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Mit dir leuchtet der Ozean E-Book

Lea Coplin

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Beschreibung

Meer und Herzen: aufgewühlt Als Penny auf Fuerteventura landet, um in einem All-inclusive-Club zu arbeiten, ist Milo der Letzte, mit dem sie rechnet. Milo, der kurz mit ihr auf der Schule war, dessen Name nichts als Ärger verhieß und mit dem sie ein verirrter Kuss verbindet. Jetzt ist ausgerechnet die fröhliche Helena, Pennys Zimmergenossin, mit Milo zusammen und Penny kann ihm kaum aus dem Weg gehen. Aber da ist noch immer die Erinnerung an diesen Kuss. Auch Helena merkt, dass da mehr ist, und das schlechte Gewissen ihr gegenüber droht Penny zu ersticken. Doch Gefühle lassen sich nicht steuern. Selbst wenn sie schnurgerade in die Katastrophe führen.   Folgende weitere tolle Romance-Titel sind von Lea Coplin bei dtv erschienen: Aus der »Nichts ist gut«-Serie: Band 1: »Nichts ist gut. Ohne dich.« Band 2: »Nichts zu verlieren. Außer uns.« Weitere Einzelbände: »Für eine Nacht sind wir unendlich«

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Seitenzahl: 347

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Über das Buch

Penny Fuchs ist zwanzig Jahre alt und hat gerade ihr Psychologiestudium abgebrochen. Um sich neu zu orientieren, jobbt sie erstmal in einem Ferienclub auf Fuerteventura. Obwohl Sonne und plakative Fröhlichkeit eigentlich nicht so ihr Ding sind – besser als der üble Streit mit ihrem Vater sind sie allemal. Auf der Insel angekommen, landet sie in einem Zimmer mit Helena, die es Penny leicht macht, sie zu mögen. Doch sie ist mit Milo zusammen – Milo, den Penny von früher kennt. Er soll damals Tabletten auf dem Schulhof vertickt haben und wer weiß, was sonst noch. Penny hat ewig nicht an ihn gedacht, und das aus gutem Grund: weil da noch etwas war. Die Sache mit dem Kuss. Bei diesem Partyspiel. Denn dieser Kuss war wunderschön, und Penny womöglich damals schon klar, dass Milo mehr für sie ist als nur der Außenseiter mit dem schlechten Ruf ...

 

 

 

 

Wie immer für blö

Vor einigen Jahren, in einem Schrank

MILO

In dem Augenblick, in dem meine Hand den Griff umschloss, knipste irgendjemand das Licht aus, und auf einmal war es stockfinster im Raum. Ohs und Ahs wisperten durch die Menge. Ein paar Leute kicherten. Ich verbrachte eine Sekunde damit, mich zu fragen, was ich hier eigentlich tat, wie ich auf dieser Party gelandet war und weshalb ich mich auf dieses Spiel eingelassen hatte. Dann schob ich den Gedanken beiseite und öffnete den Schrank. Kletterte hinein. Zog die Tür hinter mir zu und hockte mich zu dem Mädchen auf den Boden.

Stille.

Düsternis.

Als hätte die Welt den Atem angehalten. Oder zumindest der Teil, der uns umgab.

Ich nahm ihren Geruch wahr. Ein Parfüm, das mir vage bekannt vorkam, oder nein – kein Parfüm, ein Waschmittel oder Weichspüler, etwas in der Art. Ein Shampoo?

Wir kauerten nebeneinander, unsere Arme berührten sich fast. Ich hörte sie atmen. Wie sie Luft einsog und zittrig wieder ausstieß. Einige Sekunden lang war ich wie gebannt von dem Geräusch, bis draußen die Anfeuerungsrufe einsetzten und dann ein neuer Song, der die Stille in unserem Schrank einhüllte in einen pulsierenden Kokon aus Technobeats. Ich lauschte und dachte daran, es auszusitzen. Mich nicht zu bewegen, nichts zu sagen. Ich war sowieso kein großer Redner – nicht, dass es in diesem Spiel erlaubt gewesen wäre. Sieben Minuten in einem Schrank jemanden küssen, ohne zu wissen, wen, das war der Deal. Doch wie es mit den Dingen so ist, die verboten sind, will man sie auf jeden Fall tun, egal, ob man sie ursprünglich im Sinn hatte oder nicht, also sagte ich: »Ich hab keine Ahnung, wo ich mit meinen Beinen hinsoll.«

Schweigen. Dann: »Ich denke, man darf nicht reden?«

»Darf man nicht?« Ich lehnte den Kopf an die Rückwand und versuchte, die Stimme einzusortieren. Ich hatte sie bestimmt schon gehört, irgendwo auf den Gängen der Schule. Dass ich selbst nicht viel redete, hieß ja nicht, dass ich nicht zuhören konnte, im Gegenteil.

Im Gegenteil.

Okay, wo war ich? Ihre Stimme. Sie klang … angenehm, nicht zu hoch, nicht zu laut. Unaufgeregt. Ich wiederhole: angenehm. Entfernt bekannt. Der Gedanke ließ mich die Stirn runzeln. Was, wenn sie zu den Mädchen gehörte, die nicht mit einem sprachen, sondern über einen, im Flüsterton, so etwas wie: Schnell, lass uns woanders hingehen, da kommt dieser Typ, dieser Milo. Mit dem willst du lieber nichts zu tun haben.

Und jetzt saß ausgerechnet sie neben mir in diesem Schrank.

Armes Ding.

Meine Beine begannen zu schmerzen. Weshalb ich umständlich versuchte, sie zumindest in eine Art Schneidersitz zu falten.

»Au.«

»Sorry.«

»Das war meine Hand.«

»Tut mir leid. Es ist supereng hier.«

»Wirklich? Wäre mir nie aufgefallen.«

Der Schrankboden ächzte und knarzte unter unseren Bemühungen, eine bequemere Position zu finden, was zumindest bei meiner Größe ziemlich aussichtslos zu sein schien. Von draußen dröhnte es: »SECHS.«

Und auf einmal herrschte wieder Stille im Schrank.

»Okay, bringen wir es hinter uns. Oder?«

Definitiv, ich kannte die Stimme. Wie gut? Scheißegal.

»Okay.« Ich nickte. Wahrscheinlich wollte ich einfach mal wieder jemanden küssen. Ich meine, ich hatte schon Mädchen geküsst, wenigstens ein paar. Weniger als eine Handvoll, aber ja, belassen wir es dabei. Sicher gab es um mich herum Jungs, die mit sechzehn nichts anderes taten, und wenn doch, dann besseres Zeug. Leider gehörte ich zu den Sechzehnjährigen, die die allermeiste Zeit elementarere Dinge im Kopf hatten, als küssenswerten Mädchen nachzujagen.

