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Tamina Kallert

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Beschreibung

»Ich glaube, die Neugier auf die Welt macht das Leben größer.« (Tamina Kallert)

Skurriles und Persönliches, manchmal Trauriges, vor allem aber viel Reiselustiges – in diesem Buch erzählt Tamina Kallert von den Dingen, die in ihren Filmberichten so nicht zu sehen sind. Für ihre Sendung »Wunderschön« hat die erfolgreiche Reisejournalistin über 70 Länder und Regionen bereist. Sie wandert, fährt Rad, Auto, Zug, klettert auf Vulkane, reitet auf Kamelen, sie besucht abgelegene Dörfer, einsame Inseln und pulsierende Städte. Reisen ist ihre Leidenschaft, und sie liebt es, in Welten einzutauchen, die sie noch nicht kennt. Mit ihrer warmherzigen und lebensfrohen Art öffnet sie die Herzen der unterschiedlichsten Menschen.

  • Berührende Erlebnisse hinter den Reisegeschichten
  • Unterwegs mit der »Herzensöffnerin« Tamina Kallert
  • Herzlich, empathisch und authentisch
  • Reisen bereichert – und das Lesen dieses Buches erst recht

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Seitenzahl: 298

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Tamina Kallert

Mit kleinem Gepäck

Wunderschöne Geschichten

vom Reisen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Leider war es nicht in allen Fällen möglich, einen Rechteinhaber ausfindig zu machen. Für entsprechende Hinweise sind wir dankbar. Rechtsansprüche bleiben gewahrt.

Copyright © 2018 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

Konzept- und Textberatung: Bettina Burchardt

Covermotive: Tamina Kallert © Linda Meiers Fotografie, Rucksack © tamiris6 – Fotolia.com

ISBN 978-3-641-23441-6V004

www.gtvh.de

INHALT

Prolog – Sylt im Winter

1 Weltoffen trotz Insellage

2 Im Canal du Midi

3 Alles Kopfsache!

4 Mit beiden Beinen auf dem Boden

5 Sechs Tage Dauerregen

6 Mittendrin statt nur dabei

7 Die Teefee

8 Das große Ja

9 Heimkommen

Danksagung

PROLOG – SYLT IM WINTER

2004. Ich sitze in einer zweispännigen Pferdekutsche, um mich herum eine wunderschöne Dünenlandschaft. Ein zehnköpfiges Filmteam wuselt um mich herum, alle sind darauf bedacht, mich ins rechte Licht zu setzen. Sogar eine Maskenbildnerin ist dabei. Nur für mich. Ich komme mir vor wie eine Prinzessin. Es ist der erste Dreh der ersten »Wunderschön!«-Reise. Ich bin zwar schon ein alter Hase, was Fernsehen angeht, aber ich habe gerade wieder neu beim WDR angefangen. Während ich darauf warte, dass der Dreh beginnen kann, sage ich noch mal mein Sprüchlein vor mich hin: »Liebe Zuschauer! Herzlich willkommen auf Sylt …« Den Text kann ich im Schlaf, Auswendiglernen war schon in der Schule kein Problem für mich.

Und so lautet das Drehbuch: Tamina Kallert fährt, gemütlich eingemummelt in dicke Decken, in einer Pferdekutsche durch das winterliche Sylt. Gut gelaunt und Lebenslust versprühend lädt sie den Zuschauer ein, mit ihr auf Entdeckungsreise zu gehen. Ein toller Einstieg, der dem Zuschauer schon gleich zu Anfang der Sendung zeigen wird, worauf er sich freuen darf. Aber erst mal arbeiten alle noch konzentriert an dieser ersten Szene. Wie soll die Kameraführung sein? Natürlich soll das Meer zu sehen sein, aber auch die weiß bestäubten, winterlichen Dünen. Gar nicht so einfach! Dann muss das Licht stimmen, auf der Tonaufnahme dürfen keine Störgeräusche sein, die Kutsche muss exakt den besprochenen Weg fahren, nicht zu schnell und nicht zu langsam … Es ist ein Riesen-Bohei. Fast eine Stunde dauert es, bis das Team aufnahmebereit ist. Jetzt fehlt nur noch die fröhliche Moderatorin. Mein Part. In der Zwischenzeit ist mir trotz Decken ganz schön kalt geworden. Kein Problem. Das ist Teil des Jobs. Solange meine Zähne nicht klappern und ich deutlich zu verstehen bin, ist alles gut. Ausatmen. Die Kutsche setzt sich auf das Zeichen des Aufnahmeleiters hin in Bewegung. Tief einatmen, um genug Luft für meine Anmoderation zu haben. »Liebe Zuschauer! Herzlich willkommen auf Sylt …« Beschwingt setze ich zu meinen Erklärungen an, warum Sylt im Winter etwas ganz Besonderes ist. Läuft gut, denke ich noch, da höre ich den Kameramann brüllen: »Haaalt! Stopp!«

Ein störender Poller ist ins Bild geraten. Also wird die Kamera noch einmal ein wenig umgesetzt. Alles zurück auf Anfang. Doch ein Pferdegespann kann schlecht rückwärtsfahren. Der Kutscher muss auf der extra abgesperrten Mole hundert Meter weiter vorne wenden, zurückfahren, noch mal wenden. Klapper-di-klapper-di-klapp machen die Hufe auf dem gefrorenen Boden. Jetzt sind wir wieder in der Ausgangsposition. Wieder laufen die Pferde los, ich atme ein, lächle und fange mit meinem Sprüchlein an. Wieder komme ich über den zweiten Satz nicht hinaus. »Haaalt! Stopp!« Ein Laster ist im Hintergrund durchs Bild gerumpelt. Mit einer Engelsgeduld fährt der Kutscher noch einmal eine Extrarunde.

