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Simon Van Booy

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Beschreibung

Ein berührender Roman darüber, wie man den einen Menschen findet, für den man bereit ist, sich einer der größten Herausforderungen zu stellen: sich selbst zu ändern.

Ein kleines Mädchen, das seine Eltern zu früh verloren hat. Ein Mann, gebrandmarkt vom Leben und zurückgezogen. Als Jason seine Nichte Harvey bei sich aufnimmt, wissen beide nicht, wie ihr Alltag zu zweit aussehen wird. Doch die Freude, die mit dem Mädchen einkehrt, lässt Jason ahnen, dass er seinem Leben vielleicht doch eine Wendung geben kann – gemeinsam mit Harvey.

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Seitenzahl: 346

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Mit seinen Tattoos, dem Hang zu Raufereien und dem Faible für schnelle Motorräder eignet sich Jason augenscheinlich ganz und gar nicht als Vater. Als aber sein Bruder verunglückt, nimmt er sich dessen kleiner Tochter Harvey an: Sie kochen gemeinsam, sie pflanzen Blumen in ihrem Vorgarten auf Long Island, Jason bringt ihr das Schlagzeugspielen bei, sie bewältigen Harveys ersten Schultag und ihre erste Grippe, ihren ersten Streit. Mit jedem Jahr wächst die Bindung zwischen den beiden und Jason kann die Dämonen seiner Vergangenheit nach und nach vertreiben, indem er zum ersten Mal lernt, was das heißt: eine Familie sein. Eine berührende Geschichte, in der Simon Van Booy der sanften und doch alles überwältigenden Kraft des Miteinander nachspürt.

Simon Van Booy stammt aus Wales und lebt mit seiner Frau und Tochter in Brooklyn. Er ist der Autor von zwei Erzählungsbänden und drei Romanen sowie von drei Philosophiebüchern und schreibt u.a. für die New York Times, den Guardian und die BBC. Sein Werk wurde in siebzehn Sprachen übersetzt. Im Insel Verlag erschien Die Illusion des Getrenntseins.

Simon Van Booy

MIT JEDEM JAHR

Roman

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Father's Day bei HarperCollins, New York.

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2017.

© Simon Van Booy, 2016.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg nach einer Idee von Jarrod Taylor

Des Himmels Auge brennt manchmal zu heiß.

I

Harvey kam in einem Krankenhaus aus rotem Backstein auf einem Hügel zur Welt. Es war der schwerste Tag im Leben ihrer Mutter, und sie weinte noch lange danach.

Unweit des Krankenhauses war ein Park, in dem Kinder schaukelten und ihren Eltern davonliefen. Harveys Mutter ging oft dorthin, als sie schwanger war. Sie setzte sich auf eine Bank und aß Kleinigkeiten aus ihrer Handtasche.

Es gab dort auch einen Ententeich, der im Winter zufror. Die Leute kamen früh, zu zweit und zu dritt. Sie hielten sich an den Händen und glitten im Kreis umher. Es war keine Musik zu hören, nur Stimmen und das Scharren der Kufen.

Als Harvey alt genug war, um die Enten zu füttern, gingen ihre Eltern mit ihr in den Park. Ihr Vater hatte eine Tüte mit altbackenem Brot dabei, von dem er einzelne Stücke abbrach.

»Hier bist du geboren«, sagte er zu ihr.

»Im Park?«

»Nein, in einem Krankenhaus«, sagte ihr Vater. »Aber in dieser Stadt.«

Ein paar von den Enten kamen direkt auf Harvey zugewatschelt. Sie legten den Kopf schräg und sperrten den Schnabel auf. Als die Tüte leer war, schüttelte ihr Vater die Krümel heraus.

Harvey wollte das Krankenhaus sehen, in dem sie geboren worden war, aber ihre Mutter sagte, nächstes Mal, ganz bestimmt.

Harvey fragte, wie viele Babys an einem Tag auf der Welt geboren werden.

»Tausende«, antwortete ihr Vater. »Vielleicht Millionen.«

Harvey stellte sich die Babys in ihrem Zimmer vor. So viele, dass man kaum noch die Tür aufbekam. Einige von ihnen weinten, die Gesichter rot und glänzend. Andere krabbelten umher und betasteten Dinge oder lagen einfach nur auf dem Rücken. Harvey stellte sich vor, wie sie die Babys mit ihrem Spielzeugbesen zusammenkehrte.

»Wann kann ich ein Baby haben, Daddy?«

»Wenn du verheiratet bist«, sagte ihr Vater. »Wenn du jemanden liebst.«

»Ich will nur zwei. Zwei kleine Schwestern.«

Als es Zeit für das Mittagessen war, gingen sie in die Stadt. Harvey kletterte in ihren Kinderwagen. Sie wusste, wie sie hineinkam, ohne dass der Wagen umkippte. Ihre Puppe Duncan wartete auf sie. Er war noch ein Baby, und sie musste sich um ihn kümmern.

Auf langen Autofahrten spuckte er manchmal Puppenpizza.

Das Rattern von Kinderwagenrädern auf dem Gehweg. Wintersalz, das noch nicht weggespült war. Stadtgewimmel. Autoschlangen vor roten Ampeln. Leute in den Autos, die zu ihnen herübersahen. Harvey langte mit der Hand unter den Sitz und betastete die Beule ihres Pos. Er fühlte sich an wie ein großer Bauch. Ein großer Bauch mit jemandem darin.

Sie schob Duncan unter ihre Bluse. »Guck mal«, sagte sie. »Ich bin verheiratet, und das ist mein erstes Baby.«

Harveys Mutter lachte, doch dann überkam sie ein Gefühl von Leere und Angst. Ihr Mann legte den Arm um sie.

»Alles, was wir fühlen, ist das, was sie uns vorhergesagt haben«, sagte er zu ihr.

Das Restaurant in der Stadt war berühmt für seine lebensgroße Eselsstatue. Jeder, der hineinging, musste sie berühren, sogar Duncan mit seiner Plastikpuppenhand. Das brachte Glück.

Harvey beobachtete das Gesicht ihrer Mutter, als ihre orangefarbene Limonade in Glasflaschen kam. Sie konnte noch nicht lesen, wusste aber, was Schrift war. Harvey durfte Limonade trinken, wenn sie brav gewesen war – also still – und zu Ostern, nach der Fastenzeit, während deren sie keine Süßigkeiten gegessen hatte.