Der Gedanke an meinen Bruder schoss mir in den Kopf, an meinem Bewusstsein vorbei, wieder hinaus. Konnte ich nicht einmal sieben Minuten in einem Schrank verbringen, ohne an Jannis zu denken? Ja? Danke.

»Falls es dich irgendwie tröstet«, erklärte ich, »sie schreiben einem nicht vor, wie genau der Kuss auszusehen hat.«

»Soll heißen?«

»Das heißt, es muss keine Zunge involviert sein. Zum Beispiel.«

»Okay. Ich rechne also nicht damit, dass du sofort versuchst, mir deine Zunge in den Hals zu stecken. Danke für den Hinweis.«

Dieser leicht ironische Tonfall. Immer noch gelassen, aber belustigt untendrunter. Ganz allmählich formte sich ein Bild dazu. Helle Haare. Nein, doch … aber rötlich. Dunkle Augen.

Wieder knarzte der Boden, und auf einmal fühlte ich den Druck ihrer Handfläche auf meinem Oberschenkel.

»Hast du dich hingekniet?«

»Irgendwo musste ich meine Beine ja unterbringen.«

»Okay, also dann …« Sie räusperte sich, und ich beeilte mich zu fragen: »Wie kommt es, dass du in diesem Schrank gelandet bist?«

Klasse, Milo. Jetzt schindest du Zeit wie ein Mädchen. Oder warte – das Mädchen hier schindet weit weniger Zeit als du. Die Stille, die dahintickte, bis sie mir antwortete, sagte eigentlich schon alles (zum Beispiel, dass sie mich durchschaut hatte), trotzdem erwiderte sie schließlich:

»Wie landet man in einem Schrank? Man öffnet die Tür, setzt sich hinein, schließt die Tür wieder. Wie war es bei dir?«

»Mmmh. Ähnlich. Doch, ja.«

Sie schnaubte, während sie ihre Hand wieder zurückzog, aber es war eher ein trockenes Lachen, und das Bild in meiner Vorstellung nahm mehr und mehr Gestalt an: grüne Augen, dunkel, mystisch. Die Haare rotblond, lang und leicht gewellt, meistens mit buntem Stirnband darin. Das Gesicht blass, herzförmig, mit einer Reihe Sommersprossen auf der Nase. Obwohl alles an ihr »zerbrechlich« schrie, war ihr Blick fest und unergründlich, und ich glaubte, mich zu erinnern, ihr Name war Kathi. Oder Lilli? Und ich dachte: Wieso hat ausgerechnet sie sich auf diesen albernen Mist eingelassen? Sie wirkte nicht wie jemand, der sich in dunklen Schränken herumtrieb, um irgendwelche Jungs zu küssen. Sie wirkte nicht mal wie jemand, der zwangsläufig auf jede Party eingeladen wurde. Und damit wären wir schon zwei.

Ich lauschte den Geräuschen außerhalb unseres vorübergehenden Gefängnisses. Sechs Minuten vergehen wie im Flug, wenn man Spaß hat. An meinen ursprünglichen Plan anknüpfend würde ich hier knien und warten, bis es vorbei war. War ja nicht so, als wäre das etwas Neues für mich. Warten, bis etwas vorbeiging – mein Spezialgebiet. Unwillkürlich sprangen meine Gedanken aus dem Schrank zurück zu Jannis. Ich fragte mich, was mein Bruder gerade … und stopp. Einfach stopp. Ich war hier reingeklettert, um mir für ein paar Sekunden keine Sorgen um meinen Bruder zu machen, ich war auf diese Party gegangen, um mich selbst daran zu hindern, ihm durch die Stadt nachzujagen wie ein liebeskranker Welpe, wieder mal, was sollte man auch sonst mit seinen Freitagabenden anstellen? Irgendwann musste Schluss sein, und heute war dieser Tag.

Draußen schrie jemand »FÜNF«, und dann geschahen mehrere Dinge auf einmal. Kathi-Lilli beugte sich vor, stützte sich mit beiden Händen auf meinen Oberschenkeln ab, gefährlich nah an meinem Schritt, um präzise zu sein, weshalb ich überrascht nach hinten wegkippte und sie ein Stück nach vorne fiel.

»Woah!«

»Ähm …«

»Was tust du? Was …«

Sie hatte ihre Lippen auf meine gepresst. Und ich war so perplex, dass ich zurückschreckte und mit dem Hinterkopf gegen die Schrankwand knallte.

»Oouh.«

»Na großartig.«

Stoff raschelte, der Schrankboden protestierte, sie war auf dem Rückzug und ich griff blind in ihre Richtung, um sie davon abzuhalten. »Warte mal!« Könnte sein, ich hab versehentlich an ihre Brust gefasst.

»Hey!« Sie schlug meine Hand weg.

»Wolltest du mich gerade küssen?«

»Nein, ich wollte dich zwangsbeatmen, weil ich dachte, du seist inzwischen verstorben. Was stimmt nicht mit dir? Denkst du, ich sitze zum Spaß in diesem beschissenen Schrank?«

Das war ziemlich lustig und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit musste ich lachen.

»Schön, dass ich dich amüsiere.«

»Sorry.« Mit der Hand fuhr ich mir über den Mund, doch grinsen musste ich immer noch. Was stimmt nicht mir dir? Eine richtig gute Frage eigentlich.

Kathi-Lilli seufzte.

Zu meiner eigenen Überraschung sagte ich: »Ich hab mich nur erschrocken. Ich würd dich ehrlich gern küssen.« Und dann hielt ich die Luft an.

Zwei Sekunden.

Drei Sekunden.

»Okay«, erwiderte sie.

Mein Puls raste auf einmal. Vielleicht war es tatsächlich besser, nicht zu reden, vielleicht war es das Allerbeste, es einfach zu tun. Also tastete ich nach ihrem Arm, dann nach ihrer Hand. Irgendwann musste sie sich ebenfalls hingekniet haben, denn auf einmal umschlossen meine Finger ihre Taille, während ihre Nase beinah meine Wange berührte.

»Your turn«, flüsterte sie.

Penny, schoss es mir durch den Kopf. Nicht Kathi, nicht Lilli.

Ich zog sie näher zu mir. My turn. Auf jeden Fall. Was stimmt nicht mir dir? Ich fürchte, wenn Penny gewusst hätte, wessen Lippen gleich die ihren berühren würden, sie hätte niemals ihr Okay gegeben.

Und hätte ich gewusst, wie der Rest des Abends für mich verlaufen würde, ich hätte den Schrank niemals wieder verlassen.

Denn als ich Penny Fuchs das nächste Mal begegne, sind beinahe vier Jahre vergangen, und den Milo von damals gibt es nicht mehr.

Seinen Bruder ebenfalls nicht.

Nichts ist mehr, wie es war, nicht einmal das Wo.

Und der Kuss, er fühlt sich so unwirklich an, als hätte ich ihn nur geträumt.

