Mit dir bin ich unendlich - Mila Summers - E-Book
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Mit dir bin ich unendlich E-Book

Mila Summers

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Beschreibung

Die 17-jährige Olivia hat alles, was man mit Geld kaufen kann. Doch glücklich ist sie nicht. Seit sie denken kann, kämpft sie mit Versagensängsten. Als sie von der Privatschule fliegt und an eine öffentliche Highschool wechselt, wird Olivia dort schnell abgestempelt. Ihre Unsicherheit deuten die anderen als Arroganz. So auch Nathan, dem es eigentlich gar nicht ähnlich sieht, Menschen in Schubladen zu stecken. Doch als die beiden gemeinsam an einem Schulprojekt arbeiten müssen, blickt er hinter Olivias Fassade und entdeckt dort so viel mehr ...

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Seitenzahl: 416

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Danksagung

Weitere Titel der Autorin:

Verloren sind wir nur allein

Titel auch als E-Book erhältlich

Originalausgabe

Copyright ® 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Cover: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0443-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Mama und Papa

Danke für euren Mut

und eure bedingungslose Liebe

Kapitel 1

Olivia

Es sind genau zweiunddreißig Stufen bis nach unten ins Erdgeschoss. Auf jeder einzelnen verweile ich einen kurzen Moment, bis ich meinem Schicksal doch nicht länger entgehen kann.

Der Geruch von Eiern mit gebratenem Speck liegt in der Luft. Eine leicht süßliche Note mischt sich darunter. Pancakes oder Waffeln. Das Dröhnen des Entsafters ist zu hören.

»Guten Morgen, Rosalia.« Erleichtert atme ich auf, als ich unsere Haushälterin – und damit die gute Seele des Hauses – in der Küche erblicke. Von meinen Eltern fehlt zum Glück jede Spur.

»Guten Morgen, Olivia. Hast du gut geschlafen?« Trotz der vielen Jahre, die Rosalia nun schon in den USA lebt, hört man noch immer ihren mexikanischen Akzent.

Ihre Stimme ist weich und vertraut. Ich fühle mich von ihrem Klang warm ummantelt und gebe mich einen Augenblick zu lange der Vorstellung hin, alles könnte doch noch gut werden.

»Wie ein Stein«, lüge ich. Kaum dass die Worte meinen Mund verlassen haben, möchte ich sie auch schon wieder zurücknehmen. Es gibt keinen Grund, Rosalia anzulügen. Sie kennt die Abläufe und einstudierten Floskeln, die uns nach außen wie die perfekte Familie wirken lassen. Sie weiß um das aufgesetzte Lächeln, das meine Augen nicht erreicht und durchschaut die gespielte Freude, die nie ein Teil von mir sein wird.

Und dennoch kann ich nicht anders. Zu sehr ist mir das Ganze schon in Haut und Haar übergegangen. So sehr, dass ich es nicht einmal schaffe, mit Rosalia, meiner einzigen Vertrauten, über die Albträume der vergangenen Nacht zu sprechen.

Rosalia nickt. Ich kann den Hauch eines Zweifels auf ihrer leicht gerunzelten Stirn erkennen. Doch sie schweigt. Weiß, dass es besser ist, manche Dinge in diesem Haus ungesagt zu lassen.

Anstatt mich weiterhin Rosalias fragendem Blick auszusetzen, greife ich nach einem der bereitgestellten Teller und lade mir ein paar der frischen Pancakes auf. Am liebsten ertränke ich sie in Ahornsirup. Aber Mom schaut mich dann immer so rügend an. Seit ich denken kann, hält sie Diät. Also halte ich mich zurück, auch wenn es mir nicht besonders leichtfällt.

»Na, Olivia, bist du bereit für deinen ersten Schultag?« Dads Stimme ist plötzlich in meinem Rücken zu hören.

Ich erstarre mit dem Teller in der Hand. Mein Herz springt katapultartig in die Höhe und versucht aus meinem Brustkorb zu hüpfen, während ich nur mühevoll das Zittern meiner Hände unter Kontrolle bekomme. Normalerweise beachtet mich mein Vater beim Frühstück überhaupt nicht. Seine komplette Aufmerksamkeit gilt für gewöhnlich seinem Smartphone oder der Tageszeitung.

»Guten Morgen, Dad«, zwinge ich mich zu sagen, während ich mich mit einem zögerlichen Lächeln auf den Lippen zu ihm umdrehe und mich mit beiden Händen an meinem Teller festhalte.

Auch er lächelt – was allerdings nichts weiter zu sagen hat. Mein Dad ist ein perfekter Schauspieler. Er weiß ganz genau, wann er welchen Gesichtsausdruck aufsetzen muss, um die Leute für sich zu gewinnen. Seit einer gefühlten Ewigkeit arbeitet er in der Politik. Gerade hat er es sich in den Kopf gesetzt, der Gouverneur von South Carolina zu werden. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass ihm auch das gelingen wird.

Er klopft mir auf die Schulter als wäre ich einer seiner Wahlhelferinnen. »Mit dieser Portion Pancakes wirst du den ersten Tag sicher spielend leicht überstehen.«

Für jemanden, der meinen Vater nicht besser kennt, klingen seine Worte vielleicht sogar nett. Doch ich weiß es besser, kenne die unterschwellige Botschaft, die darin mitschwingt.

Ein weiteres Versagen meinerseits würde er unter keinen Umständen dulden. Das hat er mir mittlerweile mehrfach deutlich klargemacht, seit ich von der teuren Eliteschule South Carolina Joel Roberts Poinsett School for Science and Mathematics in Hartsville geflogen bin.

Auch jetzt, knapp zwei Monate später, träume ich noch immer von seinem Wutausbruch und den Vorwürfen, die er mir beinahe täglich macht. Sosehr ich mich auch bemühe, ich werde es nie schaffen, die Tochter zu sein, die mein Vater sich wünscht. Ich weiß das. Er weiß das. Und dennoch stehen wir uns lächelnd gegenüber. Der perfekte Schein.

Wenn es nach meinem Vater ginge, sollten meine Talente besonders in den Naturwissenschaften und der Mathematik liegen. Aber ich bin kein Roboter, den man per Knopfdruck programmieren kann. Alles, was mit Zahlen zu tun hat, ist für mich wie ein Buch mit sieben Siegeln.

Ich zeichne und male gerne. Meine Leidenschaft sind Landschaften und Tiere. Für meinen Vater ist die Malerei nicht mehr als ein Hobby – ein Zeitvertreib, der mich im Leben nicht weiterbringt. Seine Unzufriedenheit und die grollende Wut über seine untalentierte Tochter lässt er mich deutlich spüren. Nach dem Rauswurf von der Eliteschule hat er mir all meine Zeichenutensilien und sämtliche Malblöcke einfach so wegnehmen lassen.

Mein Dad gibt Anweisungen. Seine Angestellten folgen diesen. Ein einfaches, gut funktionierendes System, das ihn zuverlässig ans Ziel bringt. Während andere nur reden, ist Dad ein Macher. Er lässt sich nicht von so banalen Dingen wie einer Tochter, die so ganz und gar nicht seinen Erwartungen entspricht, aus der Bahn werfen. Oh, nein!

»Rosalia, machst du mir bitte einen Espresso?«

Wer meinem Dad das erste Mal gegenübersteht, hört den latenten Vorwurf in seiner Stimme nicht. Der weiß nicht, wie sehr er es hasst, auf etwas warten zu müssen. Rosalia hat die Anweisung, Dad sofort nach seinem Erscheinen einen Espresso zu servieren. Ich bin mir sicher, dass sie bestimmt nur höflich sein und unser Gespräch nicht unterbrechen wollte und ihm den Kaffee deshalb noch nicht zubereitet hat.