Harvey legte Duncan ihrer Mutter auf den Schoß. Es war ein Opfer, ihn herzugeben, aber ein Anfall von Großmütigkeit gab ihr ein sicheres Gefühl. Ihre Mutter trank die orangefarbene Flüssigkeit, hielt die Flasche schräg, die Blasen zischten, als wären sie wütend, und ließen ihre Lippen glänzen. Harvey wollte auch Lippenstift tragen, aber das durfte sie nicht. Sie wollte ihn mit ihrer Zunge berühren, aber das war eindeutig verboten. Er schimmerte wie ein blanker roter Apfel. Armes Schneewittchen, dachte Harvey. Sie musste tausend Jahre schlafen, und das bloß wegen einem Apfel. Bei McDonald's malte sie sich die Lippen manchmal mit einem Stück Pommes an, das sie in Ketchup stippte, aber dann musste sie würgen.

Harveys Mutter tätschelte Duncans Kopf, dann umschloss sie die Hand ihrer Tochter mit ihrer eigenen, als wäre sie ein Geheimnis, das verborgen bleiben musste. Zwei Kellner mit bunten Hüten kamen zu ihrem Tisch und zerdrückten Avocados in einer steinernen Schale. Sie sahen ihnen dabei zu. Die Kellner bekamen etwas davon auf die Hände.

»Sieht aus wie grünes Aa«, sagte Harvey.

Harveys Vater besaß ein Juweliergeschäft im Einkaufszentrum. Er verließ das Haus frühmorgens in einem grauen Anzug. Aftershave gab ihm ein Gefühl von Wichtigkeit.

Manchmal brachte er abends eine Tüte mit Essen von McDonald's oder Burger King mit (andere Restaurants taten kein Spielzeug in die Tüte). Während der Feiertage war im Geschäft ihres Vaters immer viel zu tun. Eine von Harveys frühesten Erinnerungen war das Bild, wie eine Frau eine goldene Halskette anprobierte. Es war kurz vor Weihnachten, das Geschäft war geschmückt. Harvey und ihre Mutter warteten darauf, dass er Feierabend machte, doch dann kamen ein Mann und eine Frau händchenhaltend herein.

Die goldene Kette wurde der Frau auf einem roten Kissen gereicht, so wie Harvey es in der Kirche gesehen hatte. Ihre Mutter sagte, die Leute kauften zu Weihnachten gerne goldene Kreuze, weil Jesus am Kreuz gestorben war. Harvey hatte einmal ein Bild vom sterbenden Jesus gesehen. Er hatte den Kopf hängen lassen, als wäre er traurig. Und da waren Dornen gewesen. Leute in Bademänteln und Sandalen hatten danebengestanden und zugesehen. Harvey wusste, dass es böse Leute waren, die anderen wehtaten. Sie hatte solche Leute im Fernsehen gesehen. Sie hatten Pistolen und fuhren auf Motorrädern und lauerten einem nachts oder in der Stadt auf.

Die Frau sah erst die Kette auf dem Kissen an und dann ihren Mann.

»Wo ist Jesus geboren?«, fragte Harvey ihre Mutter.

»Das solltest du doch wissen.«

»Ich hab's vergessen.«

»In einem Stall«, sagte ihre Mutter. »Mit lauter Tieren drum herum und Geschenken von den drei Weisen aus dem Morgenland.«

Harvey wünschte, sie wäre auch an Weihnachten in einem Stall geboren. Der Weihnachtsmann hätte ihr Weiser aus dem Morgenland sein können. Er hätte die Tiere mit seinem Zauberstaub fliegen lassen können. Und Jesus auch, wenn er Lust dazu gehabt hätte.

Harveys Vater sah zu, wie der Mann der Frau die Kette umlegte. Als die Frau seine Hände spürte, schloss sie die Augen und strich mit den Fingern über das Kreuz.

Harvey fragte sich, wie etwas, das Jesus so wehgetan hatte, Menschen glücklich machen konnte. Manchmal verlor sie den Überblick über all die Dinge, die keinen Sinn ergaben.

Als Harvey ein wenig älter war, wurde die Einkaufspassage größer, und es eröffneten dort noch mehr Juweliergeschäfte. Harveys Vater versuchte, den Umsatz mit Coupons im Penny Saver, mit Radiowerbung und einem Mann, der als Freiheitsstatue verkleidet vor der Einkaufspassage Werbung machte, anzukurbeln. Der Mann sollte tanzen und die Neugier der Leute wecken, aber immer wenn Harvey und ihr Vater draußen vorbeifuhren, saß er auf der Bordsteinkante.

Als Harvey vier Jahre alt war, musste ihre Mutter anfangen zu arbeiten. Harvey kam in den Kindergarten und weinte ganz schrecklich, wenn ihre Mutter sie abends abholte.

»Bei uns weint sie nicht so«, sagten die Kindergärtnerinnen.

Harveys Mutter schaute betrübt. »Hast du deine Mommy denn nicht lieb?«

Doch das war es nicht. Harvey konnte tagsüber nicht weinen, weil die Leute dort sie nicht mochten und sie Angst vor ihnen hatte.

Ihr Vater sagte, das Essen dort sei mist.

Zu Hause kochte Harveys Mutter Nudelsauce aus Dosentomaten, Knoblauch und Zwiebeln. Sie sagte, der Zucker darin sei das Geheimnis. Sie machte auch selbst Kartoffelpüree. Harvey schüttete die Sahne in den Topf und sah zu, wie alles mit dem Mixer verquirlt wurde. Im Fernsehen sah sie eine Werbung mit einem Mädchen, das genau dasselbe tat. Jahre später fragte Harvey sich, ob sie sich nur an die Werbung erinnerte, denn das ganze Leben setzt sich aus Erinnerungen zusammen, bei denen nichts sicher ist, nicht einmal das Gefühl.

Ende Januar bildeten sich Eiszapfen vor Harveys Fenster und tropften in eine flache Pfütze. Im Winter wuchs nichts unter den harten Blättern, die sich in die Beete krallten.

