12,99 €
Dr. Sabine Yao und das Team der BKA-Einheit »Extremdelikte« haben es erneut mit bizarren Todesfällen zu tun. Der dritte atemberaubend spannende True-Crime-Bestseller um die Rechtsmedizinerin! Sabine Yao muss diesmal ihre rechtsmedizinische Expertise in der Sonderkommission um Profiler Milan Hasanović einbringen, die die Ermittlungen zum »Pferderipper von Lübars« übernommen hat. Die Befürchtung, dass der brutale Täter früher oder später von Tieren auf Menschen umschwenkt, ist mehr als begründet. Noch von allen unbemerkt, plant ein online-süchtiger Mann in einer schäbigen Pankower Einzimmerwohnung, seine barbarischen Fantasien erneut in die Wirklichkeit umzusetzen. Auf einer Erotik-Plattform für Männer bahnt er eine Verabredung für ein tödliches Rendezvous mit seinem nächsten Opfer an. Zeitgleich werden an verschiedenen Orten über Berlin verteilt Leichenteile gefunden. Sabine Yao muss immer tiefer in die düsteren Gefilde der menschlichen Seele hinabsteigen, um die labyrinthischen Abgründe einer kranken Psyche ergründen zu können ... Beklemmend authentisch: Wie in den Vorgängern »Mit kalter Präzision« und »Mit kaltem Kalkül« sind wir mit Michael Tsokos, dem bekanntesten Rechtsmediziner Deutschlands, mittendrin im nervenaufreibenden Alltag am Seziertisch - ebenso wie in einem komplexen Kriminalfall für das BKA!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 381
Veröffentlichungsjahr: 2025
Prof. Dr. Michael Tsokos
Ein Rechtsmedizin-Thriller
Knaur eBooks
Rechtsmedizinerin Dr. Sabine Yao und das Team der BKA-Einheit „Extremdelikte“ haben es erneut mit bizarren Todesfällen zu tun.
Sabine Yao muss diesmal ihre rechtsmedizinische Expertise in der Sonderkommission um Profiler Milan Hasanović einbringen, die die Ermittlungen zum »Pferderipper von Lübars« übernommen hat. Die Befürchtung, dass der brutale Täter früher oder später von Tieren auf Menschen umschwenkt, ist mehr als begründet.
Noch von allen unbemerkt, plant ein online-süchtiger Mann in einer schäbigen Pankower Einzimmerwohnung seine barbarischen Fantasien erneut in die Wirklichkeit umzusetzen, und bahnt auf einer Erotik-Plattform für Männer eine Verabredung für ein tödliches Rendezvous mit seinem nächsten Opfer an. Zeitgleich werden an verschiedenen Orten über Berlin verteilt Leichenteile gefunden.
Sabine Yao muss in ihrem neuesten Fall tief in die düsteren Gefilde des menschlichen Geistes hinabsteigen, um die Spur des Täters in den labyrinthischen Abgründen seiner kranken Psyche aufnehmen zu können.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Vorbemerkung
Motto
Zitat
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
Danksagung
Die Handlung in diesem Rechtsmedizin-Thriller ist eine fiktionalisierte Erzählung echter Kriminalfälle und ihrer rechtsmedizinischen Untersuchungen. Die hier erzählten Begebenheiten und Tötungsdelikte haben sich in der einen oder anderen Form so zugetragen. Trotz Anonymisierung ließen sich Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen nicht immer vermeiden.
Die Handlung dieses Buches beginnt wenige Tage nach den Ereignissen in »MIT KALTEM KALKÜL«.
»Life’s a bitch and then you die …«
(Unbekannter Verfasser)
»(…) Jesus sagte zu ihm: Weide meine Lämmer.« [Johannes 21, 15]
»(…) Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe.« [Johannes 21, 16]
Sein Brustkorb fühlte sich an, als ob ein eiserner Ring darumgelegt und erbarmungslos enger und enger gezogen wurde. Mit jedem Atemzug fiel es ihm schwerer, seine Lungen mit Luft zu füllen.
Den anderen konnte er nicht sehen, er musste immer noch irgendwo hinter ihm sein. Er versuchte, ruhig und flach zu atmen. Aber es gelang ihm nicht. Sein Brustkorb hob und senkte sich stakkatoartig wie der Kolben einer Maschine. Er konnte sich nicht entsinnen, je etwas Ähnliches erlebt, eine solche Enge in seiner Brust schon einmal verspürt zu haben. Sosehr er auch im Archiv seiner Erinnerung fahndete. Denn dann wäre ihm vielleicht irgendein Ausweg eingefallen. Statt sich dieser furchtbaren Angst hilflos zu ergeben.
Jetzt lief etwas Warmes an seinem Hals herunter. Er konnte nicht sehen, was es war, spürte aber, dass sein T-Shirt am Kragen feucht wurde. Ihm wurde übel.
Und auf einmal war er so verdammt müde. Aber es war keine Müdigkeit, wie er sie manchmal nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag verspürte, sondern eine ihm bisher unbekannte Erschöpfung, die ihn wie ein heftiger Sog mit sich zu reißen schien. Er war so kraftlos, wie er da auf dem Boden kniete. Er merkte, dass sein Oberkörper schwankte, dass er kurz davor war, das Gleichgewicht zu verlieren und zur Seite zu kippen, aber irgendetwas oder irgendwer schien ihn festzuhalten. Die Übelkeit nahm zu. Eine Übelkeit, wie er sie tatsächlich noch nie erlebt hatte.
Oh Gott, gleich werde ich ohnmächtig …
Er dachte an damals, als ihm der Anästhesist vor der Magenspiegelung irgendein milchig aussehendes Narkosemittel in den Arm gespritzt hatte und er laut bis zehn hatte zählen sollen. Wann war das gewesen? Erst vor Kurzem oder war das schon viele Jahre her? Er konnte sich partout nicht erinnern. Das Denken fiel ihm zunehmend schwerer, sein Gehirn schien nicht wie sonst zu arbeiten. Auf jeden Fall konnte er sich noch erinnern, dass damals, als der Narkosearzt ihn laut vor sich hin zählen ließ, die Zahlen schon ab der Vier oder Fünf nicht mehr über seine Lippen gekommen waren. Und dann war es dunkel geworden, bis er einige Stunden später im Aufwachraum in der Klinik wieder zu sich gekommen war. Würde es jetzt auch dunkel werden? Werde ich diesmal wieder aufwachen? Damals war ihm nicht so elend schlecht gewesen. Und er hatte sich nicht bedroht gefühlt.
Er versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. Die Übelkeit nahm weiter zu und er befürchtete, dass er sich übergeben musste. Er fühlte sich so schwach!
Wie durch einen Nebel sah er in diesem Moment eine schemenhafte Gestalt vor sich auftauchen. Er blinzelte. Es kostete ihn unglaublich viel Kraft, sich durch den Nebelschleier vor seinen Augen auf das, was vor ihm passierte, zu konzentrieren. Da war ein Gesicht, nicht weit entfernt. War das der Mann, mit dem er erst vor wenigen Stunden gechattet und mit dem er sich dann in dessen Wohnung getroffen hatte? Ich weiß es nicht … aber …ja, das könnte der Mann sein. An den Namen des Mannes konnte er sich sonderbarerweise nicht mehr erinnern, obwohl er ihn vorhin noch gewusst hatte. Wenigstens da war er sich ziemlich sicher. Aber … wie lange war das eigentlich her?