»Aber natürlich, Sir.« Rosalia wendet sich schnell von uns ab und widmet ihre volle Aufmerksamkeit der Espressomaschine, die mehr gekostet hat als ein Kleinwagen.

Geld spielt in unserer Familie keine Rolle. Mom war in ihren jungen Jahren eine recht erfolgreiche Schauspielerin. Heute ist ihr ihre Vergangenheit ein wenig peinlich, weil sie vor allem in Daily Soaps mitgespielt hat. Aber nicht so peinlich, wie es meinem Dad ist. Wenn es in Gesprächen doch mal um die Karriere meiner Mom geht, lässt er kein gutes Haar daran. Zumindest im familiären Kreis. Sind Fremde dabei, wechselt er einfach das Thema. Er hat das perfektioniert. Ich staune jedes Mal aufs Neue darüber. Dabei kenne ich seine Fähigkeiten schon mein ganzes siebzehnjähriges Leben lang.

»Olivia, mein Schatz, wie siehst du denn aus?« Mom kommt im perfekt sitzenden türkisfarbenen Etuikleid irgendeines namhaften Designers und passenden High Heels wie eine Diva die Marmortreppe hinunterstolziert. Ganz so, als würde ihr hier in der Küche ein Paparazzo auflauern und nur darauf warten, sie endlich abzulichten.

Auch sie lächelt, während sie mich von oben bis unten mustert.

»Heute ist mein erster Schultag an der Beaufort High«, sage ich und hoffe, damit wäre das Thema abgehakt.

Doch Mom wäre nicht Mom, wenn sie sich damit schon zufriedengeben würde.

»Und dort hat guter Geschmack also Hausverbot, oder wie erklärt sich dein mausgraues Outfit sonst?«

Sie setzt sich neben Dad. Sein Blick bleibt derweil auf der Tageszeitung, die Rosalia ihm mit dem Espresso gereicht hat. Er beachtet meine Mom nicht einmal, und dennoch lächelt sie tapfer weiter. The Show must go on!

All diese Kleinigkeiten sind mein Alltag, mein Leben. Fake-Lächeln, Fake-Interesse und Fake-Familie. Das sind wir: die Walshs. Eine schrecklich nette Familie, die ihr Zahnpastalächeln perfektioniert hat und als glückliche amerikanische Vorzeigefamilie im Fernsehen Werbung machen könnte.

»Ich ziehe mich gleich noch mal um«, erwidere ich. Das Letzte, was ich möchte, ist noch mehr im Fokus zu stehen, als ich es ohnehin schon tue.

Mom nickt zufrieden, während ich den ersten Bissen meines Frühstücks nehme.

Rosalia macht die mit Abstand besten Pancakes der Welt. Sie sind fluffig und schmecken ein wenig nach Zimt und Geborgenheit. Sie erinnern mich an das Blackstone's Café. Nur vage, und dennoch spüre ich diesen Kloß in meinem Hals.

Abschätzig schaut Mom mich an, als ich mir die zweite Gabel in den Mund schiebe. »Rosalia!«, ertönt es sofort vorwurfsvoll aus ihrem Mund.

Ich habe Mitleid mit unserer Haushälterin.

»Ja?«, fragt diese mit Besorgnis in der Stimme. »Ist etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit, Ma'am?«

Mom deutet auf meinen Teller. »Wir haben doch darüber gesprochen, dass wir morgens auf übermäßigen Süßkram verzichten wollen. Ich habe ja nichts dagegen, wenn Sie ab und an Pancakes oder Waffeln servieren. Aber Olivia soll eine vernünftige Beziehung zu Lebensmitteln aufbauen. Ein grüner Smoothie ist gut fürs Immunsystem und regt die grauen Zellen an.«

Während Mom das sagt, blättert Dad die Seite um. Statt seiner Familie widmet er sich lieber den wirklich wichtigen Dingen seines Lebens: seiner politischen Karriere.

Die schlechte Stimmung im Raum schlägt mir zusehends auf den Magen, bis mir der Appetit schließlich gänzlich vergangen ist. Mein Blick schweift über meine Armbanduhr. Wie von der Tarantel gestochen springe ich von meinem Platz auf und renne nach oben in mein Zimmer. Es hat mir gerade noch gefehlt, an meinem ersten Schultag zu spät zu kommen.

»Olivia?«, höre ich Moms mahnende Stimme hinter mir herrufen.

Doch ich bin schon oben angekommen. Ich tausche das graue Longsleeve mit dem Rollkragen gegen eine mit Blumen bestickte weiße Tunika und hoffe, sie entspricht mehr den Vorstellungen meiner Mom.

Mit einem zufriedenen »Geht doch« nimmt sie meine Veränderung zur Kenntnis, während ich wenig später meinen Rucksack schultere.

Ich werfe Rosalia einen Blick zu und sehe die Rührung in ihren Augen. Sie ist wahrscheinlich die einzige Person in diesem Haus, die sich darüber freut, dass ich nicht mehr zur Privatschule gehe und wieder zu Hause wohne. Ich habe ihr gefehlt. Und sie mir. Offen würden wir beide nie darüber sprechen. Wir haben gelernt, uns auch ganz ohne Worte zu verständigen.

»Wenn ich den Bus bekommen will, muss ich jetzt los«, rechtfertige ich mich noch schnell für mein hektisches Verhalten.

Dad kann Hektik nicht ausstehen. Er ist der Meinung, nur Menschen, die ihr Leben nicht im Griff haben, brechen in Hektik aus. Bei ihm ist alles exakt geplant und durchgetaktet. Jeden Morgen steht er um sechs Uhr dreißig auf, verbringt genau dreißig Minuten im Bad und kommt im Anschluss daran pünktlich um sieben Uhr zum Frühstück. Wehe Rosalia, wenn sie bis dahin noch nicht alles vorbereitet hat.

»Bus? Das kommt ja gar nicht in Frage.« Dad raschelt mit der Zeitung, während er sie fein säuberlich zusammenfaltet und vor sich auf den Tisch legt. »Mortimer wird dich fahren.«

»Aber Dad ...«, begehre ich auf, was ich nur selten tue, weil ich genau weiß, was das für Konsequenzen haben kann.

In diesem Moment kann ich aber nicht anders. Meine neuen Mitschüler werden mitbekommen, wie ich zur Schule kutschiert werde und aus der schwarzen Limousine aussteige. Sie werden mich sofort in eine Schublade packen. Noch bevor ich einen Fuß in meine neue Schule gesetzt habe, werden sie mich als reiches, verwöhntes Mädchen abstempeln, dem Daddy jeden Wunsch von den Augen abliest. Sie werden mich meiden. Und ich bin chancenlos.

Dabei haben sie gar nicht so unrecht. Denn von außen betrachtet muss es wirklich so aussehen, als hätte ich alles, was man sich als Teenager in meinem Alter nur wünschen kann: das neueste iPhone, ein MacBook, einen Chauffeur ... Dass es allerdings nicht die materiellen Dinge sind, nach denen ich mich sehne, wird mir keiner abkaufen. Denn sie werden mir nicht zuhören. Ich kenne das zur Genüge. Und ich habe es so satt.

Mein Dad hebt seinen Zeigefinger drohend in die Höhe, während Rosalia vor Anspannung die Luft anhält. Nur meine Mom löffelt mit stoischer Gelassenheit eine Grapefruit aus und lächelt dabei noch immer.

»Mortimer wird dich fahren.« Dads Worte und sein wütender Blick lassen keinen Zweifel zu: Sein Entschluss steht fest.

