Mit Zorn sie zu strafen - Tony Parsons - E-Book + Hörbuch

Mit Zorn sie zu strafen E-Book

Tony Parsons

4,4
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Detective Max Wolfe ist zurück

London an einem klirrend kalten Neujahrstag. Detective Max Wolfe ist entsetzt: In einer noblen Wohnanlage wurde die Familie Wood ermordet. Mit einer Waffe, die sonst nur bei der Schlachtung von Tieren zum Einsatz kommt: einem Bolzenschussgerät. Allein der jüngste Sohn scheint verschont worden zu sein, doch von ihm fehlt jede Spur. Hat der Killer ihn in seiner Gewalt? Max bleibt nicht viel Zeit. Seine Ermittlungen führen ihn weit in die Vergangenheit, zu einem Mann, der vor 30 Jahren eine Familie tötete, auf die gleiche brutale Art. Doch der ist mittlerweile alt und sterbenskrank. Trotzdem verbirgt er etwas, das spürt Max - eine Ahnung, die ihn ins Grab bringen wird, und zwar buchstäblich ...

Tony Parsons Bestseller-Krimi-Reihe geht weiter: Der zweite Fall für Detective Wolfe

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 372

Bewertungen
4,4 (48 Bewertungen)
29
11
8
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitate

Prolog

Januar: Geisterhäuser von London

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Februar: Bekannte Straftäter

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

März: Sterbliche Überreste

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

Nachwort des Autors

Tony Parsons

Mit Zorn sie zu strafen

Max Wolfes zweiter Fall

Kriminalroman

Übersetzung aus dem Englischen von Dietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe: Copyright © 2015 by Tony Parsons Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright ©2015 by Bastei LübbeAG, Köln Lektorat: Judith Mandt Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de unter Verwendung eines Motivs von © getty-images: Ray WiseE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-1283-6

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Yuriko

Verbrechen wirken durch die Jahre und durch ganze Leben nach. Selten vernichtet ein Mord nur einen einzigen Menschen.

Joyce Carol Oates, After Black Rock

Die meisten Zigeuner fürchten die Toten.

Raymond Buckland,Buckland’s Book of Gypsy Magic – Travellers’ Stories, Spells & Healings

Prolog

Silvester

Der Junge erwachte vom Aufschrei seines Vaters.

Irgendwo den dunklen Korridor entlang, hinter der Tür des Elternschlafzimmers, brüllte sein Vater, als hätte unversehens etwas seine Welt aus den Angeln gehoben.

Entsetzen, Wut und Schmerz – das drückte dieser Schrei aus. Ehe der Junge ganz wach war, hatte er sein Bett verlassen und seine Zimmertür einen winzigen Spaltbreit geöffnet, gerade ausreichend, um durch den dunklen Flur die geschlossene Schlafzimmertür erkennen zu können, hinter der nun wieder Stille herrschte.

»Dad?«

Er stand da, stierte in die Dunkelheit, hörte nur seinen eigenen rasselnden Atem und die Stimmen der Betrunkenen, die von der Stadt hinaufhallten, wo der Tod eines weiteren Jahres gefeiert wurde.

Vom Wind bewegt, schlug hinter dem Haus eine Glocke. Die Tempelglocke im Garten seiner Mutter läutete so tief und dröhnend, als wollte sie das Ende aller Dinge verkünden.

Und hinter der Schlafzimmertür am Ende des Flurs begann seine Mutter zu schreien.

Als sie endlich aufhörte, schluchzte sein Vater, als hätte ihm etwas das Herz gebrochen.

Furcht und Schock schnürten dem Jungen die Kehle zu.

Sein freundlicher, ruhiger Vater mit dem gleichmütigen Lächeln und dem amüsierten Tonfall, der Vater, der nie die Stimme erhob und die Hand schon gar nicht, er schluchzte, als wäre ihm alles, was er liebte, genommen worden.

Dann hörte der Junge eine Stimme, die er nicht kannte.

Gebieterisch.

Unmenschlich.

Zornig.

»Ich sage es dir nicht noch einmal: Ich will, dass du zusiehst.«

Dann Geräusche, die nicht passen wollten.

Ein Geräusch, als ob Holz gehackt wurde. Tschak …tschak …tschak … Und das leise erbärmliche Stöhnen aus dem Schlafzimmer den Flur hinunter begleitete den trunkenen Jubel der Feiernden in der anderen Welt.

Nichts davon erschien wirklich.

Der Junge sackte zusammen, lehnte den Rücken gegen die Tür. Sein Atem kam flach und keuchend, und auf einmal bemerkte er die Tränen, die ihm die Wangen hinunterliefen.

Irgendwo im Haus begann der Hund zu bellen, und das vertraute Geräusch, diese unerwartete Erinnerung an eine Welt, die er begriff, versetzte ihn in Bewegung.

Er schlüpfte aus dem Zimmer. Sein Herz hämmerte, seine Beine waren schwer, und ein glitschiger Film aus Angstschweiß bedeckte seine Haut.

Rasch entfernte er sich von den schrecklichen Geräuschen, folgte dem Flur zum Zimmer seiner Schwester.

Er ging hinein und fand sie auf dem Bett sitzend vor, noch für die Party zurechtgemacht, mit trockenen Augen. Das Gesicht weiß vor Entsetzen, tastete sie nach ihrem Handy und drückte einmal die 9.

Beide sahen zur geöffneten Tür, als sich im Schlafzimmer die Geräusche der Gewalt zu einer Eruption steigerten. Unbekannte, unbegreifliche Geräusche. Ein Kampf von entsetzlicher Wildheit, Fleisch und Knochen, die gegen Wände und Boden knallten. Dumpfe Schläge und gedämpftes Ächzen.

Die Geräusche eines Kampfes um Leben und Tod.

Er sah, wie seine Schwester noch eine 9 tippte.

Er schloss die Augen; ihm war schwindlig vor Übelkeit.

Es würde vorbeigehen. Er würde aufwachen, und der Albtraum wäre vorüber. Aber als er die Augen öffnete, war der Horror wirklicher als alles, was er je erlebt hatte.

Mit zitternden Händen drückte seine Schwester die dritte und letzte 9.

Der Hund bellte wütend.

Und dann näherten sich im Flur schwere Schritte, ohne jeden Versuch der Heimlichkeit.

Sie kamen jetzt zu ihnen.

»Die Tür!«, wisperte seine Schwester, und der Junge sprang vor und verschloss die Tür in einer einzigen verzweifelten Bewegung.

Dann trat er zurück. Er konnte den Blick nicht von der abgesperrten Tür nehmen.

Jemand klopfte.

Ein behutsames, fast spielerisches Klopfen mit den Fingerknochen.

Der Junge sah seine Schwester an.

Die Tür drückte sich gegen ihren Rahmen, als würde sie von einer kräftigen Schulter auf die Probe gestellt. Dann, als Tritte das Holz trafen, knackte, splitterte und riss es.

»Notrufzentrale – mit wem möchten Sie verbunden werden?«

»Bitte«, sagte das Mädchen. »Wir brauchen Hilfe.«

Dann war der Junge am Fenster, riss es auf. Eiskalte Luft strömte herein, begleitet von Geräuschen ferner Partys, Musik und Gelächter. Dem letzten Tag des Jahres blieben nur noch wenige Minuten.