Harvey erinnert sich, wie sie ihre Handschuhe ausgezogen hat, um die gefrorene Erde zu fühlen. Da waren ihre Hände noch klein und knubbelig. Die Gartenwerkzeuge, die draußen geblieben waren, farblos vom Winter; die kalten Griffe der Schubkarre, in der sie barfuß gehockt hatte, als es heiß war und die Luft nach grünem Gras roch.

Manchmal half sie ihrer Mutter, Blumenzwiebeln zu setzen. Augen, die sich einmal im Jahr in der Erde öffneten. Sie hatte dabei einen dicken Strickpullover an, der ihr bis ans Kinn reichte. Ihre Mutter drückte auf ihre Hände, drückte sie in die Erde und lachte. »Komm, wir pflanzen einen Harveybaum!«

Manchmal lugten Würmer aus dem Gras, Schnüre aus Fleisch, die weder Mund noch Augen hatten und trotzdem lebten und sich durch Licht und Dunkelheit wanden, ohne das eine vom anderen unterscheiden zu können. Wenn ein Wurm in der Mitte zerhackt wurde, sagte ihre Mutter, musste er sich eine neue Hälfte wachsen lassen, um weiterleben zu können.

Irgendwo ist ein Fotoalbum von Harvey, als sie fünf oder sechs war. Auf einem Bild steht sie mit einem Rucksack in der Einfahrt, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Auf einem anderen posiert sie in einem roten Pullover und einem grauen Wollrock vor der Haustür. Man hatte ihr gesagt, sie solle lächeln, denn auf Fotos ist es wichtig, dass man so aussieht, wie man sich fühlen soll.

Am Abend vor Harveys erstem Schultag schnitt ihre Mutter ihr in der Küche die Haare. Erst machte sie sie unter dem Wasserhahn nass, dann breitete sie ihr ein Handtuch um die Schultern.

II

Zu einem Weihnachtsfest schenkte Harveys Vater ihrer Mutter eine Halskette mit Diamanten. Harvey bekam Barbies Traumhaus.

Irgendwann um diese Zeit herum baute sie im Garten einen Schneemann. Ihre Großeltern waren aus Florida zu Besuch gekommen und sagten, die Kälte fehle ihnen gar nicht. Es war das letzte Mal, dass Harvey sie lebend sah. Sie hatten alle dicke Mäntel an und tranken heiße Schokolade aus Weihnachtsbechern. Harvey konnte ihren Becher mit den Handschuhen nicht richtig halten, und er fiel in den Schnee. Harvey lachte, denn was konnte der Schnee schon anrichten? Doch dann sah sie, dass der Becher einen Sprung hatte. Im ersten Moment war ihre Mutter ärgerlich, und Harvey fürchtete, sie hätte das Weihnachtsfest ruiniert.

Als sie aufhörte zu weinen, befestigte ihr Vater Lichterketten an der Hauswand. Harvey betrachtete sie und stellte sich vor, wie der Weihnachtsmann versuchte, mit seinem Schlitten zu landen.

Sie hatten den Weihnachtsbaum bei Home Depot gekauft und auf dem Autodach festgebunden. Er war so groß, dass er beinahe nicht durch die Haustür gepasst hätte. Harvey fand das lustig und wollte ein Bild davon malen.

Ein paar Tage bevor ihre Großeltern kamen, wurde das Haus geschmückt. Als sie den Weihnachtsschmuck auspackten, entdeckte Harvey ganz unten in einem der Kartons ein Fotoalbum. Sie nahm es mit beiden Händen heraus und schlug es auf. Einige der Fotos waren vergilbt, und es war schwer, irgendjemanden zu erkennen. Manche Seiten klebten so fest zusammen, dass man sie nicht öffnen konnte. Als ihr Vater das Album auf dem Schoß seiner Tochter erblickte, rief er seiner Frau zu: »Komm mal her und guck dir an, was Harvey gefunden hat!«

Harvey sagte, das Gesicht ihres Vaters sähe noch genauso aus wie damals in der dritten Klasse. Seine Frau betrachtete das Foto. »Stimmt.« Sie lachte. »Ganz genauso.«

Harveys Mutter sagte, sie hätte diese Aufnahmen noch nie gesehen. Harveys Vater erinnerte sich an den Namen der Straße, in der er aufgewachsen war – Sycamore Avenue –, an das Auto, das sie gehabt hatten – einen Buick Regal –, und an den Namen des Hundes, den sie auf dem Queens Boulevard gefunden hatten: Birdie.

»Es war ein junger Labrador«, sagte ihr Vater. »Er kam einfach auf uns zugelaufen und fing an, meinem Bruder die Hand zu lecken.«

»Du hast einen Bruder?«, sagte Harvey.

Ihre Mutter streckte die Hand aus und klappte das Album zu. Ihre Unterlippe zitterte. Dann stand sie abrupt auf und blickte sich um. »Kommt, lasst uns das Haus schmücken!«

Harvey sah ihren Vater an. »Wie heißt er? Wie heißt dein Bruder?«

»Jason.«

»Nein, Steve!«, sagte ihre Mutter barsch. Dann verschwand sie ins Schlafzimmer. Der Knall der Tür ließ Harvey zusammenzucken.

Harveys Vater saß nur da und betastete einen Zweig des Weihnachtsbaums, als wäre er das Wertvollste überhaupt.

Später, als Harveys Vater irgendetwas auf dem Dach machte, fragte Harvey ihre Mutter, ob Jason Weihnachten allein sein würde. Harveys Mutter trocknete sich die Hände mit einem Papiertuch ab und ging in die Hocke, damit sie einander ansehen konnten. »Jason gehört nicht mehr zu unserer Familie«, sagte sie leise.

Harvey sah das Papiertuch in den Händen ihrer Mutter an. Es war weich geworden, und sie wollte es anfassen.

»Er ist kein netter Mann«, sagte ihre Mutter. »Sehr zornig.«

Harvey fragte, ob er einem Kind wehtun würde.

»Ich weiß es nicht«, sagte ihre Mutter. »Ich hoffe nicht. Aber ich schätze, er könnte alles Mögliche tun.«

Harvey sagte, das könne sie sich nicht vorstellen.

»Manche Leute kommen einfach böse auf die Welt«, erklärte ihre Mutter.