Wenn ich jetzt Widerworte gebe, rastet er aus und geht an die Decke. »Natürlich«, erwidere ich deshalb fest, auch wenn jede Faser meines Körpers zittert, und ich befürchte, die Schwingungen könnten sich auf meine Stimme übertragen.

Furcht ist in den Augen meines Dads nur etwas für Loser. Und Loser gehören ganz bestimmt nicht zu seiner Familie.

Rosalia atmet erleichtert aus, während Dad gelassen die Zeitung wieder aufschlägt und Mom mir einen hollywoodreifen Luftkuss zuwirft.

Kapitel 2

Nathan

»Mom, weißt du, wo mein blauer Kapuzenpullover geblieben ist?«

Der Duft von frisch aufgebrühtem Filterkaffee weht mir entgegen, als ich schwungvoll in unsere winzige Küche stolpere.

»Auch dir erstmal einen wunderschönen guten Morgen, mein Schatz.« Mom drückt mir einen Kuss auf die Wange, während Dad danebensteht und darauf wartet, dass sie ihm die Krawatte bindet.

»Morgen, Sportsmann.« Dad umarmt mich mit der Linken und hält mir gleichzeitig auffordernd seine rechte Hand entgegen, in die ich einschlage.

»Hey, Dad«, begrüße ich ihn. Ich finde es immer etwas komisch, wenn er mich mit diesem Spitznamen anspricht. Dad ist toll, und ich liebe ihn sehr, aber seine Begeisterung für Football, Baseball, Basketball und Co teile ich kein bisschen. Mittlerweile kann ich schon gar nicht mehr zählen, wie oft er mich zu einem der Spiele mitschleifen wollte. Dafür erinnere ich mich aber nur zu gut an seine enttäuschten Blicke, die er zwar zu kaschieren versucht, mir aber jedes Mal wie ein rotes Ampelsignal ins Auge fallen.

Mom bindet Dad inzwischen die Krawatte und unterbricht damit die unangenehme Stille zwischen ihm und mir.

»Also, Mom?«, hake ich nach.

»Hm?«, fragt sie, als wüsste sie nicht, worauf ich anspiele.

»Der Pullover«, rufe ich ihr in Erinnerung.

»Ah! Stimmt. Da war ja was.« Sie hält inne und sieht zu mir.

Dad schaut genervt auf die Uhr am Backofen. Wenn er nicht zu spät in der Bank sein will, muss er in wenigen Minuten los.

»Lass mal überlegen«, sagt Mom.

»Elsie«, bittet Dad liebevoll, aber mit ungeduldigem Unterton.

Mom beachtet Dad nicht. Ihre Stirn hat sich gekräuselt. »Meinst du den dunkelblauen oder den anderen Kapuzenpullover mit dem Loch am Ärmel?«

»Den mit dem Loch am Ärmel«, erwidere ich hoffnungsvoll.

»Den habe ich aussortiert.« Dann wendet sie sich, ohne meine Reaktion abzuwarten, von mir ab und setzt zur Freude meines Dads ihre Arbeit fort.

»Was?«, unterbreche ich sie abrupt. »Das war mein Lieblingspullover. Wie konntest du ihn einfach so wegtun?«

Abermals lässt Mom von Dad ab.

»Nathan, mein Schatz, ich werde dich mit Sicherheit nicht mit einem löchrigen Pullover in die Schule gehen lassen. Was sollen denn die Leute von uns denken?«

Ich zucke mit den Schultern. »Was gehen mich denn die Leute an? Ich will meinen Lieblingspulli zurück.«

Erleichterung macht sich auf Dads Gesicht breit, als Mom ihr Werk vollendet, und das nicht nur, weil sein Krawattenknoten endlich fertig ist. Er weiß, je länger er bleibt, desto wahrscheinlicher wird es, dass er in die Diskussion mit eingebunden wird. Und es gibt für Dad fast nichts Schlimmeres, als Schiedsrichter spielen zu müssen. Hastig verabschiedet er sich von uns und macht sich auf den Weg zur Arbeit.

»Du hast doch so viele Pullover in deinem Schrank. Warum nimmst du nicht einfach einen anderen? Muss es denn ausgerechnet dieser eine sein?«

Bei Moms Worten werde ich hellhörig. »Du hast ihn also noch nicht in die Kleidersammlung gegeben?«

Ich folge Moms Blick, der verräterisch an unserer Kellertür hängenbleibt, und setze mich sofort in Bewegung. Zwei Stufen auf einmal nehmend sause ich die Treppe hinunter, komme an der Waschmaschine und dem Trockner vorbei und wühle mich durch eine Tonne, die etwas abseits steht. In Nullkommanichts habe ich meinen geliebten Pullover wieder. Bingo!

»Nathan!« Mom heißt mich mit in die Hüften gestemmten Armen wieder in der Küche willkommen. »Was soll das?«

»Was soll was?«, gebe ich mich ahnungslos.

»Du weißt ganz genau, was ich meine. Warum hängst du nur so an diesem Pullover?« Sie lässt ihre Hände an ihren Oberschenkeln nach unten fallen. Allmählich scheint sie zu begreifen, dass sie in diesem Kampf nicht als Siegerin vom Platz gehen wird.

»Mom, du kennst meine Einstellung dazu. Warum sollen wir den Pullover weggeben oder wegwerfen, wenn ich ihn doch noch wunderbar tragen kann?« Wie zum Beweis ziehe ich ihn mir über und strecke ihr dann meinen rechten Unterarm entgegen. »Das winzige Loch an der Naht wird niemandem auffallen. Und wenn es dich wirklich so stört, kann ich es ja nähen.«

Mom seufzt resigniert. »Du hattest schon immer einen Dickkopf.« Sie schüttelt leicht mit dem Kopf. »Ach, Nathan. Du bist wahrscheinlich der vernünftigste Junge in deinem Alter, den ich kenne.«

»Mom, ich finde es ist nur unnötige Verschwendung, Kleidungsstücke auszumisten, die noch taugen. Das ist alles.«

Mom stellt mir ein Erdnussbuttersandwich auf den Tisch und sieht mich lachend an. »Wir beide wissen es besser, Mr Ich-kann-die-Welt-verbessern.« Als ich mich hinsetze, strubbelt sie mir wie einem Fünfjährigen durchs Haar.

»Das Leben eines jeden Menschen berührt so viele andere Leben«, sage ich und kann mir dabei ein Grinsen nicht verkneifen. Weiß ich doch nur zu gut, dass Mom den Weihnachtsklassiker auswendig mitsprechen kann.

Mom setzt sich mit verklärtem Blick mir gegenüber hin. »Wir haben It's a wonderful life in deiner Kindheit jedes Jahr zu Weihnachten angesehen. Ob der wohl noch immer vor den Feiertagen ausgestrahlt wird?«

Ich muss lachen. »Mom, es gibt mittlerweile so bahnbrechende Erfindungen wie DVDs, Netflix und Amazon Prime. Du könntest dir den Film sogar im Hochsommer anschauen, ohne dass jemand etwas dagegen haben würde.«

Mom winkt ab. »Ach, du wieder. Musst du nicht langsam in die Schule? Oder gibt es dafür auch etwas von Netflix, Amazon Prime und wie sie alle heißen?«

»1:0 für dich, Mom«, erwidere ich anerkennend, schnappe mir das Sandwich und angle mir meinen Rucksack vom Boden.

Kapitel 3

Olivia

»Es wird schon nicht so schlimm werden«, ermutigt mich Mortimer, endlich auszusteigen. Wir sind bereits vor einigen Minuten auf dem Parkplatz der Beaufort High angekommen. Wenn ich nicht zu spät kommen will, wird es langsam Zeit den Wagen zu verlassen.