Drei Jahre und sieben Monate später …

1

MILO

Gefallen aus Raum und Zeit

Ich habe keine Ahnung, welcher Tag heute ist, aber das stört mich nicht. Ich kenne die Uhrzeit (kurz nach sechs), weiß, wie das Wetter werden wird (windig und klar) und um wie viel Uhr meine Schicht beginnt. Der Alltag hier ist Routine, doch die ist niemals gleich. Und weil so viel zu tun ist, immer irgendwo irgendwas, vergisst man schnell nicht nur das Datum, sondern alles andere auch. Ich bin seit fast vier Monaten hier, und allmählich schäle ich mich aus der Person, die ich vor meiner Ankunft gewesen bin. Ich hab mich noch nicht komplett von ihr befreit. Aber ich arbeite daran.

Meine Schritte donnern über den Strand, wirbeln Sand auf und Muscheln und Kippen. Das mit dem Kopffreikriegen habe ich nahezu perfektioniert. Laufschuhe an, Kopfhörer auf. Dorthin rennen, wo alle anderen nicht sind, weg von der Anlage, von den Touristen, den Kollegen, dem Wahnsinn, der dieser Club ist. Hätte mir vor zwei Jahren jemand gesagt, ich würde einmal so leben – in Spanien, auf einem Hotelareal, als Teil der Crew – , ich hätte mich totgelacht. Aber siehe da: Ich lebe immer noch. Ich lache nicht, aber ich lebe.

Mit dem Laufen habe ich begonnen, weil ich nicht schlafen kann, und inzwischen weiß ich seine Vorzüge zu schätzen. Es ist, als ob jemand mit einem Stahlbesen durch mein Hirn fegt und so lange Staub aufwirbelt, bis ich nicht mehr klar sehen kann, bevor sich die Wolke aus Schmutz ganz allmählich wieder legt und dann einfach mal nichts ist. Leere. Maximale Erschöpfung.

Ich lasse mich in den Sand fallen, lausche meinem eigenen heftigen Atem. Unglücklicherweise ist das der Moment, in dem ich tatsächlich schlafen könnte, von jetzt auf gleich, tief und traumlos.

Ich wache erst wieder auf, als etwas gegen meinen Fuß stößt.

»Wieso pennst du eigentlich nicht in deinem Bett?«

Ich blinzle mich wach und erkenne den Umriss von Toni, einem der Sportguys, heute offenbar bei den Surfern eingeteilt. Er rutscht einen Schritt zur Seite und gibt den Blick auf einen Himmel frei, der weit davon entfernt ist, nachtschwarz zu sein.

»Scheiße, wie spät ist es?« Ich rapple mich auf und klopfe Sandkörner von meinem Körper.

»Erst kurz nach halb sieben, keine Panik.«

Kurz nach halb sieben. Ich habe fast vierzig Minuten geschlafen, und nun wird es eine sehr kurze Dusche geben und kein Frühstück, damit ich die Tiere noch versorgen und es trotzdem rechtzeitig zum Teammeeting schaffen kann.

Ich nicke Toni zu. »Danke fürs Wecken.«

»Keine Ursache. Sehen wir uns heute Abend auf der Party? Die Neuen reisen an.«

»Ich hab den Dienstplan nicht im Kopf, aber ich vermute, ich stehe eher hinter der Bar als davor.«

»Auch ein guter Platz.« Er klopft mir auf die Schulter. »Bis später.«

»Ja, bis dann.«

Ich sehe Toni nach, wie er auf den grün gestrichenen Holzverschlag zusteuert, in dem die Surfbretter des Clubs aufbewahrt werden, dann ziehe ich mein Handy aus dem Laufarmband an meinem Oberarm. Eine Sache noch, bevor ich zurückjogge und mich vom Irrsinn des Feriencluballtags verschlingen lasse. Ich öffne die Kamera, richte den Sucher gen Horizont, fange den Morgenhimmel ein. Ich verschicke das Bild und warte, zehn Sekunden, fünfzehn. Als die Antwort auf dem Display erscheint, sendet mein Körper die bekannten Signale. Meine Kehle wird eng, mein Herz zieht sich zusammen, und doch ist es die Erleichterung, die überwiegt, als ich den vertrauten Garten sehe, den knorrigen Apfelbaum, den verfallenen Schuppen dahinter. Für eine Sekunde lasse ich mich hinreißen, weiter zu denken als die fünf Meter, bis Wasser auf Strand trifft, dann wechsle ich in die App, in der ich meine Tagespläne notiere. Für heute steht an: 6.30 Uhr Katzen, 7.15 Uhr Frühstück, 7.30 Uhr Teammeeting, 8 Uhr Smoothie-Theke, 10 bis 13 Uhr Bar am kleinen Pool. Mittagspause. Das reicht erst mal.

Ein letzter Blick in die Weite. Mit dem Telefon in der Hand laufe ich zurück.

2

PENNY

Willkommen im Paradies

Fuerteventura. Insel. Gehört zu Spanien. Zweitgrößte der Kanaren, im Atlantischen Ozean gelegen, 100 Kilometer vor der afrikanischen Küste. Weit weg von zu Hause. Nicht so weit weg von der Finca, auf der meine Mutter seit einigen Jahren residiert. Immer noch weit genug, nehme ich an. An die 117 000 Menschen leben auf Fuerteventura. Guten Tag heißt auf Spanisch buenos días. Der Name der Insel klingt wie eine Antwort, finde ich.

»Was hast du gesagt?«

»Ich? Nichts!« Der Typ verzieht den Mund zu einem Grinsen, als hätte er mich nicht gerade zu Tode erschreckt. Wann hat er sich auf den Platz neben mich gesetzt?

»Phillip.« Er streckt mir seine Hand hin. »Du? Deine erste Saison im Solana?«

Ich tue so, als müsste ich dringend etwas vom Boden meines Rucksacks retten, während ich seine Hand ignoriere und meinen Namen murmle.

»Penny?«

»Mmmh.«

»Wie diese scharfe Blondine aus der Big Bang Theory?«

»Mmh.«

»Penny, hallo, jemand zu Hause? Penny? Knock-knock. Penny?« Er lacht. »Du siehst kein bisschen aus wie Penny. Eher wie das Gegenteil. Also, so meinte ich das nicht.« Er lacht lauter. »Ich meinte mehr so: Du schwarze Haare, sie blonde, du eher kurz, sie lang …« Phillip zuckt mit den Schultern. »Ihr seht beide super aus, ehrlich. Krasse Wimpern.« Er mustert mich, mein Gesicht, meine Brüste, meine Beine, völlig ungeniert. Sein Grinsen ist ungebrochen und ich stelle fest, dass seinem rechten Schneidezahn ein winziges Stück fehlt. Ich frage mich, ob das ebenfalls auf den wesentlichen Teil seiner Gehirnzellen zutrifft, doch bevor ich das versehentlich laut sage, klingelt sein Handy. Ein Glück. Für uns beide, nehme ich an.

