Mittelgroßes Superglück - Marian Keyes - E-Book

Mittelgroßes Superglück E-Book

Marian Keyes

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Beschreibung

Stell dir vor, du verlierst alles – zum Glück

Um ein gutes Karma zu erlangen, lässt Stella einem protzigen Range Rover den Vortritt im Straßenverkehr. Es folgen: ein Unfall, Ehestreit und eine geheimnisvolle Krankheit, die Stella ein halbes Jahr lang komplett lähmt. Aber wie kann es sein, dass Stella nur wenig später eine glücklich verliebte Berühmtheit ist – und eine Neiderin hat, die ihr das Leben und die neue große Liebe stehlen will?

Stella Sweeney ist eine ganz durchschnittliche 37-jährige Dublinerin mit einem einigermaßen nervigen Mann, zwei halbwüchsigen Kindern und einem unspektakulären Job im Beautysalon ihrer ehrgeizigen Schwester. Niemand, den man um sein Leben beneiden müsste. Aber dann passiert plötzlich etwas . . . Vielleicht weil Stella in der Hoffnung auf gutes Karma einem Range Rover im Straßenverkehr den Vortritt gelassen hat? Das Glück zeigt sich zunächst auf sehr merkwürdige Weise: Von einem Tag auf den anderen ist Stella von Kopf bis Fuß gelähmt. Eine seltene Krankheit hat ihre Nervenbahnen angegriffen, sie muss künstlich beatmet werden und ist im eigenen Körper eingesperrt. Die endlosen Tage im Krankenhaus sind grauenhaft. Bis auf die Zeiten, in denen ihr behandelnder Arzt, Dr. Mannix Taylor, bei ihr ist. Der Range-Rover-Fahrer. Der Mann, der das größte Glück in ihrem Leben bedeuten könnte. Ein so großes Glück, dass es andere neidisch macht . . .

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Marian Keyes

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Höbel

Zum Buch

Stella Sweeney ist eigentlich eine ganz durchschnittliche 37-jährige Dublinerin mit einem einigermaßen nervigen Mann, zwei halbwüchsigen Kindern und einem unspektakulären Job im Kosmetiksalon ihrer ehrgeizigen Schwester. Niemand, den man um sein Leben beneiden müsste. Aber dann passiert plötzlich etwas … Vielleicht weil Stella in der Hoffnung auf ein gutes Karma einem Range Rover im Straßenverkehr den Vortritt gelassen hat? Das Glück zeigt sich zunächst auf sehr merkwürdige Weise: Von einem Tag auf den anderen ist Stella von Kopf bis Fuß gelähmt. Eine seltene Krankheit hat ihre Nervenbahnen angegriffen, sie ist in ihrem eigenen Körper eingesperrt. Die endlosen Tage im Krankenhaus sind schrecklich. Bis auf die Zeiten, in denen ihr behandelnder Arzt, Dr. Mannix Taylor, bei ihr ist. Der Range-Rover-Fahrer. Der Mann, der das größte Glück in ihrem Leben bedeuten könnte. Ein so großes Glück, dass es andere neidisch macht …

Zur Autorin

Marian Keyes, 1963 in Limerick geboren, wuchs in Dublin auf und jobbte nach dem Abbruch ihres Jurastudiums einige Jahre in London, bevor sie mit ihrem Debütroman »Wassermelone« einen phänomenalen Erfolg landete. Alle folgenden Romane wurden zu internationalen Bestsellern. Zuletzt bei Heyne erschienen: »Glücksfall«.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE WOMAN WHO STOLE MYLIFE bei Michael Joseph,

an imprint of Penguin Books, London

Copyright © 2014 by Marian Keyes

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Claudia Alt

Umschlaggestaltung und Artwork: Martina Eisele,

Eisele Grafik·Design, München, unter Verwendung

der Illustrationen von canicula und dmstudio,

beide Bigstock

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-15338-0V002

www.heyne.de

Für Tony

Eins möchte ich von Anfang an klarstellen: Was immer Sie gehört haben – und bestimmt haben Sie alles Mögliche gehört –, ich bin keine, die Karma rundheraus leugnet. Vielleicht existiert es, vielleicht nicht, wie soll ich das wissen? Ich schildere einfach meine Version der Ereignisse, mehr nicht.

Falls es jedoch so etwas wie Karma gibt, dann kann ich nur sagen: Es verfügt über eine fantastische PR-Abteilung. Die »Geschichte« kennen wir ja: Irgendwo im Himmel führt das Karma ein riesiges Buch, in dem jede gute Tat, die ein Mensch vollbringt, vermerkt wird, und zu einem späteren Zeitpunkt – der vom Karma ausgewählt wird (und in der Hinsicht hält es sich gern bedeckt) – wird diese gute Tat belohnt. Vielleicht sogar mit Zinsen.

Wir glauben also, wenn wir Jugendliche unterstützen, die auf einen Berg steigen, um Geld für ein Hospiz zu sammeln, oder wenn wir unserer Nichte die Windeln wechseln, obwohl wir uns lieber die Hand abhacken würden, wird uns das später mit etwas Gutem gelohnt. Und wenn uns wirklich etwas Gutes widerfährt, dann sagen wir: »Ah, das ist wohl meine alte Freundin Karma, die mir meine gute Tat lohnt. Danke, liebes Karma!«

Dem Karma wird lauter Gutes nachgesagt, das aufzuzählen ewig dauern würde, aber ich habe den Verdacht, dass es sich die ganze Zeit – im übertragenen Sinn – in Unterhosen auf der Couch gelümmelt und Sky Sport geglotzt hat.

Sehen wir uns doch mal Karma »in Aktion« an.

An einem Tag vor viereinhalb Jahren war ich mit meinem Auto (einem billigen Hyundai SUV) unterwegs. Ich steckte in einer Schlange, die sich zügig vorwärtsbewegte, und sah weiter vorn ein Auto, das aus einer Nebenstraße einbiegen wollte. Einiges deutete darauf hin, dass der Fahrer schon ziemlich lange auf eine Gelegenheit zum Einbiegen wartete. Erster Hinweis: Der Mann sah frustriert und erschöpft aus, wie er da so über dem Steuer hing. Zweiter Hinweis: Er fuhr einen Range Rover, und allein deshalb dachten die anderen Fahrer: Ah, sieh ihn dir nur an, den großkotzigen Range-Rover-Fahrer, den lasse ich nicht rein.

Und ich dachte: Ah, sieh ihn dir nur an, den großkotzigen Range-Rover-Fahrer, den lasse ich nicht rein. Dann dachte ich – und all das passierte ganz schnell, denn ich fuhr ja, wie ich schon sagte, in einer sich zügig voranbewegenden Schlange –, dann dachte ich also: Ach was, ich lasse ihn dazwischen, das gibt – und jetzt genau aufgepasst! – ein gutes Karma.

Ich fuhr also langsamer, betätigte die Lichthupe, um dem großkotzigen Range-Rover-Fahrer zu signalisieren, dass er einbiegen konnte, und er lächelte matt und kroch langsam vor, und ich spürte schon ein warmes Gefühl in mir aufsteigen und fragte mich, in welcher Form ich meine kosmische Belohnung erhalten würde, als der Wagen hinter mir, der nicht damit gerechnet hatte, dass ich für den Range Rover langsamer fahren würde – eben weil es ein Range Rover war –, auf meinen Wagen auffuhr und mich mit solcher Wucht nach vorn schob, dass ich den Range Rover volle Breitseite erwischte, und im nächsten Moment hatten sich drei Autos ineinander verkeilt.

Für mich passierte das Ganze wie in Zeitlupe. Von dem Moment an, als der Wagen hinter mir sich in das Heck von meinem schraubte, blieb die Zeit beinahe stehen. Ich spürte, wie die Räder unter mir sich ohne mein Zutun nach vorn bewegten, und ich starrte dem Mann im Range Rover in die Augen, unsere Blicke trafen sich, vereint in der seltsam intimen Erkenntnis, dass wir uns im nächsten Moment gegenseitig Schmerzen zufügen würden und rein gar nichts tun konnten, um das zu verhindern.

Dann passierte das Schreckliche. Mein Wagen kollidierte tatsächlich mit seinem – berstendes Metall und splitterndes Glas und die Wucht des Aufpralls, die durch Mark und Bein ging … dann Stille. Sie dauerte nur einen Augenblick, aber einen sehr langen Augenblick. Verwundert und schockiert starrten wir uns an, der Mann und ich. Er war nur einen knappen halben Meter von mir entfernt – der Aufprall hatte die Autos so zusammengeschoben, dass wir fast nebeneinander waren. Sein Seitenfenster war zersplittert, Glaskörnchen glitzerten in seinen Haaren und blinkten in einem silbrigen Licht, das der Farbe seiner Augen entsprach. Sein Ausdruck war jetzt noch matter als vorher, als er auf eine Lücke im Verkehr gewartet hatte.

Leben Sie noch?, fragte ich stumm.

Ja, antwortete er. Und Sie?

Ja.

An meinem Auto wurde die Beifahrertür aufgerissen, und der Moment war vorbei. »Sind Sie verletzt?«, fragte jemand. »Können Sie aussteigen?«

Am ganzen Leib zitternd kroch ich zur offenen Tür, und als ich draußen war und mich an eine Mauer lehnte, sah ich, dass der Range-Rover-Mann ebenfalls aus seinem Auto ausgestiegen war. Benommen und erleichtert erkannte ich, dass er aufrecht stand, seine Verletzungen, wenn er denn welche hatte, waren demnach geringfügig.