War er immer noch in der Wohnung des Mannes oder hatte er sie wieder verlassen? Er wusste es schlichtweg nicht, er konnte sich einfach nicht erinnern.
Er versuchte, die Person vor sich zu fixieren, das Bild vor seinen Augen scharf zu stellen. Es kostete ihn unendlich viel Kraft. Irgendetwas ragte aus dem schemenhaften Gesicht heraus, leuchtete in unregelmäßigen Abständen auf. Wie ein in einer fernen Galaxie flackernder Stern. Aber konnte das überhaupt sein? Oder … oder ein Glühwürmchen …
Aber ja! Jetzt war er sich sicher. Es war derselbe Mann. Er war ganz dicht vor ihm und sein Gesicht nahm langsam Konturen an. Es war das Aufleuchten einer Zigarette, die der Mann in seinem Mund hatte. Die Lippen des Mannes wurden jedes Mal zu einem schmalen Strich, wenn sie sich bei jedem neuerlichen Zug fest um die Zigarette schlossen.
An irgendetwas erinnerte ihn das gerade, er wusste aber nicht, an was. Seine Gedanken kamen so plötzlich und huschten so schnell wieder davon. Er konnte sie nicht festhalten. Er konnte sich auf nichts konzentrieren.
Dann wurde der Nebel um ihn herum dichter und dichter und die Übelkeit noch heftiger. Viel heftiger. Er musste sich übergeben.
Er wusste nicht, was ihn mehr überraschte: die Erkenntnis, dass man sich völlig geräuschlos übergeben konnte, oder die Tatsache, dass er gerade starb.
Montag, 16. Dezember, 7:30 Uhr
Berlin, Treptowers
BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum
Das ist eine Hinrichtung wie bei der SS oder Wehrmacht zu Zeiten des Nationalsozialismus! Es ist schier unglaublich, wozu Menschen fähig sind! Wenn das in irgendeinem Film so gezeigt werden würde, würden die Zuschauer denken, dass der Drehbuchautor nicht ganz richtig im Kopf ist, dass er eine völlig kranke Fantasie hat … Für mich steht dieser Fall ganz oben auf der Liste der ungewöhnlichsten Todesfälle dieses Jahres. Okay, wir hatten einige groteske Szenarien dieses Jahr und das Jahr ist noch nicht zu Ende, aber das hier ist wohl kaum zu toppen. Ich mache den Job nicht erst seit gestern, aber so etwas … nein, so etwas habe ich noch nie gesehen!« Professor Paul Herzfeld, Chef der rechtsmedizinischen Abteilung »Extremdelikte« des BKA, schien regelrecht elektrisiert zu sein, was eher selten der Fall war. Als er das Foto, das der monoton surrende Beamer auf die Leinwand hinter ihm warf, kommentierte, schien Begeisterung in jedem seiner Worte mitzuschwingen, seine Stimme klang geradezu euphorisch.
Sabine Yao kannte Professor Paul Herzfeld lange und gut genug, um zu wissen, dass so viel Emotion höchst ungewöhnlich für den Chef der »Extremdelikte« war. In seinen knapp dreißig Dienstjahren als Rechtsmediziner hatte er schon so ziemlich alles an bizarren, ungewöhnlichen, tragischen oder grausamen Todesfällen gesehen. Jeder auf seine Weise einzigartig. Aber ihr war auch bewusst, dass es nicht etwa so etwas wie morbider Voyeurismus, sondern professioneller Enthusiasmus für seinen Beruf war, der in seinen Worten mitschwang. Und da der hier gerade gezeigte Fall sich beträchtlich von dem unterschied, was Herzfeld und seine Mitarbeiter sonst jeden Tag in Ermittlungsakten zu den Tötungsdelikten, die sie untersuchten, lasen oder an Tatorten oder im Sektionssaal an Befunden sahen, war es aus professioneller Sicht nur allzu gut nachvollziehbar, dass er fasziniert war. Und ja, Yao musste Herzfeld vollumfänglich zustimmen, dass das, was auf dem Foto auf der Leinwand schräg hinter ihm zu sehen war, wohl an Wahnsinn und Absurdität kaum zu übertreffen war. Die Blicke ihrer um den Konferenztisch verteilten Kollegen, die allesamt gebannt auf das Bild starrten und ihrem Chef zuhörten, verrieten Yao, dass es nicht nur ihr so ging.
Es war einer der seltenen Tage, an dem alle Mitglieder der rechtsmedizinischen Sondereinheit »Extremdelikte« bei der täglichen Frühbesprechung in den Treptowers, einem Gebäudekomplex in Alt-Treptow, in dem die Rechtsmedizin des BKA untergebracht war, anwesend waren: Oberarzt Doktor Martin Scherz, die Assistenzärzte Doktor Alfons Murau, Doktor Wiebke Rath, Doktor Tomas Tomski, Doktor Alexandra Roth, Letztere seit zwei Monaten zurück aus dem Mutterschaftsurlaub, sowie der Chef der Abteilung, Professor Paul Herzfeld, und seine Stellvertreterin Doktor Sabine Yao. Außerdem zugegen war Kommissaranwärterin Kira Kaplan, die seit zwei Wochen das im Rahmen ihrer Ausbildung beim BKA und ihres Studiums an der Hochschule des Bundes vorgeschriebene Praktikum in der Forensik bei den BKA-Rechtsmedizinern in Berlin absolvierte.
In dieser täglich um 7:30 Uhr beginnenden Dienstbesprechung, von einigen Kollegen der Abteilung scherzhaft auch als »Morgenandacht« bezeichnet, wurden die für den jeweiligen Tag anstehenden Obduktionsfälle von Professor Herzfeld vorgestellt, wobei er jeweils den Leichenfundort anhand von Fotos und den bisherigen Stand der kriminalpolizeilichen Ermittlungen referierte und dann die Fälle an die anwesenden Obduzenten zur Vornahme von äußerer und innerer Leichenschau verteilte.
Allerdings lagen heute in dem geräumigen, mit einem großen Konferenztisch, zehn Stühlen, PC, Leinwand und Beamer funktional ausgestatteten Besprechungsraum lediglich drei Ermittlungsakten auf dem Tisch vor dem Chef der »Extremdelikte«, was einigermaßen ungewöhnlich war, da die BKA-Rechtsmediziner normalerweise mit fünf bis sechs Obduktionen am Tag im Sektionssaal alle Hände voll zu tun hatten. Und lediglich bei zwei der dünnen Pappschnellhefter vor Herzfeld auf dem Konferenztisch handelte es sich um Sektionsakten, wie Sabine Yao sofort beim Betreten des Besprechungsraumes festgestellt hatte. Der Einband des zuunterst liegenden Hefters war nicht etwa taubengrau oder hellrot, was den Akteninhalt als einen von den Rechtsmedizinern zu untersuchenden Todesfall auswies, sondern von mintgrüner Farbe. Das bedeutete, dass es sich dabei nicht um ein laufendes Todesermittlungsverfahren, sondern um Unterlagen und Aktenvermerke betreffend die rechtsmedizinische Untersuchung von polizeilich sichergestellten Asservaten oder den Antrag auf eine rechtsmedizinische Stellungnahme handelte.
Sabine Yao blickte immer noch gebannt auf das Foto, das vom Beamer übergroß an die Leinwand im Besprechungsraum geworfen wurde, als Professor Herzfeld die kleine Fernbedienung in seiner Hand betätigte.
