wohnung, packten Papiere aus seinem Schreibtisch in eine Kiste. Als er fragte, was sie täten, antwortete einer: »Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden.« Nachdem die Suche beendet war, erklärte der Mann: »Wir nehmen Sie mit zur Klärung eines Sachverhalts.« Dann zwangen sie ihn, sich anzuziehen, und legten ihm Handschellen an. Auf der Straße begegnete ihnen eine Nachbarin, sie hatte bisher freundlich gegrüßt, jetzt drehte sie sich weg. Im Auto wartete ein Fahrer. Um was es gehe, fragte der Gefangene, als das Auto losfuhr. »Das wissen Sie genau!«, schnauzte ihn der Mann an, der neben ihm saß. »Seien Sie ruhig!« Sie zwangen ihn, sich nach vorne zu beugen, dann legten sie eine Decke über ihn. Sie fuhren eine Weile, dann hielt der Wagen. Die Decke wurde weggezogen. »Aussteigen!« Dann durchsuchten sie ihn, gaben ihm Wäsche und Geschirr und sperrten ihn in die Betonzelle.

Irgendwann verlor er das Zeitgefühl, immer brannte das Licht. Er fand keinen Rhythmus in den Schritten auf dem Gang. Der Hunger meldete sich. Er stand auf und klopfte gegen die Tür. Er wartete, nichts geschah. Er klopfte wieder. Nichts. Dann näherten sich Schritte, er klopfte. Die Schritte entfernten sich wieder.

3

Auf dem Weg zum Dammtor-Bahnhof kam er am Tokaja vorbei. Er wollte nicht allein zu Hause hocken, so ging er hinein. Es war dunkel und rauchig. An dem Tisch, wo er früher mit Ossi und Anne gesessen hatte, waren alle Plätze besetzt. Er fand einen Hocker an der Theke. Hinter der Theke arbeitete ein junger Mann in einem ärmellosen Hemd mit Comiczeichnungen darauf. Er hatte kurze rote Haare und einen Spitzbart. Stachelmann bestellte einen italienischen Weißwein und einen Grappa. Der Rothaarige stellte beides vor ihn, dann wechselte er die CD in der Musikanlage. Stachelmann drehte sich vom Tresen weg und betrachtete die Leute. Es kam ihm komisch vor, allein in einer Kneipe zu sitzen und zu trinken. »Das Gleiche noch mal?«, fragte der Mann mit dem Comichemd. Stachelmann nickte. Fast hätte er versucht, mit der Hand den Schleier wegzuziehen, der vor seinen Augen lag. Er fühlte sich müde und elend. Der Rothaarige stellte Wein und Grappa auf den Tresen, Stachelmann trank schnell. Er hörte den Spielautomaten dödeln neben der Tür zur Toilette. Davor zwei junge Männer, einen davon glaubte er schon einmal gesehen zu haben, vielleicht in einem Seminar. Die beiden waren angetrunken. Der Automat klapperte, sie hatten gewonnen. Sie lachten, schlugen sich auf die Schultern und gingen. Stachelmann hätte gern gewusst, wie sie mit ihren Vätern standen.

Der Rothaarige mit dem ärmellosen Hemd hatte wieder zwei Gläser hingestellt. Stachelmann drehte sich zum Tresen und betrachtete die Flaschen im Regal. Dann hörte er den Hocker neben ihm, er wurde verschoben. Er achtete nicht weiter darauf, trank einen Schluck Weißwein. Jemand tippte ihm an die Schulter, er drehte sich um und erschrak.

»So schlimm ist es doch nicht«, sagte Ines Griesbach.

Stachelmann schüttelte den Kopf, zu heftig. »Nein, nein.« Er hörte sich stammeln. Ein leichter Schwindel erfasste ihn. Warum, verdammt, hatte er so viel trinken müssen?

»Ist der Wein zu empfehlen? Das da in dem kleinen Glas lass ich lieber aus. Sonst mache ich nur Unsinn. Das ist dann für andere lustig, aber nicht für mich.« Sie klang, als wären sie schon lange vertraut miteinander.

Stachelmann winkte dem Mann hinter dem Tresen und zeigte auf sein Glas und dann auf Ines. Der Rothaarige nickte.

»Hier kann man sich schlecht unterhalten«, sagte Ines. »Es ist laut.« Sie berührte sein Ohr fast mit ihrem Mund. Sie roch aufregend, ein dezentes Parfüm. Der Mann hinter dem Tresen stellte ein Weinglas vor ihr ab. Sie hob es und hielt es Stachelmann hin. »Prost«, sagte sie lächelnd. »Auf Sie!«

»Nein, nein«, sagte Stachelmann, »auf Sie beide.«

Sie lächelte. »Auf meinen Mann kann ich schlecht trinken. Erstens ist er nicht da. Zweitens haben wir uns gestritten.«

»Tut mir Leid«, murmelte Stachelmann. Er kämpfte gegen den Dunst in seinem Schädel.

»Der liebe Wolf ist in Berlin, letzte Erledigungen. Was auch immer das sein mag. Und jetzt wollen Sie bestimmt noch wissen, worüber wir uns gestritten haben.« Sie trank einen kräftigen Schluck.

»Nein«, sagte Stachelmann.