»Liebe Zuschauer! Herzlich willkommen auf Sylt …«

»Haaalt! Stopp!« Dieses Mal ist es einer der beiden Tontechniker. »Ich habe ein komisches Knacken auf dem Band, so können wir das nicht senden.«

Erneut werde ich bis zum Ende der Mole gefahren und wieder zurück. Ausgangsposition. Meine Zehen spüre ich schon lange nicht mehr. Doch der Zuschauer soll nicht merken, dass mir kalt ist. Denn meine Aufgabe im Team ist: Freude vermitteln. Das ist mein Anspruch. Und den nehme ich ernst. Mit Eisfüßen oder ohne. »Liebe Zuschauer! Herzlich willkommen auf Sylt …«

Beim vierten Mal geht alles gut: Die Pferde laufen brav, keine Möwe schreit, kein Auto hupt. Mein Text ist durch. Wunderbar, das war’s, denke ich. Aber die Redakteurin ist anderer Meinung. Ich soll mich bitte doch noch mal anders hinten in die Kutsche setzen, damit die Kamera eine etwas andere Perspektive aufs Meer und die Dünen einfangen kann. Bevor es weitergeht, drängt sich die Maskenbildnerin nach vorne. Meine Nase ist knallrot angelaufen und ich brauche dringend ein Taschentuch. Mit geübten Handgriffen restauriert sie mich.

Mittlerweile bin ich völlig durchgefroren, trotz dicker Jacke, Schal und Kuscheldecke über meinen Knien. Jetzt was Heißes, das wär wunderbar! Ob meine eingefrorenen Mundwinkel erst auftauen müssen, bevor ich den Tee im Mund behalten kann? Wenn ich jetzt auf meine Jacke schlabbere und mich umziehen muss, würde es für alle nur noch länger dauern. Also lehne ich das Angebot der Maskenbildnerin, die fragend ihre Thermoskanne hochhält, dankend ab. Neue Runde. Konzentration. Mein Gesicht fühlt sich an wie gebotoxt. Vergiss die Kälte! Du willst den Zuschauern rüberbringen, wie toll Sylt im Winter ist. Und das ist es ja auch, wenn man nicht gerade zwei Stunden lang regungslos in einer offenen Kutsche hocken muss. Erst beim fünften Mal ist die Szene endlich im Kasten. Aufnahmeleiter, Tontechniker, Beleuchter – alle sind zufrieden. Zwei Stunden Herumfeilen an einer Szene, die später im Film kaum 20 Sekunden dauert. Das ist Dreh­alltag. Wenn die Zuschauer später vor den Bildschirmen sitzen und mir zusehen, wie ich über das winterliche Sylt kutschiert werde, dann ist nicht sichtbar, wie viel harte Arbeit von vielen Menschen dahintersteckt. Genau das ist meine Motivation: Menschen eine tolle Zeit beim Zuschauen schenken und ihnen Lust aufs Reisen machen.

Mit steifen Beinen steige ich aus der Kutsche und komme mir ganz und gar nicht mehr vor wie eine Prinzessin. Eher wie der fast hundertjährige Prinz Philip. Ich habe nur noch einen Wunsch: Wärme! Der Aufnahmeleiter ruft in die Runde: »Umsetzen zum nächsten Drehort!« Aus der kleinen Aufwärmpause wird wohl nichts …

Ich hab Eisfüße, eine rote Nase, vor Kälte tränende Augen – und den schönsten Job der Welt.

1 WELTOFFEN TROTZ INSELLAGE

»Drum, o Mensch, sei weise,

pack die Koffer und verreise!«

frei nach Wilhelm Busch (1832–1908)

Zugegeben, bei mir ist die Sache mit dem Reisen ex­trem. Seit über zwanzig Jahren bin ich reiselustig für das Fernsehen unterwegs und zeige meinen Zuschauern die Schönheiten der nahen und fernen Reiseziele. Es gab Zeiten, da war ich bis zu 200 Tage im Jahr von zu Hause fort. Auch heute heißt es noch oft: raus aus dem Flieger, Koffer neu packen, wieder los. Ganz am Anfang meinte eine Kollegin: »Das machst du keine zwei Jahre. Spätestens dann hast du die Nase voll.« Sie hatte unrecht. Meine Neugier auf die Welt ist immer noch da. So viele spannende Orte und großartige Landschaften, die ich noch entdecken will! Dabei muss es nicht immer das Ferne und Exotische sein. Deutschland zum Beispiel ist reich an wunderschönen Städten und Dörfern, Wäldern, Heiden, Mooren und Berglandschaften. Sogar zwei Meere haben wir. Hier bekommt die Seele, was sie braucht, Ruhe oder Inspiration. Neulich filmten wir im Paderborner Land – die von Wasserläufen und Seen durchzogene Landschaft war für mich eine Traumgegend. Wie so oft dachte ich: Wie wunderschön haben wir es hier bei uns! Wir hatten besonderes Glück mit dem Wetter und erlebten goldene Herbsttage. Vormittags hing noch Nebel über Feldern und Wiesen, während die Sonne immer kräftiger aus einem dunkelblauen Himmel herabstrahlte. Am dritten Drehtag machten wir uns mit kleiner Teambesetzung in der Morgendämmerung auf den Weg, dieses zauberhafte Naturschauspiel zu filmen. Als ein geeigneter Platz gefunden war, hatte ich nur den einen Wunsch: innehalten. Ich wollte nicht groß reden und erklären, sondern den wunderbaren Anblick genießen. Und tatsächlich beschlossen wir, einfach nur die Stimmung mit der Kamera einzufangen. Da stand ich, in eine dicke Strickwolljacke gehüllt und an ein Holzgatter gelehnt, und genoss den Blick auf die erwachende Nebellandschaft und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Mir kam eines meiner Lieblingsgedichte in den Sinn, es stammt von Eduard Mörike:

»Im Nebel ruhet noch die Welt,

noch träumen Wald und Wiesen;

bald siehst du, wenn der Schleier fällt,

den blauen Himmel unverstellt,

herbstkräftig die gedämpfte Welt

in warmem Golde fließen.«

Was für ein unvergesslicher Augenblick! Das Glücksgefühl war genauso intensiv wie bei einer Dschungeltour in Sri Lanka oder einer Bootsfahrt in der Karibik. Meine Freude über die Schönheit der Welt war so groß – kaum auszuhalten!

Solche wunderbaren Augenblicke nehme ich nur dann wahr, wenn mich meine Neugier aus meinem Alltag entführt. Ein ungeheurer Reichtum kommt so in mein Leben. Aber noch bereichernder als die wunderbarsten Landschaften finde ich die Begegnungen mit Menschen. Wie leben sie? Was treibt sie an und worüber freuen sie sich? Und wie werden sie mit ihren Sorgen fertig? Ihre Antworten lassen mich immer wieder über meinen Tellerrand hinausschauen und geben mir ein Gefühl der Verbundenheit mit der ganzen Welt. Deshalb ist das wichtigste und reizvollste Reiseziel für mich persönlich immer der Mensch.

Einmal drehten wir für das Format »2 für 300« in Dublin. Der Plot dieser Reihe ist ganz einfach: Kameramann Uwe Irnsinger und ich haben 300 Euro zur Verfügung, um ein tolles Wochenende in einer spannenden Stadt zu verbringen und für vergleichsweise wenig Geld viel zu erleben. Überall, wo wir bis dahin waren – von Maastricht bis Mailand –, hatte das super geklappt. Aber ich muss sagen: Die Hauptstadt Irlands hat es uns nicht leicht gemacht, sie zu mögen. Es war grau, feucht und kalt und die Straßen schienen nur aus Baustellen zu bestehen. Alle hatten uns gesagt: »Dublin ist großartig! Da müsst ihr unbedingt mal hin!« Als wir endlich dort waren, fragten wir uns: Warum nur? Wir waren ziemlich ernüchtert, fast schon enttäuscht. Bis wir in diesen Pub kamen. Da wurde uns sofort klar, dass wir Dublin sozusagen auf dem falschen Fuß erwischt hatten. Es war später Nachmittag, aber im Pub war es knallvoll. Menschen aller Alters- und Berufsgruppen saßen und standen beieinander, in bunter Mischung. Der eine kam gerade aus der Uni, ein anderer hatte Feierabend, der dritte machte den Eindruck, dass er da immer sitzt. Und alle redeten wild durcheinander. Ob es beim Smalltalk bleibt oder sich ein tieferes Gespräch ergibt, darauf lässt man es hier in Irland einfach ankommen. Von der ersten Sekunde an waren wir mittendrin im Trubel. Die herzliche Atmosphäre war absolut ansteckend, selbst die etwas zurückhaltenderen Mitglieder unseres Fernsehteams kamen aus sich heraus. Und dann war da noch die Musik. Kaum hatte ich fallen lassen, dass ich Geige spiele, drückte mir auch schon der Chef – zack! – eine Fiedel in die Hand. Ein uraltes Teil, dem man ansah, dass es schon viel mitgemacht hatte, über und über mit Kolophonium verschmiert. Zu Hause hätte ich erst mal viel Zeit darauf verwendet, die Saiten zu stimmen. Hier aber war es völlig egal, ob die Töne etwas schräg rauskamen oder nicht. Hier ging es darum, ungezwungen und voller Lebenslust miteinander zu musizieren. Wir fühlten uns wie in einem Jungbrunnen: Müde und abgekämpft hatten wir den Pub betreten und innerhalb kürzester Zeit hatten wir leuchtende Augen und rote Backen und fühlten uns einfach nur pudelwohl. Und selbst Kameramann Uwe, der eigentlich gar kein Bier mag, war bester Dinge. Später am Abend mussten wir ins Hotel zurück, um den Ablauf des folgenden Tages zu besprechen. Da waren wir immer noch ganz beschwingt. Das ganze Team war der Meinung: Von diesem Lebensgefühl können wir uns echt was abschneiden.

Irland ist nicht weit weg von Deutschland und doch ist die Lebensart dort erfrischend anders. Erst im Kontrast wird klar, wie wir selber ticken. Auch diese Vergleichsmöglichkeit macht das Reisen so spannend. Dublin hat mir gezeigt, wie sehr wir oft in Schubladen denken und leben. Sich zu treffen ist hierzulande mittlerweile ja fast schon ein Staatsakt. Man verabredet sich umständlich Wochen im Voraus, damit bloß alles seinen festen Rahmen hat und man vor Überraschungen sicher ist. Aus demselben Grund gibt es wohl bei uns Ü30-Partys und beim Betriebsfest sitzen die verschiedenen Abteilungen oft in genau derselben Besetzung beieinander, wie sie es Tag für Tag auch im Büro tun. Den ganzen Abend lang. Kommst du neu in eine Kneipe und traust dich, jemanden anzusprechen, dann steht auf dem Gesicht deines Gegenübers gleich geschrieben: »Wer bist du denn? Was soll das?« Ein echter Ire kann da nur den Kopf schütteln. Wenn er in den Pub geht, will er einfach nur das Leben und das Zusammensein feiern.