Vor mir erschien wie aus dem Nichts ein kleiner Mann und kreischte: »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht? Das ist ein nagelneuer Range Rover!« Es war der Fahrer des dritten Wagens, der, der den Unfall verursacht hatte. »Das kostet mich ein Vermögen. Der Wagen ist brandneu! Er hat noch nicht mal Nummernschilder!«

»Aber ich …«

Der Range-Rover-Mann kam hinzu und sagte: »Seien Sie still. Beruhigen Sie sich. Hören Sie auf.«

»Das Auto ist nagelneu!«

»Egal, wie oft Sie das wiederholen, es ändert nichts.«

Das Geschrei ließ nach, und ich sagte zu dem Range-Rover-Mann: »Ich wollte Sie reinlassen und eine gute Tat vollbringen.«

»Ist okay.«

Da erst merkte ich, dass er sehr wütend war, und mir war sofort klar, was für einer er war – einer von diesen gut aussehenden und maßlos verwöhnten Männern, die sich teure Autos und maßgeschneiderte Mäntel leisten können und vom Leben erwarten, dass es sie freundlich behandelt.

»Wenigstens ist niemand zu Schaden gekommen«, sagte ich.

Der Range-Rover-Mann wischte sich Blut von der Stirn. »Genau. Wenigstens ist niemand zu Schaden gekommen …«

»Ich meinte, also, nicht ernstlich …«

»Ich weiß.« Er seufzte. »Bei Ihnen alles in Ordnung?«

»Bestens«, sagte ich. Ich wollte seine Anteilnahme nicht.

»Es tut mir leid, falls ich … Sie wissen schon. Ich hab heute einen schweren Tag.«

»Ist auch egal.«

Um uns herum herrschte totales Chaos. Der Verkehr staute sich in beide Richtungen, »hilfsbereite« Passanten gaben ihre widersprüchlichen Berichte zum Besten, und der aufgebrachte Mann schrie wieder.

Ein freundlicher Mensch führte mich zu ein paar Stufen, wo ich mich setzen konnte, während wir auf die Polizei warteten, und ein anderer freundlicher Mensch gab mir eine Tüte Bonbons. »Für Ihren Blutzucker«, sagte die Frau. »Sie stehen unter Schock.«

Bald war die Polizei da und begann, den Verkehr umzuleiten und Zeugenaussagen aufzunehmen. Der aufgebrachte Mann schimpfte und stach fortwährend mit dem Finger in meine Richtung, und der Range-Rover-Mann redete beschwichtigend auf ihn ein, und ich sah ihnen zu, als wäre es ein Film. Da steht mein Auto, dachte ich benommen, ein Haufen Schrott. Totalschaden. Es war ein einziges Wunder, dass ich heil rausgekommen war.

Der Unfall war von dem aufgebrachten Mann verschuldet worden, und seine Versicherung musste den Schaden bezahlen, aber ich würde nicht genug bekommen, um mir ein neues Auto kaufen zu können, weil Versicherungen einen Schaden nie voll ersetzten. Ryan würde ausrasten – trotz seines Erfolgs hangelten wir uns die ganze Zeit am Rande des Ruins entlang –, aber darüber musste ich mir später Gedanken machen. Jetzt reichte es mir, auf den Stufen zu sitzen und Bonbons zu lutschen.

Aber Moment! Jetzt trat der Range-Rover-Mann in Aktion. Mit wehendem Mantel kam er auf mich zu. »Wie geht es Ihnen jetzt?«, fragte er.

»Fantastisch.« Das stimmte. Schock, Adrenalinschub, so etwas in der Art.

»Kann ich Ihre Telefonnummer haben?«

Ich lachte ihm keck ins Gesicht. »Nein!« Was für ein Schleimer war der denn, dass er dachte, er könnte an einem Unfallort eine Frau anbaggern. »Außerdem bin ich verheiratet!«

»Für die Versicherung …«

»Oh.« Wie schrecklich! Wie schrecklich! »Natürlich.«

Wenn wir uns also das Karma-bezogene Ergebnis meiner guten Tat ansehen – drei Autos, alle beschädigt, eine Stirnwunde, Empörung und Geschrei, erhöhter Blutdruck, finanzielle Sorgen und eine Peinlichkeit, die einem die Schamesröte ins Gesicht trieb: schlecht, alles sehr, sehr schlecht.

Ich

Freitag, 30. Mai

14.49 Uhr

Wenn Sie in diesem Moment zu meinem Fenster aufblickten, könnten Sie denken: »Sieh dir die Frau da an. Wie sie an ihrem Schreibtisch sitzt, fleißig und aufrecht. Sieh doch, wie ihre Hände auf der Tastatur liegen, so arbeitsam. Offensichtlich ist sie ganz konzentriert bei der Sache. Moment mal … ist das nicht Stella Sweeney? Ist die etwa wieder in Irland? Und schreibt ein neues Buch? Ich hatte gehört, sie sei in der Versenkung verschwunden!«

Ja, ich bin tatsächlich Stella Sweeney. Ja, ich bin (zu meiner eigenen Enttäuschung, aber das will ich jetzt nicht vertiefen) wieder in Irland. Ja, ich schreibe ein neues Buch. Ja, ich bin in der Versenkung verschwunden. Aber das wird nicht lange anhalten. Denn ich arbeite ja. Sie brauchen mich ja nur hier an meinem Schreibtisch zu sehen. Jawohl, ich bin bei der Arbeit.

… oder auch nicht. Wenn es so aussieht, als würde man arbeiten, ist das längst nicht dasselbe, als wenn man wirklich arbeitet. Ich habe noch kein einziges Wort getippt. Mir fällt nichts ein, was ich erzählen möchte.

Trotzdem umspielt ein kleines Lächeln meine Lippen. Falls Sie gerade zu mir nach oben schauen. So geht es einem, auf den sich das öffentliche Interesse richtet. Man muss die ganze Zeit lächeln und freundlich sein, sonst sagen die Leute: »Der Ruhm ist ihr zu Kopf gestiegen. Dabei war sie von Anfang an nichts Besonderes.«

Ich muss mir Vorhänge anschaffen, beschließe ich. Dauernd zu lächeln halte ich nicht aus. Schon jetzt tut mir das Gesicht weh, und ich sitze hier erst seit einer Viertelstunde. Seit zwölf Minuten, um genau zu sein. Wie unendlich langsam die Zeit vergeht!

Ich schreibe ein Wort: »Arsch.« Das bringt mich nicht weiter, aber es fühlt sich gut an, etwas geschrieben zu haben. »Fangen Sie am Anfang an.« Das hat Phyllis mir an dem schrecklichen Tag in ihrem Büro in New York gesagt, vor zwei Monaten. »Schreiben Sie eine Einführung. Rufen Sie sich den Leuten in Erinnerung.«

»Haben die mich schon vergessen?«

»Ja, sicher.«

Ich mochte Phyllis noch nie – sie ist eine echte kleine Bulldogge, die einen in Angst und Schrecken versetzen kann. Aber ich brauchte sie auch nicht zu mögen, sie war meine Agentin, nicht meine Freundin.

Als ich ihr zum ersten Mal gegenüberstand, wedelte sie mit meinem Manuskript und sagte: »Damit könnten wir einen schönen langen Weg vor uns haben. Nehmen Sie zehn Pfund ab, und Sie haben eine Agentin.«

Ich ließ die Kohlehydrate weg und nahm fünf statt der verlangten zehn Pfund ab, dann hatten wir ein Gespräch, in dem sie sich auf sieben Pfund runterhandeln ließ und ich mich bereit erklärte, bei Fernsehauftritten Sachen mit Elasthan zu tragen.

Und Phyllis hatte recht, es wurde ein langer Weg. Erst führte er lange nach oben, dann lange zur Seite, dann lange ins Abseits. So weit ins Abseits, dass ich jetzt hier in meinem kleinen Haus in Ferrytown, einem Vorort von Dublin, am Schreibtisch sitze, von dem ich geglaubt habe, ihm für immer entkommen zu sein, und versuche, ein neues Buch zu schreiben.

Also gut, ich schreibe eine Einführung: »Name: Stella Sweeney. Alter: einundvierzig Jahre und drei Monate. Größe: durchschnittlich. Haar: lang, gewellt, eher blond. Ereignisse der letzten Zeit: dramatisch.«

Nein, das taugt nichts, das ist zu karg. Es muss mehr im Plauderton sein. Oder lyrischer. Ich versuch’s noch mal. »Hallo! Ich bin’s, Stella Sweeney. Die schlanke, achtunddreißig Jahre alte Stella Sweeney. Ich weiß, dass ich Sie nicht daran erinnern muss, aber für alle Fälle erwähne ich, dass ich einen internationalen Bestseller geschrieben habe, nämlich das inspirierende Buch Gezwinkerte Gespräche. Ich bin in Talkshows aufgetreten und dergleichen. Ich bin auf mehreren Lesereisen durch die USA bis auf die Knochen geschunden worden und in vierunddreißig Städten (wenn man Minnesota-St. Paul als zwei Städte zählt) aufgetreten. Ich bin in einem Privatjet geflogen (einmal). Alles war wunderbar, ganz wunderbar, außer wenn es schrecklich war. Es war ein wahr gewordener Traum, außer wenn es ein Albtraum war … Aber das Rad des Schicksals hat sich weitergedreht, und jetzt bin ich in ganz anderen, viel bescheideneren Umständen gelandet. Mich an meine veränderten Lebensbedingungen zu gewöhnen war schmerzlich, aber letztendlich auch lohnend. Inspiriert von meinen neu gewonnenen Erkenntnissen, ganz abgesehen davon, dass ich pleite bin …« Nein, keine gute Idee zu erwähnen, dass ich pleite bin, das muss ich löschen. Ich drücke so lange auf Entfernen, bis alles, was von Geld handelt, verschwunden ist, dann fange ich wieder an zu schreiben. »Inspiriert von meinen neu gewonnenen Erkenntnissen, schreibe ich ein neues Buch. Wovon es handeln wird, weiß ich noch nicht, aber ich hoffe, wenn erst genügend Wörter auf dem Bildschirm erschienen sind, fällt mir schon was ein. Vielleicht wird es noch inspirierender als Gezwinkerte Gespräche!«

Das ist großartig. Geht doch. Gut, vielleicht muss an dem vorletzten Satz noch ein bisschen gefeilt werden, aber im Grunde bin ich aus dem Gröbsten raus. Hab ich gut gemacht. Zur Belohnung gehe ich mal kurz auf Twitter …

… erstaunlich, wie man drei Stunden einfach so verdaddeln kann. Ich steige ganz benommen aus meinem Twitterloch auf und sitze immer noch an meinem Schreibtisch, immer noch in meinem kleinen »Büro« (auch Gästezimmer genannt) in meinem Haus in Ferrytown. In Twitterland haben wir uns ausführlich darüber unterhalten, dass der Sommer jetzt endlich da ist. Immer wenn es schien, dass die Diskussion einschlafen könnte, hat jemand etwas Neues eingeworfen und das Ganze wieder in Schwung gebracht. Wir haben über künstliche Sonnenbräune gesprochen, über Endiviensalat, ungepflegte Füße … es war absolut fantastisch. FANTASTISCH!!!