»Nur noch kurz«, wiederhole ich meine Bitte mit flehendem Blick nach vorne in den Fahrerraum. Ich weiß, dass jede Sekunde, die ich hier wie auf dem Präsentierteller in einer schwarzen Limousine sitze, mehr Aufmerksamkeit auf mich zieht. Aber ich kann einfach nicht aufstehen. Meine Beine sind so schwer, als wären sie aus Blei. Meine Knie hingegen so weich wie Wackelpudding. Mir fehlt die Kraft, mich dem Neuen zu stellen. Gleichzeitig weiß ich nur zu genau, dass das hier meine letzte Chance ist. Dad bringt mich um, wenn ich auch das hier vermassle. Also atme ich noch einmal ganz tief durch.

»Soll ich vielleicht mit Ihnen reingehen?«, bietet unser Chauffeur mir an.

Ich schüttle vehement den Kopf. Auf dem Weg hierher habe ich ihn schon gebeten, nicht auszusteigen, um mir die Tür zu öffnen. Von ihm in die Schule begleitet zu werden, wäre mein Untergang. Der absolute Worst Case.

»Das ist nicht nötig«, sage ich schließlich viel selbstbewusster, als ich mich eigentlich fühle.

Vor Mortimer gelingt es mir gerade noch so, Haltung zu bewahren. Aber ihn kenne ich auch schon gefühlt mein ganzes Leben. Ich weiß, dass er es gut mit mir meint. Ganz im Gegensatz zu den unzähligen Augenpaaren meiner Mitschüler, die sich in wenigen Minuten in Mrs Reinolds Klassenzimmer schwer auf mich legen werden. Schon beim Gedanken daran, zieht sich mein Magen schmerzvoll zusammen.

Mit zittrigen Fingern umschließe ich den Türgriff, und mit der anderen Hand kralle ich mich an meinem schwarzen Armani-Rucksack fest. Es nützt ja nichts – ich muss aussteigen.

Zunächst öffne ich die Tür nur sehr zögerlich, dann versetze ich ihr einen Stoß. Im selben Moment höre ich einen lauten Schrei.

»Bist du verrückt geworden?«

Wie erstarrt schaue ich auf den Jungen, der vor mir auf dem Boden neben seinem merkwürdig verdrehten Fahrrad liegt. Ich öffne den Mund, um mich zu entschuldigen. Doch meine Stimme will mir nicht gehorchen. Sosehr ich mich auch bemühe, es kommt kein Ton heraus. Ich schaffe es einfach nicht, etwas zu sagen.

»Ist das alles, was du kannst? Fahrradfahrer mit deiner Luxuslimousine vom Rad holen und sie dann dumm anstarren?« Er schüttelt missbilligend den Kopf, ehe er zurück auf die Füße kommt.

Sein blauer Kapuzenpullover hat ein Loch am Ärmel. Der Arm scheint am Ellbogen aufgeschürft zu sein.

Ich will ihm sagen, wie leid mir das alles tut. Konzentriere dich!, ermahne ich mich. Es ist ganz einfach. Du schaffst das!

Anstatt in seine vorwurfsvollen Augen zu sehen, bleibt mein Blick an den Grübchen in seinen Wangen hängen. Es sieht so aus, als würde er oft lachen. Nur jetzt nicht. Jetzt hat er alle Hände voll damit zu tun, mich kopfüber in eine Schublade zu stecken und sie fest zu verschließen.

Herzlichen Glückwunsch, Olivia! Dein Vorsatz, nicht weiter aufzufallen, ist schon in der ersten Sekunde gescheitert. Das hier wird sich wie ein Lauffeuer auf dem Schulgelände verbreiten, und spätestens in der Mittagspause wirst du das Hauptgespräch in der Cafeteria sein: Das arrogante reiche Mädchen, das einen Mitschüler mit der Tür ihrer Limousine vom Fahrrad geholt hat. Das nennt man dann wohl eine Punktlandung.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Das ist nicht gut. Das ist ganz und gar nicht gut.

Ein letztes Mal sieht mich der Junge mit den wuscheligen braunen Haaren durchdringend an. Dann gibt er einen abfälligen Laut von sich und verschwindet in Richtung des Schulgebäudes.

»Entschuldigung«, kommt es mir schließlich über die Lippen. Viel zu leise und viel zu spät. Er hat es nicht mehr gehört.

Ich schultere meinen Rucksack und schließe die Tür des Wagens, nicht ohne sie vorher noch mal zu checken. Zum Glück ist kein Kratzer im Lack zu sehen. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Nicht auszudenken, wie Dad darauf reagiert hätte. Eine Gänsehaut überzieht beim Gedanken daran meine Arme.

Mortimer fährt davon und hinterlässt eine Staubwolke. Was gäbe ich nur dafür, mit ihm nach Hause fahren zu können? Aber das ist keine Option. Meine einzige Option liegt genau hier.

Ein imposantes Schulgebäude ragt vor mir auf. Vier im Bogen angeordnete weiße Säulen erinnern an ein Rondell. Obenauf tragen sie den Schriftzug Beaufort Highschool. Die komplette Fassade ist verglast.

Ehrfürchtig bleibe ich stehen, während der Strom an Schülern an mir vorüberzieht und mich dabei, zu meiner Erleichterung, nicht sonderlich beachtet. Sie lachen und liegen sich nach den langen Ferien in den Armen. Ihre Freude überstrahlt den staubigen Platz. Für sie beginnt nur ein neues Schuljahr – für mich ein neuer Lebensabschnitt.

Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Aus meiner Hosentasche hole ich einen kleinen gefalteten Zettel hervor. Ich öffne ihn und blicke auf die wohlbekannten Zeilen. Den Inhalt kenne ich mittlerweile auswendig.

Dad hat dafür gesorgt, dass mir mein Stundenplan noch während der Ferien zugestellt wurde. Zudem hat er seine Beziehungen spielen lassen und mir eine Führung durch meine neue Schule ermöglicht. Mein Vater würde wirklich nie etwas dem Zufall überlassen. In gewisser Hinsicht bin ich ihm jetzt sogar dankbar dafür.

Mrs Reinolds Klassenzimmer liegt am Ende des Flurs im Erdgeschoss. Mehr oder minder souverän laufe ich an den Spinden vorbei, mein Ziel immer vor Augen. Nur noch wenige Schritte trennen mich von dem Raum, in dem meine neue Geschichtslehrerin mich gleich meinen Mitschülern vorstellen wird.

Mein Mund ist staubtrocken, und meine Knie sind wieder so weich wie Wackelpudding.

Als ich das Zimmer betrete, wird auch hier viel gelacht und erzählt. Ich laufe außen an den Stuhlreihen vorbei und mache mich dabei so klein wie eine Maus. Nur nicht auffallen! Auf einem der freien Plätze lasse ich mich schließlich nieder, lege meinen Rucksack auf meinen Schoß, öffne ihn und gebe vor, etwas darin zu suchen.

Verstohlen blicke ich mich zu allen Seiten hin um. Auf den ersten Blick sehen meine Mitschüler nett aus. Aber was hat das schon zu heißen? Spätestens wenn sie erfahren, wer ich bin, gehen sie sowieso wieder auf Distanz zu mir. So ist es bisher immer gewesen. Warum sollte es dieses Mal anders sein?

Das eigentliche Problem an der Sache, die Tochter eines bekannten und sehr erfolgreichen Politikers zu sein, ist nicht der Neid meiner Mitmenschen, wie Dad mir immer weißmachen will. Nein, mich belastet vor allem die Vorstellung in ihren Köpfen, ich hätte es besonders leicht im Leben und müsste nur mit dem Finger schnipsen, um das zu bekommen, was ich haben will.