Also warum nicht mal ein bisschen offener und abenteuer­lustiger sein? Es gibt da die bekannten Standardsitu­a­tionen. Zum Beispiel, wenn du eine bestimmte Straße oder einfach nur das nächste Café suchst. Es wäre ganz einfach, irgendjemanden nach dem Weg zu fragen. Aber da ist eine Stimme in dir, die dir sagt: »Ach was! Das finde ich schon selber.« Man könnte fast meinen, Fragen wäre ein Zeichen von Schwäche. Übrigens: Mir scheinen Männer da besonders anfällig zu sein. Aber es geht doch gar nicht darum, um jeden Preis auf eigene Faust durchs Leben zu kommen! Ich finde es viel schöner, mit Menschen in Kontakt zu kommen, und sei es nur für eine halbe Minute. Eine unfreundliche Antwort habe ich selten erlebt. Ganz im Gegenteil! Selbst aus einer kurzen Begegnung können sich ganz neue Perspektiven eröffnen. Ich hab sogar schon wertvolle Geheimtipps bekommen. Zum Beispiel, als ich in Mailand in ein angesagtes Restaurant gehen wollte und ein Einheimischer mir sagte: »Ach, das ist doch nichts! Gehen Sie lieber dorthin, wo wir alle aus diesem Viertel hingehen. Das ist gleich da vorn um die Ecke.« So lernte ich in einer schrägen Trattoria die Mailänder Aperitivo-Kultur kennen. Es war ein Traum! Für fünf Euro bestellt man sich ein Getränk und darf sich dazu bei den kleinen Köstlichkeiten bedienen, die auf dem Tresen aufgereiht sind: Tramezzini, Mozzarella caprese, eingelegtes Gemüse und Oliven … Die superleckeren Antipasti können auch mal ein teures Abendessen ersetzen. Was für ein Glück, dass ich nach dem Weg gefragt hatte!

Die Offenheit der Menschen in Irland kann einen auch inspirieren, sich nicht immer mit festen Verabredungen abzusichern. Warum nicht einfach mal ohne Vorwarnung bei jemandem vorbeischneien? Mache ich auch viel zu selten. Bei uns ist das ja fast ein No-Go. Dabei muss es doch niemanden in Verlegenheit stürzen, wenn nicht aufgeräumt ist oder nichts Besonderes zum Essen im Haus ist. Die schönsten Nachmittage mit Freunden habe ich erlebt, wenn sie ungeplant waren. Und wenn der spontane Überfall mit einem »Oh schön! Ich freu mich, dass du da bist!« belohnt wurde.

Wer lieber in seiner Komfortzone bleibt, in der er sich auskennt und sich sicher fühlt, könnte einen hohen Preis für seine Bequemlichkeit zahlen. Meiner Erfahrung nach bauen diejenigen, die sich die Neugier abgewöhnt haben, schneller ab und werden umständlich. Im schlimmsten Fall werden sie sogar desinteressiert und abgestumpft. Dann heißt es nur noch: »Ach, das wird mir jetzt aber zu viel … hab ich schon gesehen … kenn ich schon … was soll ich denn da …« So eine Einstellung kann man in allen Altersgruppen finden. Auch Dreißigjährigen kann es zu viel sein, mal für zwei Stunden etwas mit ihren Nichten und Neffen zu unternehmen und so die Welt mit deren Augen zu sehen. Find ich schade!

Zum Glück geht’s auch anders. Das beste Mittel gegen Verknöcherung ist das Reisen. Da kann erst gar kein Rost ansetzen! Ich weiß, Hermann Hesse wird so oft zitiert, dass so mancher ihn »die Helene Fischer der deutschen Literatur« nennt. Es stimmt – man begegnet seinen Sätzen überall, als Kalenderspruch, auf Postkarten, als Kaffeetassenaufdruck … Es könnte einem fast schon zu viel werden. Ich find Hermann Hesse trotzdem toll. Gerade in dem Gedicht, das wohl am häufigsten rauf- und runtergebetet wird, den »Stufen«, gibt es folgende Zeilen:

»Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.«

Ich weiß, das ist jetzt schon das zweite Gedicht in diesem Kapitel. Aber Gedichte sind nun mal ein wichtiger Teil meines Lebens. Genauso wie Musik. Und manchmal passen die Worte eines klugen Menschen so gut ins Leben, dass ich sie einfach zitieren muss.