Jetzt geht es mir großartig! Ich meine, irgendwo gelesen zu haben, dass die chemischen Substanzen, die durch eine ausgiebige Beschäftigung mit Twitter im Gehirn produziert werden, eine ähnliche Wirkung wie Kokain haben. Doch meine Euphorie verpufft abrupt, und ich muss den nüchternen Fakten ins Auge sehen: Heute habe ich zehn Sätze geschrieben. Das ist nicht genug.

Ich werde jetzt arbeiten. Doch, doch, doch. Wenn ich nicht arbeite, muss ich mich bestrafen und den Internetzugang an diesem Computer lahmlegen …

… Höre ich da Jeffrey nach Hause kommen?

Tatsächlich! Er kommt herein, knallt die Haustür zu und wirft seine grauenhafte Yogamatte auf den Fußboden. Ich spüre jede Regung dieser Yogamatte, ich bin mir ihrer die ganze Zeit bewusst, so wie wenn man etwas hasst. Die Yogamatte hasst mich zurück. Als müssten wir darum ringen, wer Jeffrey haben darf.

Ich springe auf und will ihn begrüßen, aber Jeffrey hasst mich fast so sehr wie seine Yogamatte. Er hasst mich schon seit Langem. Seit fünf Jahren, mehr oder weniger, im Grunde seit er dreizehn ist.

Ich hatte immer gedacht, Mädchen sind die Schreckensteenager und Jungen würden einfach in tiefes Schweigen verfallen. Aber Betsy war gar nicht so schlimm, während Jeffrey … also, er ist die ganze Zeit von Angst besessen. Zugegeben, er hat mich zur Mutter, und das hat aus seinem Leben eine einzige Achterbahnfahrt gemacht, was für ihn so schlimm war, dass er mit fünfzehn gefragt hat, ob wir ihn zur Adoption freigeben würden.

Trotzdem, ich bin hocherfreut, weil ich jetzt eine Weile lang aufhören kann, so zu tun, als arbeitete ich, und renne nach unten. »Schatz!« Ich versuche die Feindseligkeit, die zwischen uns besteht, zu ignorieren. Da steht er, ein Meter achtzig groß, dürr wie ein Pfeifenreiniger, mit einem Adamsapfel so groß wie ein Muffin. Genauso hat sein Vater in dem Alter ausgesehen.

Mir schlägt eine Extraportion Feindseligkeit von ihm entgegen.

»Was ist?«, frage ich.

Ohne mich anzusehen sagt er: »Du musst dir die Haare schneiden lassen.«

»Warum?«

»Einfach so. Du bist zu alt, um sie so lang zu tragen.«

»Was soll das?«

»Von hinten siehst du … irgendwie anders aus.«

Mit einiger Mühe ziehe ich ihm die Geschichte aus der Nase. Es stellt sich heraus, dass er am Morgen mit einem seiner Yogafreunde »in der Stadt« war. Vor dem Supermarkt hat der Freund mich von hinten gesehen und anerkennende Geräusche gemacht, und Jeffrey hat mit blassen Lippen zu ihm gesagt: »Das ist meine Mom. Sie ist einundvierzig Jahre und drei Monate alt.«

Ich habe dem entnommen, dass die beiden von dem Ereignis ziemlich aufgewühlt waren.

Vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen, aber ich weiß selbst, dass ich von hinten gar nicht schlecht aussehe. Von vorn ist es etwas anderes. Bei mir setzt sich jedes zusätzliche Pfund am Bauch an. Schon als Teenager, als die anderen sich Sorgen über die Größe ihres Pos oder die Dicke ihrer Oberschenkel machten, hatte ich immer meine Mitte im Auge. Ich wusste, wie leicht sie außer Kontrolle geriet, und mein ganzes Leben ist von dem anhaltenden Kampf dagegen bestimmt.

Jeffrey schüttelt einen Beutel mit Paprikaschoten auf eine Art und Weise vor mir, die man aggressiv nennen muss. (»Er hat mich mit Capiscum bedroht, Euer Ehren.«) Ich seufze innerlich. Ich weiß, was jetzt kommt. Er will kochen. Schon wieder. Es handelt sich um eine neue Entwicklung, und trotz aller gegenteiligen Beweise hält er sich für einen begnadeten Koch. Während er seine Nische im Leben noch sucht, kombiniert er nicht aufeinander abgestimmte Zutaten, und ich muss das Ergebnis essen. Eintopf mit Kaninchen und Mango, das gab es gestern.

»Ich koche das Abendessen.« Er starrt mich an und wartet darauf, dass ich zu weinen anfange.

»Wunderbar!«, sage ich fröhlich.

Das bedeutet, dass wir gegen Mitternacht zu essen bekommen. Gut, dass ich in meinem Schlafzimmer einen Vorrat Jaffa-Kekse angelegt habe, so viele Packungen, dass sie sich fast an der ganzen Wand entlang stapeln.

19.41 Uhr

Ich gehe auf Zehenspitzen in die Küche, wo Jeffrey stocksteif dasteht und eine Dose Ananas anstarrt, als wäre sie ein Schachbrett und er wäre ein Großmeister und plante seinen nächsten Zug.

»Jeffrey …«

Er sagt tonlos: »Ich konzentriere mich. Jetzt bin ich gestört worden.«

»Habe ich vorm Essen noch Zeit, bei Mum und Dad vorbeizugehen?« Man beachte, wie ich es gemacht habe. Ich habe nicht gesagt: Wann gibt es Essen? Ich habe so gefragt, dass es nicht um mich ging, sondern um seine Großeltern, und hoffe, damit sein zorniges Herz milder zu stimmen.

»Ich weiß nicht.«

»Ich gehe nur für ein Stündchen.«

»Bis dahin ist das Essen fertig.«

Ist es bestimmt nicht. Er hält mich damit an der Kandare. Eines Tages werde ich mich seinem passiv-aggressiven Verhalten stellen müssen, aber im Moment bin ich von meinem vergeudeten Tag und meinem vergeudeten Leben so niedergeschlagen, dass ich mich dazu nicht in der Lage sehe.

»Ist gut …«

»Komm bitte nicht in die Küche, wenn ich hier am Arbeiten bin.«

Ich gehe wieder nach oben und wünschte, ich könnte auf Twitter schreiben: »#Am Arbeiten#Meine Fresse!«, aber ein paar seiner Freunde folgen mir auf Twitter. Außerdem werden die Leute jedes Mal, wenn ich einen Tweet schicke, daran erinnert, dass ich ein Niemand bin und sie aufhören können, mir zu folgen. Das ist eine wahre und messbare Tatsache, die ich gelegentlich überprüfe, für den Fall, dass ich mich noch nicht genug wie eine Versagerin fühle.

Es stimmt natürlich, dass ich nie wie Lady Gaga war, mit ihren Millionen von Followern, aber in meinem bescheidenen Rahmen hatte ich früher durchaus eine Präsenz auf Twitter.

Da mir ein Ventil für meine Trübsal verweigert wird, nehme ich einen Ziegel aus meiner Jaffa-Kekse-Wand, lege mich aufs Bett und esse ganz viele der kleinen runden Kekse voller Schokoladen-Orangen-Glücksgefühl. So viele, dass ich die genaue Zahl nicht angeben kann, denn ich hatte vorher beschlossen, nicht mitzuzählen. Auf jeden Fall viele, seien Sie dessen gewiss.

Morgen wird alles anders, nehme ich mir vor. Morgen muss alles anders werden. Morgen wird viel geschrieben, ich werde sehr produktiv sein und keine Jaffa-Kekse essen. Morgen bin ich nicht jemand, der auf dem Bett liegt und lauter weiche Kekskrümel auf der Brust hat.

Eineinhalb Stunden später – ich bin immer noch eine Frau ohne Abendessen – höre ich das Schlagen einer Autotür und eilige Schritte auf unserem kleinen Gartenpfad. In diesem Pappkartonhaus kann man nicht nur alles, was in einem Umkreis von fünfzig Metern passiert, hören, man kann es auch fühlen.

»Das ist Dad.« Jeffreys Stimme klingt alarmiert. »Er sieht aus wie ein Irrer.«

An der Tür klingelt es Sturm. Ich renne die Treppe runter und mache auf, und draußen steht Ryan. Jeffrey hat recht: Er sieht wirklich aus wie ein Irrer.