»Ich wollte nicht mit nach Hamburg«, sagte Ines. »Und wissen Sie, warum?«

»Nein«, sagte Stachelmann. Er hielt sein Ohr an ihren Mund.

»Weil ich hier keine Chance habe, eine Stelle zu bekommen. Mein lieber Mann pflegt gerne zu übersehen, dass ich denselben Beruf ausübe wie er.« Sie bestellte ein weiteres Glas.

Stachelmann stand auf.

»Nun lassen Sie mich nicht auch noch allein.«

Er musste lachen. »Keine Sorge, ich bin eine treue Seele.«

Sie grinste. Sie saß vor ihm und war aufregend. Er hätte sie umarmen können, sie hätte sich nicht gewehrt, er spürte es, sie saß da wie eine Einladung. Er ging auf die Toilette. Dort trank er Wasser und überlegte, was Ines ins Tokaja geführt hatte. Er war angespannt, er fühlte sich mutig.

Als er zurückkam, legte sie ihm die Hand auf den Unterarm und sagte: »Wir wohnen hier um die Ecke. Ich wollte mir diese Kneipe ohnehin mal angucken. Besser ich trage meinen Ärger hierhin, als zu Hause darin zu brutzeln.«

Stachelmann lachte.

»Warum lachen Sie?«

»Ich stelle mir gerade vor, wie Sie zu Hause brutzeln.«

Sie lachte. »Blödes Wort, nicht?«

»Schönes Bild«, sagte Stachelmann.

»So, so!«, sagte Ines. Licht durchschimmerte ihre Bluse. Der Anblick erregte Stachelmann. Sie schien es nicht zu merken. Ihre Hand spielte mit ihrem Haar. »Wollen wir nicht zu mir gehen, da lässt es sich leichter reden.«

Stachelmann spürte die Spannung im Unterleib, als er sich ja sagen hörte. Sie bezahlten jeder für sich, dann hakte sie sich ein bei ihm. Der kalte Wind traf ihn hart vor der Tür, ihm schwindelte. Sie zog ihn sanft die Straße entlang. Matschiges Laub zwang sie, vorsichtig zu gehen, Stachelmann hatte Gummiknie. Er ahnte, was kommen würde, wusste, es war verrückt und eine Quelle künftigen Ärgers. Aber er wollte es. Der Alkohol und die Erregung ließen ihn die Schüchternheit überwinden, das machte ihn zufrieden. Er bemerkte alles, was mit ihm geschah. Dann fiel ihm Anne ein. Er hätte mehr trinken sollen, vielleicht hätte es dann geklappt mit ihr. Das Lachen überfiel ihn. Ines schaute ihn erstaunt an, sagte aber nichts. Und dann kam der Zorn. Soll Anne doch sehen, wo sie bleibt. Warum mussten die Männer den ersten Schritt tun, immer noch trotz allen Geredes über die Emanzipation? Warum er? Und warum ließ sie sich von einem anderen ein Kind machen? Für Stachelmann war es ein Vertrauensbruch, eine Rache für etwas, das Anne als sein Versagen empfinden mochte, oder als was auch immer. Er erinnerte sich vorwurfsvoller Blicke, aber nie hatte sie ein Wort gesagt. Vielleicht hatte sie hin und wieder etwas angedeutet durch Ironie und schnippische Bemerkungen. Warum konnte sie nicht Klartext reden, wenn sie nicht zufrieden war?

»Was überlegst du?«, fragte Ines. »Bist du böse?«

Natürlich war er böse. »Nein, es ist kalt.«

»Wir sind gleich da.«

»Und dein Mann?«

»Der kommt erst morgen Abend wieder. Keine Sorge. Er hat bestimmt eine Verehrerin in Berlin.«

»Moderne Ehe«, sagte Stachelmann.

»Alte Ehe«, sagte Ines.

Dann standen sie vor der Tür eines modernen Mehrfamilienhauses. Ines schloss auf und nahm Stachelmann an der Hand. Sie legte einen Finger auf den Mund. »Psst, die Nachbarn müssen nicht alles wissen.« Sie führte ihn die Treppe hinauf in den ersten Stock. Sie öffnete die Wohnungstür, es roch nach frischer Farbe. Als sie die Tür geschlossen hatte, zog sie ihren Mantel aus. Stachelmann hängte seinen Mantel ebenfalls an die Garderobe. Sie schaltete eine Stehlampe ein, die warf ein weiches Licht ins Wohnzimmer, das abzweigte von der Diele. Sie ging ein Stück ins Wohnzimmer, Stachelmann folgte ihr, dann drehte sie sich um und blieb stehen. Das Licht zeichnete ihre Figur nach. Stachelmann ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Er küsste sie, erst vorsichtig, dann mit dem Mut, den er sich angetrunken hatte und den ihm die Erregung verlieh. Er knöpfte ihr die Bluse auf. Er hatte lange nicht mit einer Frau geschlafen und noch nie mit einer, die alle seine Wünsche kannte.