Auch auf dem nächsten Foto waren, wie schon auf dem Bild zuvor, die Rückseiten zweier Körper zu sehen, die von der Decke eines Raumes herabhingen, nur dass der Polizeifotograf diesmal näher an die Szenerie herangetreten war oder sie herangezoomt hatte.
Da der eine der beiden Körper deutlich kleiner war als der andere, vermutete Yao, dass es sich dabei um eine Frau handeln könnte.
Der Raum, in dem die beiden von der Decke hingen, war, wie es schien, vollständig mit schwarzer Plastikfolie ausgekleidet. Aber es war nicht das ungewöhnliche Interieur des Raumes und auch nicht der Umstand, dass beide Personen mit dem Hals jeweils in der Schlinge eines dicken Seils hingen, das an der Decke um einen Dachbalken geschlungen und im Nackenbereich nach Art einer Henkersschlinge geknotet war, sondern die Tatsache, dass man nun erkennen konnte, dass die Hände der beiden Erhängten jeweils auf dem Rücken mit Handschellen fixiert worden waren. Ebenso wie die Füße der Erhängten, die in schweren Militär-Schaftstiefeln steckten. Die Hand- und Fußfesseln waren wiederum mit massiven Eisenketten miteinander verbunden, die auf Hüfthöhe einmal um den jeweiligen Körper herumliefen, wobei an dieser zirkulär um den Körper herumlaufenden schweren Eisenkette jeweils ein längliches Etikett mit einer Beschriftung, die Yao allerdings nicht entziffern konnte, angebracht war. Die Fußspitzen der schweren Schaftstiefel der beiden hingen etwa zehn bis fünfzehn Zentimeter über dem Boden. Beide waren mit bis über die Knie herunterreichenden, glänzenden Mänteln, die den Schein des Blitzlichts des Polizeifotografen reflektierten, bekleidet. Sehr wahrscheinlich Glattleder, vielleicht aber auch Latex oder ein anderes Gummimaterial, ging es Yao bei dem bizarren Anblick durch den Kopf.
Ja, Herzfeld hatte mit seiner eingangs gemachten Bemerkung recht behalten. Das hier war tatsächlich eine Szenerie, die eins zu eins an eine militärische Hinrichtung erinnerte, wie man sie von alten Schwarz-Weiß-Fotos aus der Zeit des Nationalsozialismus kannte. Nur dass die Hinrichtungsszenerie auf dem Foto hier in hochauflösender, digitaler Qualität und in Farbe vor gerade mal zwölf Stunden aufgenommen worden war, nämlich am Abend zuvor.
Herzfeld ließ das Foto kommentarlos etwa eine halbe Minute stehen, ehe er auf der Fernbedienung in seiner Hand zum nächsten Bild weiterklickte. Es handelte sich um dieselbe bizarre Szenerie wie auf dem Foto zuvor, nur diesmal hatte der Fotograf der Kriminaltechnik eine Aufnahme von der Seite gemacht. Und nun konnte man erkennen, dass es sich bei der kleineren, von der Decke herabhängenden Gestalt nicht um einen Menschen, sondern um eine Puppe handelte. Sowohl dem menschlichen Körper als auch der Puppe hing jeweils ein Schild vor der Brust, allerdings konnte Yao bei diesem Bild ebenso wenig erkennen, was darauf stand.
»Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen, Herrschaften«, begann Herzfeld. »Eines ist eine Puppe, wie Sie alle auf diesem Foto unschwer erkennen können … Nichtsdestotrotz trifft der Begriff Hinrichtung es wohl. Denn wenn Sie Ihre geschätzte Aufmerksamkeit einmal auf folgende Details richten …«, mit einem leisen Klicken in Herzfelds Hand erschien das nächste Foto auf der Leinwand, »hat sich hier jemand große Mühe bei der Umsetzung gegeben.«
Auf dem nun gezeigten Foto waren die beiden Schilder, die jeweils mit einem dünnen Band um den Hals gehängt und vor der Brust platziert waren, in Großaufnahme zu sehen, und Herzfeld ließ es sich nicht nehmen, die Aufschrift laut vorzulesen: »Hinrichtung Häftling Hx31. Zelle No. 74. Überführt zum Galgen 17:44 Uhr. Hinrichtung No. 4. Vollstreckt: 17:57 Uhr. Henkerin: Hürt.«
Der Chef der »Extremdelikte« sah kurz in die Runde seiner Mitarbeiter, dann fuhr er fort: »Die Puppe hat nur eine andere Häftlingsnummer und Zellennummer. Sie wurde laut des um ihren Hals hängenden Schildes sechzehn Minuten zuvor zum Galgen überführt und sieben Minuten vor dem Mann aufgehängt. Interessant ist, dass beide Schilder am unteren Rand den Abdruck eines Siegelstempels einer Henkerin Hürt, die auf dem Siegel als Mistress und Scharfrichterin firmiert, tragen, und das Ganze ist zudem unterschrieben, gewissermaßen eine amtlich beglaubigte Hinrichtung. Von wem auch immer …«
Herzfeld betätigte ein weiteres Mal die Fernbedienung und nun waren die Etiketten an der Körperrückseite des Toten und am Rücken der Puppe erneut zu sehen. Nur diesmal deutlich größer, sodass die Beschriftungen »Hx31 Galgen« und »Wx32 Galgen« gut lesbar waren. »Aber es wird noch verrückter. Akribie und Detailversessenheit bei dieser ganzen Inszenierung ist das eine, aber die Frage ist, ob er sich selbst gerichtet haben kann. Nun, warum sich diese Frage stellt, erörtere ich gleich … Unser Toter ist übrigens sechsundfünfzig Jahre alt geworden und war seit dem Verkauf seiner Immobilienfirma vor ein paar Jahren Privatier. Gestern am frühen Abend von seiner Frau in dem hier gezeigten, mit schwarzer Plastikfolie separierten Teil seines Wohnzimmers aufgefunden, und zwar genauso wie hier gezeigt. Die schwarze Folie musste er während ihrer Abwesenheit gespannt haben. Sie lebten dort gemeinsam, im gutbürgerlichen Charlottenburg. Ein Suizid?« Herzfeld machte erneut eine Pause und sah dabei diesmal vielsagend in die Runde. »Nein, wohl eher nicht, auch wenn irgendjemand großes Interesse zu haben scheint, uns genau das glauben zu machen«, fuhr er fort.
»Ich kenne ja längst Ihre Wimmelbilder, Herr Herzfeld, wenn Sie uns Fotos von Messie-Wohnungen zeigen und uns suchen lassen, wo unter dem ganzen Plunder und Müll der Leichnam versteckt ist, aber dass wir jetzt ›Black Stories‹ für ein morbides Rätselraten vorgesetzt bekommen, ist für mich ein echtes Novum«, unterbrach Oberarzt Scherz seinen Chef, allerdings nicht in so brummigem und missmutigem Ton wie sonst, wenn er in der Frühbesprechung die vorgestellten Fälle kommentierte. Auch das dienstälteste Mitglied der rechtsmedizinischen Sondereinheit mit dem weißen Vollbart schien gespannt zu sein, mit welchen Ermittlungsergebnissen und möglichen Ungereimtheiten der Chef der »Extremdelikte« gleich aufwarten würde.
Das nächste Foto zeigte den ebenfalls vollständig von der schwarzen Plastikfolie bedeckten Fußboden, auf dem eine umgekippte Aluminium-Klappleiter lag, nicht unweit der Fußspitzen der Militärstiefel des Toten, die am linken Bildrand über dem Boden hingen. An einem der mit Plastikkappen versehenen Standfüße der Leiter war ein Karabinerhaken befestigt, der wiederum mit einem Kabel oder Seil – so genau konnte Yao das nicht erkennen – verbunden war.