Ryan drängt an mir vorbei in den Flur und sagt mit fast schon manischem Überschwang: »Stella, Jeffrey, ich habe wahnsinnig gute Neuigkeiten.«

Jetzt erzähle ich Ihnen von meinem Exmann Ryan. Er würde die Dinge vielleicht anders schildern, das kann er auch gern tun, aber dies ist meine Geschichte, und Sie bekommen meine Version.

Wir haben uns gefunden, als ich neunzehn und er einundzwanzig war und sich einbildete, Künstler werden zu müssen. Weil er sehr schöne Zeichnungen von Hunden anfertigte und weil ich keine Ahnung von Kunst hatte, dachte ich, er wäre sehr begabt. Er wurde an der Kunstakademie aufgenommen, wo allerdings nichts darauf hindeutete, dass er den Durchbruch zum Star unserer Generation schaffen würde. Wir führten Gespräche bis tief in die Nacht, bei denen er mir erzählte, dass seine Lehrer auf unterschiedlichste Weise Versager seien, und ich streichelte ihm die Hand und stimmte ihm zu.

Nach vier Jahren machte er einen mittelmäßigen Abschluss und startete den Versuch, sein Geld als Künstler zu verdienen. Aber niemand kaufte seine Bilder, also beschloss er, dass er mit der Malerei durch war. Er versuchte sich in verschiedenen Medien – Film, Graffiti, tote Kanarienvögel in Formaldehyd –, und ein Jahr verging, in dem sich nichts ergab. Da Ryan im Grunde ein pragmatischer Mensch ist, stellte er sich den Fakten: Er hatte keine Lust, auf Dauer arm zu sein. Er war nicht der Typ des mittellosen Künstlers, der in seiner Dachstube hauste – ein Schicksal, das den meisten Künstlern beschieden zu sein scheint. Dazu kam, dass er inzwischen eine Frau (mich) und eine kleine Tochter (Betsy) hatte. Er brauchte einen Job. Aber nicht irgendeinen Job. Schließlich war er trotz alledem Künstler.

Um diese Zeit erbte Tante Jeanette, die schillernde Schwester meines Vaters, ein bisschen Geld und beschloss, es für das auszugeben, was sie sich schon immer gewünscht hatte – ein schickes Badezimmer. Es sollte – sagte sie mit einer luftigen Handbewegung – »fabelhaft« sein. Onkel Peter, Jeanettes armer Mann, der neunzehn Jahre damit zugebracht hatte, seiner Frau den Glanz zu verschaffen, den sie sich so verzweifelt wünschte, fragte: »Wie meinst du das, fabelhaft?« Worauf Jeanette keine richtige Antwort wusste und erwiderte: »Du weißt schon – fabelhaft.«

Einen schrecklichen Moment lang befürchtete Peter (wie er später meinem Vater gestand), dass sie zu weinen anfangen und nicht wieder aufhören würde, doch dann blieb ihm diese Verlegenheit erspart, weil er einen Gedankenblitz hatte. »Wir könnten Stella fragen, ob sie Ryan fragt«, sagte er. »Der ist doch künstlerisch veranlagt.«

Ryan war tief gekränkt, dass er zu einem so banalen Projekt befragt wurde, und teilte mir mit, ich solle Tante Jeanette sagen, sie könne ihn mal, er sei Künstler, und Künstler würden ihre Kreativität nicht auf Handwaschbecken verschwenden. Aber mir ist Streit zuwider, und ich fürchtete mich vor einem Familienzwist, weshalb ich Ryans Absage stark abmilderte, so stark, dass als Nächstes eine ganze Ladung von Badezimmerbroschüren für Ryan eintraf.

Eine ganze Woche lang lagen sie auf unserem kleinen Küchentisch, und hin und wieder sah ich mir eine an und sagte: »Meine Güte, ist das nicht bezaubernd?«, und: »Sieh dir das doch mal an. So fantasievoll.« Was Sie wissen müssen: Damals ernährte ich unsere kleine Familie als Kosmetikerin, und ich wäre sehr froh gewesen, wenn Ryan ein bisschen dazuverdient hätte. Aber Ryan biss nicht an. Bis er eines Abends die Broschüren durchblätterte, und plötzlich packte es ihn. Er nahm einen Bleistift und Millimeterpapier, und im nächsten Moment war er in die Sache vertieft. »Sie will es fabelhaft?«, murmelte er. »Fabelhaft kann sie haben!«

In den darauffolgenden Tagen und Wochen entwarf er den Plan, verbrachte Stunden über den Kleinanzeigen (eBay gab es damals noch nicht) und sprang nachts aus dem Bett, weil sein Künstlerkopf lauter künstlerische Ideen ausspuckte.

Die Nachricht von Ryans Eifer verbreitete sich in der Familie, und die war beeindruckt. Mein Dad, der von Anfang an nicht besonders viel von Ryan gehalten hatte, sah ihn jetzt mit anderen Augen. Er sagte nicht mehr: »Ryan Sweeney ein Künstler? Ein Traumtänzer vielleicht.«

Das Ergebnis – und darin waren sich alle einig, selbst Dad, Skeptiker und Mann der Arbeiterschicht – war fabelhaft: Ryan hatte ein Studio 54 in Miniatur geschaffen. Da er 1972 in Dublin zur Welt gekommen war, hatte er den berühmten Nachtklub nie gesehen und musste sich für seinen Entwurf auf Fotos und Anekdoten stützen. Er hatte sogar an Bianca Jagger geschrieben. (Sie hat ihm nicht geantwortet, aber man kann trotzdem sehen, wie ernst er die Sache nahm.) Sobald man das Bad betrat, ging die Fußbodenbeleuchtung an, und Donna Summers Song »Love to Love You, Baby« ertönte. Tageslicht wurde keins eingelassen, stattdessen wurde der Raum von einem goldenen Licht erhellt. Die Wandschränke – und davon gab es eine Menge, denn Tante Jeanette musste viel Zeug unterbringen – hatten eine glitzernde Oberfläche. Andy Warhols Bild von Marilyn Monroe war als Mosaik aus achttausend Stücken nachgeschaffen worden und bedeckte eine Wand vollständig. Die Badewanne war eiförmig und schwarz. Die Toilette war in einer kleinen schwarz lackierten Kabine untergebracht. Der Kosmetiktisch wurde wie im Theater von Glühbirnen erhellt, so vielen, dass es für ganz Ferrytown ausgereicht hätte. (Jeanette hatte krasses Licht gefordert. Sie war stolz auf ihr Talent, Grundierung und Abdeckstift zu mischen, aber das konnte sie nur bei guten Lichtverhältnissen.)

Zum Schluss brachte Ryan eine kleine Glitzerkugel an der Decke an und wusste, dass er ein Meisterwerk geschaffen hatte.

Es war sehr nah an einer Geschmacksverirrung dran, es schrammte millimeterscharf am Kitsch vorbei, aber dennoch war es – fabelhaft. Tante Jeanette verschickte Einladungen für die feierliche Eröffnung an Familienmitglieder und Freunde und gab das Stichwort »Disco« als Dresscode aus. Als Witz kaufte Ryan im Naturkostladen in Ferrytown eine Tüte Bockshornklee, hackte das Gewürz klein und legte es als Linien auf dem Waschbeckenrand aus. Die Gäste dachten, es sei Koks. (Nur Dad nicht. »Mit Drogen macht man keine Witze. Auch nicht mit unechten.«)

Die Stimmung war ausgelassen. Alle, Jung wie Alt, hatten sich in ihre Discoklamotten geworfen, drängten sich in dem kleinen Raum und tanzten auf dem beleuchteten Fußboden. Wahrscheinlich war ich an dem Abend der glücklichste Mensch – hocherfreut, weil einerseits ein Familienzwist abgewendet und andererseits Ryan für eine Arbeit bezahlt worden war. Ich trug Palazzo-Pants von Pucci und ein dazu passendes Oberteil, das ich im Secondhandladen gefunden und siebenmal gewaschen hatte, und mein Haar hatte eine befreundete Friseurin im Tausch gegen eine Maniküre im Farrah-Fawcett-Stil geföhnt.

»Du siehst wunderschön aus«, sagte Ryan.

»Du aber auch«, gab ich forsch zurück. Ich meinte es ehrlich, denn auch der gewöhnlichste Mann erscheint in einem strahlenderen Licht, wenn er plötzlich Geld nach Hause bringt. (Nicht dass Ryan gewöhnlich aussah. Hätte er sich die Haare öfter gewaschen, wäre er gefährlich attraktiv gewesen.) Insgesamt war es ein sehr glücklicher Tag.

Plötzlich hatte Ryan einen Beruf. Nicht den, den er sich gewünscht hatte, aber einen, in dem er sehr gut war. Nach dem Triumph mit dem Studio 54 schlug er eine ganz andere Richtung ein und schuf ein Badezimmer, das hauptsächlich in Grün gehalten und ein friedlicher, waldähnlicher Rückzugsort war. Drei Wände wurden von Baummosaiken geziert, ein echter Farn wuchs vor der vierten. In das Fenster wurde grünes Glas eingesetzt, im Hintergrund erklangen Vogelstimmen. Bei der Übergabe an den Kunden legte Ryan lauter Pinienzapfen in dem Raum aus. (Ursprünglich hatte er ein Eichhörnchen besorgen wollen, aber obwohl Caleb, sein Elektriker, und Drugi, der Fliesenleger, den ganzen Morgen im Crone Wood mit Nüssen geklappert und »Hier, Eichhörnchen!« gerufen hatten, konnten sie keins fangen.)