Phillip nimmt das Gespräch an, ich sehe aus dem Fenster, und für einen Augenblick bin ich abgelenkt. Es ist so öde da draußen, das muss man erst mal verkraften. Sandig, steinig, trocken, gelb und braun. Von den himmlischen Sandstränden, die sofort aufploppen, wenn man Fuerteventura in die Suchmaschine eingibt, ist nichts zu sehen. Stattdessen wirkt die Insel ausgedorrt und unwegsam, allein bei ihrem Anblick bekomme ich Durst. Wieder krame ich in meinem Rucksack, diesmal nach der Wasserflasche.

»Wahnsinn, oder? Als wäre man auf dem Mond gelandet.« Phillip steckt sein Handy weg. »Also, Penny – ist das denn nun deine erste Saison im Solana Sunshine Club?«

Ich blicke mich im Bus um, mustere die Reihen vor und hinter mir. Wir sitzen in der vierten von hinten, genau zwischen zwei der großen Räder. Sitze ich zu nah an einem der Reifen, wird mir übel. Die vierte Reihe ist okay.

»Penny? Jemand zu Hause?«

Ich sehe wieder zu Phillip. Sein Lächeln ist unerschütterlich. Schätzungsweise ist er in meinem Alter, um die zwanzig, blonde, kurz geschorene Haare, blaue Augen, ordentlich Muskeln, eine Spur zu selbstsicher. »Ja«, sage ich. »Die erste Saison.«

»Uh, ein Newbie, wie aufregend. Du musst aber nicht nervös sein. Die Crew im Solana ist eine einzige große Familie, die Arbeit eine 24/7 andauernde Party. Hab ich recht, Stellan?« Er beugt sich über den Gang und drückt seine Faust gegen die des Jungen gegenüber, der erst Phillip anlacht, dann mich, dann meinen Sitznachbarn in ein Gespräch verwickelt.

Wo hast du gesteckt den ganzen Winter?

Schweizer Alpen. Snowboard, Après-Ski, volles Programm. Du?

Solana Österreich. Ähnlich, ähnlich.

Shit, ich kann ein paar Stunden Sonne vertragen.

Ich auch, Mann, ich auch.

Der Platz neben Stellan ist frei. Offensichtlich quetscht sich Phillip lieber neben eine Fremde, statt neben seinem Kumpel zu sitzen, was ein Punkt mehr wäre auf der Liste dessen, was wir nicht gemeinsam haben.

Ich rutsche so weit wie möglich ans Fenster, weg von Phillip und seiner Körperwärme, ziehe das Handy aus den Taschen meiner Kapuzenjacke und öffne WhatsApp. Seit ich gelandet bin, hat Nathalie sicher schon zehn Nachrichten geschickt. Keine davon habe ich bisher beantwortet, aber mir ist klar, dass ich sie nicht ewig zappeln lassen kann, das bringe ich nicht übers Herz.

NATHALIE:Hast du Sonnencreme eingepackt? Irgendeine Art Hut? Bikini?

NATHALIE:Du hast nicht vor, wieder in diesem schwarzen Monstrum rumzulaufen, oder? Ich wünschte, ich hätte die Chance genutzt und es ausgemistet, als ich die Gelegenheit dazu hatte.

NATHALIE:Was ist mit Kondomen?

NATHALIE:Ja, ja. Das war ein Spaß. Spaaaahaaaß!

NATHALIE:Ehrlich, es tut mir leid. Ich weiß, ich habe das schon tausendmal gesagt, aber ich spüre doch die bad vibes durch den Äther, bad, bad vibes. Ich hab mir nicht absichtlich das Bein gebrochen, okay? Penny … Komm schon. Eine klitzekleine Antwort für die beste Freundin? Selbst wenn sie es kolossal verbockt hat?

»Wer ist Nathalie?«

»Hey.« Ich drehe das Display so, dass Phillip es nicht mehr sehen kann, und rutsche gleichzeitig noch ein Stück von ihm weg. Ich klebe schon fast vertikal an der Scheibe.

Der Junge lacht mir ins Gesicht.

»Liest du immer die Privatnachrichten anderer mit?«

»Ich wollte eigentlich nur die Landschaft bewundern, und da hab ich zufällig einen Blick auf dein Handy geworfen. Sie hat sich das Bein gebrochen?«

Ich starre ihn an.

»Wie ist das passiert? Ich meine, die arme Nathalie?«

Ich fürchte, ich starre noch ein bisschen länger, während Phillip das Gleiche tut: Er mustert mich, die Augen, die Nase, die Lippen, von vorn, während das Grinsen auf seinem Gesicht ein neues Ausmaß siegessicherer Tiefe erreicht. Ich speichere die Information ab. Phillip, flirtet schamlos, ist zu selbstgefällig, scheint nichts peinlich.

»Und?«

Penetrant ist er auch.

»Sie hat sich beim Skifahren das Bein gebrochen.«

»Autsch.«

»Vor drei Tagen erst. Kurz vor Abflug. Wir wollten zusammen herkommen.«

»Oh. Fuck.«

Ich wende den Blick ab, zurück zum Fenster. Das alles hier, die Insel, Fuerteventura, der Club, es war ihre Idee.

»Lächelst du auch mal?«

Ich drehe den Kopf. »Sicher. Manchmal.«

Er schüttelt seinen, wie man den Kopf über ein trauriges Kind schüttelt. »Ich wette, du wirst hier jede Menge Spaß haben, Penny«, sagt er. »Auch ohne deine Freundin Nathalie.«

Wie auf Stichwort kündigt mein Handy die nächste Nachricht von ihr an. »Würdest du …«

»Oh, ja, klar.« Er rückt ein Stück von mir ab, zwinkert mir zu, natürlich tut er das. Dann zieht er sein eigenes Telefon aus der Hosentasche und beginnt, darauf herumzuscrollen.

NATHALIE:Wenn es irgendwie möglich ist, komme ich nach, okay? Bis dahin musst du einfach durchhalten.

NATHALIE:Pennybunny?

PENNY: Ich melde mich später, ja? Sonst kotze ich dem Typ neben mir noch in den Schoß.

NATHALIE:Hä?

PENNY: Bin im Bus.Du weißt, dass mir schlecht wird.

NATHALIE:Was für ein Typ???

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht zu lächeln, denn die Wahrheit ist, mir ist heute nicht wirklich danach. Als Nathalie mir von ihrem Beinbruch erzählte und davon, dass sie ihren Job im Club Solana nicht würde antreten können, war ich natürlich in Versuchung, ebenfalls zu Hause zu bleiben, aber was wäre die Alternative gewesen? Das Studium nicht abzubrechen? Mich weiter mit meinem Vater auseinanderzusetzen? Also, ja: Der Entschluss, das nächste halbe Jahr auch ohne Nathalie durchzustehen, ist gefasst, nur glücklich macht er mich nicht.