Meine Großtante Irmgard ist Kronzeugin dafür, dass Hermann Hesse recht hat. Eine tolle Frau! Es ging schon in ihrer Jugend unorthodox los. Ihr Vater war Schuldirektor und so kam es, dass sie, zusammen mit ihrer Freundin, als einzige Mädchen in einem Jungengymnasium unterrichtet wurden. Eigentlich wollte sie nach dem Abitur Medizin studieren, doch hielt selbst ihre recht fortschrittliche Familie diesen Lebensplan für eine junge Frau damals noch für zu gewagt. Sie wurde medizinisch-technische Assistentin und heiratete einen Künstler, der leider früh verstarb. Da war meine Großtante gerade mal Anfang vierzig. In dieser Lebenskrise begann sie zu reisen. Mehrere Male war sie für längere Zeit in Ländern wie Äthiopien und Kenia, wo sie in ihrem Beruf arbeitete. Es waren die Fünfziger- und Sechzigerjahre, und eine Frau alleine in der Fremde, das war geradezu ungehörig. Doch meine Großtante wagte es. Ihre Reisen haben sie in vielerlei Hinsicht geprägt. Da war natürlich ihre humanitäre Arbeit, die ihrem Leben einen besonderen Sinn gab. Sie war aber auch aus zwei weiteren Gründen ein sehr zufriedener Mensch. Sie empfand große Dankbarkeit für all die Möglichkeiten, die wir hier in Deutschland haben. Und sie hat ihre Neugier ihr Leben lang nicht verloren. Aus der Familie wunderte sich niemand, als sie mit siebzig ein Theologiestudium begann. Und wieder bewies sie ihre Offenheit: Statt mit der Handvoll anderer Senioren im Semester ein abgegrenztes Grüppchen zu bilden, ließ sich meine Großtante den Kontakt mit den jungen Menschen nicht nehmen. Ich erinnere mich noch gut an ihren achtzigsten Geburtstag. Das Alter ihrer Gäste war bunt gemischt, von Mitte zwanzig bis weit über achtzig. Alle sind gern gekommen und haben sich inspiriert miteinander unterhalten. Ist das nicht wunderbar? Für meine Großtante gab es einfach keine unüberwindlichen Grenzen – weder zwischen dem, was man tut und nicht tut, noch zwischen Kulturen und auch nicht zwischen Generationen.

Reisen geht mit Offenheit und Spontaneität Hand in Hand. Wer aufnahmefähig und neugierig ist, der hat auch Lust auf neue Erfahrungen, und wer viel reist, bleibt ein Leben lang neugierig. Aber man muss nicht gleich auf eigene Faust nach Äthiopien fahren, um für Lebenslust und nie nachlassende Neugier zu sorgen. Eine Tagestour in die Umgebung kann schon Wunder wirken. Nur eine Sache scheint mir am Reisen wirklich schwierig zu sein: der erste Schritt. Selbst nach so vielen Jahren und so vielen tollen Reiseerlebnissen muss auch ich mich immer noch ein wenig überwinden, mich in ein neues Abenteuer zu stürzen. Wenn ich wieder einmal meine Koffer packe, hab ich eigentlich überhaupt keine Lust, mich am nächsten Tag von meinem Mann Nik und meinen beiden Kindern zu verabschieden. Und ich will auch nicht mein schönes Zuhause verlassen. Ich könnte es so gut haben! Gemütlich daheim bei meiner Familie sein, mich mit Freunden treffen oder einfach bei einer Tasse Kaffee ein Buch lesen. Stattdessen setze ich mich wie so oft einer neuen Umgebung, neuen Hotels, neuen Menschen aus, auf die ich mich einstellen muss. Manchmal frage ich mich: Warum tue ich mir das eigentlich an?

Die Kuschelecke auf meinem Sofa wird wohl nie ihre magnetische Anziehungskraft verlieren. Aber ich weiß ja, dass es nur den kleinen Ruck zu Beginn der Reise braucht, und schon ist die Aufbruchsstimmung da und die Welt steht mir wieder offen. Nie habe ich eine Reise im Nachhinein bereut. Das ist wie beim Sport. Jedes Mal wieder meldet sich der innere Schweinehund. »Ach, lass uns doch einfach hierbleiben …« Kennt jeder, stimmt’s? Und jeder weiß auch, dass das energiegeladene und zufriedene Gefühl nach einer Stunde Workout kaum zu toppen ist. Ich habe nie gehört, dass jemand nach dem Sport in der Umkleidekabine sagte: »Na, das hätte ich mir sparen können!«

Reisen lohnt sich, denn es bereichert das Leben. Immer. Deshalb kann mein Rat nur lauten: Geh los! Erlebe was! Schau dir andere Länder und Sitten an und überlege, von wem du dir etwas abschauen willst. Manchmal aber erlauben es die Lebensumstände nicht, andere Länder zu erkunden. Kein Problem, es gibt auch eine andere Möglichkeit, einer ungeheuren Vielfalt zu begegnen: Du lädst die Welt zu dir nach Hause ein. So ein weltoffener Mensch ist Silke. Ich habe sie auf der kleinen Nordseeinsel Pellworm erlebt. Hier wohnen gerade mal tausend Menschen, jeder kennt jeden. Schon in die nächste größere Stadt zu fahren ist ganz schön umständlich. Silke ist Biologin, hat vier Kinder und vermietet auf ihrem Hof Ferienwohnungen. Da kommt sie kaum zum Reisen. Scheinbar beste Voraussetzungen also, aus dem täglichen Trott nicht mehr herauszukommen. Trotzdem ist sie mit der ganzen Welt verknüpft. Dafür sorgen schon allein all die Gäste, die sie herzlich auf ihrem Hof begrüßt und auf deren Geschichten sie – im positiven Sinne – neugierig ist. Als ich sie kennenlernte, war ihr Sohn ein paar Tage zuvor nach einem Jahr als Austauschschüler aus Amerika zurückgekommen. Und eine ihrer Töchter war gerade in Irland. Im Gegenzug hatte Silkes Familie ein siebzehnjähriges Mädchen aus Norwegen mit thailändischen Wurzeln für ein paar Monate aufgenommen. In den ersten beiden Wochen war es ganz verzweifelt gewesen, doch dann hatte sie ihren Inselkoller überwunden und war zu einem richtigen Familienmitglied geworden. Weil Silke aktiv für einen ständigen Austausch sorgt, ermöglicht sie für sich und ihre ganze Familie großartige Erfahrungen. Nach den Dreharbeiten trafen wir uns zufällig noch einmal auf der Fähre zurück aufs Festland. Das norwegische Mädchen fuhr wieder nach Hause und die Familie begleitete es auf seiner mehrstündigen Fahrt zum nächsten Flughafen; so innig war das Verhältnis geworden. Bei dieser Mutter hat mich das überhaupt nicht gewundert.