»Was hat er denn Böses getan?«

»Nun, er hätte beinahe jemanden getötet. Zum Glück kam die Polizei dazwischen.«

Harvey stellte sich den Schneemann Frosty aus dem Weihnachtsfilm vor, der vom Thermometer getötet wurde, weil es rot wurde und dafür sorgte, dass überall Blumen sprossen. Nicht einmal sein bester Freund hatte Frosty vor dem Schmelzen retten können.

»Er wäre immer noch im Gefängnis, wenn die Polizei nicht rechtzeitig gekommen wäre.«

Ein Vogel lenkte Harveys Blick zum Fenster. Im winterkahlen Garten leuchtete ein rosafarbenes Ei, das von Ostern übrig geblieben war.

»Kann ich mit Fingerfarben malen?«, fragte Harvey.

Ihre Mutter machte irgendetwas im Waschbecken. »Die Familie deines Vaters war nicht sehr glücklich«, sagte sie und wrang einen Lappen aus. »Es ist ein Wunder, dass dein Dad so gut geraten ist.«

Harvey hoffte, dass ihre Mutter nicht noch mehr sagen würde, und fragte, ob sie rausgehen dürfe.

»Es ist zu kalt«, sagte ihre Mutter.

»Kann ich dann mit Fingerfarben malen?«

»Ich versuche, dir etwas Ernstes zu erzählen, also hör mal einen Moment auf, an Fingerfarben zu denken, ja?«

Harvey verzog das Gesicht, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

»Wir können froh sein, dass Daddy nicht wie sein älterer Bruder oder sein Vater ist.«

Harvey zuckte mit den Achseln. »Okay.«

»Eines Nachts hat Steves Vater versucht, das Haus anzuzünden – kaum zu glauben, oder? Und das, während seine Frau und seine Söhne schliefen.«

Harvey spürte das Züngeln der Flammen.

»Das kann der Alkohol mit einem Menschen machen, Harvey.«

»Wenn unser Haus brennen würde, würden dann auch meine Puppen verbrennen?«

Ihre Mutter hielt in der Bewegung inne.

»Würden meine Puppen dann in die Nachrichten kommen, Mommy?«, fragte Harvey und versuchte, sich dem Gefühl hinzugeben, dass Duncan für immer verloren war.

»Also wirklich, Harvey. Ich versuche, ehrlich zu dir zu sein. Du willst doch, dass ich ehrlich zu dir bin, oder?«

Harvey nickte.

»Das hier ist ein ernstes Thema«, sagte sie. »Unser Haus brennt nicht, und auch sonst keins. Aber dein Vater und sein Bruder hatten eine schwere Zeit, als sie Kinder waren. Sie haben sogar ein paar Monate in Pflegefamilien verbracht.«

»Was sind Pflegefamilien?«

»So was Ähnliches wie ein Waisenhaus, Harvey.«

»Und was ist das?«

»Erinnerst du dich an Annie? Den Film, den du zusammen mit Grandma und Grandpa gesehen hast, als sie das letzte Mal hier zu Besuch waren?«

»Der war langweilig.«

»Nein, war er nicht«, widersprach ihre Mutter. »Du fandest ihn toll. Es ist ein Film für Kinder.«

Als es dunkel wurde, hängten sie die restlichen Kugeln auf und sahen sich Weihnachtssendungen an. Harveys Mutter machte einen Schmorbraten zum Abendessen, und ihr Vater fuhr zum Dairy Barn, um Apple Cider dazu zu holen.

Als Harvey im Bett lag, drangen Stimmen in ihr Zimmer.

Sie setzte sich auf und sah zu ihren Puppen, die in einer Reihe auf der Kommode saßen. Die Puppen lauschten auch, dachte Harvey, aufmerksam und reglos.

»Es ist unser Haus, Steve!«, schrie ihre Mutter. »Es ist unser Haus, und deine Tochter wohnt hier! Deine Tochter!«

»Schieb Harvey nicht vor.«

»Das ist doch wohl nicht dein verdammter Ernst!«

Etwas fiel herunter und rollte über den Boden.

»Er ist ein verurteilter Verbrecher!«, schrie ihre Mutter. »Wer weiß, was er anstellen würde, um zu kriegen, was er will?«

Da wurde auch ihr Vater laut. »Hör auf mit deinen Vorurteilen! Jason gehört zu unserer Familie, ob es dir passt oder nicht.«

Jetzt weinte ihre Mutter. Sie tat Harvey leid.

»Haben wir nicht genug für ihn getan?«, sagte sie.

»Er ist immer noch mein Bruder. Er ist immer noch ein Mensch.«

»Bitte lass ihn nicht in unser Leben, ich flehe dich an. Stell dir doch nur mal vor, was passieren könnte.«

Harvey zog an der Kordel ihres rosafarbenen Drachen und lauschte dem Lied, das aus seinem Bauch drang.

Eine Woche später waren Harvey und ihr Vater bei Chuck E.Cheese und schossen mit Plastikgewehren auf Enten. Als ein Zeichentrickhund auf dem Bildschirm erschien, um ihnen die Trefferquoten zu zeigen, fragte Harvey, was aus dem Hund geworden war, den er und sein Bruder gefunden hatten.

»Wir hatten ihn nur ein paar Wochen«, sagte er. »Dann lief er weg, und wir sahen ihn nie wieder.«

Auf der Heimfahrt im Auto fragte Harvey, ob sein Bruder auf Long Island lebte und ob er als Kind böse gewesen war. Ihr Vater schaltete das Radio ein, aber Harvey ließ nicht locker. »Warum erzählst du mir nichts von Jason?«

Ihr Vater sah sie im Rückspiegel an. »Ich hab dich lieb«, sagte er. »Weißt du das? Spürst du das?«

Sie hielten bei einem Einkaufszentrum an, suchten sich eine Pizzeria und setzten sich mit ihren Getränken an einen Tisch, während sie auf die Pizza warteten.

»Ich kriege einen Riesenärger mit deiner Mutter, falls sie rausbekommt, dass wir auch nur an ihn denken.«

»Ich will's aber wissen«, sagte Harvey. »Ist er dein kleiner oder dein großer Bruder?«

»Er ist mein großer Bruder.«

»Stimmt es, dass er fast jemanden getötet hat?«

»Wer hat dir das erzählt?«

»Mom.«

»Hat sie dir auch erzählt, dass er behindert ist?«

»Was ist das?«

»Er hat ein falsches Bein, aber er denkt, ich weiß das nicht, weil wir schon so lange nicht mehr miteinander geredet haben.«

»Wie lange?«

»Fast zehn Jahre.«

»Mom hat nur gesagt, dass er sich immer geprügelt hat.«

»Es stimmt, dass er öfters in Streitereien geraten ist, aber die Opfer waren keine Unschuldslämmer.«

Harvey verstand ihn nicht.