NATHALIE:Scheiße, du wirst massenhaft Sex haben. Wahnsinnigen, aufreibenden, lebensverändernden, erderschütternden Sex!

NATHALIE:Sag mir, dass du wenigstens die Kondome eingepackt hast. Sag es mir!!!

Und nun muss ich doch lachen. Und Phillip wirft mir einen Blick zu, als hätte er es gleich gewusst.

3

MILO

Easy

»Mmmmh, was haben wir hier? Spinat und Kiwi?«

»Sellerie, Apfel und Grünkohl.« Ich greife nach einem der schmalen Gläser, auf die ich den breiigen Saft verteilt habe, und reiche es Helena über die Theke. »Schmeckt garantiert so grün, wie es aussieht.«

Helena nimmt das Glas und lächelt mich an, als seien Zeit und Raum stehen geblieben und wir nicht inmitten dieses kolossalen Frühstückschaos. Jetzt, kurz nach neun, ist am meisten los, es wimmelt von Touristen, von Eltern, Kindern, Großeltern, Paaren, Teenagern. Sie alle drängen um die Buffet-Tische, als wären hier nicht Tonnen von Essen aufgestapelt, als gäbe es nicht für wirklich jeden etwas und das nicht zu knapp. Eier – hart, weich, gerührt, gebraten, pochiert; Obst, geschnitten, als Smoothie, als Saft; Speck, Würstchen, Haferbrei, Buchweizengrütze, Käse, Wurst, Braten, Fisch. Es gibt Kuchen zum Frühstück, Croissants, Pancakes oder Gemüsesticks. Es ist sogar möglich, sich ein Steak braten zu lassen.

»Der schmeckt göttlich, Milo. Fabulös.«

Ich sehe sie an. Sie sieht mich an, als sprächen wir nicht über einen Sellerie-Grünkohl-Smoothie, sondern von ganz etwas anderem.

»Du kamst gestern Nacht nicht mehr vorbei«, sagt sie, und, bevor sich jemand wundert, ja: Sie spricht so, wie man normalerweise nur schreiben würde. Präteritum, nur selten Perfekt. Kamst vorbei, nicht bist vorbeigekommen. Als ich Helena das erste Mal begegnet bin, gleich in der ersten Woche nach meiner Ankunft, fand ich ihre Ausdrucksweise belustigend bis befremdlich, doch inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Und inzwischen sind wir zusammen. Irgendwie. Wir haben es nie ausgesprochen, aber es fühlt sich so an, und es fühlt sich gut an, denn abgesehen von ihrer Schwäche für die deutsche Grammatik ist Helena perfekt. Für mich. Für jeden anderen hier vermutlich auch (es gibt genügend Jungs um mich herum, die ihr Interesse bereits bekundet haben), aber insbesondere für mich. Sie ist fröhlich. Von Grund auf gut gelaunt. Freundlich. Leicht – und ich meine das nicht im physischen Sinn. Sie als Person vermittelt eine Leichtigkeit, die sich auf mich überträgt und, ja, was soll ich sagen? Ich mag es, mich zur Abwechslung einmal unbeschwert zu fühlen. Und das tue ich. Denn mit Helena ist alles einfach.

»Es ist spät geworden an der Bar. Und am Ende waren nur noch Xavier und ich da, um aufzuräumen.«

»So etwas dachte ich mir schon.« Sie lächelt immer noch und nippt nach wie vor an ihrem Smoothie. »Allerdings war es die letzte Nacht, die ich das Zimmer für mich hatte. Heute reist meine neue Mitbewohnerin an. Ich soll sie später in Empfang nehmen.«

»Ah, okay.« Ich nicke. Das hatte ich tatsächlich vergessen. Es ist nicht so, dass Helena und ich die Finger nicht voneinander lassen können, aber sollte es doch mal so sein, ist es mit der Privatsphäre auf diesem Gelände nicht wirklich weit her. Die meisten der Mitarbeiter sind in Doppelzimmern untergebracht, in der Regel mit Leuten, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Ich beispielsweise lebe mit Severin zusammen. Severin ist Österreicher, sieht aus wie ein Riesenbaby, ist sehr schüchtern und hält dennoch ausschweifende Reden, leider im Schlaf. Er ist einer der Gründe, warum ich nachts kaum ein Auge zukriege; mein Leben der andere.

»Es tut mir leid«, sage ich zu Helena. »Wir holen das nach.«

»Ja, das werden wir.« Sie hält mir ihr leeres Glas hin. Den Blick voller Versprechen. »Wie sieht dein Plan für heute aus?«

»Erst Smoothies, dann die Bar am Erwachsenenpool. Mittagspause von 13 bis 15 Uhr, dann Technikprobe im Theater. Sundowner auf der großen Terrasse ab fünf, später Theater und dann wieder Bar.«

Sie nickt. Zieht anschließend einen Zettel aus der Tasche ihrer weißen Shorts, wirft einen Blick darauf und sieht dann wieder mich an. »Ich weiß nicht, ob wir es vor der Mittagspause schaffen – das wird ein voller Tag und wir sind auf dem ganzen Gelände unterwegs. Aber vielleicht können wir zusammen essen. Ich versuche es. Bei den Theaterproben sehen wir uns dann spätestens.«

»Alles klar.«

»Haben Sie noch welche von diesen grünen Dingern?«

Ein Wunder, dass Helena und ich in dem Frühstücksandrang überhaupt drei Worte miteinander wechseln konnten – muss daran liegen, dass die Gemüse-Smoothies nicht wirklich zu den Knüllern hier gehören. Doch nun sind sie leer und ich bücke mich hinunter zum Kühlschrank, ziehe eine bis zum Rand gefüllte Kanne mit grünem Glück hervor und gieße ein paar weitere Gläser ein. Als ich die Karaffe zurückstelle, kniet plötzlich Helena neben mir.

»Küss mich«, sagt sie.

Für einen Moment sind wir unbeobachtet von den Augen der Gäste, der Kollegen, der Chefs. Ich schmiege meinen Mund an ihren, sanft, zärtlich, und so verweilen wir einige Sekunden, bis sich unsere Lippen gleichzeitig zu einem breiten Grinsen verziehen. So ist das mit Helena und mir. Unkompliziert. Easy. Könnte nicht besser sein. Ehrlich nicht.