Er drehte sich um, als die Türfüllung einbrach. Eine dunkle Gestalt schob eine Hand durch das zerfetzte Holz und tastete nach dem Schlüssel, den der Junge im Schloss stecken gelassen hatte.

Die Gestalt vor der Tür sah nicht aus wie ein Mensch.

Sie sah aus wie undurchdringliche Finsternis.

Als die Gestalt ins Zimmer seiner Schwester trat, roch der Junge sie bis zum Fenster: Sie stank nach Schweiß, Blut und Sex und irgendwie mechanisch, ein Geruch nach alten Autos, toten Motoren und Pfützen aus Schmierfett.

Aus dem Handy seiner Schwester erklang wieder die Stimme.

»Hallo? Mit wem möchten Sie verbunden werden?«

Dann stürzte der Junge plötzlich, fiel durch die kalte Luft und prallte stöhnend auf der kiesbedeckten Einfahrt auf.

Er sah zum Fenster im ersten Stock hoch.

Seine Schwester hatte ein Bein über die Fensterbank geschwungen.

Die schwarze Gestalt musste sie beim Hals gepackt haben, denn sie bekam keine Luft – ja, der Junge sah es jetzt, dicke Finger hatten ihre Halskette umschlungen und verdrehten sie, so wie man es bei einem gefährlichen Hund mit seinem Halsband macht.

Die schwarze Gestalt versuchte sie zu erwürgen.

Dann musste die Halskette gerissen sein, denn seine Schwester stürzte seitlich aus dem Fenster, eine lange Sekunde lang, wie es schien. Instinktiv trat er beiseite, und sie knallte hart auf den Kies neben ihm.

Dann half er ihr auf. Irgendwas stimmte mit ihrem Knie nicht. Während sie die Einfahrt hinunterhasteten, musste der Junge sie stützen.

Sie lebten in einer geschlossenen Wohnanlage am höchsten Punkt der Stadt, sechs große Häuser hinter einem hohen schmiedeeisernen Tor und hohen Backsteinmauern, deren Kronen diskret mit Klingendraht geziert waren.

Ganz London lag unter ihnen.

Man kam sich vor wie auf dem Gipfel der Welt.

Er ließ seine Schwester mitten auf der Straße stehen, wo sie sich die blutigen Knie rieb, und überquerte die Fahrbahn zum nächsten Haus, läutete Sturm, rief um Hilfe, schrie von Mord.

Aber das Haus lag in Dunkelheit.

Er sah, dass in fast allen anderen fünf Häusern der exklusiven Wohnanlage kein Licht brannte. Nur das Haus am Ende der Straße war hell erleuchtet, und dort war Lärm. Der Junge rannte hin und hämmerte gegen die Tür.

Aber die Musik verschluckte jeden seiner Laute. Alles wartete auf zwölf Uhr.

Er hörte fröhliche trunkene Stimmen in einem Durcheinander von Sprachen.

Polnisch. Tagalog. Spanisch. Italienisch. Pandschabi. Und gebrochenes Englisch.

Die Eigentümer waren fort, die Dienstboten feierten Silvester.

Und die Dienstboten hörten ihn nicht.

Dann kam seine Schwester zu ihm. Sie humpelte. Mit ihrem vollen Gewicht konnte sie nur einen Fuß belasten.

Als am Himmel Feuerwerk aufflammte, sahen sie beide hoch. In der Ferne jubelten Menschen und klangen plötzlich viel betrunkener und viel fröhlicher. Irgendwo weinte ein Baby. Die Geschwister blickten zu ihrem Haus zurück.

Der Junge fluchte.

»Wir können ihn nicht zurücklassen«, sagte seine Schwester. »Riechst du das auch?«

Brandgeruch lag in der Luft, ein Geruch nach Rauch und Pulverdampf und Flammen.

»Das ist das Feuerwerk«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Er brennt unser Haus nieder.«

Nun sah er es auch.

Schwarzer Rauch quoll aus einem Fenster im Erdgeschoss.

»Du gehst Hilfe holen«, sagte seine Schwester. »Ich hole den Kleinen.«

Er wischte sich das Gesicht ab und schluckte einen dicken Klumpen Mageninhalt herunter, als seine Schwester zum brennenden Haus zurückhinkte. Der Rauch war schon dichter, die Stimmen der Feiernden schwollen noch einmal an.

»Zehn!«

Seine Schwester drehte sich um und sah kurz zu ihm zurück. Ihr Gesicht wirkte im Mondlicht schneeweiß.

»Neun!«

Er beobachtete, wie sie die Einfahrt hinaufhumpelte, dann an der Hausseite entlang. Mit absoluter Sicherheit wusste er, dass er sie niemals wiedersehen würde.

»Acht!«

Ihm schauderte vor Kälte und Angst. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Sieben!«

Er hörte die Feiernden in dem erhellten, lauten Haus voller Gelächter, doch sie schienen jetzt weit entfernt zu sein, entfernt von allem, was er begriff, von allem, das irgendwelchen Sinn ergab.

»Sechs!«

Er schrie. Panik und Frustration überwältigten ihn.

»Fünf!«

Niemand hörte es. Niemanden kümmerte es. Er war vollkommen allein.

»Vier!«

Vom höchsten Hügel Londons aus sah er bunten Lichterregen am Stadthimmel, hörte kreischenden Explosionslärm und Böllerknallen. Es war ein beeindruckendes Spektakel, als leerte ein achtloser Gott ein Schmuckkästchen über das Firmament aus.

Da wusste er, dass er es schaffen konnte. Er würde durch die Eisentore gehen, die angebracht worden waren, um die Bösen und Armen fernzuhalten, und er würde den Hang hinunterlaufen und unten Hilfe finden. Das würde er tun. Dann wäre der Albtraum vorüber.

»Drei!«

Ihr Hund bellte wieder, und der Rauch war noch dichter. Er konnte seine Schwester nicht mehr sehen. Das Wohl seiner Familie hing jetzt von ihm ab.

»Zwei!«

Er rannte los zum Eisentor.

»Eins!«

Als das neue Jahr begann und der Himmel über ihm erstrahlte, rammte das Auto den Jungen, erfasste ihn von hinten an den Beinen.

»Frohes neues Jahr!«

Der Wagen fuhr sehr schnell und schleuderte ihn rückwärts auf die Motorhaube. Von dort prallte er ab und kam ausgestreckt auf dem kalten Asphalt zum Liegen. Benommen hörte er, wie das Auto zurücksetzte. Die Hinterräder überrollten die Beine des Jungen und zermalmten sie zu einem blutigen Brei aus rohem Fleisch und Knochensplittern.

Irgendwo jubelten Menschen.

Der Junge aber lag auf dem Rücken und schaute in einen Himmel hoch, der heller war als am Tag. Überall leuchteten Farben – Gelb-, Rot-, Blau- und Grüntöne explodierten zwischen den Sternen und trieben zu Boden. Es war sehr friedlich, dort zu liegen und den Himmel zu beobachten. Bis ihn der Schmerz überfiel, ein Schmerz der Art, bei dem man seinen Magen entleeren muss. Der Junge spürte seine zerquetschten Beine, und der Schmerz war unerträglich.

Er würgte einen Klumpen aus Blut und Schleim hervor, als sich eine dunkle Gestalt über ihn beugte.