Auf das Waldbadezimmer folgte das Projekt, mit dem Ryan es zum ersten Mal auf das Titelbild einer Zeitschrift schaffte – die Schmuckschatulle. Dabei handelte es sich um ein Wunderland mit Spiegeln, Swarovski-Fliesen und einer bordeauxroten Tapete, die wie Samt aussah, aber wasserabweisend war. Die Knäufe an den Wandschränken waren aus böhmischem Kristall, die Badewanne aus Glas war mit silbernen Einsprengseln versehen, und von der Decke hing ein Kronleuchter aus Murano-Glas. Als Hintergrundmusik lief »Tanz der Zuckerfee« (seine Soundtracks wurden schnell zu seinem Markenzeichen), und jedes Mal, wenn man den Wasserhahn aufdrehte, tanzte anmutig eine winzige Ballerina auf dem Knauf.

Ryan Sweeney, der mit einem kleinen, eingeschworenen Team arbeitete, war bald die angesagte Adresse, wenn man ein ausgefallenes Badezimmer wollte. Er hatte gute Ideen, war gewissenhaft – und wahnsinnig teuer. Es gab heikle Momente – als Betsy drei Monate alt war, wurde ich mit Jeffrey schwanger –, aber dank Ryans Erfolg konnten wir uns ein neues Haus mit drei Schlafzimmern kaufen, in dem wir zu viert Platz hatten.

Die Zeit verging. Ryan verdiente Geld, er gestaltete schöne Badezimmer, er machte Menschen – überwiegend Frauen – glücklich. War ein Projekt vollendet, riefen Ryans Kunden: »Sie sind ein Künstler!« Sie meinten es ehrlich, und das wusste Ryan, aber er war nicht der Künstler, der er sein wollte, denn er wollte Damien Hirst sein. Er wollte berühmt und berüchtigt sein, er wollte, dass sich die Leute in den Talkshows seinetwegen in die Haare gerieten, er wollte, dass manche ihn für einen Scharlatan hielten. Nein, das stimmt nicht. Er wollte, dass alle ihn für ein Genie hielten. Aber jedes Genie gibt Anlass zu Kontroverse, weshalb er Auseinandersetzungen in Kauf genommen hätte.

Trotzdem ging alles seinen guten Gang, bis vor vier Jahren ein tragisches Ereignis sein Leben veränderte. Streng genommen war es mein tragisches Ereignis, aber Künstler, auch verhinderte Künstler, neigen dazu, alles auf sich zu beziehen. Das tragische Ereignis, eines von langer Dauer, schmiedete die Familie nicht zusammen, denn das Leben ist keine Seifenoper. Es führte im Gegenteil dazu, dass Ryan und ich uns trennten.

Unmittelbar darauf passierten in meinem Leben seltsame und aufregende Dinge – worauf wir noch kommen. Fürs Erste reicht es, wenn ich sage, dass Betsy, Jeffrey und ich nach New York zogen.

Ryan blieb in Dublin, in dem Haus, das wir Mitte der Neunzigerjahre als Investition gekauft hatten, zu einer Zeit, als alle Menschen in Irland ihre Zukunft mit Zweithäusern zu sichern versuchten. (Bei der Scheidung bekam ich unser ursprüngliches Familienhaus zugesprochen. Selbst als ich in einer Zehnzimmerwohnung an der Upper West Side in New York wohnte, behielt ich es – ich vertraute nicht darauf, dass meine neuen Lebensumstände Bestand haben würden, sondern befürchtete immer, ich könnte wieder arm werden.)

Ryan hatte eine Reihe von Freundinnen – nachdem er angefangen hatte, sich die Haare regelmäßig zu waschen, herrschte daran kein Mangel. Er hatte seine Arbeit, er hatte ein schönes Auto und ein Motorrad – es fehlte ihm an nichts. Aber es mangelte ihm an allem: Das Leben erfüllte ihn nicht. Der nagende Schmerz der Unerfülltheit trat manchmal in den Hintergrund, machte sich aber immer wieder bemerkbar.

Und jetzt steht er mit wildem Blick in meinem Flur, und Jeffrey und ich sehen ihn aufgeschreckt an. »Es ist so weit, endlich ist es so weit!«, sagt Ryan. »Meine große künstlerische Idee!«

»Komm erst mal rein«, sage ich. »Jeffrey, setz Wasser auf.«

Ryan redet ohne Unterlass, während er hinter mir her ins Wohnzimmer geht und erzählt, was passiert ist. »Es hat vor ungefähr einem Jahr angefangen …«

Wir sitzen einander gegenüber, und Ryan erzählt mir von seinem Durchbruch. Tief in ihm hatte sich etwas zu regen begonnen und schwamm im Lauf eines Jahres nach oben in sein Bewusstsein. Es manifestierte sich in vager Form in seinen Träumen, in Augenblicken zwischen zwei Gedanken, und an diesem Nachmittag war seine brillante Idee endlich zur Oberfläche durchgestoßen. Fast zwanzig Jahre hat es gedauert, in denen er mit hochwertigen italienischen Badezimmerartikeln gearbeitet hat, bis sein Genius zur vollen Blüte reifte, und jetzt ist es endlich so weit.

»Und?«, dränge ich ihn.

»Ich nenne es Projekt Karma: Ich werde alles verschenken, was ich besitze. Alles. Meine CDs, meine Kleidung, mein ganzes Geld. Jeden Fernseher, jedes Reiskorn, alle Urlaubsfotos. Mein Auto, mein Motorrad, mein Haus …«

Jeffrey starrt ihn angewidert an. »Du verdammter Idiot.«

Fairerweise muss man sagen, dass Jeffrey Ryan genauso intensiv hasst wie mich. Er ist ein Gleichberechtigungshasser. Er hätte, wie Kinder von geschiedenen Eltern es manchmal tun, seine Eltern gegeneinander ausspielen und so tun können, als wäre der eine oder andere sein Liebling, aber ich kann, um ehrlich zu sein, nicht sagen, wen von uns beiden er mehr verachtet.

»Dann hast du nirgendwo mehr zum Wohnen«, sagt Jeffrey.

»Falsch!« Ryans Augen funkeln (aber es ist die falsche Art Funkeln, diejenige, die einem Angst macht). »Mein Karma wird für mich sorgen.«

»Und wenn nicht?« Mir ist furchtbar elend zumute. Ich traue dem Karma nicht, nicht mehr. Vor langer Zeit ist mir etwas sehr Schlechtes widerfahren. Als direkte Folge auf dieses sehr Schlechte widerfuhr mir etwas sehr Gutes. Damals habe ich fest an Karma geglaubt. Dann aber passierte als Folge des sehr, sehr Guten etwas Schlechtes. Und dann noch etwas Schlechtes. Gegenwärtig bin ich für einen Aufschwung meines Karmas fällig, aber das scheint nicht unmittelbar bevorzustehen. Offen gestanden bin ich vom Karma reichlich bedient.

Und in praktischer Hinsicht befürchte ich, ich muss Ryan Geld geben, wenn er keines hat, dabei habe ich selbst kaum welches.

»Ich werde beweisen, dass es Karma gibt«, sagt Ryan. »Ich werde spirituelle Kunst schaffen.«

»Bekomm ich dann dein Haus?«, fragt Jeffrey.

Das scheint Ryan zu überraschen. Auf diese Frage ist er noch nicht gekommen. »Äh … nein. Nein.« Aber er fängt sich schnell. »Auf keinen Fall. Wenn ich es dir geben würde, könnte man denken, ich meinte es nicht ernst.«

»Und dein Auto?«

»Nein.«

»Kann ich überhaupt was haben?«

»Nein.«

»Dann kannst du dich meinetwegen verpissen.«

»Jeffrey, bitte«, sage ich.

Ryan ist so aufgeregt, dass ihm Jeffreys Verachtung nicht auffällt. »Ich schreibe einen täglichen Blog darüber. Es wird ein künstlerischer Triumph.«

»Ich glaube, jemand hat das schon gemacht.« Eine vage Erinnerung an etwas flackert in mir auf.

»Sag das nicht«, sagt Ryan. »Stella, arbeite nicht gegen mich. Du hast deine fünfzehn Minuten gehabt, jetzt lass mir meine.«

»Aber …«

»Nein, Stella.« Fast schreit er. »Eigentlich müsste ich berühmt sein. Ich war gemeint, nicht du – ich! Du bist die Frau, die mir mein Leben gestohlen hat!«

Das Thema ist nicht neu, Ryan kommt fast täglich darauf zu sprechen.

Jeffrey tippt auf seinem Handy herum. »Jemand hat das schon gemacht. Ich kriege massenhaft Treffer. Hier. ›Der Mann, der all seinen Besitz weggab.‹ Und hier ist noch einer. ›Ein österreichischer Millionär hat vor, sein Vermögen und seinen Besitz zu verschenken.‹«

»Ryan«, sage ich vorsichtig, weil ich ihn nicht wieder in Wut versetzen möchte. »Kann es sein, dass du … deprimiert bist?«

»Wirke ich deprimiert?«

»Es kommt mir so vor, als wärst du etwas verwirrt.«

Noch bevor er den Mund aufmacht, weiß ich, was er sagen wird: »Ich war nie klarer bei Verstand.« Genau, Ryan erfüllt meine Erwartungen.

»Ich brauche deine Hilfe, Stella«, sagt er. »Ich brauche Werbung.«

»Du bist dauernd in den Zeitschriften.«

»In Haus und Heim und solchen Blättern«, sagt Ryan abschätzig. »Die taugen doch nichts. Aber du stehst gut mit den Medien.«

»Schon lange nicht mehr.«

»O doch. Viele sind dir immer noch sehr zugetan. Auch wenn alles aus dem Ruder gelaufen ist.«

»Wie willst du das denn zu Geld machen?«, fragt Jeffrey.

»Kunst ist nicht dazu da, dass man sie zu Geld macht.«

Jeffrey brummt etwas vor sich hin. Ich meine, das Wort »Vollidiot« zu hören.