»Dieses Stahlseil …«, klärte Herzfeld auf, »… ist mit dieser vierstufigen, gerade mal einen Meter dreißig hohen Malerleiter verbunden gewesen und …«, das nächste Foto erschien, »… dieses Stahlseil gehört zu dieser mobilen Seilwinde, die wiederum über eine Fernbedienung zu bedienen ist.«
Yao erkannte ein etwa schuhkartongroßes blaues Gehäuse, offenbar außerhalb des mit Folie separierten Wohnzimmerbereichs, denn das Ding befand sich nicht wie die Klappleiter auf schwarzer Plastikfolie, sondern war auf Fischgrätparkett platziert. Auf der einen Seite des blauen Gehäuses ging das von Herzfeld zuvor erwähnte Stahlseil ab, das mit der Klappleiter verbunden war, und auf der anderen Seite kam ein schwarzes Stromkabel heraus. Daneben lag ein kleinerer, kompakter schwarzer Gegenstand, der Yao entfernt an die ersten Siemens-Handys aus den Neunzigerjahren erinnerte. Sehr wahrscheinlich die zur Seilwinde gehörende Fernbedienung.
»Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, dessen Hände zum Zeitpunkt seiner Auffindung an seinem Rücken gefesselt waren und der zusätzlich mit Fußfesseln fixiert war. Er kann sich nicht selbst erhängt haben. So zumindest der Stand der Ermittlungen von gestern Abend und vergangener Nacht, nachdem die zuständige Mordkommission den Fall übernommen hatte. Die Kollegen sind mit dem ganz großen Besteck angerückt, inklusive Kriminaltechnik und einem technischen Sachverständigen am Leichenfundort, der im Rahmen der Ermittlungen zu einem Tatort wurde, und haben sich das mal alles näher angeschaut. Derjenige, der dieses ganze bizarre Hinrichtungsszenario inszeniert hat, hat sich jede Mühe gegeben, es wie einen Suizid aussehen zu lassen. Auf einem eingeschalteten Laptop im Wohnzimmer waren Internetseiten mit Bilddateien von Hinrichtungsszenarien aufgerufen worden, offensichtlich gibt es auch dafür so etwas wie einen Markt und genügend Leute, die sich an dergleichen ergötzen. Auf einem Tablet fanden sich schriftliche Abschiedsnachrichten, allerdings sehr allgemein gehalten und nur wenig substantiiert und, wie die Ehefrau in ihrer ersten Vernehmung sagte, von den Formulierungen her eher untypisch für ihren Mann. Zudem fanden sich im gemeinsamen Schlafzimmer der Eheleute Fetisch-Utensilien mit sadomasochistischem Bezug und weitere Militaria-artige Kleidung, von der die Ehefrau angibt, sie nie zuvor gesehen und auch nicht von deren Existenz gewusst zu haben. Kurzum … ich will das jetzt hier nicht unnötig in die Länge ziehen … Die Kollegen von der Mordkommission gehen derzeit von einem fingierten Suizid aus, bei dem es sich in Wirklichkeit um ein verschleiertes Tötungsdelikt handelt. Jedenfalls müsste unser Opfer, wenn wir einen Suizid unterstellen, auf irgendeine Weise mit auf den Rücken fixierten Händen und zusätzlichen Fußfesseln, die wiederum mit den Handschellen verbunden waren, auf die Leiter gestiegen sein und anschließend müsste er irgendwie mit dem Kopf in die Schlinge gelangt sein, sodass der Strick um seinen Hals lag. Das hört sich schon mal kompliziert an, aber natürlich haben wir bereits vergleichbare Suizide gesehen, bei denen der Suizident sich durch Fesselungen oder andere Mechanismen abgesichert hat, damit er in letzter Sekunde nicht doch noch von seiner Entscheidung, Suizid zu begehen, zurücktreten kann. Und da es sich bei dem verwendeten Henkersknoten um einen laufenden Knoten handelt, dessen Schlinge sich zuzieht, wenn Zug darauf kommt, ist das alles bis hier zwar im Bereich des Möglichen, aber … Zwei Dinge sind bemerkenswert und deshalb ist die Suizid-Theorie in diesem Fall mehr als wackelig. Erstens konnten bisher die Schlüssel für die Handschellen und für die Fußfesseln nirgendwo im Haus gefunden werden. Was nicht bedeutet, dass er sie nicht irgendwo mit auf den Rücken gefesselten Händen versteckt hat, ehe er auf die Leiter gestiegen ist. Auch bis zu diesem Punkt ist noch alles möglich. Wie gesagt, ich will nicht ausschließen, dass er die Leiter mit den derart gefesselten Füßen hinaufgestiegen ist, genug Spiel hatten die Fußfesseln nach meinem Dafürhalten. Aber … jetzt kommt der zweite, entscheidende Punkt. Die neben dem Toten am Boden aufgefundene Aluleiter ist so stabil, hat so einen festen Stand, dass man sie nicht umkippen kann, wenn man darauf steht. Wenn sie vorschriftsmäßig aufgestellt ist und ihre Verriegelung einmal eingerastet ist, und das war sie bei der Untersuchung des Leichenfundortes, ist es unmöglich, sie umzukippen, wenn man darauf steht …« Herzfeld nahm den obersten der drei Papphefter, die vor ihm auf dem Tisch lagen, blätterte kurz darin und las dann laut vor: »… ›weil ihr Schwerpunkt unterhalb der obersten Stufe liegt‹, so zumindest der Bericht der Kriminaltechniker. Und jetzt kommt die Seilwinde ins Spiel …« Herzfeld machte erneut eine Pause und Yao registrierte, dass es in diesem Moment in dem Besprechungsraum so still war, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Montag, 16. Dezember, 7:38 Uhr
Berlin, Spandauer Forst
Sie kniff die Augen zusammen. Schon wieder hatte sie ihre verdammte Sonnenbrille zu Hause vergessen … Obwohl die Sonne zu dieser Jahreszeit durchweg tief stand und die Intensität der Sonneneinstrahlung allenfalls als gering zu bezeichnen war, litt sie schon seit Jahren an einer unangenehmen Lichtempfindlichkeit, die nicht selten eine Migräneattacke triggerte. So konnte sogar ein wolkenloser Wintertag im Freien zur Tortur werden. Aber jetzt war es sinnlos, noch einmal umzukehren, gleich würde sie den Wald erreicht haben. Ihre morgendliche Gassi-Runde mit Suki hatte sie damit fast zur Hälfte absolviert. Suki, ihr etwa fünf Jahre alter Spitzmischling, den sie bei einem Rumänienurlaub vor viereinhalb Jahren als Welpen mehr tot als lebendig vor ihrem Hotel in Bukarest entdeckt hatte. Den sie kurz entschlossen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, zunächst heimlich mit auf ihr Hotelzimmer und dann, zwei Tage später im Zug, mit nach Berlin genommen hatte. Aber sie hatte es nicht einen Tag bereut, das völlig verlauste, von Flöhen zerbissene und vor Dreck starrende Fellbündel, von damals gerade mal der Größe ihrer beiden Hände, gerettet und ihm ein liebevolles Zuhause gegeben zu haben. Nicht mal, als sie sich nach ihrer Rückkehr in Berlin bei einem Tierarzt eine Wurmkur in Tablettenform für Suki besorgt hatte, woraufhin der Welpe – noch nicht stubenrein – erst einmal mehrere Kothaufen auf ihren Wohnzimmerteppich gesetzt hatte. Hundekot, in dem sie in ihrer Naivität zunächst Spaghetti zu erkennen geglaubt hatte, die sich dann aber als längliche helle Würmer entpuppt hatten. Mittlerweile konnte sie über diese Anekdote lachen. Suki, dieser kleine Wirbelwind, hatte zwar von einem Tag auf den anderen ihr Leben auf den Kopf gestellt, aber es tat ihr gut, nach dem Tod ihres Mannes jemanden an ihrer Seite zu haben. Auch wenn es ein Jemand auf vier Pfoten war.