»Bitte«, sagte der Junge. »Helfen Sie mir.«

Die dunkle Gestalt hob ihn hoch.

Mit starken Händen. Freundlichen Händen.

Der Junge zweifelte, ob das richtig war. Durfte er bewegt werden? Vielleicht war es ja gar nicht das Beste in seiner Situation. Doch Dankbarkeit und Erleichterung vertrieben alle Zweifel.

Bis er die gleiche widerliche Mischung roch, den Cocktail aus altem Schweiß und altem Fett, sowohl mechanischer wie menschlicher Natur.

Bis er sah, dass die Hände und Arme, die ihn festhielten, vom Blut seiner Familie trieften.

Das Feuerwerk über London war nun ein Farbspektakel ohnegleichen. Doch während der Junge zurückgetragen wurde zu dem, was von seiner Familie blieb, hatte er kein Auge mehr für all die Farben am Himmel, sondern ergab sich dankbar der Schwärze, die sein Bewusstsein verschluckte.

Januar Geisterhäuser von London

1

Der 1. Januar war strahlend blau und bitterkalt. Der einzelne Schuss aus dem Wohnblock zerriss die Stille des Tages.

Ich warf mich hinter das nächste Auto, prallte hart auf den Boden und trieb mir Splitt in die Handflächen. Auf meinem Gesicht stand Schweiß, der nichts mit dem Wetter zu tun hatte.

Jeder Schuss aus einer Waffe wird mit Aggression abgefeuert, dieser hier sollte töten. Er zerriss den wolkenlosen Himmel und ließ in mir keinen Raum für etwas anderes als nackte Angst übrig. Für einen langen Moment lag ich ganz still da und versuchte, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann erhob ich mich auf die Knie und drückte den Rücken fest gegen das helle Blau und Gelb eines Bewaffneten Einsatzfahrzeugs. Mein Herz hämmerte, aber ich bekam wieder Luft.

Ich sah mich um.

Die bewaffneten Beamten vom SCO19 waren bereits in Stellung, spähten unter ihren PASGT-Kampfhelmen zu den Wohnungen hoch, Sturmgewehre von Heckler & Koch in den schwarz behandschuhten Fingern. Zwischen ihnen waren Streifenpolizisten und Kriminalbeamte in Zivil wie ich. Alle hielten wir uns zwischen den Bewaffneten Einsatzfahrzeugen und den grün-gelben Schnellen Einsatzfahrzeugen in Deckung. 9-mm-Glock-Pistolen wurden aus Holstern an der Hüfte gezogen.

In meiner Nähe fluchte eine Frau. Sie war klein, blond, Ende dreißig. Jung, aber kein Frischling. DCI Pat Whitestone. Mein Boss. Sie trug einen Sweater mit einem Rentiermotiv. Ein Weihnachtsgeschenk. Niemand kauft sich selbst einen Pullover mit einem Rentier drauf. Ihr Sohn, dachte ich. Der Junge fand es wohl witzig. Sie schob sich die Brille hoch.

»Beamter verletzt!«, rief sie. »Bauchschuss!«

Ich sah hinter dem Fahrzeug hervor und entdeckte die Streifenbeamtin, die mitten auf der Straße auf dem Rücken lag und um Hilfe rief. Die sich den Bauch hielt. Die in den makellos blauen Himmel schrie.

»Lieber Gott … bitte …«

Wie viel Zeit seit dem Schuss? Dreißig Sekunden? Mit einer Kugel in den Eingeweiden ist das viel Zeit. Ein ganzes Leben.

Ich hörte noch einen unterdrückten Fluch, dann war DCI Whitestone aufgesprungen und rannte zu der niedergeschossenen Beamtin, eine kleine Frau im Rentierpullover, die sich beim Rennen fast zusammenkrümmte und mit der Zeigefingerspitze die Brille festhielt.

Ich atmete noch einmal durch, dann hastete ich ihr nach, den Kopf eingezogen, jeden einzelnen Muskel in Anspannung für den zweiten Schuss.

Es hat seinen Grund, wieso die meisten Bauchschüsse tödlich sind und die meisten Bauchstiche nicht.

Eine Klinge verursacht ihren Schaden an einer begrenzten Stelle, doch eine Kugel flitzt hin und her und zerstört alles, was ihr in den Weg gerät. Wenn ein Messer Schlagadern und Eingeweide verfehlt, man schnell genug in die Obhut eines Anästhesisten und eines Chirurgen kommt und der Entzündung entgeht – die meisten Messerhelden sind nicht so umsichtig, ihre Klingen zu sterilisieren, ehe sie einen niederstechen –, dann hat man eine gute Chance zu überleben.

Aber ein Bauchschuss ist für den Körper eine Katastrophe. Kugeln finden in der Mikrosekunde, die sie im Unterleib umherirren, genügend Wege, etliche Organe zu vernichten. Dünndarm, Dickdarm, Leber und, am schlimmsten von allem, die Aorta, die große Körperschlagader, von der alle anderen Arterien abzweigen. Wenn die Aorta verletzt wird, verblutet man in null Komma nichts.

Mit einem Messer im Bauch geht man nach Hause zur Familie, es sei denn, man hat ganz großes Pech. Mit einer Kugel im Bauch sieht man sie vermutlich nie wieder, ganz egal, wie viel Glück man sonst hat.

Bei einer Messerwunde im Bauch ruft man um Hilfe.

Bei einer Schusswunde im Bauch ruft man nach dem lieben Gott.

Wir kauerten neben der niedergeschossenen Beamtin. Whitestone übte direkten Druck auf die Wunde aus, hatte ihre Hände auf dem Bauch der Polizistin, versuchte die Blutung zu stoppen.

Meine Gedanken überschlugen sich bei dem Versuch, mich an die fünf entscheidenden Schritte bei der Behandlung einer Schusswunde zu erinnern. A, B, C, D, E bringen sie einem bei der Ausbildung bei. Airways, Breathing, Circulation, Disability, Exposure. Luftwege, Atmung, Kreislauf, Invalidität – gemeint ist eine Schädigung der Wirbelsäule oder des Genicks – und Freilegung, was bedeutet, dass man nach der Austrittswunde und anderen Verletzungen sucht. Doch das hatten wir schon hinter uns. Das Blut floss und färbte die blaue Uniformjacke der Beamtin noch dunkler.

»Bleib bei uns, Schätzchen«, sagte Whitestone sanft, wie eine Mutter zu ihrem Kind, während sie weiter fest auf die Wunde presste; ihre Hände waren schon voller Blut.

Die Streifenpolizistin war sehr jung, einer von diesen idealistischen Teenagern, die zu Londons Metropolitan Police kommen, um die Welt zu verbessern.

Ihr Gesicht war weiß wie Kalk durch den Schock.

Schock vom Blutverlust, Schock vom Trauma der Schussverletzung. Ich bemerkte an der linken Hand einen schmalen Verlobungsring.

Sie starb mit einem hörbaren Keuchen und einer Blase aus Blut auf den Lippen. Whitestones Augen glänzten vor Tränen, und ihr Mund presste sich zu einem Strich unbändiger Wut zusammen.

Wir sahen zum Balkon hoch.

Der Mann war da.