Nachdem Ryan gegangen ist, sehen Jeffrey und ich uns an.

»Sag was«, sagt Jeffrey.

»Er wird das nicht durchziehen.«

»Glaubst du?«

»Glaube ich.«

22 Uhr

Jeffrey und ich sitzen vor dem Fernseher und essen unseren Eintopf aus Paprika, Ananas und Würstchen. Ich gebe mir große Mühe, ein paar Löffel runterzuwürgen – die Abendessen, die Jeffrey fabriziert, sind für mich eine grausame und ungewöhnliche Strafe –, und Jeffrey hat sein Handy vor der Nase. Plötzlich sagt er: »Mist.« Das ist seit einiger Zeit die erste Lautäußerung.

»Was ist?«

»Dad. Er hat eine Absichtserklärung reingestellt … und …« Er klickt weiter. »Seinen ersten Videoblog. Und er hat mit dem Countdown angefangen. Montag in einer Woche, in zehn Tagen.«

Das also ist der Start von Projekt Karma.

»Immer weiteratmen.«

Aus: Gezwinkerte Gespräche

Aber nun will ich von der Tragödie erzählen, die mir vor fast vier Jahren widerfuhr. Da war ich also, siebenunddreißig Jahre alt, Mutter eines fünfzehnjährigen Mädchens und eines vierzehnjährigen Jungen und Ehefrau eines erfolgreichen, wenn auch künstlerisch unerfüllten Badezimmerdesigners. Ich arbeitete mit meiner jüngeren Schwester Karen (in Wirklichkeit für meine jüngere Schwester Karen) und führte ein normales Leben – mal rauf, mal runter, nichts Weltbewegendes –, als es eines Abends in den Fingerspitzen meiner linken Hand zu kribbeln begann. Beim Zubettgehen war das Kribbeln auch in meiner rechten Hand. Vielleicht war es ein Zeichen dafür, wie wenig aufregend mein Leben war, denn ich fand das Kribbeln angenehm, wie Brausepulver unter der Haut.

Irgendwann in der Nacht wachte ich auf und merkte, dass jetzt auch meine Füße kribbelten. Wie schön, dachte ich verschlafen, Brausepulverfüße. Vielleicht wäre am Morgen das Kribbeln überall, das wäre doch herrlich!

Als um sieben der Wecker klingelte, war ich todmüde, aber das war nur normal, denn ich war jeden Morgen todmüde, schließlich war ich ganz normal. Nur dass es an dem Morgen eine andere Art von Müdigkeit war, schwer und bleiern.

»Aufstehen«, sagte ich zu Ryan, dann wankte ich nach unten – rückblickend war es wahrscheinlich wirklich ein Wanken –, setzte Wasser auf, knallte die Packung mit den Frühstücksflocken auf den Tisch, ging wieder nach oben, um die Kinder zu wecken (besser gesagt: sie wach zu schreien), kam nach unten und trank einen Schluck Tee, aber zu meiner Überraschung schmeckte er komisch und irgendwie metallisch. Ich warf dem Wasserkessel aus rostfreiem Stahl einen vorwurfsvollen Blick zu – offenbar hatten sich Metallspuren in meinen Tee gemischt. So viele Jahre war er mein guter Freund gewesen, warum musste er sich plötzlich gegen mich wenden?

Nach einem weiteren gekränkten Blick machte ich Jeffreys Spezialtoast – normalen Toast, aber ohne Butter, Jeffrey hatte etwas gegen Butter und behauptete, sie sei schleimig –, aber meine Hände waren gefühllos und taub, und das angenehme Kribbeln hatte aufgehört. Ich trank einen Schluck Orangensaft, spuckte ihn sofort aus und schrie auf.

»Was ist?« Ryan kam eben nach unten. Er war ein Morgenmuffel. Abends war er auch muffelig, fällt mir da ein. Vielleicht war er während des Tages in guter Form, aber da sah ich ihn nicht, deshalb konnte ich darüber nichts sagen.

»Der Orangensaft«, sagte ich. »Ich habe mich daran verbrannt.«

»Verbrannt? Es ist Orangensaft, er ist kalt.«

»Ich habe mir daran die Zunge verbrannt. Den Mund.«

»Wieso sprichst du so komisch?«

»Wie – komisch?«

»Als wäre deine Zunge geschwollen.« Er nahm mein Glas, trank einen Schluck und sagte: »Schmeckt ganz normal.«

Ich trank wieder davon. Und verbrannte mir wieder den Mund.

Jeffrey kam in die Küche und sagte vorwurfsvoll: »Hast du Butter auf meinen Toast geschmiert?«

»Nein.«

Dieses Spiel spielten wir jeden Morgen.

»Doch, du hast Butter drauf gemacht«, sagte er. »Ich kann das nicht essen.«

»Meinetwegen.«

Er sah mich überrascht an.

»Gib ihm Geld«, befahl ich Ryan.

»Warum?«

»Damit er sich was zum Frühstück kaufen kann.«

Verblüfft hielt Ryan ihm fünf Euro hin, und Jeffrey nahm den Schein.

»Ich muss los«, sagte Ryan.

»In Ordnung. Bis später. Holt eure Sachen, Kinder.« Normalerweise fragte ich eine ellenlange Liste ab, die außerschulische Dinge betraf – Schwimmen, Hockey, Rugby, Schülerorchester –, aber diesmal ließ ich das sein. Kein Wunder also, dass Jeffrey, nachdem wir zehn Minuten im Auto waren, sagte: »Ich habe mein Banjo vergessen.«

Ich hatte nicht die Absicht, umzudrehen und es zu holen. »Das macht nichts«, sagte ich. »Einen Tag wirst du auch ohne klarkommen.«

Ein verdutztes Schweigen breitete sich im Auto aus.

Dutzende von privilegierten und weltoffenen Teenagern strebten auf das Schulgebäude zu. Ich war sehr stolz darauf, dass Betsy und Jeffrey auf die Quartley Daily gingen, eine konfessionslose, gebührenpflichtige Schule, deren Ziel es war, »das Kind als Ganzes« zu unterrichten. Mit heimlicher Freude sah ich ihnen sonst hinterher, wie sie in ihren Uniformen in das Gebäude gingen, beide hoch aufgeschossen und etwas schlaksig, Betsys blondes, gewelltes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, Jeffreys dunkle Haare in Büscheln vom Kopf abstehend. Gewöhnlich blieb ich so lange, dass ich sehen konnte, wie sie sich unter die anderen Schüler mischten. (Von denen einige aus Diplomatenfamilien stammten – ein Aspekt, der meinem Stolz zusätzliche Strahlkraft verlieh. Das behielt ich selbstverständlich für mich, Ryan war der einzige Mensch, dem gegenüber ich das zugab.) Aber diesmal blieb ich nicht. Ich wollte schnell nach Hause und hoffte, mich einen Moment hinlegen zu können, bevor ich zur Arbeit musste.

Kaum war ich im Haus, überkam mich eine solche Schwäche, dass ich mich gleich im Flur hinlegen musste. Ich presste die Wange an die kalten Fußbodendielen und wusste, dass ich nicht zur Arbeit gehen konnte. Möglicherweise war das mein erster Krankheitstag überhaupt. Selbst mit einem Kater war ich zur Arbeit gegangen, meine Arbeitsmoral verlangte das von mir. Ich rief Karen an, und meine Finger konnten kaum die Tasten drücken. »Ich hab Grippe«, sagte ich.

»Das ist keine Grippe«, sagte sie. »Die Leute sagen immer, sie hätten Grippe, aber es ist nur eine Erkältung. Glaub mir, wenn du Grippe hättest, wüsstest du das.«

»Ich weiß es«, sagte ich. »Es ist Grippe.«

»Sprichst du mit dieser komischen Stimme, damit ich dir das abnehme?«

»Ich habe wirklich Grippe.«

»Zungengrippe, oder wie?«

»Ich bin krank, Karen, ich schwöre es dir. Morgen bin ich wieder da.«

Ich kroch die Treppe hoch, schleppte mich dankbar ins Bett, stellte die Weckfunktion in meinem Telefon auf drei Uhr und versank in einen tiefen Schlaf.

Ich wachte mit trockenem Mund und desorientiert auf, und als ich einen Schluck Wasser trinken wollte, konnte ich nicht schlucken. Ich konzentrierte mich aufs Aufwachen – so war es eben, wenn man tagsüber schlief – und auf das Schlucken, aber es ging nicht. Ich musste das Wasser wieder ins Glas spucken.

Dann merkte ich, dass ich auch ohne Wasser im Mund nicht schlucken konnte. Die Muskeln in meiner Kehle funktionierten nicht. Ich konzentrierte mich darauf und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, aber es ging nicht. Ich konnte nicht schlucken. Ich konnte wirklich und wahrhaftig nicht schlucken.

Jetzt hatte ich Angst, und ich rief Ryan an. »Irgendwas ist mit mir nicht in Ordnung. Ich kann nicht schlucken.«

»Lutsch eine Halspastille und nimm zwei Aspirin.«

»Es sind keine Halsschmerzen. Ich kann nicht schlucken.«

Er klang verwundert. »Schlucken kann jeder.«

»Ich nicht. Meine Kehle funktioniert nicht.«

»Deine Stimme klingt komisch.«

»Kannst du nach Hause kommen?«

»Ich bin auf einer Baustelle in Carlow. Ich brauche mindestens zwei Stunden. Geh doch einfach zum Arzt.«

»Ist gut. Bis später.« Ich wollte aufstehen, aber meine Beine knickten unter mir weg.