»Ich meine damit, Harv, dass er sich nie mit netten Leuten angelegt hat oder mit solchen, die sich nicht wehren konnten.«

»So wie Kinder?«

III

Als es Jason endlich gelang, den anderen Mann zu überwältigen, ragten Glasscherben aus seiner Motorradjacke. Bei jedem Schlag spritzte Blut aus der Nase des Mannes, und es war, als würde er auf einen Beutel rohes Fleisch eindreschen. Dann flog die Tür auf, und Polizisten kamen hereingestürmt. Die Leute schrien, der Mann sei tot.

Die Polizisten schlugen mit ihren Gummiknüppeln auf ihn ein. Sie verpassten ihm Handschellen, aber weil er keine Ruhe gab, schleiften sie ihn hinaus auf den Parkplatz. Leute, die gerade mit ihren verpackten Essensresten aus dem Einkaufszentrum kamen, eilten zu ihren Autos. Jason lag bäuchlings im Regen, und seine Zunge betastete dumpf die Stelle, wo ein Zahn herausgebrochen war. Sein eines Auge war zugeschwollen, aber der Alkohol betäubte alle Gefühle außer dem Zorn.

Dann kamen die Rettungssanitäter und hoben den anderen Mann hastig auf eine Trage. Sein Gesicht war eine blutige Maske. Sein Hemd war aufgerissen, und er hatte seine Schuhe verloren.

Der Barkeeper versuchte der Polizei zu erzählen, wie es angefangen hatte, aber der Beamte, der seine Aussage aufnahm, fragte immer wieder, ob Waffen gebraucht worden seien. Der Barkeeper sagte, beide Männer seien betrunken gewesen und hätten zerbrochene Flaschen gehabt. Andere Polizisten gingen umher und taten Sachen in Plastiktüten. Der Barkeeper versuchte immer wieder zu erklären, dass es nicht allein Jasons Schuld gewesen war.

Als die Sanitäter den anderen Mann in den Rettungswagen schoben, war er ins Koma gefallen.

Die übrigen Gäste in der Bar waren wieder nüchtern geworden und machten ihre Aussagen. Die Polizisten nickten und schrieben alles auf.

Als ein zweiter Rettungswagen eintraf, baten die Sanitäter die Polizisten, dem Verdächtigen die Handschellen abzunehmen. Jason erinnert sich an das Gefühl, hochgehoben zu werden, und an das freundliche Gesicht und die ebensolche Stimme einer Frau, ungefähr in seinem Alter, die im Rettungswagen seine Hand hielt und sagte, sie heiße Julie.

Als die Polizei fort und die Straße wieder ruhig war, schob der Barkeeper den Riegel vor und schaltete die Neonflaschen aus, die im Schaufenster blinkten.

Dann rief er seine Freundin an. Sie zog sich etwas über und fuhr hin. Sie war fassungslos, als sie das Chaos sah. »Großer Gott, Sam, das ist ja furchtbar«, sagte sie.

Der Barkeeper verteilte Sägespäne auf dem Boden, dann fegte er und packte die zerbrochenen Stühle in einen Müllsack. Seine Freundin saß auf einem Barhocker und sah zu, wie er einen Eimer mit heißem Wasser und Desinfektionsmittel füllte.

»Ich werde als Zeuge aussagen müssen«, sagte er.

»Du solltest dir eine Waffe unter den Tresen legen.«

Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Eher würde ich den Laden verkaufen.«

Als er die Kasse abschloss, bemerkte er Jasons schwarzes Motorrad auf dem Parkplatz. Ein Custombike, richtig teuer. Er fluchte laut, dann suchte er nach etwas, womit er die Tür aufhalten konnte. Doch wie sich herausstellte, war das Motorrad schwer und ließ sich nicht bewegen, weil das Vorderradschloss eingerastet war. Letzten Endes musste der Barkeeper die Sackkarre nehmen, die er im Keller hatte, um Möbel hin und her zu räumen.

Weder Jasons Mutter noch sein Bruder oder irgendjemand von seinen Freunden hatte genug Geld, um seine Kaution zu bezahlen, nicht einmal nach dem schnellen Verkauf seines Motorrads.

Jasons Anwalt trug vor, dass die tödliche Krebserkrankung des alkoholabhängigen Vaters seines Mandanten einige Jahre zuvor ganz sicher eine Rolle bei den unkontrollierten Gefühlsausbrüchen eines ansonsten vielversprechenden jungen Mannes gespielt habe.

Der Prozess fand wenige Tage vor Jasons neunzehntem Geburtstag statt. Der Anwalt besorgte Jason ein Hemd mit einem hohen Kragen, um die Tätowierung an seinem Hals zu verbergen. Sein Urteil wurde gemildert durch die Tatsache, dass der andere Mann nicht gestorben war und bereits mehrere Vorstrafen hatte, unter anderem eine wegen schwerer Körperverletzung mit Waffeneinsatz in Queens County und eine wegen schwerer Körperverletzung eines Polizisten im Staat New Jersey.

Der Richter rechnete Jason die Zeit an, die er in Erwartung des Prozesses bereits abgesessen hatte, und verhängte eine mildere Strafe, als die Anklage beantragt hatte, zum einen, weil der Beschuldigte noch so jung war, und zum anderen, weil der Barkeeper seine Stammgäste dazu überredet hatte, Briefe an den Bezirksstaatsanwalt zu schreiben, in denen sie Jason positiv schilderten.

Harveys Vater war sechzehn, als sein älterer Bruder ins Gefängnis kam.

Er besuchte ihn einmal zusammen mit ihrer Mutter, eine Woche nach dem Urteil. Er war nicht darauf vorbereitet, wie abgemagert und ramponiert sein Bruder aussah.

»Oh Gott, Jason«, sagte ihre Mutter. »Was hast du bloß gemacht?«

In der Nacht träumte Steve, er müsste sterben, und wollte Jason noch einmal im Gefängnis besuchen.