Der Mann, der irgendwann am Neujahrstag entschieden hatte, dass er seine komplette Familie umbringen würde. Das hatten wir aus dem Notruf erfahren. Das war sein Plan. Das hatte sein Nachbar ihn durch die Wand schreien hören.

Der Mann auf dem Balkon hielt sein Gewehr. Irgendein schwarzes Jagdgewehr. Ein Laseraufsatz war daran befestigt, der einen kleinen grünen Punkt als Zielhilfe aussandte, in der gleichen verschwommenen Farbe wie Luke Skywalkers Lichtschwert. Ich sah, wie der grüne Punkt über den Boden zuckte – das Gras vor dem Mietshaus, den Asphalt der Straße – und zum Stillstand kam, als es uns erreichte.

Wir bewegten uns nicht. Alles stand still. Das Licht blieb auf mir haften, dann auf Whitestone. Als könnte es sich nicht zwischen uns entscheiden.

»Sie ist tot«, sagte ich.

»Ich weiß, Max«, antwortete Whitestone.

Sie sah zu den bunt markierten Fahrzeugen, den Blöcken aus dem Blau und Gelb der Bewaffneten und dem Grün und Gelb der Schnellen Einsatzfahrzeuge. Zwischen ihnen zeigte sich der stumpfe Metallglanz der Glocks und Heckler & Kochs, die mittelalterlich anmutende Wölbung der Kampfhelme, die angespannten Gesichter.

Whitestone rief ihnen etwas zu. Der grüne Laserzielpunkt des schwarzen Jagdgewehrs zuckte über das Rentier auf ihrem Sweater und verharrte darauf.

»Macht ihn unschädlich!«, rief sie.

Dann hörte ich auch ihre Stimmen.

»Ich habe freies Schussfeld!«, meldete jemand.

Aber niemand schoss.

Ich dachte an das Palaver, das wegen jeder abgefeuerten Patrone drohte. Die automatische Suspendierung, die endlose Analysiererei jedes einzelnen Schusses, die Verdächtigungen. Die Aussicht auf eine Gefängnisstrafe und die Warteschlange beim Sozialamt. Kein Wunder, dass sie mit dem Schießen zögerten.

Doch das war gar nicht der Grund für ihre Zurückhaltung.

Als ich zum Balkon hochsah, bemerkte ich, dass der Mann nicht mehr allein war. Eine Frau war bei ihm. Ein Tuch bedeckte ihren Kopf, aber ich war zu weit entfernt, als dass ich erkennen konnte, ob sie es aus religiösen oder modischen Gründen trug.

Er beschimpfte sie. Er warf ihr all das an den Kopf, was Männer Frauen ständig an den Kopf werfen. Dann schien er sie von sich zu stoßen und bückte sich nach etwas, das auf dem Boden lag. Er hielt es beim Nacken, schüttelte es.

Ein Kind. Höchstens zwei Jahre. Von der Stelle, wo wir knieten und die tote Polizistin lag, konnte ich seine Pausbäckchen sehen. Das Kind wand sich wie ein gequältes Tier, als der Mann es über die Brüstung des Balkons hielt.

Im vierten Stock.

Am Boden nur Beton.

Der Mann brüllte etwas. Die Frau neben ihm weinte, und ohne hinzusehen, knallte er ihr den Kolben des schwarzen Jagdgewehrs ins Gesicht. Sie wankte zurück.

Dann fiel das Kind auf einmal.

Die Frau schrie auf.

»Feuer frei!«, rief jemand.

Ein einziger Schuss knallte. Augenblicklich schoss ein Blutstrahl aus dem Hals des Mannes auf dem Balkon. Er fiel nicht. Er taumelte zurück, krachte durch die Glastür und verschwand in der Wohnung. Wie fragil wir alle sind, dachte ich, wie leicht zu zerbrechen, immer so dicht vor dem Zerfall.

Da war ich bereits losgerannt. Ich glitt auf dem Gras aus, das von Eis rutschig war. Der Ruf nach Gottes Hilfe drang mir ungebeten über die Lippen.

Aber die Entfernung war zu groß, und Gott hatte meinen Ruf nicht gehört.

2

Auf dem Fleischmarkt von Smithfield war alles ruhig.

Unter dem Eindruck der Ereignisse vom Morgen durchquerte ich schaudernd den hohen Torbogen des Marktes, an der Reihe alter roter Telefonzellen und der Plakette vorbei, die die Stelle anzeigte, wo sie William Wallace getötet hatten. Noch war es keine vier Uhr nachmittags, doch die Sonne sank schon hinter die Kuppel der St. Paul’s Cathedral.

Am anderen Ende des Platzes war eine Ladenzeile. Die Geschäfte hatten wegen des Feiertags geschlossen, aber aus einer Wohnung darüber drang Musik. Geigen, Flöten und Harfen spielten in einem irrwitzigen Tempo ein Lied über ein Mädchen namens Sally MacLennane. Irische Musik. Fröhliche Musik. Wahrscheinlich die Pogues, dachte ich. Die Aufschrift auf dem dunklen Schaufenster war vom Alter blättrig.

MURPHY & SON

Heizung und Installation – Privat und Gewerbe vertrauenswürdig und verlässlich

Ich betrat den Eingang neben dem Laden und stieg die Treppe zu den Wohnungen hoch. Einige Bewohner hatten ihren Weihnachtsbaum schon rausgeworfen, aber bei den Murphys wurde noch gefeiert. Es dauerte eine Weile, bis sie mich läuten hörten, so laut sang Shane MacGowan über seine Sally MacLennane, und so laut brüllten die Kinder und Erwachsenen in der Wohnung.

Scout, meine Tochter, öffnete mir die Tür. Fünf Jahre alt und atemlos. Mit rosigen Wangen. Sie hatte einen Heidenspaß. Neben ihr standen Shavon, ein kleines rothaariges Mädchen, das vielleicht ein Jahr jünger war, und ihr kleiner Bruder Damon. Dazu kam ein roter Cavalier King Charles Spaniel, der vor Aufregung keuchte: unser Hund Stan, dem schüchtern ein o-beiniger schwarzer Mischlingswelpe nachschnüffelte, den ich noch nie gesehen hatte.

»Wir müssen doch noch nicht gehen, oder?«, begrüßte mich Scout.

»Und wer ist das?«, gab ich mit einem Blick auf den Mischling zur Antwort.

»Das ist Biscuit«, sagte Shavon.

»Sie essen erst mal ein Wurstbrötchen, Mr Wolfe«, sagte Mrs Murphy. Sie führte mich in die Wohnung, wo mich ihr Mann begrüßte, Big Mikey – ein kleiner, dünner, gepflegt aussehender Mann mit silbrigem Haar und einem adretten Schnurrbart –, und ihr Sohn Little Mikey – ein schwarzhaariger Hüne um die dreißig, der nichts Kleines an sich hatte. Little Mikeys Frau Siobhan gab einem Säugling in Blau das Fläschchen: Baby Mikey.

Der Weihnachtsbaum funkelte und leuchtete. Kirsty MacColl und Shane MacGowan erzählten ihr Märchen von New York. Ich bekam einen Teller mit Wurstbrötchen und eine Flasche Bier. Ich starrte das Bier an, als hätte ich so etwas noch nie gesehen.

»Für Ihren Kaffee ist es schon zu spät«, sagte Mrs Murphy. »Sie brauchen Ihren Schlaf.« Dabei war sie Scouts Tagesmutter, nicht meine.