Als Ryan nach Hause kam und meinen Zustand sah, war er wohltuend zerknirscht. »Ich hatte keine Ahnung … Kannst du aufstehen?«

»Nein.«

»Und schlucken kannst du auch nicht? Himmel, ich glaube, wir sollten den Notarzt rufen. Sollen wir den Notarzt rufen?«

»Ja.«

»Wirklich? So schlimm?«

»Was weiß ich? Vielleicht.«

Nach einer Weile kam der Krankenwagen, und zwei Männer schnallten mich auf einer Trage fest. Als ich aus dem Schlafzimmer getragen wurde, durchfuhr mich ein scharfer Schmerz von Trauer, als hätte ich eine Vorahnung, dass sehr viel Zeit bis zu meiner Rückkehr vergehen würde.

Unter den Augen von Betsy, Jeffrey und meiner Mutter, die an der Haustür standen und stumm und angstvoll zusahen, wurde ich in den Krankenwagen geladen.

»Es könnte eine Weile dauern«, sagte Ryan. »Ihr wisst ja, wie das bei der Notaufnahme ist. Wahrscheinlich müssen wir stundenlang warten.«

Aber ich hatte Vorrang. Nach einer Stunde kam ein Arzt und sagte: »Worum geht es? Muskelschwäche?«

»Ja.« Meine Sprechfähigkeit hatte sich so verschlechtert, dass ich nur ein undeutliches Grunzen zustande brachte.

»Sprich vernünftig«, sagte Ryan.

»Ich gebe mir Mühe.«

»Besser geht es nicht?« Der Arzt schien interessiert.

Ich wollte nicken und stellte fest, dass ich es nicht konnte.

»Können Sie den festhalten?« Der Arzt gab mir einen Kugelschreiber.

Wir sahen zu, wie mir der Stift aus den tauben Fingern glitt.

»Und die andere Hand? Nein? Können Sie den Arm heben? Den Fuß bewegen? Die Zehen? Nein?«

»Du kannst das doch«, sagte Ryan zu mir. »Sie kann das«, sagte er zu dem Arzt, aber der hatte sich abgewandt und sprach mit einem anderen Menschen im weißen Kittel. Ein paar Begriffe schnappte ich auf: »Schnell fortschreitende Lähmung.« »Wir müssen die Atmung im Blick behalten.«

»Was hat sie denn?« Ryan klang panisch.

»Das können wir jetzt noch nicht sagen, aber wir beobachten ein fortschreitendes Muskelversagen.«

»Können Sie denn nichts machen?«, sagte Ryan flehentlich.

Der Arzt war verschwunden, er wurde zu einer anderen Krisenstelle geholt.

»Kommen Sie zurück!«, rief Ryan. »Sie können doch nicht einfach so etwas sagen und dann gehen …«

»Entschuldigung.« Eine Krankenschwester kam mit einem Ständer und schob Ryan aus dem Weg. Zu mir sagte sie: »Wir legen Ihnen einen Tropf. Wenn Sie nicht schlucken können, trocknen Sie aus.«

Als sie nach einer Vene suchte, tat das weh, aber nicht so weh wie das, was dann kam: Sie legte mir einen Katheter.

»Warum?«, fragte ich.

»Weil Sie nicht auf die Toilette gehen können. Und für den Fall, dass Ihre Nieren versagen.«

»Muss ich … muss ich sterben?«

»Was? Was reden Sie da? Nein, natürlich nicht.«

»Wie wollen Sie das wissen? Warum kann ich nicht richtig sprechen?«

»Was?«

Eine zweite Krankenschwester kam mit einer Maschine auf Rollen. Sie legte mir eine Maske aufs Gesicht.

»Atmen Sie ein, so ist es gut. Ich will nur Ihren …« Sie sah auf die gelben Zahlen auf dem Bildschirm. »Atmen.«

Ich atmete doch. Oder wenigstens versuchte ich es.

Plötzlich sprach die Krankenschwester sehr laut, sie schrie fast – Zahlen und irgendwelche Fachwörter –, und schon wurde ich durch Stationen und Flure geschoben und war auf dem Weg zur Intensivstation. Alles geschah sehr schnell. Ich wollte fragen, was los sei, brachte aber keinen Ton heraus. Ryan rannte neben mir her und versuchte, die medizinischen Fachausdrücke zu deuten. »Ich glaube, es ist deine Lunge«, sagte er. »Atme, Stella, um Himmels willen, du musst atmen. Den Kindern zuliebe, wenn du es nicht meinetwegen tust.«

Gerade als meine Lunge ganz versagen wollte, wurde mir ein Loch in die Kehle geschnitten – eine Tracheotomie – und ein Rohr in den Hals geschoben und an ein Beatmungsgerät angeschlossen.

Ich bekam ein Bett auf der Intensivstation und wurde an zahllose Schläuche gehängt. Ich konnte sehen und hören und wusste genau, was mit mir passierte, aber abgesehen davon, dass meine Augenlider auf- und zuklappten, konnte ich mich nicht bewegen. Ich konnte nicht schlucken, nicht sprechen, nicht pinkeln, nicht atmen. Und als meine Hände den Rest ihrer Bewegungsfähigkeit verloren, konnte ich mich auch nicht mehr mitteilen.

Ich war lebendig in meinem Körper eingeschlossen.

Für eine Tragödie gar nicht schlecht, oder?

Samstag, 31. Mai

6 Uhr

Es ist Samstag, trotzdem klingelt mein Wecker um sechs. Ich habe mich mit mir selbst auf einen Schreibplan geeinigt: Ich werde jeden Tag früh aufstehen, mich mit kaltem Wasser »reinigen« und so diszipliniert wie ein Mönch sein. Arbeitseifer wird meine Parole lauten. Aber ich bin erschöpft. Nach Ryans Ankündigung gestern Abend, dass er sein verrücktes Projekt wirklich umsetzen will, war Mitternacht schon vorbei, bevor ich mit meiner Einschlafprozedur anfing.

Seit ich erwachsen bin, hat sich der Schlaf als scheues, unberechenbares Geschöpf erwiesen, dem man erst zeigen muss, wie sehr es willkommen ist, bevor es sich einstellt. Ich zeige meine Liebe auf vielfältige Weise – ich trinke Pfefferminztee, esse Joghurt, schlucke massenweise Kalms-Tabletten, bade mit Sandelholzöl, besprühe mein Kissen mit Lavendelduft, lese ein langweiliges Buch, lege eine CD mit Walgesängen ein.

Um ein Uhr morgens wälzte ich mich immer noch hin und her, und als ich endlich einschlief – wer weiß, wie viel Uhr es war –, träumte ich von Ned Mount, dem aus dem Fernsehen. Wir waren draußen, an einem sonnigen Ort – vielleicht war es Wicklow. Wir saßen an einem grob gezimmerten Picknicktisch, und er wollte mir einen großen Karton geben, in dem ein Wasserfilter lag. »Nehmen Sie ihn, bitte«, sagte er. »Ich kann damit nichts anfangen. Ich trinke nur Evian.«

Dass er nur Evian trank, stimmte nicht, das wusste ich, und er sagte es nur, weil er wollte, dass ich den Wasserfilter nahm. Ich war von seiner Großzügigkeit gerührt, obwohl er den Wasserfilter von einer PR-Firma umsonst bekommen hatte.

Und jetzt ist es sechs Uhr, eigentlich sollte ich aufstehen, aber ich bin so müde, dass ich wieder einschlafe und erst um Viertel vor neun aufwache.

Unten in der Küche sieht Jeffrey mir misstrauisch zu, als ich mir einen Kaffee mache und Knuspermüsli in eine Schüssel gebe. Ja, auch ich weiß natürlich, dass Knuspermüsli in Wirklichkeit aus lauter Keksbrocken besteht, denen ein paar »gesunde« Cranberrys und Haselnüsse untergemischt worden sind. Aber es gilt offiziell als »Frühstückskost«, und deshalb darf ich es ohne schlechtes Gewissen essen. Ich eile nach oben, um dem strengen Urteil meines Sohnes zu entgehen, nehme meinen Tablet-PC und gehe wieder ins Bett. Keine neuen Nachrichten von Ryan. Zum Glück! Aber es ist trotzdem schrecklich.

Bei seinem Video mit dem Titel »Künstlerische Grundsatzerklärung« muss ich an einen Selbstmordpiloten denken – die einstudierte Ansprache, der Eifer, er sieht sogar wie einer aus, mit den braunen Augen und den dunklen Haaren und dem sauber gestutzten Bart. »Ich bin Ryan Sweeney, ein spiritueller Künstler. Gemeinsam werden wir eine einzigartige Unternehmung beginnen. Ich werde alles, was mir gehört, verschenken. Alles, was ich besitze! Zusammen werden wir beobachten, wie das Universum sich meiner annimmt. Das Karma-Projekt!« Dann reckt er tatsächlich die Faust in die Luft. Ich schlucke. Fehlt nur noch, dass er ruft: »Allah ist groß!«

Ich sehe mir das Video viermal an und denke: Du Vollidiot.

Aber das Video ist bisher nur zwölfmal angesehen worden, und das waren Jeffrey und ich. Niemand hat es bislang aufgegriffen. Vielleicht kommt Ryan davon wieder ab. Vielleicht löst sich das Ganze einfach in Luft auf …

Ich überlege, ob ich ihn anrufen soll, aber lieber klammere ich mich an meine Hoffnung. Bis vor Kurzem hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein solches Talent zur Verleugnung habe. Ich klopfe mir selbst auf die Schulter. Ich kann das richtig gut. Erstaunlich!

Wo ich schon im Netz bin, beschließe ich, mal bei Gilda nachzusehen – nur ein paar Klicks, und ich wäre da. Aber ich schaffe es, mich daran zu hindern, und spreche in Gedanken mein Mantra für sie: Mögest du gesund sein, mögest du glücklich sein, mögest du frei von Leiden sein.