Wenn ich es in der Vergangenheit doch einmal gewagt habe, mich meinen Mitschülern anzuvertrauen, stieß ich oft auf Unverständnis. Dir geht es doch gut. Du hast doch alles! Ich weiß gar nicht, worüber du dich beschwerst.

Inzwischen bin ich dazu übergegangen, meine Gefühle ganz fest in mir drinnen zu verschließen.

»Guten Morgen«, begrüßt meine Geschichtslehrerin die Klasse. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie hereingekommen ist.

Die Gespräche verstummen, und mir bleibt das Herz fast bei dem Gedanken stehen, was nun folgen wird. Es gibt keine Möglichkeit, sich dem Unausweichlichen zu entziehen. Ich weiß das. Doch das macht es nicht besser.

Mein Blut rauscht so laut in meinen Ohren, dass ich Mühe habe, den Worten meiner neuen Lehrerin zu folgen. Sie sieht auffordernd in meine Richtung. Also gehe ich davon aus, dass sie die anderen darauf hingewiesen hat, dass es in diesem Jahr eine neue Mitschülerin gibt. Per Handzeichen fordert sie mich auf, zu ihr nach vorne zu kommen.

Jetzt ist es also so weit. Als ich mich von meinem Platz erhebe, höre ich neben mir zwei Mädchen tuscheln. »Hat die Nathan vorhin auf dem Parkplatz nicht vom Fahrrad geholt?« Mein Herz setzt einen Schlag aus. Und zugleich habe ich jetzt einen Namen, der für immer mit meinem unrühmlichen Auftakt an der Schule in Verbindung stehen wird. Nathan. »Ja, das ist ganz sicher die mit der prolligen Limousine.«

»Ms Walsh, würden Sie bitte zu mir nach vorne kommen?«

Die anderen fangen an zu kichern. Wie oft meine Lehrerin den Satz wohl schon wiederholt hat? Mir ist die ganze Situation so unangenehm, dass mir schlagartig Hitze in den Kopf schießt. Meine Wangen leuchten bestimmt schon krebsrot. Alle starren mich an. Ich versuche ruhig zu atmen, um die aufkommende Panik in mir nicht hochkochen zu lassen.

»Ms Walsh?«, höre ich Mrs Reinolds erneut sagen.

Sie klingt ein wenig gereizt. Ich kann es ihr nicht verübeln. Schließlich muss es ihr so vorkommen, als würde ich mich gleich zu Beginn ihren Anweisungen widersetzen. Dabei ist das ganz und gar nicht meine Absicht. Aber das Getuschel meiner Mitschülerinnen lähmt mich.

Irgendwie gelingt es mir dann doch, mich zu Mrs Reinolds durchzuschlagen.

Sie schaut mich skeptisch an. »Wenn Sie sich also bitte vorstellen würden?«

Ich nicke und wende mich meinen Mitschülern zu, fixiere dabei einen Punkt an der Wand mir gegenüber, auf dem ein Zeitstrahl zu sehen ist. Er zeigt die Etappen der amerikanischen Geschichte. Meine Augen bleiben an dem Ausdruck Civil War hängen.

Allmählich gelingt es mir, mich zu beruhigen. Es fehlt nicht mehr viel, und ich werde die wenigen Sätze, die ich zu Hause genau für diesen Moment auswendig gelernt habe, herunterrattern. Es ist ganz simpel. Nur eine Abfolge von Worten ohne bestimmte Betonung. Das sollte sogar mir gelingen.

Zuversichtlich gehe ich meine Vorstellung noch ein letztes Mal in meinem Kopf durch. Als ich damit zufrieden bin, öffne ich den Mund und warte auf das erste Wort. Doch noch ehe ich zu sprechen beginnen kann, steht er in der Tür.

»Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung, Mrs Reinolds.«

Ich schlucke beim Anblick des Jungen, von dem ich gehofft hatte, ich würde ihm so bald nicht wieder begegnen.

Als auch er mich sieht, verfinstert sich sein Gesichtsausdruck. Er erkennt mich also wieder.

Natürlich erkennt er dich. Warum sollte er das auch nicht? Du hast ihn schließlich mit deiner prolligen Limousine vom Rad geholt. Und mit deinen vielen Sommersprossen und den feuerroten Haaren bist du ohnehin ganz schön auffällig, macht sich meine innere Stimme über mich lustig.

»Ich bin furchtbar gespannt auf Ihre Ausrede, Mr Johnson.« Mrs Reinolds verschränkt neben mir die Arme vor der Brust.

Sie ist nicht besonders gut gelaunt. Und ich habe daran einen nicht unwesentlichen Anteil. Was mir ein noch schlechteres Gewissen macht. Schließlich habe ich den Jungen nicht nur vom Rad geholt, sondern auch noch dafür gesorgt, dass er zu spät zum Unterricht erscheint und schon zu Schuljahresbeginn den Ärger seiner Geschichtslehrerin auf sich zieht.

Händeringend versuche ich meine Gedanken zu ordnen und einen Satz zu formulieren, der das ganze Chaos um mich herum beseitigt.

»Es gab einen kleinen Zwischenfall auf dem Parkplatz, bei dem ich vom Fahrrad gefallen bin.« Zum Beweis hebt er seinen Arm in die Höhe, streift den Ärmel seines Kapuzenpullovers nach hinten und gibt damit den Blick auf einen weißen Verband frei.

Wieder beginnen einzelne Schüler zu tuscheln, bis ihr Stimmengewirr allmählich zu einem bedrohlichen Rumoren anschwillt.

»Ruhe!«, ermahnt Mrs Reinolds ihre Klasse. »Nathan, fühlen Sie sich in der Lage, dem Unterricht zu folgen?«, fragt sie schließlich mit leicht besorgtem Unterton in der Stimme.

Erleichtert nehme ich zur Kenntnis, dass unsere Lehrerin gegenüber Nathan jetzt einen anderen Ton anschlägt.

»Das ist nur ein kleiner Kratzer«, behauptet dieser sofort.

»Dann sollten wir jetzt mit dem Unterricht beginnen. Ms Walsh, vielleicht machen Sie sich einfach im Anschluss an diese Stunde mit Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern bekannt. Wir haben leider keine Zeit mehr dafür.«

Bei der Nennung meines Namens zucke ich unweigerlich zusammen. Mit hängenden Schultern husche ich zurück zu meinem Platz und lasse mich schwer auf meinen Stuhl sinken.

Ich habe es mal wieder nicht geschafft. Keine Ahnung, warum bei mir die einfachsten Dinge nicht funktionieren. Was ist so schwer daran, den Mund zu öffnen und zu sprechen? Als gäbe es dort in meinem Kopf eine Schranke oder eine Art Zensur, die entscheidet, was und ob ich überhaupt etwas sage.

Nathan lässt sich einige Reihen vor mir nieder. Mrs Reinolds beginnt währenddessen mit dem Unterricht. Sie erklärt den Ablauf, den Lehrstoff, der in diesem letzten Jahr auf uns wartet, und einige andere informative Dinge, die ich unbedingt notieren sollte.

Doch es fällt mir schwer, ihren Worten zu folgen. Meine Gedanken schweifen immer wieder zwischen meiner peinlichen Nicht-Vorstellung und dem Zwischenfall auf dem Parkplatz hin und her. Wenn es mir doch nur möglich gewesen wäre, mich bei Nathan zu entschuldigen. Ich muss es irgendwie schaffen, ihm zu sagen, wie leid mir das alles tut.