Ich glaube, die Neugier auf die Welt macht das Leben größer. Je mehr du wahrnimmst und ein Auge für die kleinen Dinge am Wegesrand hast, desto mehr Denkanstöße bereichern dich. Ich bin froh, dass ich das Hinschauen schon früh gelernt habe, von meinen Eltern und auch in der Waldorfschule. Hier wird ganz besonders darauf geachtet, dass die Schüler mitbekommen, was in ihnen und um sie herum so stattfindet. Die enge Anbindung der Lernthemen an die Jahreszeiten und Jahreszeitenfeste ist nur ein Beispiel dafür, wie wir Kinder die ungeheure Vielfalt der Welt erleben durften. Dass wir so gleichzeitig auch an einen tiefen Respekt vor der Schöpfung herangeführt wurden, das spüre ich noch heute. Die Neugier und Offenheit, zu der ich in meiner Jugend angehalten wurde, trägt sicher viel zu meiner positiven Sichtweise im Leben bei.

Mit einer besonderen Fähigkeit der Wahrnehmung hat auch die nächste kleine Szene zu tun, von der ich berichten will. Wir waren zu Dreharbeiten in Stockholm. Eine bezaubernde Stadt! In der Städtereisen-Reihe ist es uns besonders wichtig, nicht nur die Klassiker abzufilmen, sondern ein authentisches Gefühl für die Stadt zu bekommen. Deshalb hatte die Autorin der Sendung wie immer im Vorfeld gut recherchiert, welche ausgefallenen Sehenswürdigkeiten für die Zuschauer interessant sein könnten. Ihr Ablaufplan sorgt für den nötigen Rahmen. Aber er lässt Kameramann Uwe und mir auch genügend Luft, um selbst zu entdecken und die Leute, die wir treffen, nach verrückten Attraktionen zu fragen, die in keinem Reiseführer stehen. Wenn sich der Geheimtipp vielversprechend anhört, gehen wir da auch hin. Außerdem achten wir vor Ort darauf, dass typische Impressionen, die die Stadt charakterisieren, nicht fehlen. Dann sagt Uwe: »Jetzt haben wir jede Menge interessante Gespräche. Ich mache jetzt noch ein paar Stimmungsbilder.« Die alte Brücke im Morgenlicht zum Beispiel oder das Kopfsteinpflaster aus der Froschperspektive, nur mit authentischen Naturgeräuschen. »Wie wär’s denn noch mit ein bisschen Atmo?« ergänzt der Tonkollege. Atmo ist die Kurzform für Atmosphäre, gemeint ist die pure Geräuschkulisse, in die niemand von uns reinquatscht. Oder ich sage: »Wir brauchen jetzt auch mal eine Oase zum Luftholen!« Dann finden wir ein kleines grünes Fleckchen, wo das Auge ausruhen kann – das kann auch mal ein alter Friedhof sein. So tragen wir alle dazu bei, die Sendung interessant und stimmig zu machen.

Wenn am Ende der Beitrag fertig geschnitten ist, dann ist er das Ergebnis sowohl von gewissenhafter Vorbereitung als auch spontanen Einfällen. Es ist wie so oft im Leben: Wenn es ganz leicht aussieht, steckt eine Riesenarbeit dahinter. Sieht der Zuschauer den fertigen Film im Fernsehen, könnte er glatt den Eindruck haben, die Tamina wäre mal eben total zufällig durch die Gegend gestolpert.

Das Spannungsfeld aus guter Vorbereitung und dem Wunsch, spontan sein zu dürfen, bestimmt das Vorgehen der Redaktion und auch meine Arbeit. Einerseits möchte ich natürlich wissen, was auf mich zukommt. Also informiere ich mich zu Hause am Schreibtisch über die Reisegegend, manchmal arbeite ich auch sogar schon Moderationen aus. Ich darf die Vorarbeiten aber auch nicht übertreiben. Denn zu viel angesammeltes Wissen behindert den unvoreingenommenen Zugang. Ich bin ja keine Schauspielerin, die eine Rolle spielt. Überraschte Freude über »unerwartete« Entdeckungen und Genüsse zu heucheln – für mich ist das nichts. Mein Job ist es, neben den Infos ganz persönlich und authentisch mit allen Sinnen Stimmungen und Gefühle zu vermitteln: Wie riecht und schmeckt es, wie fühlt es sich an?

Zurück nach Schweden. Wir waren auf dem Weg von einem Aufnahmeort zum nächsten. Zu Fuß, denn die Entfernungen in der Stockholmer Altstadt sind ja überschaubar. Britta, die Autorin hatte mir mit Absicht nichts über den nächsten geplanten Stopp mitgeteilt. Sie sagte nur: »Wir gehen jetzt mal dort drüben weiter, vielleicht fällt dir was auf.« Bald kamen wir an einer lärmenden und staubigen Baustelle vorbei. Der Bauzaun verengte den Weg und gerade an der schmalsten Stelle standen vor einem winzig kleinen Restaurant liebevoll dekorierte Tische und Bänke auf der Straße, die zum Verweilen einluden. Sogar der Bauzaun war geschmückt und in das Gesamt­arrangement mit einbezogen. Diese wunderbare Einladung zauberte uns allen sofort ein Lächeln ins Gesicht. Mein Herz schlug höher. »Guck mal, Uwe! Das sieht ja richtig fröhlich aus!« Und Uwe antwortete: »Na, dann lass uns mal reinschauen.« So geht das oft mit uns beiden.