Jetzt weiter, Zeit für die Pille. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich schwanger werde, besteht zurzeit nicht, aber ich bin erst einundvierzig Jahre und drei Monate alt, und ich bin beileibe noch nicht aus dem Rennen.

Meine Güte, ich muss arbeiten.

Ich springe aus dem Bett und mache mich für meine morgendliche Reinigung bereit – »Reinigung« klingt einfach viel besser als »Duschen«. Ich habe keine Lust zu einer Reinigung, auch nicht zum Duschen, aber man darf sich nicht gehen lassen. Ich kann mich nicht anziehen, solange mein Körper ungereinigt ist, das geht einfach nicht, das wäre der Anfang vom Ende. Aber solange ich noch keine Vorhänge habe, kann ich mich auch nicht im Schlafanzug an den Schreibtisch setzen, wo jeder Vorübergehende mich sieht.

Ich reinige mich mit kaltem Wasser. Jeffrey hat schon geduscht und das ganze warme Wasser aufgebraucht.

Also wirklich! Meine Klamotten! In einem weiteren Kränkungsversuch hat Jeffrey angefangen, seine Wäsche selbst zu waschen – was ich zugegebenermaßen gar nicht so kränkend finde –, aber dabei hat er versehentlich ein paar Stücke von mir mitgewaschen und so lange im Trockner gelassen, dass sie jetzt steif wie Pappe sind. Außerdem sind sie geschrumpft. Ich ziehe mir eine Jeans an, kann aber den obersten Knopf nicht schließen.

Ich versuche eine andere Jeans – dieselbe Geschichte. Dann muss es eben so gehen. Meine dritte Jeans liegt im Wäschekorb, Jeffrey darf sie nicht in die Finger bekommen.

Ich setze mich an den Schreibtisch, klebe mir ein kleines Lächeln aufs Gesicht und lese die inspirierenden Worte, die ich jeden Morgen lesen werde, bis dieses Buch fertig ist. Es sind Phyllis’ Worte, und ich habe sie genau so aufgeschrieben, wie Phyllis sie mir an dem Morgen vor zwei Monaten in ihrem Büro entgegengeschleudert hat. »Sie waren reich, erfolgreich und verliebt«, hatte sie gesagt. »Und jetzt? Ihre Karriere ist am Ende, was mit Ihnen und Ihrem Typen ist, weiß ich nicht, aber es sieht nicht besonders gut aus! Da haben Sie doch jede Menge Material!«

Ich halte beim Lesen inne, um die Worte auf mich wirken zu lassen, so wie bei einem Gebet. Damals war mir schlecht, und jetzt ist mir auch schlecht. Phyllis hatte die Schultern gezuckt. »Soll ich weiterreden? Ihr Sohn verachtet Sie. Ihre Tochter vergeudet ihr Leben. Sie sind auf der falschen Seite der Vierzig, die Wechseljahre kommen mit Riesenschritten näher. Das müsste doch reichen, oder?«

Ich hatte keinen Ton über die Lippen gebracht.

»Früher waren Sie eine kluge Frau«, hatte Phyllis gesagt. »Was Sie in Gezwinkerte Gespräche geschrieben haben, hat viele Menschen berührt. Versuchen Sie es noch einmal, nehmen Sie diese neuen Herausforderungen als Ausgangspunkt. Schicken Sie mir das Buch, wenn Sie fertig sind.« Sie war aufgestanden und hatte versucht, mich zur Tür zu bugsieren. »Gehen Sie jetzt. Ich habe Klienten, die mich sprechen wollen.«

Verzweifelt klammerte ich mich an meinen Stuhl. »Phyllis?«, sagte ich flehentlich. »Haben Sie Vertrauen in mich?«

»Wenn Sie ein Problem mit Ihrem Selbstwertgefühl haben, suchen Sie sich einen Psychiater.«

Früher war ich eine kluge Frau, rufe ich mir ins Gedächtnis, und meine Hände schweben über der Tastatur, dann kann ich es jetzt wieder sein. Ich hämmere auf die Tasten und schreibe das Wort »Arsch«.

12.17 Uhr

Ich werde beim Schreiben vom Klingeln des Telefons gestört. Das Telefon dürfte gar nicht in meinem Zimmer sein, nicht, wenn ich es ernst meine und ungestört arbeiten will, aber wir leben in einer unvollkommenen Welt, es ist nicht zu ändern. Ich prüfe die Nummer, es ist meine Schwester Karen.

»Komm in die Wolfe Tone Terrace«, sagt sie.

»Warum?« In der Wolf Tone Terrace wohnen meine Eltern. »Ich arbeite.«

Sie macht ein höhnisches Geräusch. »Du arbeitest nur für dich, du kannst jederzeit aufhören. Niemand kann dich entlassen.«

Ich schwöre, niemand hat Respekt vor mir. Nicht vor meinem Schreiben, nicht vor meiner Zeit, vor meinen Umständen.

»Also gut«, sage ich. »In zehn Minuten bin ich da.«

Ich werfe das Handy in meine Tasche und nehme mir fest vor, diszipliniert zu schreiben. Bald. Sehr bald. Morgen.

Unten im Flur treffe ich Jeffrey.

»Wohin willst du?«, fragt er.

»Zu den Großeltern. Und du, wohin willst du?« Als wäre es nicht offensichtlich, so bockig wie er und seine Yogamatte mich anstarren, wie ein Paar, das im Begriff ist, miteinander durchzubrennen. Wir lieben uns eben, scheinen sie zu sagen. Was willst du dagegen machen?

»Yoga? Schon wieder?«

Er sieht mich mit einem höhnischen Ausdruck an. »Ja.«

»Gut. In Ordnung … ähm …«

Ich mache mir Sorgen. Sollte er nicht um die Häuser ziehen, sich betrinken, in Streitereien geraten wie andere Achtzehnjährige auch?

Ich habe als Mutter versagt.

Mum und Dad leben in einer ruhigen Straße in einem kleinen Reihenhaus des sozialen Wohnungsbaus, das sie vor langer Zeit der Stadt abgekauft haben.

Mum macht die Tür auf und sagt zur Begrüßung: »Warum um alles in der Welt hast du Stiefel an?«

»Äh …«

Sie mustert meine Jeans. »Ist dir nicht heiß?«

Als ich nach Irland kam, war es Anfang März, und seitdem trage ich dieselben drei Paar Jeans nach dem Rotationsprinzip. Ich hatte so viel um die Ohren, dass Anziehsachen ganz unten auf meiner Liste standen.

Aber die Jahreszeit ist vorangeschritten und hat sich verändert, und plötzlich braucht man Sandalen und lockere Leinengewänder.

Mum ist klein und rundlich und friert leicht, aber auch sie kommt heute ohne Strickjacke aus.

»Was gibt’s Neues?«, frage ich.

Ich höre ein Surren, dann drängt sich Clark, Karens Ältester, an Mum vorbei und schreit aus vollem Hals: »Sie haben einen Treppenlift. Wegen Granddads kaputtem Rücken.«

Jetzt sehe ich ihn. Das Ding ist an der Wand des Treppenhauses installiert, und gerade schnallt Karen sich zusammen mit der dreijährigen Mathilde auf dem Sitz fest. Sie betätigt den Hebel, und die beiden schweben surrend nach oben. Sie schweben sehr langsam. Sie winken Mum, Clark und mir zu, und wir winken festlich gestimmt zurück.

Mum murmelt mir zu: »Er sagt, er setzt sich da nicht rein. Geh hin und rede du mit ihm.«

Ich stehe in der Tür zum Wohnzimmer und blicke in das winzige Zimmer. Wie gewöhnlich sitzt Dad in seinem Sessel und hat ein Buch aus der Bibliothek auf dem Schoß. Er verbreitet Brummigkeit um sich herum, dann sieht er mich, und seine Miene hellt sich ein wenig auf. »Ah, du bist es, Stella.«

»Willst du mal mit dem Treppenlift fahren?«

»Nein.«

»Ach, Dad.«

»Von wegen ›Ach, Dad‹. Ich komme gut die Treppe hoch. Ich hab gesagt, sie soll ihn nicht kaufen. Ich brauche ihn nicht, und wir haben auch nicht das Geld dafür.«

Er winkt mich zu sich. »Angst vorm Tod, das ist ihr Problem. Sie glaubt, wenn sie solche Sachen für uns kauft, kann sie uns länger am Leben halten. Aber wenn du dran bist, bist du dran.«

»Du kannst noch dreißig Jahre leben«, sage ich munter. Möglich ist es. Er ist erst zweiundsiebzig, und heute leben die Menschen ewig. Allerdings nicht unbedingt Menschen wie meine Eltern. Mein Dad hat mit sechzehn zu arbeiten angefangen, es war ein körperlich harter Job, Be- und Entladen von Containern in den Docks von Ferrytown. Davon gehen die Menschen kaputt, viel eher, als wenn sie am Schreibtisch sitzen. Mit zweiundzwanzig hatte er das erste Mal einen Bandscheibenvorfall. Lange – ich weiß gar nicht, wie lange, vielleicht acht Wochen – musste er im Bett liegen und starke Schmerzmittel nehmen. Dann ist er wieder zur Arbeit gegangen, und irgendwann hatte er eine neue Verletzung. Das passierte unzählige Male – meine ganze Kindheit hindurch kam es vor, dass Dad »wieder einmal« krank war, so regelmäßig wie Halloween und Ostern –, aber er gab nicht auf und arbeitete weiter, bis es wirklich nicht mehr ging. Mit vierundfünfzig war seine Gesundheit endgültig ruiniert, und er hatte das Ende seines Arbeitslebens erreicht. Und seines Lebens als Lohnempfänger.