In der Nacht lag er lange wach. Ines schlief mit ruhigen Atemzügen. Ab und zu brabbelte sie etwas Unverständliches. Er wälzte sich, ohne die Schmerzen im Rücken loszuwerden. Die Tablette dämpfte sie kaum. Die Wirkung des Alkohols ließ nach. Eine Straßenlaterne warf ein mattes Licht ins Schlafzimmer. Er roch die Farbe. Dann legte er den Arm unter den Kopf und fragte sich, wie es weiterging. Die Aufregung ließ nach, aber das Verlangen wuchs. Anne fiel ihm ein, und er ahnte, was er versäumt hatte. Er schüttelte den Kopf auf dem Kissen. Es war zum Totlachen, weil er Anne nicht verlieren wollte, hatte er sich zurückgehalten. Weil er sich zurückhielt, hatte er sie verloren. So was nennt man auch Dummheit. Aber bei der Frau eines Kollegen verlierst du die Hemmung. Das kann nicht gut gehen, und du bist zum Draufgänger mutiert, wie es einem Unglücksraben ansteht. Einen Augenblick fühlte er sich als Schwein. Er betrog einen Kollegen, aber hatte sie ihn nicht in die Wohnung gelockt?

Irgendwann war er doch eingeschlafen. Er spürte einen Luftzug am Ohr. Als er die Augen öffnete, lachte sie ihn an. Sie stand am Fußende des Betts. Der Frühstückstisch war gedeckt.

»Kein schlechtes Gewissen?«, fragte er.

»Warum?«

»Offenbar nicht«, sagte er. »Richtig skrupellos.«

»Beschwer dich nicht, du hattest deinen Spaß.«

Er staunte, wie kühl sie war. »Und nun?«

»Was nun?«

»Treffen wir uns wieder?«

»Ja, bestimmt. Ich ruf dich an. Du hast bestimmt eine Visitenkarte.«

Stachelmann gab ihr eine.

Sie schaute drauf. »Oder eine Mail. Aber bitte melde du dich nicht.«

»Klar«, sagte Stachelmann.

Sie zeigte ihm das Badezimmer und hatte sogar eine Zahnbürste für ihn.

Er küsste sie, als er ging. Sie war mit ihren Gedanken woanders. Doch ein schlechtes Gewissen, dachte Stachelmann, aber sie will cool sein.

Eine halbe Stunde vor Beginn seines Hauptseminars saß er in seinem Dienstzimmer. Er sortierte die Gedanken in seinem Kopf. Die Müdigkeit zog an ihm. Er überflog noch einmal die Hausarbeit, über die er in der Sitzung sprechen wollte. Reichsfluchtsteuer, Arbeitsdienst, Autobahnen. Gestelztes Geschreibsel, ein Epigone, dieser Walter Hartmann. Der zählte zu den wenigen Eifrigen im Seminar, und Stachelmann hätte dankbar sein müssen, dass es ihn gab. Aber ihn widerte die Mischung aus Eifer und Nachgeplapper an.

Er dachte an Ines. Und dann an Anne. Die Gesichter verschmolzen miteinander. Aber Anne hatte einen Schwangerschaftsbauch. Auch wenn er zu lange gezögert hatte, das hätte sie ihm nicht antun dürfen. Er spürte Wut aufsteigen, stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Der gestrige Tag verwirrte ihn. Hätte einer vorher behauptet, er würde an einem Tag seinen Vater beerdigen, sich betrinken und mit der Frau eines Kollegen schlafen, Stachelmann hätte ihn für verrückt gehalten. Hatte ihn die Beerdigung stärker erschüttert, als er es sich eingestand? Mit der Frau eines neuen Kollegen, das war, als hätte er eine Zeitbombe gezündet, ohne zu wissen, wann sie explodierte.

Es klopfte an der Tür. Es war Hartmann. »Herr Stachelmann …«

Stachelmann drehte sich abrupt um. »Ja, ich komme.« Jetzt holten die Studenten einen sogar ab. Früher wären Stachelmann und Ossi in die Cafeteria verschwunden, wenn sie das Seminar nicht umfunktioniert hätten.

Er nahm seine Tasche und Hartmanns Hausarbeit und überlegte, wie er es anstellen sollte. Dann dachte er an Ines. Wie schön es wäre, sie am Abend wieder zu besuchen. Ob er sie doch anrufen sollte?

Im Seminarraum erwarteten ihn gut zwanzig Teilnehmer, ein paar fehlten immer. Trotzdem waren es zu viele für ein Hauptseminar. Hartmann saß in der ersten Reihe, neben ihm eine hübsche Studentin mit halblangen braunen Haaren. Stachelmann missachtete sie seit Wochen, die Verfolgung durch eine aufdringliche Studentin in der Zeit des Holler-Falls hatte ihn ängstlich gemacht.

Hartmann referierte seine Arbeit genauso gestelzt, wie er sie geschrieben hatte. Hauptwort an Hauptwort, Partizipien, kunstvolle Relativsatzgeflechte, viele Adjektive und Genitive. Er sagte nichts Falsches, aber auch nichts Neues. Stachelmann ermahnte sich, von seinen Studenten nicht mehr zu verlangen, als die meisten Historiker zustande brachten. Und, doch ärgerte er sich über Hartmanns Vortrag.