Ich nickte und bedankte mich murmelnd bei den Murphys dafür, dass sie auf Scout aufgepasst hatten. Wie auf Kommando erhoben sie protestierend die Stimmen, versicherten mir, dass sie keine Mühe mache, eine Freude sei und eine wunderbare Spielgefährtin für die Kleinen. Sie waren die freundlichsten Menschen, die ich kannte.

Ihre Familie war wohl recht klein. Allen Klischees über irische Katholiken zum Trotz war Mikey ein Einzelkind. Doch drei Generationen Mikeys erschienen im Vergleich zu mir, Scout und Stan wie ein gewaltiger Klan.

Die Murphys waren eine Familie selbstständiger Klempner, und ich sah deutlich, dass sie Feiertage eigentlich gar nicht kannten.

Big Mikey wischte auf seinem iPad herum, um zu sehen, wann sie eine Frau aus Barnet mit einem Wasserrohrbruch einschieben konnten. Little Mikey sprach mit einem Mann in Camden, dessen Wasserboiler ausgefallen war. Und als mein Handy vibrierte, wusste ich, dass auch mein Arbeitstag noch nicht zu Ende war.

Ich las die SMS. Es war schlimm. Ein Muskel an meinem linken Auge begann zu zucken. Ich legte eine Hand darüber, damit die Murphys es nicht bemerkten.

Big Mikey und Little Mikey sahen mich mitfühlend an.

»Die Feiertage«, sagte Mrs Murphy beinahe entschuldigend. »Alle Hände voll zu tun.«

Das große Haus gehörte zu einer geschlossenen Wohnanlage in Highgate.

The Garden stand auf dem Tor.

Die Anlage befand sich am höchsten Punkt Londons, am Nordrand von Londons Geldgürtel. Ich stand außen vor dem elektrischen Tor, den Dienstausweis in der Hand, und nahm einen Zug Luft, so frisch und rein und süß, dass sie beinahe alpin anmutete.

Ein Streifenbeamter trug mich in die Anwesenheitsliste ein. Das elektrische Tor fuhr auf. Detective Constable Edie Wren kam mir auf High Heels entgegen. Ihr rotes Haar war hochgesteckt, und sie sah aus, als wäre sie zu einer Verabredung zum Abendessen unterwegs gewesen, als sie den Anruf erhielt.

Ich warf noch einen Blick auf die geschlossene Wohnanlage. »Sind diese Häuser alle Spekulationsobjekte?«

Da es in London mehr Milliardäre gibt als in jeder anderen Stadt auf der Welt, erleben wir oft, dass hochklassige Immobilien aufgekauft und leerstehen gelassen werden, während ihr Wert um ein paar Milliönchen steigt.

Reiche Leute können immer irgendwo anders hin.

»Einige ja, andere nicht«, sagte Edie. »Es ist eine Familie, Max.« Sie zögerte einen Augenblick, als könnte sie es nicht ganz glauben. »Eltern und zwei Kinder. Teenager. Sehr gekonnt. Sieht aus, als wären sie hingerichtet worden.«

Die beiden Torflügel schlossen sich hinter uns.

Sechs große Häuser standen in dem Komplex. Unser Absperrband umgab eines davon, und in dem Kordon legten die Forensiker weiße Schutzanzüge an, während die Streifenpolizisten mit kalten Füßen aufstampften. Winterliche Finsternis zog auf, und die Blaulichter unserer Fahrzeuge durchstachen das Dunkel.

Jenseits der hohen Mauern der geschlossenen Wohnanlage sah ich einen grünen Wald, der sich in die Ferne erstreckte. Doch zwischen den Bäumen und dem wirren Unterholz ragten große Kreuze, Steinengel und hier und da ein altes Mausoleum auf. Ein Friedhof, den die Natur zurückerobert hatte.

Highgate Cemetery.

Uniformierte Beamte klopften an die Türen der anderen Häuser, in deren Fenstern Weihnachtsdekorationen blinkten. Mitten auf der Straße, die unsere Fahrzeuge verstopften, wurde ein privater Wachmann von einem jungen schwarzen Kriminalbeamten befragt. Als Detective Inspector Curtis Gane mich sah, nickte er und legte dem Wachmann eine Hand auf die Schulter. Dem Mann stand vor Schock der Mund offen. Er hatte keine Schuhe an den Füßen.

»Der Wachmann hat es gemeldet«, sagte Edie. »Er machte seine Runde, als er sah, dass die Haustür offen stand. Er ging hinein.«

»Und ist durchs ganze Haus marschiert«, sagte ich.

»Das können wir nicht ändern. Die Spurensicherung hat seine Schuhe, die Abdrücke lassen sich leicht eliminieren.« Edie zeigte auf das elektrische Tor. »Er geht davon aus, dass niemand hier hereinkommt, ohne dass er es merkt.«

»Dann ist der Täter von hinten reingekommen«, sagte ich. »Hinter der Mauer liegt Highgate West Cemetery.«

»Da ist Karl Marx begraben, richtig?«

»Marx ruht auf dem Highgate East Cemetery. Auf der anderen Seite der Swain’s Lane, in dem Teil, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Hinter der Umfassungsmauer hier liegt der Westteil des Friedhofs, der für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Sie öffnen ihn nur gelegentlich für Führungen oder Begräbnisse.«

Edie blickte skeptisch auf den Friedhof im Wald. In der Dämmerung sah man nur noch die Steinengel mit den gebeugten Köpfen.

»Man bestattet da immer noch Menschen?«

Ich nickte. »Von dort wäre ich gekommen«, sagte ich und zog mir ein Paar Schutzhandschuhe über.

Am Absperrband wiesen wir uns aus, und ich trug uns erneut ein. Wir standen noch ganz am Anfang, und unsere Forensiker, kurz SOCOs von Scene of Crime Officers, waren noch nicht ins Haus gegangen. Sie standen bereit in ihren weißen Bunny-Anzügen mit den blauen Handschuhen, aber sie mussten abwarten, bis die Ermittlungsleiterin, Detective Chief Inspector Whitestone, den Verbrechensschauplatz besichtigt und der Tatortfotograf ihn dokumentiert hatte – tadellos und unberührt, genauso entsetzlich wie bei der Entdeckung. Denn sobald wir alle hineingegangen waren, sähe er nie wieder so aus.

Ich hörte das undeutliche elektronische Geschnatter der Airwave-Digitalfunkgeräte, und aus der Entfernung näherten sich weitere Streifenwagen. Ihre Sirenen zerschnitten die Luft, ihr Blaulicht färbte den Abend. Sie alle müssten abwarten, bis DCI Pat Whitestone ihre entscheidend wichtige erste Inspektion abgeschlossen hatte.

Unmittelbar bevor wir die offene Haustür erreichten, an der zwei uniformierte Beamte warteten, blieb Edie stehen.

»Schau mal«, sagte sie. Wir zwei Detective Constables duzten uns mittlerweile.

Jemand hatte eine Holzstange in die Büsche geschoben. Sie war vielleicht drei Meter lang und bestand aus Bambus. Am einen Ende war ein s-förmiges Stück aus silbrigem Metall. Ein Fleischerhaken. Das Ganze sah aus wie eine primitive Angel. Und genau so nannten wir diese verbreitete Form des Einbruchs.