Doch ein paar Tage später bekam er einen Brief:

Streich mich von der Liste. Keine Besuche, keine Anrufe, keine Briefe, keine Karten, keine Gebete, kein gar nichts. Ich hab's versaut. Übernimm zu Hause meinen Part und leb, so gut du kannst.

Tu all das, was ich nicht mehr kann.

Dein Bruder.

Steve schrieb mehrmals zurück, doch er bekam keine Antwort.

Während Jason im Gefängnis saß, nahm ihre Mutter sich das Leben. Sie hatte es im Lauf der Jahre schon ein paar Mal versucht, meistens mit Tabletten. Steve lebte von da an bei Mr Rosenbaum, seinem Mathematiklehrer von der Highschool. Kurz vor seinem Schulabschluss kam Jason auf Bewährung raus, aber niemand konnte ihn finden.

Der Tag der Schulabschlussfeier war sonnig und warm für einen Frühlingstag. Auf dem Fußballfeld waren Stühle aufgestellt worden, damit alle Eltern und Großeltern und sonstigen Gäste einen Platz bekamen. Am Abend davor hatten sich die Absolventen im Pancake House beim Sunken Meadow Parkway getroffen. Die Schule war vorbei, und nun begann ihr richtiges Leben.

Als Steves Name über den Lautsprecher aufgerufen wurde, trat er auf das Podium, und der Direktor schüttelte ihm die Hand.

Mr und Mrs Rosenbaum standen auf und klatschten. Auch ein paar von den anderen Lehrern standen auf. Als er vom Podium hinuntertrat, musterte Steve noch einmal die Menge, doch es waren alles Fremde, Leute, die er nicht kannte, an einem Nachmittag allgemeiner Freude.

Harvey fragte ihren Vater, ob er sich auch an glückliche Zeiten erinnerte, als sie Kinder gewesen waren. Er erzählte ihr, wie sie im Sommer drei Stunden mit dem Bus nach Jones Beach gefahren waren, um zu baden, und wie sie sich nachts zu einem Imbiss geschlichen hatten, der rund um die Uhr geöffnet war – und wie Jason, als sie an einem Wintertag durch den Schneematsch am Kissena Boulevard zur Schule gestapft waren, mit ihm in die Toilette der Tankstelle gegangen war, seine Socken unter den Händetrockner gehalten und Papiertücher in seine durchweichten Schuhe gestopft hatte.

Und dann war da natürlich der Hund, den sie gefunden hatten.

»Birdie«, sagte Harvey.

Das einzige Mal, dass er seinen Bruder hatte weinen sehen, erinnerte sich Harveys Vater, war an dem Tag, als der Hund verschwunden war.

Harveys Vater hatte seit ungefähr zehn Jahren nichts mehr von Jason gehört, aber fünf Jahre zuvor hatte er in einem Gerichtsprotokoll seine Adresse gesehen und ihn aus einer Laune heraus beim Diner of the Month Club angemeldet.

Als er zuletzt nachgesehen hatte, waren fast alle Gutscheine dieses Jahres in diversen Restaurants in Long Island eingelöst worden.

IV

Ein paar Tage bevor Harveys Vater in Paris ankam, schickte sie ihm eine Mail, um ihn daran zu erinnern, dass er vier Stunden vor Abflug am Flughafen sein sollte, falls er anstehen musste. Außerdem wies sie ihn darauf hin, dass er besser keine Flüssigkeiten ins Handgepäck tun sollte, weil ihn das bei der Sicherheitskontrolle aufhalten würde.

Sophie hatte Harvey zwei Tage freigegeben und ihr gesagt, am dritten Tag solle sie nur für eine Stunde ins Büro kommen, um sich die Probedrucke anzusehen, ihr ihren Vater vorzustellen und ihm die Projekte zu zeigen, an denen sie arbeitete.

In der Metro auf dem Weg nach Hause sah Harvey eine Frau, die Stücke von dem Brot in ihrer Einkaufstüte abriss. Die Frau stieg an derselben Haltestelle aus wie sie, ging aber in die entgegengesetzte Richtung davon.

Harvey schaute kurz bei Murats Lebensmittelgeschäft hinein, um zu fragen, ob ihr Wohnungsschlüssel fertig war. Murats Laden war die ganze Nacht geöffnet und lag nur ein paar Schritte von ihrer Wohnung in der Rue Caulaincourt entfernt. An warmen Nachmittagen kamen ältere Männer und Frauen dorthin, um ein wenig zu plaudern. Nachts war es hell im Laden, und überall stand Obst und Gemüse in Pappkartons. Murat verkaufte alles, von Kuchen bis zu Putzmitteln, und auf dem Tresen standen Behälter mit Süßigkeiten, Aufziehspielzeug und kleinen Taschenlampen. Die Preise waren auf Sternen vermerkt, die Murat aus orangefarbenem Papier ausgeschnitten hatte.

Der Concierge von Harveys Mietshaus, Monsieur Fabrice, hatte sie beim Einzug ermahnt, nur ja den Schlüssel ihrer Wohnungstür nicht zu verlieren, da das Schloss uralt sei und kein Schmied in Paris einen neuen anfertigen könne. Doch es war Harvey wichtig, dass ihr Vater einen eigenen Schlüssel hatte, wenn er sie besuchen kam, deshalb hatte sie Murat um Rat gefragt.

»Der muss von Hand nachgemacht werden«, hatte er nach eingehender Musterung gesagt. »Aber ich weiß jemanden, der so was kann.«

Er sagte Harvey, sie solle ihm den Schlüssel an einem Morgen geben, und er würde versuchen, den neuen fertig zu haben, wenn sie abends von der Arbeit kam.

Wie versprochen hatte Murat Original und Kopie da, als Harvey im Laden eintraf. »Er sieht anders aus«, sagte er, als sie die beiden hochnahm. »Aber wichtig ist nur der Teil, der ins Schloss kommt, der Rest ist Dekoration. Typisch französisch, nicht?«

Harvey gab Murat das Geld für den Schlüssel und kaufte noch Gnocchi, Basilikum, Olivenöl, eine Kuchenmischung, Kekse und drei Flaschen alkoholfreies Bier. Erst eine Woche zuvor hatte sie mehr oder weniger dasselbe gekauft. Ihre Küchenschränke waren gut gefüllt, und der Kühlschrank duftete nach Orangen und Käse.