Immer wieder fange ich neugierige Blicke meiner Mitschüler auf. Mittlerweile weiß vermutlich auch der Letzte in diesem Raum, wie ich heute Morgen an der Schule ankam. Und dass ich für Nathans Verletzung verantwortlich bin ... Kein besonders guter Start an der Beaufort High.

Der Gong ertönt nach einer gefühlten Ewigkeit und lässt mich mit gemischten Gefühlen zurück. Es ist noch nicht vorbei. Nein, es ist gerade erst der Anfang. Voller Sorge blicke ich dem entgegen, was mir heute noch bevorsteht.

Kapitel 4

Nathan

»Hey Nathan. Wie läuft's? Alles klar bei dir?«

Wie meistens sitze ich in der Mittagspause bei den Jungs der Basketballmannschaft. Nicht, dass ich ein Teammitglied wäre. Den einzigen Sport, den ich seit Jahren mit Herzblut betreibe, ist Judo. Aber die Jungs sind echt okay, und dem ein oder anderen konnte ich durch meine Mathenachhilfe ein wenig unter die Arme greifen.

»Ich bin ganz zufrieden«, erwidere ich und nehme einen Schluck Wasser.

»Was hört man von deinem Arm, Bruder?«, fragt Nelson, einer meiner Nachhilfeschüler.

Ich winke ab. »Nichts weiter passiert. Ich hatte nur eine unschöne Begegnung mit einer Autotür.«

Nelson lächelt amüsiert. »Ist es wahr, dass die Tochter von Richard Walsh für deine Verletzung verantwortlich ist?«

Ich zucke mit den Schultern. »Kann schon sein. Ich weiß nicht, wer das Mädchen war. Sie ist offenbar neu an der Schule.«

Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie, wie sie mich mit ihren großen grünen Augen anstarrt. Ich kann die Angst darin erkennen. Wahrscheinlich hatte sie Sorge, sie könnte einen Kratzer in Daddys teuren Wagen gemacht haben. An mich hat sie in diesem Moment sicherlich keinen Gedanken verschwendet – und das, obwohl der Sturz ziemlich heftig war und sie meine Verletzung gesehen haben muss. Viel zu groß war die Furcht vor dem materiellen Schaden. So typisch. So klischeehaft.

»Sie soll ziemlich heiß sein«, höre ich am Ende des Tisches Nowitzki sagen. Er heißt nicht wirklich so wie der langjährige Spieler der Dallas Mavericks. Aber irgendwann hat er sich diesen Spitznamen als bester Korbjäger erarbeitet. Und er trägt ihn voller Stolz, so viel ist sicher.

»Ich hab nicht wirklich hingesehen«, lüge ich und wundere mich dabei ein wenig über mich selbst.

»Ist sie heißer als Amy?«, will Josh neben mir mit einem verschwörerischen Grinsen wissen.

Amy ist so ziemlich das begehrteste Mädchen dieser Schule. Sie sieht echt verdammt gut aus. Man munkelt sogar, sie würde bei der nächsten Staffel America's Next Top Model mitmachen. Doch im Gegensatz zu den meisten Jungs dieser Schule habe ich kein Interesse an Amy. Ich habe schon einige Kurse mit ihr besucht und bin einfach nicht auf einer Wellenlänge mit ihr. Sie ist total oberflächlich.

»Keine Ahnung«, erwidere ich folglich ziemlich desinteressiert.

Aber im Grunde kann ich mir gut vorstellen, dass die Neue, von der ich bisher nicht mal den Vornamen kenne, Amy ziemlich ähnlich ist. Wahrscheinlich schmiert ihr Daddy die Schule, damit sie einen 1A-Abschluss hinlegt, um im Anschluss daran einem begabten, aber nicht sonderlich finanzstarken Mitschüler den Platz an einer renommierten Universität vor der Nase wegzuschnappen.

»Zockt jemand von euch Final Fantasy XIV: Shadowbringers?«, fragt Nelson, und ich steige endgültig aus dem Gespräch aus.

Irgendwann habe ich für mich entschieden, dass Zocken mir echt viel Zeit raubt und erkannt, dass es mich irgendwie unzufrieden macht. Also habe ich überlegt, was ich Sinnvolleres mit meiner Freizeit anstellen könnte. Seit einiger Zeit schreibe ich nun auf meinem Blog über Themen wie Nachhaltigkeit und Umweltschutz in unserem Land. Außerdem arbeite ich in einem Projekt mit, in dem ich Jugendlichen an drei Nachmittagen in der Woche außerhalb der Schule dabei helfe, ihre Hausaufgaben zu machen und auf dem rechten Weg zu bleiben. Die Arbeit macht mir echt Spaß.

Eine hitzige Diskussion entbrennt am Tisch über das Spiel. Die Jungs sind in ihrem Element, und meine Gedanken fliegen zurück zu dem Mädchen. Diese roten langen Haare, die vielen winzig kleinen Sommersprossen in ihrem Gesicht.

Ich schüttle leicht den Kopf, als ich mir darüber bewusst werde, woran ich da gerade gedacht habe. Ich kenne sie nicht und will daran auch nichts ändern. Auch wenn ich absolut dagegen bin, Menschen in Schubladen zu stecken: Mit dieser Art von Mädchen komme ich einfach nicht klar, denn auf ihre Weise sind sie leider wirklich alle gleich. Uns trennen Welten.

»Was ist, Nathan? Wirfst du nach der Schule noch ein paar Körbe mit uns?« Nowitzki macht die passende Handbewegung dazu.

Ich deute auf meinen Arm. »Heute besser nicht.«

»Verstehe, Mann. Die Kleine hat dich ganz schön fertiggemacht.« Nowitzki kann sein Grinsen kaum unterdrücken.

Die Anzüglichkeit in seinen Worten entgeht mir nicht. Den anderen auch nicht. Sie kichern albern.

»Endlich mal eine, die unseren Grübler aus der Reserve lockt.« Josh boxt mir gegen die Schulter, und der Rest am Tisch johlt.

In dieser Runde gelte ich als so etwas wie ein Spätzünder. Und das nur, weil ich bisher noch nie den Versuch gestartet habe, bei einem Mädchen zu landen. Aber im Gegensatz zu den anderen suche ich nach mehr als nur einem hübschen Gesicht.

Ich will mich mit meiner Freundin über tiefgründigere Themen als den nächsten Schulball unterhalten können. Bisher habe ich dieses eine Mädchen noch nicht gefunden. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Irgendwann wird sie meinen Weg kreuzen und mich komplett aus der Bahn werfen. Da bin ich mir ganz sicher.

Bis dahin gibt es für mich allerdings noch einiges zu tun.

»Ich muss jetzt leider los«, verabschiede ich mich von der Truppe.

»Wie? So plötzlich? Das war Spaß, Alter. Du bist uns doch jetzt nicht böse?«

»Wie könnte ich euch denn böse sein? Ich muss vor der nächsten Stunde noch etwas an die frische Luft. Mein Kopf braucht dringend neuen Sauerstoff. Viel Erfolg beim ersten Training der Saison, Jungs. Macht mir keine Schande.«

Zum Abschied klopfe ich mit meiner zur Faust geballten Hand auf den Tisch.

Ich schnappe mir den Apfel von meinem Tablett, ehe ich es in den dafür vorgesehenen Wagen schiebe, beiße hinein und gehe aus der Cafeteria nach draußen in den Schulgarten.

Kapitel 5

Olivia

Der Schulgarten ist ein verdammt guter Ort, wenn man seinen Mitschülern in der Mittagspause aus dem Weg gehen will. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits an der teuren Privatschule ist mir das aufgefallen. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass es auch an einer öffentlichen Schule einen solchen Ort gibt. Merkwürdigerweise verirrt sich auch an der Beaufort High kaum einer nach draußen. Die meisten sitzen lieber in der stickigen und viel zu lauten Cafeteria.