4

PENNY

Licht und Schatten

Das Psychologiestudium hat mir nicht gutgetan. Besser gesagt, die drei Semester, die ich brauchte, um festzustellen, dass es mich noch verrückter machen würde, als ich mich ohnehin schon fühle. Jemand, der den halben Tag damit verbringt, sich selbst, andere und sämtliche Beziehungen untereinander zu analysieren, sollte sich möglichst nicht noch professionell damit beschäftigen, stimmt’s? Es sei denn, er möchte am Ende zu der seltenen Spezies gehören, die innerhalb von knapp zwei Jahren sechs verschiedene Verhaltensstörungen entwickelt. Nicht wirklich, versteht sich, aber mindestens gefühlt. Gefühlt ist es mir gelungen, mich in jeder einzelnen möglichen Psychoneurose wiederzuerkennen, die mir über den Weg lief.

Im Moment würde ich mich in die Kategorie »schizoide Persönlichkeitsstörung« einstufen. Zurückgezogen, einzelgängerisch, tut sich schwer damit, Freude zu empfinden. Passt. Davor hielt ich mich eine Zeit lang für emotional instabil und davor betitelte ich meine mutmaßliche Störung gern als histrionisch.

Nein, das ist keine offizielle Diagnose.

Nur die Laienbetrachtung einer Spinnerin.

Ich zoome mich aus meinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt, ins grelle Licht der südspanischen Landschaft, in den holprigen Bus, neben Phillip, einem von zig anderen Fremden, mit denen ich in den kommenden sechs Monaten zusammenarbeiten werde. Aus dem Plan, mich hinter Nathalie zu verstecken, ihren schweigsamen, unsichtbaren Schatten abzugeben, wird nun nichts, und das allein ist Herausforderung genug. Ich hoffe nicht, dass von mir verlangt wird, Anschluss zu finden oder so etwas in der Art. Ich bin keine große Socialiserin. Und ich möchte es auch gar nicht sein. Weshalb eher fraglich ist, ob ich die richtige Person bin für diesen Job hier. Nathalie, sie wäre darin aufgegangen. Aber schon beim Casting wurde deutlich, dass ich nicht gerade ein Naturtalent bin. Schon nach den ersten Minuten trug man mir auf, ein bisschen gelöster zu lächeln und zugänglicher auf Fremde zu wirken. Und ja, ich weiß, wie das klingt. Und ja, sie nennen es tatsächlich Casting. Und ich vermute, sie haben mich allein wegen Nathalies unstrittiger Begabung für Animation mit durchgewunken. Sie ist wie gemacht für diesen Job, passt perfekt ins Profil. Genau wie Phillip, denke ich.

Er surft, hat er mir erklärt, aber irgendwie ahnte ich das bereits. Er sieht aus wie ein Surfer. Und wie jemand, der nebenbei noch jeden möglichen anderen Sport betreibt, denn auch das trifft auf Phillip zu. Er ist 24, dies ist sein viertes Jahr auf Fuerte, wo er bis zu neun Monate bleibt, weil: Auf den Kanarischen Inseln mit ihrem fabelhaften Klima ist durchgehend Saison. Phillip schätzt die Anlage (weitläufig, hoch über dem Meer, super Wetter, ein abgeschlossener Bereich fürs Personal) und seine Mitstreiter (nur coole Leute, Hammer-Spaß, Mega-Partys). Das alles klingt immer weniger nach mir und immer mehr nach Nat, und auf einmal habe ich Mitleid mit ihr. Ich bin anhaltend deprimiert und unterbewusst wahrscheinlich ein bisschen sauer auf sie.

Doch sie tut mir auch leid. Es war ihr Traum, und ich bin dabei, ihn zu leben, obwohl ich das ganz sicher niemals wollte.

Wir sind da. Der Bus hält vor einem imposanten, schmiedeeisernen Tor, das sich wie von selbst für uns öffnet. Wir haben noch nicht ganz gehalten, da ist Phillip schon aufgesprungen und zerrt seine Tasche aus dem Gepäckfach. »Hey«, sagt er. »Penny.«

Ich weiß nicht. Vielleicht hat er Gefallen an meinem Namen gefunden.

»Soll ich dich begleiten? Bei deinem ersten Schritt auf heiligen Boden?«

»Nein, aber … nein, danke. In der Mail stand, ich soll mich zuerst am Empfang melden.«

»Okay.« Dieses Grinsen. Es hängt über mir wie ein rosa Wattebausch, da hat Phillip mir schon längst den Rücken zugekehrt und den Bus verlassen.

In Gedanken mache ich mir eine weitere Notiz: Ist es gewohnt, dass man ihm Aufmerksamkeit schenkt. Ob ihm bewusst ist, dass es oftmals gerade diesen Menschen nicht gelingt, sie auch zu halten?

Ich steige als Letzte aus dem Bus. Schnalle meinen Rucksack um und gehe zu der Klappe, hinter der der Fahrer all unsere Koffer verstaut hat. Ich nehme meinen entgegen, rolle ihn ein Stück zur Seite und bleibe stehen.

Ich kann das Meer riechen.

Das Salz schmecken.

Die Sonne auf der Haut spüren, durch den dichten Stoff meiner schwarzen Kapuzenjacke hindurch.

Ich sehe mich um, nehme die Details in mich auf: die weiß getünchte Mauer, die grünen Palmspitzen, die sich dahinter im Wind wiegen, die Sonnen aus Eisen, die das Eingangstor der Clubanlage zieren. Als ich den Blick wieder nach vorn richte, steht ein Mädchen da und blendet mich mit ihren strahlend weißen Zähnen.

»Hi, ich bin Helena. Willkommen im schönsten Club der Insel«, sagt sie, bevor sie noch einen Schritt nach vorn macht, um mich zu umarmen, und das zu schnell für mich, um auszuweichen. Also bleibe ich stehen, steif wie ein Brett.

»Du bist Penny, richtig? Wow, deine Wimpern sind unglaublich.«

»Danke. Und, ja. Ja, das stimmt. Ich soll hier …«

Helena hebt die Hand. »… erst mal ankommen.« Sie strahlt und strahlt und ich muss daran denken, dass es nicht umsonst die schöne Helena heißt, denn dass dieses Mädchen schön ist, daran gibt es keinen Zweifel.

Sie ist groß, mindestens anderthalb Köpfe größer als ich, sie besteht fast nur aus schlanken, wohlgeformten Beinen und langen blonden Haaren, die sie auf ihrem Kopf zu einem unordentlichen Knoten zusammengerafft hat. Ihre Augen sind braun. Groß, rund und freundlich. Ihre Wangenknochen sind hoch, ihr Hals grazil, ihr Mund klein, aber voll und fast wie ein Herz geschwungen.

Ich bin mir sicher, sie hat schon mit vier im Ballettstudio an der Stange getanzt, so eine ist Helena. Sie sieht so anders aus als ich, ich könnte ohne Probleme als ihr Negativ durchgehen.

»Man trug mir auf, mich um dich zu kümmern.«

Meine Lippen öffnen sich, kein Ton kommt heraus. Man trug ihr auf, sich um mich zu kümmern. Vielleicht ist das tatsächlich die schöne Helena, denke ich. Anmutig und aus der Zeit gefallen.