»Ein Angler«, sagte Edie. »So muss er reingekommen sein.« Sie drehte sich um und rief einen SOCO. »Würden Sie das bitte aufnehmen und eintüten?«

Die Bambusstange musste durch den Briefkastenschlitz eingeführt worden sein, und dann hatte der Täter mit dem Fleischerhaken einen Schlüsselbund vom Brett gehoben. Der Bund lag jetzt achtlos hingeworfen neben der Tür.

»Jeder denkt, er wäre sicher.« Ich schüttelte den Kopf.

Als wir ins Haus gingen, schlug uns Benzingestank entgegen.

Weiße Punktscheinwerfer erhellten einen langen weißen Flur, der zu einem gewaltigen, zwei Stockwerke hohen Lichthof führte, einem großen offenen Raum mit einer Rückwand aus Glas. Jemand hatte versucht, ihn in Brand zu setzen. Zwei Feuerwehrleute untersuchten einen geschwärzten Fleck, der eine ganze Wand und den halben Boden eines Koch-und-Ess-Bereichs bedeckte. Ein langer Tisch bot zwölf Personen Platz. Jenseits der Glaswand gab es nur Schwärze.

DCI Whitestone stand vor einer halb nackten Gestalt am Boden. Die Leiche gehörte einem männlichen Teenager mit einer einzelnen Einschusswunde in der Stirn. Seine Beine waren in merkwürdigen Winkeln verdreht, seine Augen standen noch offen.

»Max«, sagte Whitestone leise, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Es war ein langer Tag gewesen, und ich sah die Anstrengung auf ihrem Gesicht. Trotzdem klang sie ruhig, sachbezogen, bereit, an die Arbeit zu gehen. »Was halten Sie davon?«, fragte sie mich. »Neun Millimeter?«

Wie es aussah, war der Junge aus nächster Nähe erschossen worden.

»Anscheinend.« Der Boden bestand aus gebohnertem Holz, aber ich schaute mich vergeblich nach dem typischen messingglänzenden Zylinder um. »Ich sehe keine Patronenhülse.«

»Hier gibt es keine Patronenhülsen«, sagte Whitestone, und sie schwieg, während wir darüber nachdachten.

Dass er sich die Zeit genommen hatte, die Patronenhülsen einzusammeln, war bemerkenswert.

»Was ist mit seinen Beinen?«, fragte DI Gane. »Sieht aus, als hätte sie jemand mit einem Vorschlaghammer bearbeitet.«

Edie Wren kniete sich vor den Jungen. »Oder einem Auto«, sagte sie. »Er könnte draußen gewesen sein. Das da an seinen Armen und Händen sieht aus wie Splitt.«

In einer Ecke stand ein Hundekorb. Für einen großen Hund. Auf die Rückseite war eingestickt: MEINNAMEISTBUDDY.

»Was ist mit dem Hund?«, fragte ich.

Gane explodierte. »Mit dem Hund? Sie denken jetzt an den Hund? Wir stehen bis zu den Knien in einem Blutbad wie von Charles Manson, und Sie machen sich Sorgen um den Hund?«

Ich konnte es Gane nicht erklären. Für mich gehörte der Hund ebenfalls zur Familie.

»Hat wer nach dem Hamster gesehen?«, rief Gane. »Wie geht’s dem kleinen Nager? Fühlen Sie doch mal Motzi den Puls, ja, Wolfe? Und jemand muss sich um den Wellensittich kümmern.«

»Schon gut«, sagte Whitestone und brachte ihn zum Schweigen. »Gehen wir hinauf, schauen wir uns den Rest an.«

Die riesige Glaswand strahlte hell auf.

Die SOCOs hatten im Garten hinter dem Haus ihre Flutlichtlampen eingeschaltet.

Draußen war ein Steingarten mit Strudeln aus Kieseln um Felsen, wie ein See aus Schotter. Ein japanischer Garten. In der Mitte war eine Tempelglocke mit einer grünen Patina vom Wetter der Jahrhunderte, und sie läutete, wenn der Wind sie bewegte.

Einen Augenblick lang rührte ich mich nicht, gebannt von der unerwarteten Schönheit. In einer Ecke des Gartens lag ein Hund, ein Golden Retriever. Er sah aus, als schliefe er. Doch ich wusste, dass das nicht stimmte.

Als ich mich abwandte, waren Whitestone, Gane und Edie schon nach oben gegangen.

Ich folgte ihnen und sah die Bilder, die die ganze Wand über der Treppe bedeckten, geschmackvolle Schwarzweißfotos in Rahmen mit schmalem schwarzem Rand. Ausnahmslos waren es Fotos der Familie, die in diesem Haus gelebt hatte.

Und ich konnte sehen, dass es eine Bilderbuchfamilie gewesen war.

Mir kam es vor, als wüsste ich durch die Bilder alles, was es über sie zu wissen gab. Mutter und Vater machten den Eindruck, als hätten sie jung geheiratet und wären ihr ganzes Leben lang fit, glücklich und verliebt gewesen.

Der Mann war groß und sportlich und wirkte milde amüsiert. Ein jung gebliebener Mittvierziger. Die Frau war vielleicht zehn Jahre jünger und atemberaubend schön. Sie kam mir vage vertraut vor. Sie sah aus wie Grace Kelly – sie besaß genau die Art von Schönheit, die wie eine Laune der Natur wirkt.

Wenn sie Probleme hatten, gingen sie über mein Vorstellungsvermögen hinaus. Sie hatten Gesundheit, Geld und einander. Sie hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, und während ich die Treppe hochstieg, sah ich sie heranwachsen.

Gut aussehende, sportliche Kinder waren es. Ich bemerkte ein Foto von einem Mädchen um die zwölf Jahre auf einem Hockeyplatz. In ihrem ernsten Gesicht leuchtete der orange Mundschutz. Und der Junge, ihr Bruder, hielt mit seiner Fußballmannschaft triumphierend einen Pokal hoch. Schwer, den lächelnden Jungen mit der Leiche im Esszimmer in Verbindung zu setzen.

Am oberen Ende der Treppe waren der Junge und das Mädchen fast erwachsen, um die fünfzehn, ein junger Mann und eine junge Frau. Ich konnte sehen, dass der Junge ein wenig älter war, aber nicht um viel mehr als ein Jahr. Ein Foto zeigte die Familie gemeinsam vor dem Weihnachtsbaum. Ein anderes in einem Restaurant am Strand. Auf den späteren Bildern war ein Golden Retriever mit dabei, der aussah, als frohlockte er über sein Glück, bei dieser perfekten Familie gelandet zu sein. Der Hund, der jetzt in dem japanischen Garten lag. Und auf dem letzten Foto hielt die Frau, die wie Grace Kelly aussah, ein Kleinkind.

Einen Jungen. Um die vier. Ich vermutete, dass seine Ankunft nicht geplant gewesen war. Ihr Leben war voll gewesen. Die Fotowand auch. Man konnte sich gut vorstellen, dass sie mit keinem weiteren Kind gerechnet hatten. Dann war der Junge zur Welt gekommen und hatte ihr Glück komplett gemacht. Ja, er sah aus wie vier.

Ein Jahr jünger als Scout, dachte ich.

Der Tatortfotograf kam die Treppe herunter.