In aller Seelenruhe packe ich die kleine Lunchbox aus meinem Rucksack, die mir Rosalia heute Morgen liebevoll zusammengepackt hat. Rosalia macht nämlich nicht nur die mit Abstand leckersten Pancakes der Welt – auch ihre Sandwiches sind fantastisch. Mein Favorit ist das Serrano-Avocado-Sandwich mit Ei und Honig-Senf-Sauce. Die Weißbrotscheiben toastet sie hierfür vorher leicht auf dem Grill an. Manchmal garniert sie das Sandwich dann noch mit etwas Kresse.

Aufgeregt öffne ich die Dose und merke gleichzeitig, wie erbärmlich das alles ist. Ist es so weit gekommen, dass mein Mittagessen wirklich zum Highlight meines Tages wird?

Als ich mein Lieblingssandwich und die einzelnen Cocktailtomaten in der Box erblicke, kann ich mich plötzlich nicht mehr so recht darüber freuen. Rosalia hat sich wie immer sehr viel Mühe bei der Zubereitung meines Essens gemacht. Es sieht wunderbar aus. Und trotzdem ist mir der Appetit vergangen.

In meiner Vorstellung vom ersten Schultag ging es mit Sicherheit nicht darum, dass mich alle sofort mit offenen Armen willkommen heißen und mich bitten würden, dass ich mich in der Mittagspause zu ihnen an den Tisch setze. Aber in jedem guten Highschoolfilm gibt es doch dieses eine nette Mädchen, das selbst Probleme damit hat, Anschluss an den Rest zu finden oder viel zu cool für sie ist. Mit ihr könnte ich mich zusammentun. Bisher ist sie mir nur leider noch nicht begegnet.

Resigniert lege ich die Box neben mich auf die Holzbank, die noch ein wenig nach frischer Farbe riecht. Das ist von heute an meine Lieblingsbank, beschließe ich, während ich meinen Blick durch den Garten schweifen lasse.

Der Platz liegt versteckt hinter einem Gebüsch, umgeben von schier unendlich hohen Lebenseichen, die den Zugang wie gewaltige Wächter bewachen. Sie müssen uralt sein. Vielleicht sogar so alt wie die Stadt selbst.

Etwas abseits kann ich ein knutschendes Pärchen sehen, das sich ziemlich unbeobachtet fühlt. Und gerade kommt jemand aus dem Hinterausgang des Schulgebäudes geschlendert. Ich kann ihn auf die Entfernung hin nicht erkennen. Aber da ich eh eigentlich niemanden an der Schule kenne, ist es auch egal, wer er ist. Solange er mich hier in meinem Versteck in Ruhe lässt ...

Plötzlich knurrt mein Magen. Highlight hin oder her: Ich habe Hunger. Außerdem wäre es echt eine Verschwendung, wenn ich Rosalias Sandwich verschmähen würde.

Der erste Bissen ist wie immer eine absolute Geschmacksexplosion. Da kann keines der teuren Restaurants, in die uns Dad dann und wann schleift, mithalten. Rosalia gibt all ihren Speisen eine Zutat hinzu, die man nicht lernen kann: eine Mischung aus Hingabe und Liebe.

Während der Wind die Schmatzgeräusche des knutschenden Pärchens zu mir herüber weht, überlege ich, welche Fächer heute Nachmittag noch auf meinem Stundenplan stehen. Soweit ich mich erinnern kann, müssten es Mathe und Sport sein. Beides nicht unbedingt die Fächer, die mich vor Freude in die Lüfte hüpfen lassen.

Vielleicht finde ich dort ja das andere Außenseiter-Mädchen, das viel zu cool für die anderen Schüler der Beaufort High ist. Oder aber ich treffe erneut auf Nathan Johnson. Alle guten Dinge sind ja bekanntlich drei. Oder? Bei meinem Glück werde ich ihm heute ganz sicher noch einmal begegnen. Beim Gedanken daran schließe ich meine Lider.

Schon in wenigen Tagen gibt es ein anderes Gesprächsthema, auf das sich alle mit Begeisterung stürzen werden. Ich weiß das. Schließich kenne ich es zur Genüge. Dank der Karriere meines Vaters durfte ich schon ganze acht Mal die Schule wechseln. Immer wieder neue Mitschüler, neue Lehrer, neue Schulen. Und dennoch gibt es so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz über den Modus Operandi, über die Art und Weise, wie ein Schulgefüge funktioniert. Studienobjekte hatte ich in den vergangenen Jahren wahrlich genügend.

Ganz im Gegensatz zu Freunden. Die waren irgendwie immer Mangelware. Und kaum, dass sich so etwas wie eine Freundschaft entwickeln konnte, bin ich wieder versetzt worden. Bei der letzten Schule nicht ganz freiwillig. Da musste ich schließlich gehen, weil meine Noten und meine Unfähigkeit, den Mund im entscheidenden Moment zu öffnen, einen längeren Aufenthalt an der Eliteschule nicht länger duldeten.

Meine Eltern waren außer sich, als sie die Nachricht erhielten. Ich hätte wirklich Stein und Bein darauf schwören können, dass Dad einen Herzinfarkt erleidet. So sehr hat er sich über die wenigen Zeilen aufgeregt. Und natürlich über mich. Ganz besonders über mich.

In seinen Augen bin ich ein Schandfleck, ein Makel, auf den er gut und gerne verzichten kann. Dabei soll ich doch sein Aushängeschild sein, ihm dabei helfen, den angestrebten Posten des Gouverneurs zu bekommen, indem ich freudig lächelnd und damenhaft winkend in die Kameras dieses Landes schaue. Mein Weg ist vorgezeichnet.

Der erste Gong ertönt. Ich atme einmal tief durch. Ich werde auch die nächsten zwei Stunden noch durchstehen, rede ich mir Mut zu. Danach bringt mich Mortimer nach Hause. Für morgen habe ich mir schon eine Stelle ausgesucht, an der er mich rauslassen kann und wo ich von meinen Mitschülern unbeobachtet bleibe. Zu dumm, dass ich mir bei meinem ersten Besuch an der Schule keine Gedanken darüber gemacht habe. Aber besser spät als nie.

Ich klappe die Box zu und höre das Pärchen kichern. Als ich alles in meinem Rucksack verstaut habe, erhebe ich mich leise von meiner neuen Lieblingsbank und steuere mit gesenktem Kopf auf den Eingang der Schule zu. Eine Haltung, die man sich irgendwann angewöhnt, wenn man nicht weiter auffallen will.

Doch plötzlich pralle ich unvermittelt auf ein Hindernis.

»Aua! Hast du keine Augen im Kopf?«, höre ich eine Stimme rufen, während ich mir schmerzvoll die Stirn reibe.

Oh nein. Mein Blick schießt hoch, als ich bemerke, zu wem diese Stimme gehört. Schließlich sind wir uns heute schon zweimal begegnet. Danke, Schicksal! Danke, Fügung! Danke, wer auch immer! Für rein gar nichts.

»Du?« Diese zwei Buchstaben dringen wie eine Messerspitze in mein Herz. Ich erkenne Kälte und einen genervten Unterton darin.

Irgendwann habe ich gelernt, die Stimmungslage meines Vaters aus wenigen Worten herauszufiltern. Diese Fähigkeit ist manchmal überlebenswichtig. Besonders dann, wenn es darum geht, ihm aus dem Weg zu gehen und sich für undefinierbare Zeit in Luft aufzulösen. Und wie sich zeigt, lässt sie mich auch jetzt nicht im Stich.