Niemand im Seminar meldete sich. Als er eine Weile vergeblich gewartet hatte, sagte er: »Wenn man ein Beispiel sucht, warum die Arbeiten vieler Historiker unlesbar sind, dann hätten wir eines gefunden.« Er trug seine Gründe vor, und jedes Argument war genauer als das vorherige. Er geißelte den Jargon seiner Zunft, das Platzhirschgehabe, das sich in Wort- und Satzmonstern offenbarte und darauf aus war, die Leser zu beeindrucken. Als er von verbalem Imponiergehabe sprach, sah er, wie sich Hartmanns Gesicht verfinsterte. Die Studentin neben ihm starrte auf die Tischplatte vor ihr. Als er fertig war, wusste er, dass er es falsch gemacht hatte.

Hartmann stand auf und verließ den Raum. Die anderen schauten irgendwohin, nur nicht zu Stachelmann. Keiner protestierte, Stachelmann hätte mit Widerspruch besser umgehen können als mit Schweigen. Er fühlte, er war zu weit gegangen, auch wenn er in jedem Punkt Recht hatte. Aber es war nicht fair, den lang angestauten Ärger über die Angeberei mancher Kollegen an einem Studenten auszulassen, der sie nur nachgeäfft hatte.

Der Rest des Seminars zog sich zäh hin, Stachelmann war erleichtert, als es zu Ende war. Er blieb auf seinem Platz sitzen, als die Studenten den Raum verließen. Hartmanns Nachbarin blieb als Einzige im Raum. »Selbst wenn Sie mich jetzt auch fertig machen, ich fand es unter aller Kanone, was Sie mit Walter gemacht haben. Das hätte ich nie geglaubt von Ihnen.« Sie drehte sich weg und ging. Er hätte es auch nicht gedacht von sich.

Er saß einige Minuten, die Gedanken rasten durch sein Hirn. Gesichterfolgen wie in einer Diashow. Ines, Anne, Walter Hartmann, dessen Nachbarin, die als Einzige den Mut aufbrachte, ihren Kommilitonen zu verteidigen. Er war traurig, weil es ihm zum ersten Mal nicht gelungen war, sich im Seminar zu beherrschen. Es nutzt nichts, Recht zu haben, wenn man nicht überzeugen kann. Dann redete er sich ein, die Aufregung werde sich legen. Vielleicht war sein Auftritt sogar nützlich gewesen, und die Teilnehmer würden später begreifen, was er ihnen beibringen wollte. Mochte auch sein, dass sich manche künftig überlegten, ob sie ein Seminar von ihm besuchen sollten. Seine Veranstaltungen waren ohnehin zu voll.

Er packte seine Sachen in die Aktentasche und ging zurück in sein Zimmer. Es drängte ihn, Ines anzurufen. Zwar kannte er ihre Telefonnummer nicht, aber Renate Breuer hätte ihm gewiss gleich die Nummer des neuen Kollegen gegeben. Ob Ines oft fremdging? Tat sie es, um sich an ihrem Mann zu rächen, weil der seinen Willen durchsetzte? Warum war sie mitgekommen nach Hamburg, wenn es ihr in Berlin besser ging und die Ehe längst brüchig war? Viele hingen an Beziehungen, die bereits verloren waren. Beendet werden sie meist zu spät. Stachelmann erinnerte sich gut, bei ihm war es nicht anders. Von außen sahen die Dinge oft klar aus. Er mühte sich, die Gedanken an Ines und Hartmann zu verdrängen und noch zwei Hausarbeiten zu korrigieren. In der nächsten Seminarsitzung wollte er besonders aufmerksam und freundlich sein und sich vielleicht sogar entschuldigen für seinen Auftritt. An die Arbeit, befahl er sich.

Als er die erste Hausarbeit fast zu Ende gelesen hatte, klingelte das Telefon. Gleich dachte er an Ines, aber es war Bohming. Der fragte, ob Stachelmann kurz vorbeischauen könne. Stachelmann hatte keine Ahnung, was Bohming wollte. Vielleicht einfach nur ein bisschen angeben, manchmal brauchte der Sagenhafte das.

Es standen noch ein paar Platten mit Schnittchen auf dem langen Tisch an der Wand. Dazwischen schmutzige Gläser. Dem Chaos gegenüber saß Bohming hinter seinem Schreibtisch, auf dem nichts lag außer einem Kugelschreiber. Stachelmann setzte sich auf den Besucherstuhl. Das Tischchen, an dem Bohming sonst seine Gespräche führte, war übersät mit schmutzigen Tellern und Gläsern.

Bohming schnaufte. »Ich freue mich schon auf morgen früh, wenn der Dreck weggeräumt ist. Er fängt schon an zu stinken.«

Stachelmann nickte. »Es kommt ja nicht jeden Tag ein Neuer.«

»Es gäbe auch nur wenige, über die ich mich freuen würde. Der Wolf Griesbach passt gut zu uns, ich habe das gleich gemerkt.« Bohming rühmte sich gern seiner Menschenkenntnis. Er strich über seinen Bauch, der im Sitzen nach oben gedrückt wurde. Stachelmann fiel die reich verzierte Gürtelschnalle auf, die sich unter der Strickjacke hervordrängte. »Ich glaube, der Lehmann ist noch ein bisschen skeptisch, aber das wird sich legen. Und was meinst du, Josef?«

»Ach, am Anfang guckt sich jeder einen Neuen erst mal an. Und mancher befürchtet, es ändern sich die Konstellationen. Andere mögen hoffen, dass sie sich ändern. Ich finde den Kollegen Griesbach nett, und er hat ordentlich publiziert. Das wird schon klappen.« Er spürte seine Anspannung. Nichts würde klappen, es herrschte schon jetzt Unordnung. Wie sollte er mit einem Kollegen klarkommen, mit dessen Frau er so bald wie möglich wieder schlafen wollte?