»Ich werde deine Patin sein für die kommenden zwei Wochen.« Sie greift nach meinem Rollkoffer. »Jeder, der hier anfängt, bekommt eine Patin oder einen Paten an die Seite gestellt, das erzählten sie dir sicherlich beim Casting? Ich zeige dir alles, die Anlage, die Zimmer, erkläre dir die Stundenpläne und deine Aufgaben und stehe dir jederzeit für Fragen zur Verfügung.«

Sie hat ihre Endlos-Beine in Bewegung gesetzt, und ich habe Mühe, ihr zu folgen. Wir laufen einige Stufen nach oben, passieren ein kleineres Tor, erreichen den Rand eines baumgesäumten Platzes, auf dem Kinder durcheinandersausen, während Eltern ihnen nachjagen. Poolgeräusche dringen zu uns herüber. Aus irgendeiner Box pumpt ein schneller Bass.

»Am besten holen wir dir zuerst deine Uniform, ja? Dann kannst du dich von dieser Jacke befreien, sie sieht furchtbar warm aus.«

»Uniform.« Das Wort ist nicht mehr als ein Hauch.

Helena lächelt, während sie mit beiden Händen an ihrem Körper entlang nach unten streift, als wollte sie sich zum Verkauf anbieten. »Gelbes Oberteil, weiße Hose oder Rock oder Shorts. Die Farben des Sommers.«

Ich nicke. Dass es im Club Solana Sunshine eine Kleiderordnung für die Mitarbeiter gibt, wusste ich bereits. So kurz davorzustehen, diese Farben tatsächlich zu tragen, ist jedoch etwas völlig anderes als die Vorstellung davon.

»Du trägst gern Schwarz?«

»Ja.« Immer. Seit ich denken kann. Seit ich sechzehn bin. Immer.

Helena neigt den Kopf und mustert mich eingehend. »Du gewöhnst dich dran. Wie auch an alles andere. Versprochen.« Sie hakt sich bei mir unter, der Griff fest und unerschütterlich, und zieht mich weiter ins Innere der sonnenbeschienenen Anlage, die in den kommenden Monaten mein Zuhause sein soll.

5

MILO

Von Katzen und Menschen

Seltsam, aber wahr: Katzen lieben mich mehr als Streifenhörnchen. Klingt komisch? Was soll ich sagen, ich habe Beweise. Und ausreichend Zeit und Muße, mir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen.

»Hi, Gigi. Cómo estás?« Ich gehe auf die Knie und warte auf die sandfarbene Katze, die mir über den kurz geschorenen Rasen entgegentrippelt. Als sie mich erreicht, schmiegt sie sich einmal an mein Knie, schon liegt sie im Gras und bietet ihren Bauch zum Kraulen an. Ich tue, wie mir befohlen. Gigi schnurrt und wälzt sich, und ich denke nicht an all die anderen Katzen, die mich in meinem bisherigen Leben begleitet haben.

Und dann tue ich es doch.

An manchen Tagen ist es schwerer als an anderen, sich nicht daran zu erinnern, wo man herkommt und wer man war, bevor man für den Solana Sunshine Club ein unverbindliches Lächeln aufsetzte und seine Persönlichkeit an der Garderobe abgab.

Ich bin mit Tieren aufgewachsen, denn meine Eltern sind leicht fanatisch in dieser Beziehung. Beide Tierärzte. Beide aktiv im Tierschutz engagiert. Sie haben sich auf einer Demo gegen Laborversuche kennengelernt und verbrachten unzählige ihrer Urlaube in südlichen Ländern, wo sie kostenlos bedürftige Katzen und Hunde versorgten.

Zu Hause hatten wir immer welche, vorwiegend solche, die niemand sonst aus dem Tierheim holen wollte, dreibeinige Hunde, diabetische Frettchen, die scheusten Katzen. Wellensittiche lebten bei uns, Papageien, Schildkröten, Ratten, Chinchillas. Sämtliche Streuner der Nachbarschaft landeten in unserem Wohnzimmer, Igel überwinterten im Schuppen. Einige Jahre lang stakten Hühner durch unseren Garten, die Aktivisten aus einer Legebatterie befreit hatten, und für kurze Zeit hielten wir ein Schwein. Wer nun annimmt, all das hätte meine Kindheit zu einer glücklichen gemacht, könnte gar nicht richtiger liegen.

Mein Bruder und ich, wir wuchsen behüteter auf als die Kinder in Bullerbü, nichts konnte unsere Welt erschüttern. Wir hatten alles, und davon zu viel. Und meine Eltern, sie haben nichts falsch gemacht. Offiziell zumindest nicht. Sie haben nichts falsch gemacht, und trotzdem ist mein Bruder jetzt tot.

Ich sehe auf Gigi herunter, die ihren Kopf in meine Hand schmiegt, als wäre ich die Liebe ihres Lebens. Ich kraule sie ein letztes Mal hinter den Ohren, stehe auf und setze den Weg in Richtung Poolbar fort, das kleine Fellknäuel dicht auf meinen Fersen.

Um auf die Streifenhörnchen zurückzukommen: Auf Fuerteventura gibt es jede Menge davon. Das heißt, es sind nicht wirklich Streifenhörnchen, auch wenn sie schwer danach aussehen, laut Wikipedia sind es Atlashörnchen aus der Familie der Borstenhörnchen und … whatever. Sie sehen aus wie Mini-Eichhörnchen, nur eben mit Streifen auf dem Rücken. Es gibt Trillionen davon auf der Insel, so viele, dass sie als Plage gelten, und die Einheimischen werden nicht müde, Touristen davor zu warnen, sie zu füttern. Xavier, einer der Spanier, die abends mit uns die Bar schmeißen, versteht es, mit den blumigsten Worten über die Tiere zu fluchen (nicht, dass ich viel davon verstehen würde, doch es klingt Furcht einflößend).

Wie dem auch sei: Die Clubanlage befindet sich auf einer Art Klippe über einem Sandstrand, und in den Steilwänden dieser Klippe leben Hunderte von den besagten Hörnchen. Sie sind süß (Was? Tierliebe wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt) und verfressen, und sie sind so zahm (und verfressen), dass sie sich bedenkenlos von Touristen mit Gurkenscheiben füttern lassen (unnötig zu erwähnen, dass frische Gurken beim Frühstücksbuffet zur beliebtesten Gemüsesorte zählen). Es gibt eine Terrasse unterhalb der Anlage, auf dem Weg hinunter zum Strand. Dort versammelt sich eigentlich immer irgendeine Familie und die Hörnchen knabbern Gurkenscheiben aus der Hand.

Warum ich das erzähle?