»S-Sorry«, kommt es mir nach einer quälenden Ewigkeit endlich über die Lippen. Ich sollte stolz auf mich sein, dass es mir gelingt, etwas zu sagen. Aber das bin ich nicht. Ein gestottertes Sorry ist nun wirklich nicht das, was ich hatte sagen wollen. Denn schließlich ist Nathan ja genauso in mich reingelaufen, wie ich in ihn.

Doch ich schaffe es nicht, ihm das zu sagen. Die Buchstaben verpuffen wie kleine Rauchwolken in meinem Mund, noch ehe sie sich zu Worten formen können.

»Wow.« Nathan tut beeindruckt. Doch die unterschwellige Verachtung in seiner Stimme kann ich deutlich hören. »Ich hätte gewettet, du würdest mich wieder nur anstarren.«

Verschämt streiche ich mir eine meiner langen roten Haarsträhnen hinters Ohr und weiche seinem Blick aus. Ich zeige Schwäche, anstatt mich zu behaupten. Wie so oft wähle ich den einfacheren Weg und nicke. Im nächsten Moment haste ich auf das Schulgebäude zu.

»Weglaufen, wenn es ernst wird ... Oder bist du dir zu fein, um mit mir zu reden? Das ist so typisch für euch Kinder aus reichem Elternhaus.« Die Verachtung schwappt mir jetzt aus jedem seiner Worte wie pulsierende Lava entgegen.

Wider Erwarten bleibe ich stehen, balle meine Hände zu Fäusten und starre den Busch vor mir in Grund und Boden. Schon wieder. Schon wieder ist da jemand, der sich, ohne sich je mit mir unterhalten zu haben – ja, ich weiß, wie verdammt schwierig das ist, wenn man kaum ein Wort sagt –, ein Urteil über mich gebildet hat. Nathan kennt mich doch gar nicht. Wenn ich dasselbe mit ihm machen würde, fände er das mit Sicherheit auch nicht so prickelnd. Nur mit dem winzig kleinen Unterschied, dass er in der Lage dazu wäre, mir seine Meinung zu sagen.

Zur Salzsäure erstarrt, verharre ich noch immer an Ort und Stelle. Ich sollte dringend reingehen, wenn ich nicht zu spät kommen möchte. Aber ich kann nicht. Denn in mir ist plötzlich ein unnachgiebiger Drang, diese Sache hier zu Ende zu bringen. Das ist neu. Eigentlich gehe ich jedem Konflikt weitestmöglich aus dem Weg. Aber irgendwie finde ich die Vorstellung furchtbar, in Nathans Kopf für den Rest dieses Schuljahres das verwöhnte Mädchen zu sein.

Schließlich nehme ich all meinen Mut zusammen, drehe mich zu ihm um und hebe meinen Kopf Zentimeter für Zentimeter in die Höhe, bis ich ihm in die Augen sehen kann. Es trennen uns nur drei oder vier Schritte voneinander. Ich kann die Verwunderung von seinem Gesicht ablesen, sehe die Neugier, die wie ein Schatten darüber huscht.

Noch immer balle ich meine Hände zu Fäusten. Meine Fingernägel bohren sich in meine Haut. Der Schmerz lenkt ab. Aber er beruhigt mich nicht.

Erwartungsvoll sieht Nathan mich an. Er schweigt. Gerade noch konnte er mir nicht genug Worte entgegenschleudern, um mir zu zeigen, für was er mich hält. Nämlich für eines dieser verwöhnten, reichen, arroganten Mädchen. Er weiß rein gar nichts über mich. Und dennoch steht er mit dieser Selbstsicherheit vor mir, die mich innerlich rasend vor Wut macht.

Noch immer bleibt mein Mund verschlossen. Kalter Schweiß bricht mir auf der Stirn aus. Ich möchte keine Angst zeigen, möchte mich selbstbewusst geben. Aber mein Körper trifft seine ganz eigenen Vorsichtsmaßnahmen und gibt einen Dreck darauf, was ich möchte.

»Und was nun, Prinzessin?« Aus seinem Mund klingt das Wort wie ein Schimpfwort der übelsten Sorte.

»Ich ...«, kommt es nach einer gefühlten Ewigkeit endlich aus meinem Mund. Dann stocke ich abermals, als ich das knutschende Pärchen in Nathans Rücken erblicke. Sie knutschen zwar nicht mehr, schauen aber interessiert zwischen Nathan und mir hin und her, während sie eng umschlungen auf das Schulgebäude zulaufen.

Mit so vielen Beobachtern habe ich nicht gerechnet. Und dann entschließe ich mich für die denkbar schlechteste Lösung, drehe mich erneut um und renne los. Meine Beine überschlagen sich dabei beinahe, während mir das Herz bis zum Hals schlägt. Das Rauschen meines Blutes ist wie ein andauerndes Pochen in meinen Ohren zu hören.

Als ich vor dem Klassenzimmer ankomme, macht sich Ernüchterung in mir breit: Ich bin mal wieder ganz grandios an mir selbst gescheitert. Und ich habe mich vor Nathan und dem Pärchen zur Idiotin gemacht.

Eine Schülerin mit langen braunen Haaren, die sie sich zu einem Fischgrätenzopf geflochten hat, geht an mir vorbei in den Raum. Ich folge ihr in ihrem Windschatten, um nicht weiter unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Eine friedliche Koexistenz mit Nichtbeachtung meinerseits wäre mir am liebsten. Und Nathan laufe ich bestenfalls auch so bald nicht wieder über den Weg.

Völlig erschöpft lasse ich mich auf einem der Stühle neben der Wand nieder. Ich fühle mich, als hätte ich an einem Marathon teilgenommen.

Als Mr Donald, der Lehrer für Mathematik, den Raum betritt, bin ich mir sicher: So schnell werde ich diesen Tag mit Sicherheit nicht wieder vergessen.

Kapitel 6

Nathan

»Ich begreife das einfach nicht«, schimpft Sammy und schmeißt keine Sekunde später sein Mathebuch mit voller Wucht gegen die Wand.

Ein Mädchen, das dem Buch gerade noch so ausweichen kann, sieht mit weit aufgerissenen Augen zu uns herüber. Ich streife die Ärmel meines Kapuzenpullovers nach hinten und spüre dabei die noch immer leicht verkrustete Stelle am Ellbogen. Eine Woche ist der Unfall jetzt her.

Als die anderen Betreuer unruhig werden, signalisiere ich ihnen, dass ich alles im Griff habe. Auch wenn ich mir da gar nicht mal so sicher bin.

»Sammy, beruhige dich doch erstmal wieder. Wir werden das zusammen hinbekommen. Hörst du?«

Ruhig und besonnen rede ich auf den Achtklässler ein, der schon öfter negativ wegen seiner Gefühlsausbrüche aufgefallen ist.

Das Mädchen scheint sich schon wieder beruhigt zu haben – ganz im Gegensatz zu Sammy. Er sieht so wütend aus, dass ich befürchten muss, das mit dem Mathebuch war erst der Anfang.

Sammy kommt aus schwierigen Verhältnissen. Seine Eltern leben getrennt. Während seine Mom versucht, die drei Kinder allein durchzubringen, kommt sein Vater alle paar Monate vorbei, um sich ihr Geld unter den Nagel zu reißen und dann gleich wieder abzuhauen.

Sammy ist wütend auf seine Mom, weil sie sich von seinem Dad so ausnehmen lässt. Er ist wütend auf sich selbst, weil er ihm nichts entgegenzusetzen hat. Er ist wütend auf seine kleineren Geschwister, weil sie sich freuen, wenn Daddy nach Hause kommt. Und er ist wütend auf Mathe, weil er das Fach einfach nicht begreift.