»Aber deswegen habe ich dich nicht zu mir gebeten. Du kennst Walter Hartmann?«

Stachelmann nickte. Die Frage überraschte ihn. »Er sitzt in meinem Hauptseminar.« Stachelmann sagte nicht, dass er sich gerade überworfen hatte mit ihm.

»Das ist ein Neffe von Oswald Meyerbeck. Du weißt, wer Meyerbeck ist?«

Stachelmann nickte. Dr. Oswald Meyerbeck war der Hauptaktionär der Meyerbeck Werft, wohl der einzigen Großwerft, die noch Gewinne abwarf, jedenfalls in Hamburg, trotz der subventionierten Konkurrenz aus Südkorea.

Bohming grinste, das hatte Stachelmann noch nie gesehen. »Und dieser Meyerbeck ist auf die Idee gekommen, die Geschichte seiner Reederei aufschreiben zu lassen. Von uns! Wenn das klappt, dann sind wir wohl der erste historische Lehrstuhl in Deutschland, der Drittmittel erwirtschaftet.« Bohming schaute in die Ferne. Wahrscheinlich arbeitete er in Gedanken schon an einem Artikel, in dem er der Fachwelt diesen Coup vorstellen wollte.

»Aber es gibt doch einige Kollegen, die Firmengeschichten veröffentlicht haben.«

»Gewiss, aber Meyerbeck will diesen Auftrag nicht mir geben oder einem anderen Kollegen hier, sondern meinem Lehrstuhl. Er glaubt, und da hat er Recht, dass dies die Studie unanfechtbar machen wird.«

»Dann hofft er also auf freundliche Worte.«

»Das hoffen solche Leute immer. Aber er hat mir geschrieben, wir sollten unabhängig arbeiten und das publizieren, was wir herausfinden, ohne Rücksicht zu nehmen auf ihn und seine Familie.«

»Das ist nicht ohne Risiko. Warum macht er das?«

»Weil er sonst auf lange Sicht schlechter dastehen könnte. Die bauen Schiffe für amerikanische Reedereien, auch wenn die dann offiziell unter Billigflagge fahren. Seit dieser Zwangsarbeitergeschichte sind Firmen, die in die USA exportieren, erpicht darauf, eine halbwegs weiße Weste zu haben oder wenigstens Bußfertigkeit zu zeigen. Meyerbeck hat in den Zwangsarbeiterentschädigungsfonds eingezahlt, das war Pluspunkt Nummer eins. Dass die Werft damals U-Boote gebaut hat, juckt heute keinen mehr.«

»Weil er also Pluspunkt Nummer zwei braucht, beauftragt er uns, die Werftgeschichte aufzuarbeiten. Kommen viele braune Flecken ans Licht, gilt Meyerbeck als Unternehmen, das seine Geschichte selbstkritisch aufarbeitet. Gibt’s wenig braune Flecken, umso besser.«

»So kann man es auch sagen.« Bohming grinste wieder. »Es wird eine leichte Übung. Vor allem für einen wie dich.«

»Wie mich?«

»Ja, Meyerbeck hat dich vorgeschlagen. Er folgt dem Rat seines Neffen, dieses Hartmann.«

»Nein, bitte nicht.« Es platzte ihm heraus. Er dachte an Hartmann, der sich gewiss längst ausgeweint hatte bei seinem Onkel. Vielleicht überlegte der sich nun sogar, das Projekt aufzugeben. Er schien jedenfalls viel zu halten von Empfehlungen seines Neffen.

Bohming schaute ihn neugierig an. »Was ist denn los?«

»Meine Habil, ich muss die Arbeit fertig machen.«

»Josef, du verstehst nicht, wie wichtig das für uns ist. Überall kürzen sie die Mittel, demnächst werden wir für jeden Bleistift auf den Knien zum Senat kriechen müssen. Meyerbeck wird uns eine Menge zahlen dafür, mit dem Geld könnten wir einen neuen Projektor kaufen, die Bibliothek aufstocken, vielleicht reicht es noch für ein oder zwei Hiwis fürs neue Semester. Und wenn wir das Projekt gut hinkriegen, dann kommen vielleicht weitere Firmen, die ihr Image aufbessern wollen. Deine Habil, Josef, ist doch so gut wie fertig. Du darfst uns nicht im Stich lassen. Ich wüsste nicht, wer es sonst machen sollte.«

»Die beiden Männer«, sagte Stachelmann.

»Ostermann und Lehmann sind prima Kollegen. Aber noch ist das eine Nummer zu groß für sie. Meyerbeck, das ist ein Pilotprojekt.«

»Griesbach«, sagte Stachelmann.