Wie jeden Morgen hatte Lara Bucks ihre morgendliche Gassi-Runde gegen halb acht, nach der ersten und vor der zweiten Tasse Kaffee, begonnen. Sie war von ihrer Zweizimmerwohnung in dem klassisch-eleganten Mehrfamilienhaus in der Neubausiedlung am nördlichsten Rand Spandaus, wohin sie nach dem Tod ihres Mannes gezogen war, wie immer in Richtung des nur etwa einhundert Meter entfernten Spandauer Forstes gegangen. Und jetzt hatte sie das weitläufige Waldgebiet, neben dem Grunewald das größte Berlins, erreicht.
Hier geht’s auch ohne Sonnenbrille … Lara Bucks spürte die Kühle und Feuchte des Waldes in ihrem Nacken, und als sie den Kragen ihrer Wachsjacke bis ganz nach oben am Hals schob, überlief sie ein leichter Schauer. Sie atmete die Morgenluft tief ein, kostete sie regelrecht. Sie bildete sich ein, neben dem Geruch der nassen, auf dem feuchten Waldboden aneinanderklebenden Blätter noch eine andere Duftnuance, nämlich den Geruch von Moos auf den abgestorbenen Ästen und Stämmen, links und rechts des Weges riechen zu können. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Sie genoss jeden Tag aufs Neue die frische Luft in dem schier endlosen Waldgebiet direkt vor ihrer Haustür.
Festen Schrittes folgte sie Suki, der etwa fünfzehn bis zwanzig Meter vor ihr herlief, mit schöner Regelmäßigkeit anhielt und schnüffelte, sich dabei regelmäßig nach ihr umschaute, um sich zu vergewissern, dass sein Frauchen ihm weiter folgte.
Lara Bucks setzte ihren Weg auf dem ihr vertrauten Waldpfad fort, der sie immer tiefer in den Spandauer Forst führte, zunächst in östliche Richtung, um dann in einem Bogen nach Westen zu schwenken, wo sie schließlich nach etwa eineinhalb Stunden wieder den Ausgangspunkt ihres Spaziergangs erreichen würde. Sie genoss die Ruhe und Stille hier, wie an jedem frühen Morgen, wenn noch wenig andere Hundebesitzer und kaum Jogger oder Mountainbiker unterwegs waren.
Da wurde die Stille plötzlich durch den lauten Ruf eines Käuzchens unterbrochen.
Als Tochter eines Historikers mit Schwerpunkt Kulturwissenschaft an der Freien Universität Berlin wusste Lara Bucks um den in der alten deutschen Volksmythologie verankerten Aberglauben, dass der Ruf des Käuzchens mit dem Tod eines Menschen in Zusammenhang stand. Ihr Vater war ganz vernarrt in solche Mythen gewesen. Aber noch viel mehr hatte ihn als Wissenschaftler die Herkunft solcher Legenden und ihre Aufklärung gereizt. Als Mädchen hatte Lara Bucks zahlreiche derartige Schauergeschichten von ihrem Vater gehört. Ihm war nie daran gelegen gewesen, seiner kleinen Tochter Angst einzujagen, wie sie im Nachhinein, allerdings erst als Erwachsene, festgestellt hatte, sondern es ging ihm um die Lehren, die man aus diesen Geschichten fürs Leben mitnehmen konnte. Nichts ist zunächst einmal so, wie es scheint, mein Schatz, hatte er immer wieder zu ihr gesagt. Wie bei dem Ruf des Käuzchens, ging es der Neunundfünfzigjährigen durch den Kopf, während sie die kühle Morgenluft weiter tief einsog.
Die überzeugende Erklärung ihres mittlerweile verstorbenen Vaters, die er auch in einem wissenschaftlichen Fachaufsatz publiziert hatte, lautete, dass es zu der Zeit, in der der Aberglauben um den unheilvollen Ruf des Käuzchens entstand, in Europa Sitte gewesen war, nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch im Sinne der Trauerarbeit der Angehörigen einem verstorbenen Menschen mit einer Totenwache die letzte Ehre zu erweisen. Bei dieser Totenwache, die in vielen südeuropäischen Ländern nach wie vor fester Bestandteil des Trauerrituals war, wurde der Tote in der Nacht vor der Bestattung aufgebahrt. Die Angehörigen saßen am Sarg, hielten »Wache« – manchmal die ganze Nacht – und brachten auf diese Weise ihre Ehrerbietung und ihren Respekt für den Toten zum Ausdruck. Die Totenwache wurde nur selten im Haus des Verstorbenen oder bei den Angehörigen abgehalten, sondern meist in einem Bestattungshaus oder in einer Kirche, also in Gebäuden, die in der Regel am Stadt- oder Dorfrand angesiedelt waren – meist in direkter Nähe zum örtlichen Friedhof. Von dem Lichtschein der Kerzen oder Petroleumlampen, die den Raum erhellten, in dem der Tote zur Totenwache aufgebahrt worden war, hatte der Vater ihr erklärt, wurden der nachtaktive Waldkauz und andere Eulenarten angelockt, da alles andere im Umkreis ja in völliger Dunkelheit lag. Der Waldkauz reagierte in den Nachtstunden auf die erleuchteten Fenster und ließ seinen Ruf zur Warnung und Reviermarkierung erschallen, was ihm den Namen »Leichenvogel« oder »Nachthexe« im Volksmund einbrachte.
Insofern alles gut … Die Frau in der grünen Barbour-Jacke und mit den festen Stiefeln schüttelte die Erinnerung an ihren Vater und sein Interesse an Aberglauben und Mythologie ab und beschleunigte ihre Schritte.
Der Waldkauz rief erneut, während Lara Bucks Suki immer tiefer in den Wald folgte.