Harvey erzählte Murat, dass ihr Vater in ein paar Tagen kommen würde, deshalb bräuchte sie Vorräte. Die Wohnung sei sauberer als je zuvor, sagte sie, und Murat erwiderte, nun verstehe er auch, weshalb sie Old-Spice-Duschgel gekauft habe. Dann hielt er eine Flasche von ihrem alkoholfreien Bier hoch.

V

Da Harvey kein Französisch konnte, als sie zwei Jahre zuvor in Paris angekommen war, hatte ihre Firma Sprachunterricht bezahlt. Ihr Lehrer hieß Leon. Er kam aus Südamerika und unterrichtete Französisch, Spanisch und Italienisch in seiner Wohnung in der Nähe der Place de la République, wo er mit seiner sechsjährigen Tochter Isobel lebte.

Isobels Mutter lebte in Chartres, und Leon brachte seine Tochter jedes Wochenende mit dem Zug vom Gare du Nord dorthin.

Manchmal saß Isobel während des Unterrichts mit ihrem Vater und Harvey am Tisch und malte eifrig mit dem Buntstift. Manchmal faltete sie Papier und schnitt Stücke heraus, so dass ein Akkordeon gesichtsloser Körper entstand.

In den letzten zehn Minuten jeder Unterrichtseinheit gab Leon Harvey eine kleine Textpassage zu übersetzen, damit er das Bad für seine Tochter vorbereiten konnte. Einmal fragte Harvey, ob sie in Frankreich auch Schaumbäder hätten, und Leon erwiderte, Shampoo sei genauso gut.

»Aber ich will ein Bad mit Schaum!«, sagte Isobel.

Den Tag bevor ihr Vater kam, verbrachte Harvey auf dem Sofa und las in einem französischen Taschenbuch mit dem Titel Outre-Atlantique. Die Geschichte handelte von einem alten Mann, der nicht wusste, wo und wann er geboren war. Harvey lag lang ausgestreckt da, mit einer Decke. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Der Text war sehr dicht, und der Rhythmus der Worte zog sie wie eine Strömung in den Schlaf.

Alles war bereit für seinen Besuch, einschließlich des Geschenks, das sie ihm zum Vatertag geben wollte. Es war ein Karton mit Dingen aus ihrer Kindheit, und jedes einzelne stand für einen wichtigen Moment in ihrem Leben.

Das Wichtigste davon war ein Umschlag mit Dokumenten. Die würde sie ihrem Vater am letzten Tag zeigen und ihn damit von dem Geheimnis erlösen, das er fast zwanzig Jahre lang bewahrt hatte.

Harvey hatte das Geheimnis durch Zufall entdeckt. Wegen irgendeiner Formalität im Zusammenhang mit ihrem französischen Arbeitsvisum hatte sie das Standesamt zu Hause auf Long Island kontaktieren müssen. Wenn der zuständige Sachbearbeiter die Unterlagen direkt an ihren französischen Anwalt geschickt hätte, wie angegeben, wüsste Harvey noch immer nicht Bescheid.

Sie nahm an, dass ihr Vater die Wahrheit für sich behalten hatte, um sie zu schützen. Eine andere Erklärung gab es nicht.

Am Nachmittag sah Harvey sich einen Schwarz-Weiß-Film an, der knisterte und die Wände flackern ließ. Die Frauen in dem Film gingen geschminkt ins Bett. Die Männer trugen Morgenmäntel mit ihren Initialen auf der Brusttasche und rauchten beim Frühstück.

Draußen war es grau, und das Licht in ihrer Wohnung gab Harvey ein Gefühl von Geborgenheit. Gegen sechs ließ sie sich ein Bad ein, dann zog sie ihren Schlafanzug an und schob ein Stück Lachs in der Pfanne umher.

Als sie vor dem Schlafengehen die Vorhänge zuzog, verriet ihr das Geräusch des Verkehrs fünf Stockwerke unter ihrem Balkon, dass es regnete. Es war eine viel befahrene Straße; sie führte steil hinauf zum Montmartre und war im Winter gefährlich, wenn Schnee lag und die Leute sich vor den Schaufenstern der Bäckerei drängten und auf den nächsten Bus warteten.

An manchen Wochenenden lud Harvey Freunde zu sich ein oder traf sich mit ihnen auf ein Glas Wein in einem Café. Wenn ihre Freunde sich auf den Weg machten, um kurz vor Mitternacht die letzte Metro zu erwischen, blieb Harvey gerne noch sitzen und beobachtete die Leute draußen in der Dunkelheit. Manche führten ihren Hund aus, andere gingen rasch mit Lebensmitteltüten von Murats Laden vorbei oder blätterten durch eine frühe Sonntagszeitung, wobei sie manchmal stehen blieben, um Teile auszusortieren, die sie nicht interessierten.

Harvey hatte einige gute Freunde gewonnen, seit sie in Frankreich lebte. Die meisten davon arbeiteten zusammen mit ihr in der Grafikabteilung einer Werbeagentur, die drei Etagen einer ehemaligen Schule einnahm. Zu dem Gebäude gehörte ein Innenhof aus Kopfsteinpflaster, wo die Chefs ihr Auto oder ihren Motorroller parkten und wo die Angestellten hingingen, um zu rauchen oder private Telefonate zu führen. Harvey war die einzige Amerikanerin in der Abteilung, und von Mitte Juli bis Mitte August verbrachte sie die meisten Wochenenden in den Häusern ihrer Kollegen auf dem Land und kehrte mit Honiggläsern oder Weinflaschen aus der jeweiligen Gegend oder winzigen wilden Erdbeeren zurück, die nur ein, zwei Tage hielten.

Oft ging sie am Samstagvormittag ins Büro, wenn sonst niemand da war, und bummelte dann nachmittags die Rue Saint-Honoré entlang, durch die einst die Karren gefahren waren, die die Verurteilten zur Guillotine an der Place de la Concorde gebracht hatten. Harvey stellte sich die verhärmten, schmutzigen Gesichter vor. Das Rollen des Karrens. Das Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster. Die Leute am Straßenrand, die Schreie der Gefangenen, die um Hilfe, Gnade oder Gebete flehten.