»Das wäre unanständig. Der ist noch nicht mal richtig eingezogen, und schon schicken wir ihn auf eine Expedition. Der wird beim nächsten Projekt drankommen.«

»Derling.«

Bohming schaute ihn fragend an. »Die ist schwanger. In zwei, drei Wochen liegt sie im Kreißsaal oder wo immer die Frauen heutzutage Kinder kriegen. Da kann sie schlecht Quellen suchen gehen.«

»Aber das Projekt muss nicht sofort beginnen.«

»Doch, wir dürfen uns diese Chance nicht durch die Lappen gehen lassen. Oder glaubst du, Meyerbeck ist auf uns angewiesen? Die lieben Kollegen an anderen Unis würden sich um diesen Auftrag reißen. Wenn ich da nur an die Bremer denke! Aber du bringst mich auf eine Idee. Wenn Anne wieder an Bord ist, soll sie dich unterstützen. Ich werde ihr das schon beibringen. Und wenn du sonst Hilfe brauchst, wir stehen alle bereit.«

Stachelmann überlegte, ob er Bohming berichten sollte von seinem Zerwürfnis mit Hartmann. Aber er sagte nichts. Und wie sollte er zusammenarbeiten mit Anne?

»Ich habe für dich schon einen Termin bei Meyerbeck vereinbart, provisorisch natürlich. Übermorgen Nachmittag. Ist dir das recht?«

»Und wie lange soll das Projekt dauern?«

»Nicht lange. Und du musst nicht jeden Tag daran sitzen. Hauptsache, wir kriegen den Auftrag und du fängst an.«

Am Abend zog sich der Stau bis zum Horner Kreisel. Stachelmann war es egal. Mit dem Schmerz kam die Niedergeschlagenheit. Der Regen hatte aufgehört, Pfützen standen in der Spurrille. Endlich bog er ab auf die Autobahn 24 nach Berlin und dann auf die 1 Richtung Lübeck. Er fuhr langsam, leise ertönte ein Barockkonzert aus dem Autoradio. Als er von zu Hause losgefahren war, ging es zur Beerdigung. Es war viel geschehen seitdem. Die Nacht mit Ines rückte weiter weg. Er dachte an Anne. Es würde eine Weile dauern, bis sie aus dem Schwangerschaftsurlaub zurückkam. Was sollte er dann tun?

* * *

Er wusste nicht, wie lange er an die Wand gestarrt hatte, als es an der Tür rasselte. Riegel knallten, ein Schlüssel knirschte im Schloss. Ein Uniformierter stand in der Tür. »Aufstehen! Machen Sie gefälligst Meldung!«, brüllte er.

Der Gefangene stand auf.

»Sie melden sich als 17 rechts!«

Der Gefangene verstand, ein zweiter Häftling in der Zelle trüge die Nummer 17 links.

»Es meldet 17 rechts!«

»Kommense!«, schnauzte der Mann.

Sie gingen den Gang entlang, wieder musste der Gefangene an Linien auf dem Boden warten. »Gesicht zur Wand, Hände auf den Rücken!« Wieder wurden grüne Lampen aus- und rote angeschaltet, bevor sie weitergingen. Sie stiegen Treppen hoch, bis sie einen Gang mit gepolsterten Türen erreichten. Über jeder Tür ein Licht. Die Lichter waren auf Rot geschaltet. Vor einer Tür befahl der Wächter: »Stehen bleiben!« Er öffnete die Polstertür, dann sagte er: »Gehense rein!«

In dem Zimmer saß ein Mann mittleren Alters mit schwarzen Haaren. Auf dem Schreibtisch stand eine Vase mit Blumen. Es roch nach frischem Kaffee und Zigarettenrauch. Der Mann hinter dem Schreibtisch stand auf und näherte sich dem Gefangenen, während der Wächter die Tür schloss. »Nun haben wir Sie endlich«, sagte der Mann. Der Gefangene erkannte Dienstgradabzeichen auf der Schulter. »Solche Typen wie Sie kriegen wir immer! Sie sind zu dumm für uns!« Er schrie es dem Gefangenen ins Gesicht. Der spürte Speicheltröpfchen. Er hob die Hand, um sich das Gesicht abzuwischen. »Stehense still!«, brüllte der Mann. Dann sagte er ruhiger: »Setzen!« Er wies auf einen Hocker. »Ich bin Ihr Untersuchungsführer«, sagte der Mann. »Nennen Sie mich Leutnant Kurbjuweit.«

Der Gefangene beschloss zu schweigen. Er schaute aus dem Fenster auf ein graubraun verputztes Haus. Der Hof war von Scheinwerfern beleuchtet.