Montag, 16. Dezember, 7:39 Uhr
Berlin, Treptowers
BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum
Professor Herzfeld legte den Schnellhefter wieder vor sich auf dem Tisch ab und zeigte mit dem ausgestreckten Daumen über seine Schulter auf die Leinwand hinter sich, auf der immer noch das Foto mit dem blauen Gehäuse auf dem Fischgrätparkett zu sehen war. »Die Kollegen von der KT haben es zusammen mit dem technischen Sachverständigen bei ihrer Rekonstruktion vor Ort nicht geschafft, die aufgestellte Leiter mittels der per Fernbedienung zu betätigenden Seilwinde zum Umkippen zu bringen und …«, Herzfeld zitierte erneut aus dem Hefter in seiner Hand: »… ›ob die Klappleiter und Seilwinde tatsächlich aus dem Haushalt des Geschädigten stammen und, wenn ja, wann und von wem sie erworben wurden, ist noch Gegenstand der Ermittlungen‹. Die Ehefrau konnte dazu keine klaren Angaben machen. Sie habe keinerlei Überblick über die Handwerker-Utensilien, die ihr Mann besaß. Genauso wie übrigens noch abgeklärt wird, was es mit dem Henkerinnen-Siegel auf sich hat und wessen Unterschrift sich darunter befindet.«
Yao hatte schon vor wenigen Minuten registriert, dass Assistenzarzt Alfons Murau begonnen hatte, unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, als Herzfeld die im Schlafzimmer der Eheleute aufgefundenen Fetisch-Utensilien und Militariakleidung erwähnt hatte. Auch hatte der aus Österreich stammende Kollege sich während der letzten Worte Herzfelds mehrmals geräuschvoll geräuspert. Jetzt konnte Murau offenbar nicht mehr an sich halten, denn es sprudelte plötzlich in seinem breiten Wiener Dialekt nur so aus ihm heraus: »Und was ist, wenn es sich hierbei um einen Fetisch-Suizid handelt?«
Herzfeld, der wusste, wie gerne Murau seine Belesenheit und sein durchaus beachtliches rechtsmedizinisches Fachwissen herauskehrte und damit schon so manche Frühbesprechung in die Länge gezogen hatte, setzte gerade an, etwas zu sagen, aber Murau sprach unbeirrt weiter: »Bekanntlich kommt bei einem Fetisch-Suizid die Verbindung zwischen intendierter Selbsttötung mit fetischartiger Konnotation des Suizides zum Tragen. Ist es nicht genau das, womit wir es hier zu tun haben? War nicht vielleicht Hinrichtung sein ganz eigener Fetisch?«
Weder Yao noch die anderen konnten den Ausführungen des aus Wien stammenden Rechtsmediziners folgen, wie ihr die fragenden Blicke ihrer Kollegen verrieten.
Herzfeld riss den Gesprächsfaden wieder an sich und sagte, weniger an Murau als vielmehr an seine anderen Mitarbeiter gerichtet: »Vielleicht ist Ihnen, verehrte Kollegen, der Begriff Fetisch-Suizid schon mal untergekommen. Höchstwahrscheinlich aber noch nicht. Was auch nicht verwunderlich wäre, denn es gibt nur sehr wenige Fallbeschreibungen in der rechtsmedizinischen Literatur und ich kann mich tatsächlich nicht an einen einzigen Fall erinnern, der hier bei uns auf dem Tisch gelandet ist. Ich bin mir sicher, Kollege Murau könnte uns einiges aus der einschlägigen Literatur zu derartig ungewöhnlichen Fällen berichten, aber das führt hier zu weit.« Bei den letzten Worten warf er Murau einen Blick zu, der keinerlei Widerworte duldete. Zur Erleichterung aller Anwesenden opponierte Murau nicht, sondern zuckte nur ein wenig beleidigt mit den Schultern.
»Sie, Herr Scherz …«, und dabei wandte Herzfeld sich an den korpulenten Oberarzt, der ihm schräg gegenüber am Konferenztisch saß, und schob ihm den Schnellhefter über die Tischplatte zu, »… da Sie ja eben gerade Ihr Interesse an kniffligen und morbiden Geschichten nach Art von ›Black Stories‹ bekundet haben, werden unser Hinrichtungsopfer im Anschluss an unsere Frühbesprechung bitte gemeinsam mit Frau Rath obduzieren. Und jetzt …«, Herzfeld betätigte die kleine Fernbedienung in seiner Hand und es erschien ein Foto eines Mannes, der kopfüber von einer Art hölzernem Gestell – um was genau es sich dabei handelte, konnte Yao nicht erkennen – hing. Seine khakifarbene Hose war bis zu den Knien heruntergerutscht, sodass die nackten Unterschenkel zu sehen waren. Seine ebenfalls khakifarbene Oberbekleidung war, der Schwerkraft folgend, über Schultern und Kopf heruntergerutscht, sodass auch fast sein gesamter Oberkörper nackt war.
»Kommen wir zum zweiten Fall des heutigen Tages«, sagte der Chef der »Extremdelikte« und griff nach dem zweiten Hefter vor sich auf der Tischplatte.
Montag, 16. Dezember, 7:42 Uhr
Berlin, Spandauer Forst
Ich hätte die Daunenweste unterziehen und nicht nur mit Longsleeve und Wachsjacke aus dem Haus gehen sollen …, ging es Lara Bucks durch den Kopf. Je tiefer sie in den Spandauer Forst vordrang, umso dichter waren nicht nur die Baumkronen und umso höher die Baumwipfel, sondern umso geringer war auch die Sonneneinstrahlung, die sie erst vor wenigen Minuten noch als unangenehm empfunden hatte, sich jetzt aber insgeheim zurückwünschte. Der erste Frost war in diesem Winter bisher ausgeblieben, sodass die riesigen, teilweise über einhundert Jahre alten Eichen und Buchen, die in diesem Teil des Forstes wuchsen, noch fast ihr gesamtes Laub, in den verschiedensten Braun- und Gelbtönen, in ihrer Baumkrone trugen. Memo an mich …, dachte sie, … morgen Sonnenbrille mitnehmen und wärmer anziehen.
Lara Bucks beschleunigte ihren Schritt, um durch die Bewegung ihrer Muskulatur etwas mehr Körperwärme zu produzieren, als sie mit einem Mal feststellte, dass Suki nicht mehr da war. Ihr Hund trottete nicht mehr, wie noch kurz zuvor, auf dem Waldpfad vor ihr her. Wie lange war Suki schon nicht mehr vor ihr? Sie konnte es nicht sagen. Eine Minute? Zwei vielleicht? Länger sicherlich nicht …, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie gar nicht mehr auf den Spitzmischling vor sich geachtet hatte.
Lara Bucks blieb stehen und sah sich um. Links neben ihr war eine riesige Schneise der Verwüstung in den Wald geschlagen. In einer etwa fünf bis sechs Meter breiten Spur lagen überall umgestürzte Bäume, teilweise in Gänze entwurzelt, teilweise ragten nur noch Stämme in ein bis eineinhalb Metern Höhe aus dem Boden. Zwar war die Neunundfünfzigjährige an dieser Stelle in den letzten Tagen und Wochen regelmäßig bei ihren Spaziergängen vorbeigekommen, sie hatte aber noch nie angehalten und sich das Ausmaß des Schadens näher angesehen – das Resultat eines schweren, mit Orkanböen einhergehenden Unwetters, das vor einigen Wochen über den Norden Berlins gezogen war. Und bei dem, zumindest meinte sie sich zu erinnern, eine Joggerin oder Spaziergängerin von einem umstürzenden Baum erschlagen worden war. Einige der gekappten, aus dem Waldboden herausragenden Stämme waren beim Abknicken des oberen Baumteils schräg abgesplittert, sodass der helle Kern frei lag. Lara Bucks musste bei diesem Anblick an riesige, wie zu einer düsteren Mahnung aus dem Waldboden herausgestreckte Finger denken. Sie schüttelte den Gedanken ab. Sie hatte definitiv zu viel Fantasie. Eine teilweise überbordende Fantasie, an der ihr Vater mit seinen Mythen, Sagen und Geschichten von scheinbar nicht erklärbaren übernatürlichen Phänomenen sicherlich nicht ganz unschuldig war.