Ich berührte ihn am Arm.

»Sind Sie absolut sicher, dass niemand überlebt hat?«, fragte ich.

»Der Polizeiarzt ist noch nicht da, also ist der Tod noch nicht offiziell festgestellt. Aber ich bin oben gewesen, und da gibt’s nur Leichen, DC Wolfe. Tut mir leid.«

Mir kam etwas hoch, und ich würgte es wieder hinunter.

Eine ganze Familie.

Gane hatte recht. Ein Blutbad à la Charles Manson.

Oben vor der Treppe lag eine weitere Leiche. Das Mädchen, gekleidet für eine Silvesterparty. Sie lag auf der Seite. Ich konnte keine Schusswunde sehen, aber um den Hals hatte sie eine Art Band aus Blut. Vom anderen Ende des Flurs hörte ich Stimmen. Sie kamen aus dem Elternschlafzimmer. Ich folgte ihnen und wappnete mich gegen das, was mich erwartete.

Die Frau, die wie Grace Kelly ausgesehen hatte, war im Bett, einen Schleier aus blondem Haar über dem Gesicht. Das Kissen, auf dem ihr Kopf lag, war blutig, aber ich sah keine Eintrittswunde. Wie ihre Tochter war sie offenbar mit einem einzigen Schuss in den Hinterkopf getötet worden.

»Anscheinend war der Vater das eigentliche Ziel«, sagte Whitestone.

Die nackte Leiche des Mannes lehnte sitzend an einer Kommode. Ihm waren aus nächster Nähe nacheinander die Augen ausgeschossen worden, und er starrte uns aus leeren Augenhöhlen an. Ich holte tief Luft und zwang mich, die blutigen Löcher anzusehen. Ein Heiligenschein aus Blut und Hirnmasse war auf die weiße Kommode gespritzt.

»So sieht es aus, Boss«, sagte Gane. »Sie kamen wegen des Vaters, dann entschieden sie sich, die ganze Familie auszuschalten. Die Frau. Das Mädchen. Den Jungen. Sie sind hingerichtet worden. Aber der Vater – das war persönlich.«

Wir vier standen da wie Trauernde.

»Was ist mit dem kleinen Jungen?«, fragte ich.

Stille. Ein, zwei, drei Sekunden lang.

»Welcher kleine Junge?«, fragte Whitestone schließlich.

Innerhalb von fünfzehn Minuten war das Specialist Search Team da.

Die Suchteams sind Teil von SO20, dem Counter Terrorism Protective Security Command. Sie sammeln Beweismaterial nach einem Terroranschlag ein, und sie sichern vor Staatsbesuchen oder größeren Zeremonien das Terrain. Sie arbeiten auch mit uns zusammen.

Während wir auf sie warteten, suchten wir jeden Winkel des Hauses nach einem kleinen, geschundenen Leichnam ab. Dann nahm das SST das Gebäude systematisch auseinander.

Die Leute rissen Teppiche heraus, stemmten die Dielen auf und schlugen Löcher in die Wände. Sie sahen auf den Dachboden, in die Mülltonnen, die Abflussrohre, den Backofen, den Mikrowellenherd, die Waschmaschine. Und als sie das alles erledigt und nichts gefunden hatten, gingen sie hinaus in den japanischen Garten und suchten unter den hübschen grauen Steinen. Danach stiegen sie über die Mauer in den Friedhof von Highgate.

Die Sonne ging nicht vor acht Uhr morgens auf. Die Männer und Frauen des Specialist Search Teams waren noch immer auf Händen und Knien und suchten die grünen Hügel von Highgate Cemetery zentimeterweise ab. Schon Stunden vorher hatte DCI Whitestone ein Kind als vermisst gemeldet. Trotzdem krochen unsere Leute noch immer über den Friedhof, durchkämmten altes Efeugestrüpp mit den Fingern, leuchteten mit Taschenlampen in staubige Mausoleen, beobachtet von überwucherten Engeln mit leeren Gesichtern.

3

Der vermisste Junge lächelte schüchtern von der Wand im Major Incident Room 2, dem kleinen Besprechungsraum von West End Central, auf uns nieder.

Vermisste Kinder lächeln immer auf ihren Bildern. Das ist es, was einen im Herzen berührt, dieses kindliche Lächeln voller Freude, eingefangen bei einem Ausflug oder auf einer Geburtstagsparty, bei denen sich niemand träumen ließ, was noch bevorstand.

»Sie wissen alle, wie es funktioniert«, sagte DCI Whitestone. »Entweder finden wir ihn schnell …«

Den Rest ließ sie ungesagt, denn jeder von uns wusste ihn auswendig.

… oder wir finden ihn nie.

Die grausame Tatsache war uns schon in der Ausbildung eingehämmert worden. Die Statistik sagte: Falls wir den Jungen nicht innerhalb von sieben Tagen fanden, dann würden wir ihn, wenn überhaupt, höchstwahrscheinlich in einem alten Koffer auf der Müllkippe entdecken oder am Boden eines Flusses oder im Wald verscharrt. Wenn ein Kind länger als eine Woche lang vermisst wird, geht es nur selten gut aus.

Und der lächelnde Junge hatte nun auch einen Namen.

Bradley Wood.

Bradley war vier. Irgendwann in der Nacht hatte der Polizeiarzt seine Mutter, seinen Vater, seine Schwester und seinen Bruder offiziell für tot erklärt. Als ich nun Bradley Wood ins lächelnde Gesicht sah, fragte ich mich, in was für ein Leben wir ihn zurückbrächten, in dem seine Familie nicht mehr existierte.

Ich kippte noch einen dreifachen Espresso herunter und schob den Gedanken beiseite.

Zuerst ihn finden.

In seiner kleinen Faust hielt er ein Lieblingsspielzeug, die zwanzig Zentimeter lange Plastikfigur eines Mannes mit einem weißen Hemd, einer schwarzen Weste und hohen Stiefeln. Als ich genauer hinsah, erkannte ich Han Solo, den großspurigen Captain des Millennium-Falken.

»Wo stehen wir bei den Opfern?« DCI Whitestone nahm die Brille ab und polierte die Gläser kurz mit einer zerknüllten Papierserviette vom Café Nero. Sie wirkte erschöpft. Wir waren alle erschöpft. Unser Mordermittlungsteam hatte die Nacht am Tatort durchgearbeitet und war dann direkt zur 27 Savile Row gefahren – dem Polizeirevier West End Central –, wo wir uns bis zum Morgen mit der Identifizierung der Toten beschäftigt hatten. Jetzt war schon früher Nachmittag, und die fahle Wintersonne sank auf die Hausdächer von Mayfair.

»Das ist die Familie Wood«, sagte ich und drückte eine Taste auf meinem Laptop. »Die Opfer.«

An der Wand von MIR-2 hing ein großer HD-Fernsehschirm, auf dem plötzlich eines der Familienfotos zu sehen war, die ich aus dem Treppenhaus der Woods kannte.

Sie lächelten uns an. Die hübsche Frau und der gut aussehende Mann. Ihre beiden halbwüchsigen Kinder. Reich, sportlich, schön. Auf dem Foto drängten sie sich alle mit Baby Bradley in der Mitte vor einem Skiresort zusammen.