Im Laden wurden den Gästen hausgemachte Spezialitäten angeboten. Unglaublich kreativ belegtes Smörrebröd gab es, so dicht belegt, dass man das Brot darunter gar nicht mehr sehen konnte. Alles war individuell und schräg, unglaublich bunt, die Wände geradezu tapeziert mit farbenfrohen Bildern. Überall Blumen und gemütliche Kissen. Eine so warme, freundliche Atmosphäre! Herrlich!

Die Autorin und ich hatten für den WDR schon viele Städtereisen zusammen gemacht. So ein Dreh schweißt zusammen, denn er bedeutet, dass man zu fünft – außer uns beiden sind noch Kameramann Uwe, Tonmann und Assistentin dabei – jeweils vier Tage lang unterwegs ist. Dreharbeiten sind eben sehr aufwendig, auch nach zwanzig Jahren denke ich manchmal: »Mein Gott, das dauert hier ja wieder …« Nur die allerbesten Szenen schaffen es in den fertigen Film. Er ist dann so geschnitten, dass es so aussieht, als wären nur Uwe und ich in der Stadt gewesen, und das auch für nur zwei Tage. Vier Tage lang ist das kleine Team rund um die Uhr zusammen, diskutiert, wie man das Wesentliche am besten sichtbar machen kann, ringt um den richtigen Zugang – da bekommt man schnell heraus, wie die anderen ticken.

Als mich die Autorin die kleine Stockholmer Gasse entlangschickte, hatte sie sich also schon gedacht, dass ich sofort auf den kleinen Laden anspringen würde. Eines war aber unvorhergesehen: Als sie und die Betreiberin des Restaurants im Vorfeld das Treffen abgesprochen hatten, wusste niemand, dass es gerade zum Drehtermin eine große Baustelle geben würde. Katastrophe! Doch die Ladenbesitzerin hatte das Beste aus der Situation gemacht, anstatt zu lamentieren und sich zu ärgern, dass all die potenziellen Kunden vorbeihasten und die Dreharbeiten wohl ins Wasser fallen würden. Nicht die Baustelle hatte sich des Restaurants, sondern das Restaurant hatte sich der Baustelle bemächtigt. Hässlicher Zaun und Baulärm waren kein Thema mehr. Als ich die Gäste fragte, warum niemand draußen an den Tischen sitzt, lachten sie nur. »Es ist noch zu kühl!« Und die Baustelle? »Welche Baustelle?«

Wenn mir mal wieder was Blödes widerfährt, denke ich gerne an diese positive Perspektive der Restaurantbesitzerin. Das kleine Erlebnis in Stockholm hat mich darin bestärkt, dass ich mich nicht ärgern, sondern lieber mit offenem Blick die Möglichkeiten, die sich mir bieten, wahrnehmen und ergreifen will. Ich weiß: Das ist leichter gesagt als getan …

Bei mir ist das so: Jede Begegnung bereichert mein Leben. Sie vergrößert das Spielfeld, auf dem ich mich im Leben bewege. Einige der intensivsten und lehrreichsten Momente hatte ich bei Dreharbeiten in Südafrika. Meine Vorfreude war groß auf dieses tolle Land mit seinen faszinierenden Städten, die sich den Touristen problemlos erschließen, und seiner großartigen Natur drum herum. Und das alles ohne Jetlag! Dieses wunderbare Land stellte unser Team allerdings auch vor eine fast unlösbare Aufgabe: Wie sollen wir seine unglaubliche Vielfalt denn nur in 90 Minuten Sendezeit packen? Wir wollten möglichst nah an das wahre Leben ran. Also nicht nur traumhafte Strände, Tafelberg und bunte Märkte zeigen, sondern auch den Alltag der Einheimischen. Die Entscheidung war schon in Deutschland gefallen: Wir würden auch in einem der vielen Slums rund um Kapstadt drehen. Ich fand die Entscheidung völlig richtig.

Als ich dann aber zusammen mit dem Drehteam im Mini­van auf der Fahrt in den Slum saß, merkte ich erstaunt, dass sich in mir Berührungsängste breitmachten. Die kenne ich sonst gar nicht. Den Blick aus dem klimatisierten Auto hinaus auf die immer ärmlicher werdenden Straßen fand ich sehr irritierend. Als wir dann ausstiegen, wurde meine Unsicherheit nur noch größer. Nach den gefühlten minus 15 Grad des Vans haute mich nicht nur die glühende Hitze der staubigen Straße um, sondern auch die Intensität meiner Emotionen. Der Kontrast zwischen der Hotel-Welt, aus der wir kamen, und der Lebenswirklichkeit der Menschen hier im Slum war kaum auszuhalten. Gewusst habe ich das natürlich auch vorher schon, aber es persönlich hautnah zu erfahren ist dann doch etwas ganz anderes. Das Letzte, was ich wollte, war eine Situation wie im Zoo. Ein bisschen Sightseeing durch ein Armutsviertel und dann zurück ins Hotel ans Büffet? Grausliche Vorstellung! Andererseits konnten wir doch nicht so tun, als gäbe es in Südafrika nur Sonne, Strand und eine fantastische Tierwelt. Ich war absolut ratlos, wie ich meinen Part hier mit Respekt über die Bühne bringen sollte.

Was war los mit mir? Mein Kopf war voller Bilder: die Schrecken der Apartheid, die immer noch große Kluft zwischen Arm und Reich. Dazu kam ein Gefühl der Scham und Verlegenheit. Wie sollte ich den Menschen hier begegnen? Mein Gedankenkarussell sorgte dafür, dass ich mir wie ein Eindringling vorkam. Im Nachhinein ist mir klar, dass ich mit Klischees und wildesten Vorstellungen total überfrachtet war. Durch all die Verhaltensregeln, die ich mir auf die Schnelle zurechtgelegt hatte, war ich wie gelähmt. Bloß nicht glotzen! Bloß nicht die wohlhabende Europäerin raushängen lassen! Auch dies war eine neue Erfahrung für mich: Ich war so gar nicht in meinem Element.