Die Polstertür öffnete sich. Es erschien ein kräftiger Mann mit grauen Bürstenhaaren. Der Vernehmer stand auf und schnauzte den Gefangenen an: »Stehense auf!«

»Nun, Genosse Kurbjuweit«, sagte der Unbekannte. »Macht er Sperenzchen?«

»Natürlich, Genosse Major«, sagte Kurbjuweit. »Das machen am Anfang alle.«

Der Major lachte trocken. »Und alle gestehen am Ende doch. Würden Sie freiwillig wochenlang in Einzelhaft sitzen wollen, Genosse Leutnant?«

Kurbjuweit grinste. »Nein, ich gehe heute Abend nach Hause zu meiner Frau und meinen Kindern. Was Gutes essen, ein Bierchen, ein Kessel Buntes und dann gut schlafen im weichen Bett.«

»Tja«, sagte der Major. »Ich habe für heute Abend einen Tisch reserviert im Moskau. Haben Sie da mal die Soljanka gegessen?«

»Ja, Genosse Major, die ist vorzüglich.«

»Manche verzichten freiwillig auf diese schönen Dinge, weil sie meinen, sie müssten in Betonlöchern sitzen.«

»Die werden sich später fragen, warum sie sich umsonst geplagt haben. Ein sauberes Geständnis, und schon gibt’s den Umzug in eine schöne Zelle mit einem schönen weichen Bett. Und bald kommt ein Zellengenosse dazu. So allein, das ist doch nicht schön.« Kurbjuweit verzog das Gesicht. Dann sagte er: »Die neue Zelle, das wäre schon fast wie im Hotel.«

Der Gefangene schwieg. Er wusste, was die beiden bezweckten mit ihrem Gerede. Sie wollten ihn weich kochen. Ihn provozieren. Sie hatten schon Hunderte Male Gefangene bearbeitet. Für die war er nur einer in einer langen Reihe. Der Gefangene nahm sich noch einmal vor zu schweigen. Aber er spürte, dass ihn sein Wissen über die Absichten der anderen nicht schützte vor der Wirkung ihrer Methoden.

Der Major ging.

»Sehen Sie«, sagte Kurbjuweit, »da haben Sie aber keinen guten Eindruck hinterlassen beim Major. Der entscheidet übrigens, ob die Untersuchungshaft auf Ihre Zeit im Vollzug angerechnet wird. Meine Prognose und Erfahrung: Wenn Sie schweigen, wird sie nicht angerechnet, wenn Sie reden, wird sie angerechnet. Wir spielen hier mit offenen Karten, tun Sie das auch.«

Dann schwiegen sie. Der Vernehmer schrieb etwas auf. Er trank Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Der Gefangene betrachtete die Einrichtung des Zimmers. Links in der Ecke ein Safe, auf dem Schreibtisch ein großes Telefon mit vielen Knöpfen. Hinter dem Vernehmer ein niedriger Aktenschrank, darauf eine Topfpflanze. An der Wand ein Bild, das der Gefangene als Porträt Feliks Dserschinskis erkannte, der den sowjetischen Geheimdienst, die Tscheka, gegründet hatte. Die Büromöbel stammten aus derselben Fabrik wie alle Büromöbel im Land.

Dann hob der Vernehmer den Kopf. »Lassen Sie uns doch vernünftig miteinander reden. Solange Sie nicht aussagen, sitzen Sie in dem Betonloch. Wir können das ewig mit Ihnen machen. Ich erwarte ja gar nicht, dass Sie alles zugeben. Eigentlich reichen uns die Beweise, die wir haben. Aber ich will ein vernünftiges Protokoll mit Ihnen aufschreiben. Ich will diesen Fall bald abschließen, und in Wirklichkeit wollen Sie das auch.«

»Was für Beweise?«, fragte der Gefangene und ärgerte sich gleich, dass er gesprochen hatte.

»Na sehen Sie, es geht doch.« Der Vernehmer legte ein Blatt auf den Tisch. Der Gefangene erkannte seine Schrift. Es war ein Brief, den er nach Westberlin geschickt hatte. Dieser Brief beweise sein Verbrechen, sagte der Vernehmer, alle weiteren Beweise erübrigten sich eigentlich. Aber sie hätten, weil sie gründlich seien und in einem Rechtsstaat lebten, weitere Beweise gesammelt, die ausreichten, ihm viele Jahre Gefängnis einzubringen. Als der Gefangene kurz aufblickte, legte der Vernehmer ein Taschenmesser in einem durchsichtigen Plastikbeutel auf den Tisch. »Bewaffneter Grenzdurchbruch«, sagte er. »Das sind schon ein paar Jahre mehr.« Daneben legte er den Führerschein des Gefangenen. »Unter Nutzung technischer Hilfsmittel. Noch mehr.« Es folgten Fotos von Menschen. »Im organisierten Zusammenwirken«, sagte er. »Was hier auf dem Tisch liegt, reicht für acht oder neun Jahre Bautzen zwo. Noch nicht eingerechnet die staatsfeindliche Verbindungsaufnahme. Glauben Sie nicht, dass Sie da früher rauskommen oder gar abgeschoben werden in den Westen. Wir sind kein Reisebüro. Wir passen auf, dass solche Typen wie Sie uns nicht alles kaputtmachen. Sie wissen nicht, was Bautzen zwo ist? Sie werden es erleben. Wenn Sie weiter schweigen.« Er schaute den Gefangenen böse an. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Wenn Sie aussagen, wer die Hintermänner waren und die Verbindungsleute im Westen, dann könnten wir über ein paar Jahre Nachlass sprechen. Arbeiten Sie mit uns zusammen, es hilft vor allem Ihnen. Wir sind keine Unmenschen.«