Suki! Sie riss ihren Blick von der Schneise der Verwüstung, die der Herbststurm zurückgelassen hatte, los und rief: »Suki! Suki, hier!« Die einzige Reaktion kam von einer erschrockenen Drossel, die unweit von ihr in einem Gebüsch gesessen haben musste und jetzt mit schrillen Alarmrufen von ihr weg, ins Unterholz, flüchtete.
Dann wurde es wieder still im Spandauer Forst.
Montag, 16. Dezember, 7:43 Uhr
Berlin, Treptowers
BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum
Der zweite Fall, der an diesem Morgen auf der Agenda für den Sektionssaal der »Extremdelikte« stand, war lange nicht so spektakulär und außergewöhnlich und vor allen Dingen nicht mit so vielen offenen Fragezeichen versehen wie die mit Akribie inszenierte und dann vollendete Hinrichtungsszenerie, dafür aber umso tragischer, wie sich im Verlauf der rechtsmedizinischen Untersuchungen herausstellen sollte.
»Das hier ist … oder vielmehr: Das hier war Bertram Gehrens, einundsiebzig Jahre alt und bis zu seiner Pensionierung vor sechs Jahren Leiter der Abteilung Politisch motivierte Kriminalität beim Bundesamt für Verfassungsschutz«, begann Professor Paul Herzfeld seine Ausführungen zu dem immer noch hinter ihm auf der Leinwand gezeigten, an der Holzkonstruktion kopfüber in die Tiefe hängenden Mannes.
Herzfeld ließ das nächste Bild auf der Leinwand erscheinen und jetzt konnte Yao erkennen, dass es sich bei dem Holzgestell um einen Hochsitz für Jäger, offenbar in irgendeinem Waldstück, handelte.
»Sein Name steht auf einer sogenannten Todesliste, die Mitte des Jahres im Rahmen einer Razzia im linksautonomen Milieu in Berlin-Friedrichshain in der Rigaer Straße sichergestellt wurde«, fuhr Herzfeld fort. »Da sich neben anderen Namen auch der von Gehrens auf dieser Liste befindet und er jetzt überraschend und unter ungewöhnlichen Umständen das Zeitliche gesegnet hat, hat der Generalbundesanwalt den Fall übernommen. Und deshalb kommen wir und nicht die Kollegen vom Landesinstitut ins Spiel. Gehrens wohnte in Berlin-Mitte, war passionierter Jäger und das von ihm gepachtete Jagdrevier, in dem sich auch der hier gezeigte Hochstand befindet, liegt eine knappe Stunde Fahrzeit nördlich von Berlin, im Brieselanger Forst …«
Wieder fing Assistenzarzt Doktor Alfons Murau an, unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, aber diesmal kam Herzfeld dem Österreicher zuvor. »Herr Murau!«, wandte er sich an diesen. »Ich möchte jetzt nichts zu ungeklärten Erscheinungen im Brieselanger Forst oder zum sagenumwobenen Brieselanger Licht von Ihnen hören. Ich bezweifle keine Sekunde, Sie könnten uns auch dazu einige Anekdoten erzählen, aber wir konzentrieren uns jetzt bitte auf nichts anderes als auf den Todesfall Gehrens, damit wir hier bald zum Ende kommen und in das weitere Tagesgeschäft einsteigen können.« Herzfeld beugte sich leicht über die Tischplatte vor sich in Richtung des Österreichers. »Damit das klar ist: Ich dulde keine weiteren Unterbrechungen!« Murau zuckte auch diesmal auf Herzfelds Zurechtweisung hin mit den Schultern, schien sich aber geschlagen zu geben.
»Hier …«, Herzfeld ließ das nächste Foto des Leichenfundortes von Bertram Gehrens erscheinen, »… sehen wir, dass diese widernatürliche Position, in der der ehemalige Regierungsdirektor des Verfassungsschutzes von einem Spaziergänger aufgefunden wurde, daher rührt, dass Gehrens offenbar beim Heruntersteigen vom Hochstand mit seinem rechten Fuß durch ein morsches Bodenbrett der Plattform des Hochstandes gebrochen ist«, dabei deutete der Chef der »Extremdelikte« auf die jetzt erschienene Detailaufnahme des rechten Unterschenkels des Mannes, der, scheinbar festgeklemmt, zwischen zwei Brettern steckte. Offensichtlich war das Brett zwischen diesen beiden noch intakten Brettern weggebrochen.
»Als er durch das morsche Brett eingebrochen ist, so zumindest die bisherige Rekonstruktion, hat er das Gleichgewicht verloren und fiel um. Da sein rechter Unterschenkel und Fuß aber in der Plattform des Hochstandes fixiert waren, stürzte er nicht vom Hochsitz, sondern blieb kopfüber hängen. So weit, so gut …« Oder auch nicht, fügte Yao in Gedanken den Ausführungen ihres Chefs hinzu. Denn wenn das des Rätsels Lösung ist, wenn es sich hier um positionelle Asphyxie in Kopftieflage durch ein Unfallgeschehen handelt, wäre der Tote wohl kaum bei uns gelandet … Womit Yao recht behalten sollte, denn Herzfeld brachte kurze Zeit später die Erklärung, warum der Generalbundesanwalt den Fall unmittelbar an sich gezogen und nicht erst mal die weiteren polizeilichen Ermittlungen und das Ergebnis der Obduktion abgewartet hatte. Denn nur dass Gehrens’ Name auf einer Liste steht, macht seinen Tod nicht automatisch zu einem Tötungsdelikt und rechtfertigt das Ausmaß der Ermittlungen, denn auf dieser Liste werden ja noch etliche weitere Namen stehen, überlegte Yao weiter.
In rascher Folge ließ Herzfeld jetzt sieben oder acht weitere Fotos von dem Leichenfundort im Wald auf der Leinwand erscheinen und diese jeweils etwa zehn bis zwanzig Sekunden stehen, ehe er zum nächsten Bild weiterklickte. Auf den Bildern waren aus unterschiedlichen Perspektiven in Übersichtsaufnahmen von allen Seiten sowohl die Plattform des etwa viereinhalb bis fünf Meter hohen Hochsitzes mit dem daran in die Tiefe hängenden Toten zu sehen sowie der Hochsitz. »Entscheidend ist hier, verehrte Kollegen …«, kommentierte Herzfeld die Bildstrecke, »… was wir nicht auf diesen Fotos sehen.«
»Ich schätze mal, die Jagdwaffe ist es, die nicht gefunden wurde?«, brummte Oberarzt Scherz in die Runde. »Denn als passionierter Jäger wird er nicht plötzlich zum Pazifisten geworden sein und von seinem Hochstand aus nur noch Vögel beobachtet haben. Eine Jagdwaffe sollte er wohl mit sich geführt haben«, schob der Oberarzt in gewohnt bissiger Weise hinterher.
»Richtig, Herr Scherz! Und wie Sie sehen, haben die Wimmelbilder der letzten Jahre, wie Sie es vorhin ausgedrückt haben, durchaus einen Lerneffekt gehabt«, bemerkte Herzfeld mit einem schelmischen Grinsen in Richtung des Oberarztes. »Denn …«, und mit diesen Worten wandte sich Herzfeld nun an die Kommissaranwärterin Kira Kaplan, »… viel wichtiger als das, was man sieht, viel wichtiger als das Offensichtliche, ist in der Rechtsmedizin – und das gilt ebenfalls für die Kriminalistik – das, was man eben nicht sieht. Wenn Sie, Frau Kaplan, diese kleine Lektion aus Ihrem Praktikum hier bei uns mitnehmen und für Ihre weitere berufliche Laufbahn verinnerlichen, haben Sie schon sehr viel gelernt.« Die Angesprochene, die auch an diesem Morgen, wie Yao fand, wieder geschmackvoll Ton in Ton in einen graugrünen Kaschmirpullover, eine olivfarbene Bundfaltenhose und farblich dazu passenden Lederloafer gekleidet war, errötete leicht, erwiderte aber nichts.