»Der Vater, Brad Wood, war Spielervermittler. Die Mutter, Mary, war Hausfrau. Der Junge hieß Marlon, fünfzehn, das Mädchen Piper, vierzehn. Sie besuchten Privatschulen in Hampstead. Und dann ist da Bradley.«

Whitestone schüttelte den Kopf. »Wieso kommt es mir so vor, als hätte ich sie gekannt?«

»Sie erkennen die Mutter«, antwortete ich. »Mary Wood war einmal Mary Gatling und kurzzeitig sehr berühmt.«

Whitestone blinzelte überrascht hinter ihren Brillengläsern. »Die Mary Gatling von der Winterolympiade 1994?«

Ich nickte. »In Lillehammer in Norwegen. Die Eisige Jungfrau nannten sie sie.«

»Mary Wood war die Eisige Jungfrau?«, fragte Whitestone. »Die gesagt hat, sie will keinen Sex vor der Ehe?«

»Das ist sie. Sie gehörte der britischen Mannschaft an. Abfahrtsläuferin. Eine Medaille bekam sie nicht, aber jede Menge Schlagzeilen. Sie verkündete, sich aufzusparen, bis sie verheiratet war. Das war eine große Meldung, ungefähr fünf Minuten lang.«

»Sie hat ihren Mann bei den Spielen in Lillehammer kennengelernt, richtig?«

»Ja – Brad Wood. Amerikaner aus einer Arbeiterfamilie in Chicago. Er war zum Biathlon in Lillehammer. Skilanglauf und Schießen. Hätte beinahe eine Medaille gewonnen. Mary ist er im Olympischen Dorf begegnet.«

»Das ist die Eisige Jungfrau«, sagte Whitestone und schüttelte verwundert den Kopf. »Mary Gatling. Ihre Schönheit hat sie nicht verloren, was?«

»Gatling?«, fragte DC Edie Wren. »Wie in Gatling Homes? Die Bauunternehmer?«

»Ganz genau wie in Gatling Homes«, antwortete ich. »Mary war die älteste Tochter von Victor Gatling. Sie kam aus reichem Hause. Der alte Mann hat in den Sechzigerjahren als Laufbursche für Vermieter in den Armenvierteln angefangen. Dann hat er eine Zweizimmerwohnung in Tottenham gekauft, renoviert und weiterverkauft. Und so weitergemacht. Seine Firma arbeitet seit zwanzig Jahren nur noch in der gehobenen Kategorie. Victor Gatling muss jetzt mindestens siebzig sein. Viele Neubauten an Londons ersten Adressen gehören Gatling Homes. Kensington, Chelsea, Mayfair, Hampstead, Knightsbridge. Es heißt, Victor Gatling habe zweimal ein Vermögen gemacht: Indem er im letzten Jahrhundert für arme Einwanderer baute und in diesem Jahrhundert für reiche. Man nennt Victor Gatling den Mann, der London errichtet hat. Sein Sohn Nils führt die Firma, seit der alte Mann sich aus dem Alltagsgeschäft zurückgezogen hat.«

»Und als was hat Marys Mann Brad in den letzten fünfzehn Jahren gearbeitet?«, fragte Whitestone.

»Spielervermittler«, sagte ich. »Hier und in den Staaten. Hat kurz für den Schwiegervater gearbeitet. Ging nicht lange gut.«

Von der Straße kamen Rufe und Schreie, und wir wandten uns um und blickten aus dem Fenster. Vier Etagen unterhalb von MIR-2 war der Verkehrslärm ein nie unterbrochenes Grollen. Die Savile Row ist eine schmale, canyonartige Straße voller berühmter Schneider und eingefleischter Beatles-Fans, die sich ansehen wollen, wo die Band zum letzten Mal aufgetreten ist. Und im Moment war sie von der Conduit Street im Norden bis zu den Burlington Gardens im Süden mit den Medien der Welt verstopft. Scharen von Paparazzi, große Kastenwagen mit Sendeschüsseln und wimmelnde Reporterhorden warteten unter der blauen Lampe vor 27 Savile Row.

»Die MLO hat wieder angerufen, Boss«, sagte Edie.

Die MLO war unser Media Liaison Officer, die Pressesprecherin.

»Ja?«, fragte Whitestone.

»Sie möchte wissen, wann Sie die Pressekonferenz abhalten«, sagte Edie. »Das Foto des kleinen Bradley ist morgen früh auf jeder Titelseite. Heute Abend kommt es in jede Nachrichtensendung. Und jetzt schon ist es in jedem sozialen Netzwerk. Und hier bewegt sich nichts.«

»Sagen Sie der MLO, ich gebe eine Presseerklärung ab, sobald die Opfer offiziell von den Angehörigen identifiziert worden sind«, sagte Whitestone ungeduldig.

Edie zögerte. »Und das Vorzimmer der Chief Super hat auch angerufen.«

»Worum ging es?«

»Um das Gleiche. Sie wollen wissen, wann Sie vor die Presse treten.«

Whitestone nickte grimmig. »Und Sie sagen dem Vorzimmer von DCS Swire genau das Gleiche. Ich rede mit keinen Journalisten, ehe die Familie die Leichen gesehen hat.«

»Das passiert in diesem Moment. Mary Woods nächste Verwandte sind im Iain West.«

Die Iain West Forensic Suite, benannt nach dem legendären Rechtsmediziner, war das Leichenschauhaus von Westminster.

»Wer ist drüben?«

»Mary Woods Schwester. Die FLO begleitet sie.«

Die FLO war der Family Liaison Officer, die für die Familie zuständige Beamtin. Jedes Polizeirevier der Welt ist ein Füllhorn an Abkürzungen.

Whitestone nickte und wandte sich einer Londonkarte zu, die vom Boden bis zur Decke reichte.

»Wie geht es mit der Suche voran, Curtis?«

»Das Hauptproblem für unsere Suchtrupps ist der Umstand, dass der Tatort im grünsten Teil der Stadt liegt«, antwortete DI Curtis Gane. »Viel Unterholz, Gräben, Bäume. Friedhof Highgate, Waterlow Park, Highgate Woods, Hampstead Heath. Ein paar Golfplätze. Das ist, als würde man eine Leiche in einem Wald suchen.«

»Und es gibt viel Wasser«, sagte Whitestone. »Die Teiche in Highgate und Hampstead. Drei Stauseen innerhalb von … wie viel? Zwanzig Minuten mit dem Auto?«

»Ja, Boss«, sagte Gane. »Brent Reservoir im Westen. Manor House und Tottenham Hale im Osten. Wir haben die Wasserpolizei verständigt, und die Taucherteams gönnen sich keine Pause. Für die Suchtrupps ist es harte Arbeit, aber sie haben volle Ausrüstung. Nicht bloß Suchhunde. Leichenspürhunde.«

Schweigend musterten wir das Foto der Familie Wood.

»Es ergibt keinen Sinn, finden Sie nicht auch?«, fragte Whitestone. »Wer im Blutrausch mordet, der bricht nicht in eine geschlossene Wohnanlage mit privaten Wachleuten ein. Und Auftragskiller entführen keine Kinder.« Sie schwieg, schob sich die Brille hoch, bemühte sich zu begreifen. »Wer bringt vier Menschen um und nimmt dann ein Kind mit? Wieso sollte egal welcher Mörder ein Kind entführen?«