Dem Gefangenen fiel ein, dass Unmenschen behaupten mussten, sie seien keine Unmenschen, um sich selbst davon zu überzeugen. Gute Menschen würden ihre Gefangenen nicht in Betonhöhlen einsperren. Sie würden ihnen nicht verbieten, sich ohne Befehl auf die Pritsche zu legen. Aber er sagte nur: »Sie haben meine Wohnung durchsucht. Dürfen Sie das?«

Da lächelte der Vernehmer freundlich. »Wir sind ein Untersuchungsorgan. Wir untersuchen Verbrechen gegen unseren Staat, dem Sie so viel zu verdanken haben. Und zum Untersuchen gehört es nun mal, dass wir Wohnungen durchsuchen. Das ist klar.« Er zeigte auf die Gegenstände auf dem Tisch. »Wir können ein paar davon verschwinden lassen. Dann wird es leichter.« Er nahm das Messer vom Tisch, dann die Fotos, dann den Führerschein. »Jetzt wird es nicht mehr Bautzen zwo. Und wenn Sie künftig mit uns zusammenarbeiten, dann sammeln Sie gewissermaßen Pluspunkte. Aber Sie müssen uns Ihre Kontaktpersonen im Westen nennen. Und wie Sie das mit Ihren Komplizen hier organisiert haben.« Er hielt dem Gefangenen zwei Fotos hin. Das eine zeigte eine Frau, das andere einen Mann, etwa im Alter des Gefangenen. Der Vernehmer schaute den Gefangenen freundlich an. »Sie sollten unserem Staat dankbar sein. Er hat Ihnen eine ausgezeichnete Schulbildung gegeben, er hat Sie studieren lassen. Das dürfen nicht alle.«

Der Gefangene überlegte, ob es nicht besser wäre, dem Mann alles zu erzählen. Er saß erst kurz im Gefängnis und war schon fertig mit den Nerven. Er überlegte, wie er sich fühlen würde, wenn sie ihn zurückbrachten in die Zelle. »Wenn Sie kein Unmensch wären, würden Sie mich nicht in diese Betonhöhle sperren«, sagte er trotzig.

»Seien Sie froh, dass Sie nicht im U-Boot sitzen. Da haben wir ein paar Zellen im Keller, auf die dieser Name wunderbar passt. Da gibt es nur Kunstlicht, kein Wasserklosett, sondern einen Eimer. Es liegt ganz an Ihnen, ob und wann Sie ins U-Boot verlegt werden. Wenn Sie wollen, kriegen wir das gleich hin.« Er rieb seine Hände aneinander. Der Gefangene entdeckte einen Ehering am Finger des Vernehmers. Er fragte sich, ob die Frau wusste, was der Mann tat. Dann dachte er über die Vorschläge des Vernehmers nach. Warum sollte er nicht gestehen, was sie ohnehin wussten?

»Ich wollte die Grenzsicherung anschauen«, sagte er. »Das ist alles.«

»Um Republikflucht zu begehen«, sagte der Vernehmer freundlich.

»Ich habe mit dem Gedanken gespielt.«

»Und das, obwohl unser Staat es gut meinte mit Ihnen. Ich verstehe Sie nicht. Außerdem, ob versuchte Republikflucht oder vollendete, es ist beides strafbar.«

»Ich sagte doch, ich habe mit dem Gedanken gespielt. Ich habe nichts versucht oder vorbereitet.«

»Der Gedanke ist schon strafbar.«

»Das ist absurd«, sagte der Gefangene.

»Das ist das Gesetz. Wir leben in einem Rechtsstaat. Und das heißt auch, dass sich jeder an das Gesetz halten muss.«

Es war fast ein gemütliches Gespräch. Der Vernehmer war geduldig und erklärte dem Gefangenen, was Recht war und was Unrecht. »Also, Sie geben zu, Sie haben an Flucht gedacht.«

»Manchmal«, sagte der Gefangene.

Der Vernehmer schrieb etwas auf.

»Aber ich war nicht fertig mit dem Denken.«

»Weit genug, um an der Küste Ausschau zu halten nach der Grenzsicherung.«

»Es war mehr ein Spazierengehen.«

»Nun widersprechen Sie sich aber. Unter Spazierengehen verstehe ich was anderes.«

»Was ist mit der Frau?«, fragte der Gefangene.

»Welcher Frau?«

»Der auf dem Foto.«

»Die sitzt ganz in Ihrer Nähe.«

4

Oswald Meyerbeck blickte über den Hamburger Hafen. Er saß im siebten Stock seines Büros in der Nähe der Landungsbrücken und sagte nichts. Stachelmann staunte über das Panorama, das dieser Mann jeden Tag genoss beim Blick durch die Glasfront an der Hafenseite. Sie hatten sich begrüßt, Meyerbeck hatte Stachelmann einen Platz in der Sitzecke angeboten und gefragt, ob er etwas trinken wolle. Stachelmann hatte abgelehnt und wartete auf die Fragen und Wünsche des Werftbesitzers. Währenddessen bewunderte er die beiden Gemälde, eines hinter dem Schreibtisch, das andere an der Wand gegenüber der Glasfront. Kokoschka, erkannte er, wahrscheinlich Originale. Aber er fragte nicht. Meyerbeck kratzte sich an der Nase, dann schaute er Stachelmann an durch eine dicke Hornbrille, hinter der die Pupillen verschwammen.