»Wie Kollege Scherz richtig bemerkt hat, fehlt Gehrens’ Jagdwaffe, die er, so zumindest die Aussage seiner Frau, bei sich hatte, als er am Vortag von zu Hause in Richtung seines Jagdreviers im Brieselanger Forst aufgebrochen ist. Auch in seinem auf einem nahe gelegenen Waldparkplatz aufgefundenen Pkw war keine Waffe. Übrigens eine Repetierbüchse. Hersteller, Modell und Kaliber sind noch Gegenstand der Ermittlungen, tun hier aber nichts zur Sache, denn er wurde ja mutmaßlich nicht erschossen.
Kurz zu den zeitlichen Verhältnissen: Gehrens verlässt am Samstagnachmittag gegen fünfzehn Uhr seine Wohnung in Berlin-Mitte und fährt, das hat zumindest die Auswertung seiner Handydaten ergeben, nicht auf direktem Weg nach Brieselang, sondern er macht einen etwa einstündigen Zwischenstopp in Falkensee, gerade mal acht Kilometer von seinem Jagdrevier entfernt. Wo genau in Falkensee, diese Information konnte auch die Funkzellenabfrage nicht liefern. Dann, an seinem Jagdrevier im Brieselanger Forst angekommen, stellt er, wie stets, wenn er dort auf die Jagd geht, sein Fahrzeug auf besagtem Waldparkplatz ab. Von dort aus begibt er sich auf so ziemlich direktem Weg zu seinem Hochstand. Dort wird er gestern Morgen gegen kurz vor acht Uhr von einem Spaziergänger kopfüber hängend aufgefunden. Der Spaziergänger gibt an, dass Gehrens zu diesem Zeitpunkt keine Regung zeigte. Sehr wahrscheinlich war er da schon einige Stunden tot. Der Verbleib seiner Waffe? Zum jetzigen Zeitpunkt völlig unklar. Auch die Absuche der Umgebung des Hochstandes durch eine Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizei hat sie nicht zutage fördern können. Der Spaziergänger, der Gehrens gefunden hat, ist ein unbescholtener Bürger, keine Vorstrafen. Er hat, als er Gehrens nicht aus der fatalen Position befreien konnte, direkt den Notruf gewählt und, so Stand der Ermittlungen, sich da nicht mehr wegbewegt, bis Hilfe eingetroffen ist. Dass er es war, der die Waffe beiseitegeschafft hat, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt sehr unwahrscheinlich.«
Vielleicht war der Spaziergänger nicht der Erste, der Gehrens gefunden hat, nur dass derjenige, der zuerst da war, die Gunst der Stunde genutzt hat und sich Gehrens’ Jagdwaffe geschnappt hat?, ging es Yao durch den Kopf. Aber das zu klären war nicht Aufgabe der Rechtsmediziner, sondern das mussten die zuständigen Todesermittler herausfinden.
»Ich möchte, dass Sie, Herr Murau, gemeinsam mit dem Kollegen Tomski die Obduktion Gehrens durchführen. Tod in Kopftieflage als Folge positioneller Asphyxie? Irgendwelche relevanten Vorerkrankungen, die vielleicht akut exazerbiert sind? Finden sich womöglich doch Spuren einer weiteren Gewalteinwirkung an seinem Körper, die den Todesermittlern der Polizei beim ersten Angriff vor Ort entgangen sind? Ungefährer Todeszeitpunkt?«
Die ihr am Konferenztisch schräg gegenübersitzende Kira Kaplan warf Yao einen fragenden Blick zu, den die Rechtsmedizinerin dahin gehend interpretierte, dass die soeben von Herzfeld referierten rechtsmedizinischen Fachbegriffe der Praktikantin sehr wahrscheinlich nicht vollends vertraut waren. Insofern bedeutete sie der jungen Frau mit einem kaum merklichen Kopfnicken, dass sie verstanden hatte. Denn in den vergangenen beiden Wochen, in denen die angehende BKA-Kommissarin in der rechtsmedizinischen Abteilung in den Treptowers hospitiert hatte, war Yao so etwas wie eine Mentorin für sie geworden. Sie hatte die Kommissaranwärterin im Sektionssaal ein wenig unter ihre Fittiche genommen und damit begonnen, die junge Frau mit dem Vorgehen, der Denkweise und den Fachtermini, die bei der Arbeit in der Rechtsmedizin verwendet wurden, vertraut zu machen. Sie würde Kira im Anschluss an die Frühbesprechung genau erklären, worum es sich bei positioneller Asphyxie handelte, nahm Yao sich vor.
Nachdem Herzfeld den Schnellhefter mit dem hellroten Pappeinband, in dem alle bisherigen polizeilichen Ermittlungsergebnisse zum Todesfall von Bertram Gehrens enthalten waren, zu Assistenzarzt Alfons Murau über die Tischplatte geschoben hatte, nahm Herzfeld den letzten noch verbleibenden Hefter an sich. Den, der Yao schon zu Beginn der Frühbesprechung aufgefallen war, da er sich farblich von den beiden anderen mit Todesermittlungsverfahren unterschied.
Der Chef der »Extremdelikte« blätterte darin, während er die jeweiligen Seiten vor sich kurz zu überfliegen schien, und wandte sich dann an seine Stellvertreterin: »Frau Yao, da Sie am heutigen Tag Rufbereitschaft haben, gibt es für Sie heute keinen Obduktionsfall. Man weiß ja nie, ob Sie nicht plötzlich zu einem Tatort gerufen werden. Stattdessen möchte ich Sie bitten, den Akteninhalt hier …«, damit reichte er den mintgrünen Schnellhefter an seine Stellvertreterin, »… einmal genau zu studieren und dann Kontakt mit Kriminalhauptkommissar Milan Hasanović, dem Leiter der Abteilung für Operative Fallanalyse des LKA, aufzunehmen und ihm zu berichten, was Sie davon halten. Ich glaube, Sie kennen Herrn Hasanović bereits persönlich?«
»Ja, das ist richtig«, bejahte Yao die Frage ihres Chefs. In der Tat war es erst wenige Tage her, dass sie mit dem Profiler gesprochen hatte. Dabei ging es um die mutmaßlich gewaltsame Todesursache des siebenjährigen Oleg Klevno. Der mit seiner Familie aus Weißrussland stammende Junge war viereinhalb Jahre zuvor in Berlin-Neukölln spurlos verschwunden gewesen. Die Suche nach ihm und alle Ermittlungen der Polizei waren ergebnislos verlaufen, bis die Leiche des Jungen vor zwei Wochen in einer illegalen Bauwagensiedlung in Alt-Treptow, nur einige Hundert Meter Luftlinie von den »Treptowers« entfernt, gefunden worden war. Im Zusammenhang mit dem Leichenfundort, zu dem Yao als diensthabende Rechtsmedizinerin der »Extremdelikte« gerufen worden war, und der Obduktion des Kindes, die sie durchgeführt hatte, war sie Mitglied in der mit den Ermittlungen zum Tod des Siebenjährigen betrauten Sonderkommission geworden, zu der auch Milan Hasanović gehörte.