Dort war ein Café, wo man direkt am Fenster sitzen konnte, und da ging sie gerne hin. Das Café war teuer, es lag zwischen Lanvin und Hermès, aber es war eine der wenigen Essensmöglichkeiten in der Nähe ihres Büros. Manchmal sah Harvey an den Touristen, die Kuchen aus der Vitrine wählten, vorbei nach draußen und stellte sich bei jedem Bissen die trockenen Münder von Menschen vor, die schon lange aus dieser Welt verschwunden waren, deren Unschuld aber überlebt hatte. Heute erinnerte man sich an sie, dachte Harvey, nicht wegen der Dinge, die sie getan hatten, sondern wegen der Dinge, die man ihnen angetan hatte.

Sie würde ihrem Vater davon erzählen, wenn er da war. Sein Gesicht beobachten, während sie sprach.

Die Entfernung ließ Harvey deutlicher spüren, wie nah sie sich waren. Die äußerliche Trennung war für ihn schwerer, weil er wusste, dass sie nie wieder zu Hause leben würde. Aber in den zwei Jahren, seit Harvey fortgegangen war, hatte er sich nicht ein einziges Mal beklagt oder sie gebeten zurückzukommen. Anfangs hatte sie gedacht, er sei zu stolz, aber dann war ihr klargeworden, dass es nichts mit Stolz zu tun hatte.

So viel aus ihrem eigenen Leben war an jenen Abenden wiederaufgetaucht, als sie in Leons Wohnung mit ihrem Französischbuch dasaß und zusah, wie er Isobels Buntstifte mit einem Küchenmesser anspitzte oder ihre Schultasche aufräumte oder irgendein Lieblingskleidungsstück in der Spüle auswusch, damit es rechtzeitig für den nächsten Schultag wieder trocken war.

Wie ihr eigener Vater war Leon immer müde und am Rand irgendeiner Krise, die nicht vorherzusehen war, die Isobel jedoch spannend fand.

Die Toilette ist undicht. Isobel: Soll ich in meinem Zimmer ein Boot bauen? Könnte ja sein, dass alles überschwemmt wird.

Der Rauchmelder piept andauernd. Isobel: Wenn du heute Nacht im Schlaf stirbst, muss ich dann trotzdem zur Schule?

Der Aufzug hält immer wieder mal zwischen zwei Etagen. Isobel: Sollen wir Kekse und Joghurt hier reinstellen, für den Fall, dass jemand stecken bleibt?

Eines Abends schlief Leon mitten in Harveys Unterricht ein. Sie ging leise mit Isobel nach nebenan und bestellte mit ihrem Handy Pizza. Während sie warteten, half Harvey Isobel, auf ihrem iPad eine Zeichentrickkatze zu malen. Als Leon aufwachte, war er wütend auf sich, aber Harvey sagte, Isobel habe zu Abend gegessen, sei bettfertig und habe ihr französische Redewendungen beigebracht.

Später an dem Abend holte Harvey ein älteres Foto von ihrem Vater heraus. Sie berührte sein Gesicht. Sah, dass er glücklich war, obwohl er nicht lächeln mochte.

Nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte und zu Bett gegangen war, klappte sie ihren Laptop auf und tippte eine Mail an ihren Vater. Sie schrieb, sie habe noch einen Gutschein für einen Freiflug, der bald eingelöst werden musste, und schlug ihm vor, mal im Netz nach Flügen zu schauen. Vielleicht zum Vatertag in ein paar Monaten?

Er hatte ein Foto von Harvey auf seinem Nachttisch.

Sie fuhr auf ihrem Fahrrad, am Rand des Baseballfelds. Wenige Augenblicke bevor das Foto aufgenommen worden war, hatte sie es zum ersten Mal ohne Stützräder geschafft. Sie war erhitzt und außer Atem. Alles sah staubig aus. Er hatte versucht, nebenher zu laufen, und war ebenfalls außer Atem.

Das Fahrrad hing immer noch zu Hause in der Garage. Es hatte Aufkleber auf dem Sitz und eine silberne Klingel, die Harvey gern und oft benutzt hatte. Ab und zu hatte ihr Vater es auf den Kopf gestellt, damit sie Öl auf die Kette sprühen konnte. Er hatte ihr Rad immer mit einem Arm zum Auto getragen und sie damit in Staunen versetzt.

VI

In der Nacht vor der Ankunft ihres Vaters hatte Harvey einen schlimmen Traum. Alles, was in ihrem Leben Bedeutung hatte, war verschwunden.

Unter der Dusche versuchte Harvey, die Traumbilder, an die sie sich erinnern konnte, zusammenzusetzen: Sie hatte aus irgendeinem Grund verschlafen, und als sie Stunden zu spät am Flughafen Charles de Gaulle angekommen war, war keine Menschenseele dort gewesen. An den Wänden der Gepäckausgabe hingen überall Fotos von ihr als Kind mit ihrem Vater (mit Klebeband befestigt, wie über ihrem Schreibtisch im Büro). Darauf machten sie Dinge, die sie längst vergessen hatte. Aber in dem Traum geschah alles zum ersten Mal.

Dann, als sie im verlassenen Flughafen stand, erinnerte sich Harvey, dass das Flugzeug, in dem ihr Vater gesessen hatte, ins Meer gestürzt war oder nie gestartet war oder gar nicht existierte – und als sie nach draußen blickte, wurde ihr klar, dass der Flughafen schon seit Jahren geschlossen war. Die Landebahn war voller Risse und von Unkraut überwuchert. Vögel umkreisten den Kontrollturm.

Im Traum hatte sie immer dort gelebt. War nie geboren worden, wie sie auch niemals sterben würde, und die Einzelheiten ihres Lebens waren aus Leere und Einsamkeit ersonnen, der Tod ihres Vaters ebenso eine Fantasie wie sein Leben.

Dann war sie im Krankenhaus.

Ein Kind wird geboren.

Erst der Kopf. Dann eine glänzende Schulter. Ein blutiger Film auf dem ganzen Körper. Eine klare, klebrige Flüssigkeit über dem Mund, die eine Krankenschwester eilig wegwischt.

Luftholen, dann ein Schrei.

Das Baby wird gewogen. Ihre Arme und Beine zucken, weil sie noch nicht weiß, wofür sie da sind. Sie lebt, aber sie sieht nichts und wird sich an nichts erinnern. Das ist eine Welt, die wir die Welt nennen.