Nun, weil sie es bei mir nicht tun. Ist das zu fassen? Der Junge, der schon Spatzenküken mit der Pipette großgezogen und ehrenamtlich auf einem Gnadenhof Ställe ausgemistet hat, wird ausgerechnet von einer Bande Streifennagern ignoriert, die ansonsten jedem, wirklich jedem aus der Hand frisst. Ich kann nicht behaupten, dass mich das kaltlässt. Dass ich es nicht immer mal wieder versuchen würde. Und ich mache Gigi dafür verantwortlich, wenn auch nur, um meinen Stolz zu wahren. Diese kleinen Biester halten mich für einen Katzenflüsterer, das ist die einzige Erklärung, richtig? Und die Katze ist nun mal der natürliche Feind des Atlashörnchens, auch so viel konnte ich mittlerweile beobachten.

Ich öffne die Glastür zum Spa-Bereich, nicke Lydia zu, die die Wellness-Rezeption betreut, nehme ihren missbilligenden Blick zur Kenntnis, den sie der um mich herumscharwenzelnden Gigi zuwirft, und verlasse das Gebäude nach ein paar Schritten wieder, um zum Pool zu gelangen. Da liegt er, nierenförmig und himmelblau, wie es sich gehört. Der Wind malt ein wirres Muster auf seine spiegelnde Oberfläche, die Palmen, die diese Oase säumen, knistern mit ihren Blättern. Ich atme tief ein, nehme die klare Luft in mir auf, richte den Blick auf den Ozean dahinter, das satte Ultramarin, die flirrende Weite. Für eine Sekunde erlaube ich mir, an Jannis zu denken. Daran, dass er all das nicht sehen kann. Dass niemand ihm die Möglichkeit gegeben hat, an das Gute zu glauben, an eine Zukunft, und ich frage mich, womit ich es verdient habe, hier zu sein und mich aus meiner Vergangenheit zu schälen, während meinem Bruder dies für immer verwehrt bleibt, weil er tief unter der Erde liegt, kalt, verrottet.

Ich zwinge mich dazu, ins Hier und Jetzt zurückzukehren, Gigis schmeichelnde Bewegung an meinem Bein zu spüren, die Geräusche um mich herum wahrzunehmen, an Atlashörnchen und Gurken zu denken. Ich drehe mich um und mache mich daran, die runde Hütte aufzusperren, die die Poolbar beherbergt.

Es gilt, Bananenshakes vorzubereiten, Zitronenwasser und Eistee. Und ich könnte mir nichts vorstellen, das ich in diesem Augenblick lieber täte, rein gar nichts.

6

PENNY

Der Junge aus dem Schrank

Ich bin erst drei Stunden hier, und schon raucht mir der Kopf, als hätte ich Mathe-Abi geschrieben. Helena hetzt mich von einem Ende der Anlage zum anderen, vom Schwimmpool zum Funpool, vom Fitnessraum durch das Kunstatelier hin zu den Tennisplätzen, vom Kinderclub ins Fotostudio in den kleinen Minisupermarkt, der auch eine Boutique ist. Dort soll ich demnächst eingelernt werden, erklärt sie, doch erst müsse ich mir noch den Rest des Clubs ansehen. Also rennen wir weiter, kommen aber kaum voran, weil Helena alle paar Schritte aufgehalten wird, von Crew-Mitgliedern und Touristen gleichermaßen. Hi, Helena, wie geht’s, Helena, kommst zu später ins Theater, Helena, wir haben Sie gestern beim Bingo vermisst, Sie Liebe. Jedem einzelnen dieser Gesprächspartner werde ich namentlich vorgestellt, auf dass ich mich künftig ebenfalls nicht mehr unerkannt fortbewegen kann, denn: Gästekontakt ist ausdrücklich erwünscht. Der Solana Sunshine Club ist eine einzige große Familie, die sich im besten Fall jedes Jahr wiedertrifft.

Amen.

Als wir endlich den Teil des Grundstücks erreichen, in dem sich der Mitarbeitertrakt befindet, bin ich schätzungsweise zwanzigtausend Schritte gelaufen und ordentlich durchgeschwitzt. Ich wurde über den Dresscode informiert, darüber, dass es im Speisesaal beinah ausschließlich Zehnertische gibt, damit sich jeder zu jedem setzen muss (Gästekontakt, Gästekontakt, Gästekontakt!), ich erfuhr, dass wir alle an sechs Tagen der Woche arbeiten und dass diese Tage meist frühmorgens beginnen und erst gegen Mitternacht enden. Schließlich berichtete meine Patin freudestrahlend, dass jedes Teammitglied an mindestens zwei der täglich für die Gäste aufgeführten Theaterproduktionen teilzunehmen habe – »der beste Job von allen«.

Ich bin mir da nicht so sicher. Ich bin mir überhaupt über nichts mehr sicher, und es mag an Helenas Energie liegen oder an meiner eingerosteten Stimmung, doch so aufreibend habe ich mir meine Ankunft auf dieser Insel nicht vorgestellt.

Wir nehmen die Treppe in den zweiten Stock, betreten den gemauerten Außenbalkon, über den man die Zimmer erreicht, und ich überlege gerade, wie ich mich am besten aus dieser Theaternummer herauswinde, als Helena vor der letzten der dunkelrot gestrichenen Türen stehen bleibt.

»Tadaaaa – nuestra habitación. Unser Zimmer.«

Sie dreht den Schlüssel im Schloss und ich folge ihr in den Raum, ein ganz normales Doppelzimmer, mit zwei einzelnen Betten allerdings. Die Wände sind in einem hellen Orange gestrichen, wie die meisten Gebäude hier, die Möbel sind weiß, die Vorhänge blau.

»Immer zwei teilen sich ein Zimmer, das wusstest du, nicht?«, fragt Helena.

»Ja. Doch.« Ich nicke. Das wusste ich. Ich hatte nur nie einen Gedanken daran verschwendet, da ich bis vor wenigen Tagen noch davon ausgegangen war, dass ich mein Zimmer mit Nathalie teilen würde.

»Wäre das Bett an der Wand in Ordnung für dich? Ich schlief bisher schon in dem hier, am Fenster.«

»Klar, kein Problem.« Ich lasse die Tasche mit den Clubklamotten auf das mir zugewiesene Bett fallen, und Helena rollt meinen Koffer neben den Nachttisch. Über ihr Kopfteil hat sie Lichterketten drapiert, ein Zickzack aus winzigen gelben Sternen.

»Weißt du was?« Sie mustert mich fröhlich. »Ich lasse dich für einen Augenblick allein. Nimm dir Zeit, spring unter die Dusche, wenn du magst, zieh dich um, und wir treffen uns in einer halben Stunde wieder. In Ordnung?«

»Oh, ja«, erwidere ich. Es ist schwer, Helenas Enthusiasmus standzuhalten, doch ich bemühe mich.