Doch dann ergab sich eine Situation, in der ich wieder ein wenig Boden unter den Füßen bekam. Beim Dreh im Armutsviertel mussten Kameramann und Tontechniker etwas miteinander besprechen, Zeit genug für mich, mal kurz in eine Nebengasse hineinzulaufen. Allein. Auf einmal hingen ganz viele Kinder an mir dran. Tanzten um mich herum, lachten … Jetzt kann man natürlich sagen: Das ist ja das Klischee überhaupt! Aber ich nahm das ganz anders wahr. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Das sind ganz einfach Kinder! Kinder, die Fußball und Fangen spielen und Faxen machen. Und es war einfach nur nett, mittendrin zu sein. Natürlich will ich nichts verharmlosen. Das Leben dieser Kinder ist weit weg von dem Leben meiner Kinder in Freiburg. Und trotzdem: Die Szene, in der ich mich plötzlich befand, hätte genauso gut in einer deutschen Spielstraße stattfinden können.

Dann kam der nächste Punkt auf der Tagesordnung. Unser Stringer hatte den Kontakt zu einer Medizinfrau hergestellt, die in dieser Gegend wohnte. Stringer? Was ist das denn? Bevor das Filmteam aus Deutschland anreist, hat der Kontaktmann vor Ort, der sogenannte Stringer, schon viel Arbeit. Er gibt wertvolle Insidertipps, stellt Verbindungen zu Behörden und anderen Entscheidern her und sorgt für die nötigen Drehgenehmigungen. Auf Wunsch des verantwortlichen Redakteurs hatte unser Stringer einen Besuch bei einer Medizinfrau vermittelt. Geplant war, dass Frau Animata, was übersetzt »die Vertrauenswürdige« heißt, mich in ihre zeltartige Hütte einladen würde. Auch diese Begegnung hatte mich im Vorfeld stark beschäftigt. Wieder war Kopfkino angesagt. Ich hatte keine Ahnung, wen ich da treffe und wie ich mich verhalten soll. Für mich war es ein großer Schritt, mich auf diesen Besuch einzulassen. Dann war der Moment da. Im gleißenden Licht Südafrikas stand mir eine unglaublich imposante Frau in geradezu königlichem Gewand gegenüber. Ich war befangen, fühlte mich klein und verunsichert. Als wir dann in ihrer Hütte saßen, schenkte sie mir als Erstes einen Tee ein. In diesem Moment der unkomplizierten Gastfreundschaft fielen endlich meine blöden Ängste und Vorurteile, die mich von den Menschen nur getrennt hatten, von mir ab. Nun konnte ich mir sagen: »Ich bin ein Mensch, der bei einem anderen Menschen zu Gast ist. Und den möchte ich jetzt schrecklich gerne kennenlernen.« Als wir mit Händen und Füßen miteinander redeten, war die Kamera vergessen. Ich fühlte mich geehrt, mit ihr sprechen zu dürfen.

Und noch etwas passierte mit mir. Während unseres Gespräches griff Mama Animata nach meiner Hand und hielt sie lange fest. Unglaublich, was so eine Berührung bewirkt! Da findet etwas ganz Elementares zwischen zwei Menschen statt. Religion, Rasse, Herkunft sind auf einmal völlig unbedeutend. Die physische Berührung lässt alles vermeintlich Trennende, alle Unterschiede wegfallen. Auf einmal wird klar: Darum geht es gar nicht! Es geht um etwas Urmenschliches, um die heilsame Verbindung zwischen zwei Menschen. Sie gibt uns das Gefühl für den großen Zusammenhang: Wir sind alle Menschen und wir sind alle gleich.

Es ist immer sehr schwer, aus der Fülle der Filmaufnahmen die Szenen auszuwählen, die es in den fertigen Film schaffen. Bei so mancher schönen Filmminute tut es mir geradezu körperlich weh, wenn sie ausgemustert wird. Doch es muss einfach sein. Auch mein Besuch bei Animata ist im Film nicht zu sehen, trotzdem ist er mir selbst nach über zehn Jahren absolut präsent. Das liegt auch an einer weiteren Begebenheit. Animata hatte mich gefragt, welche Wünsche ich habe. Ich war damals Anfang dreißig und gerade frisch getrennt. Weil ich mir ein Leben ohne Kinder nie hatte vorstellen können, beschäftigte mich der Gedanke, ob ich wohl noch irgendwann den richtigen Mann kennenlernen und eine Familie haben würde. Nach dem Ende unseres Gesprächs – der Kamera­mann war schon hinausgegangen – drückte sie mir ein kleines Medizinpüppchen in die Hand, mit vielen bunten Perlen verziert. Das sollte mir bei der Verwirklichung meines Lebenstraumes helfen. Bei den vielen Reisen, die ich unternehme, kann ich unmöglich von jeder Station ein Souvenir mit nach Hause bringen; ich müsste eine Scheune haben, um all die Dinge unterzubringen. Doch dieses Püppchen habe ich mit nach Hause genommen und behalten. Es steht heute noch bei mir zu Hause auf dem Fensterbrett und bildet eine Brücke zwischen der bewundernswerten, beeindruckenden Frau, die unter schwierigen Bedingungen ihr Leben meistert, und meinen beiden großartigen Kindern.