Mittendrin - Volker Lange - E-Book

Mittendrin E-Book

Volker Lange

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Beschreibung

Volker Lange ist seit 1981 Polizist in Köln und leitet seit zehn Jahren als Polizeidirektor die Inspektion Köln-West in Ehrenfeld. Streifenbeamter, Motorradpolizist, Zivilfahnder, Leiter bei der Bereitschaftspolizei, Einsätze im Stadion bei Spielen des 1. FC Köln und Kommandoführer eines SEKs: Der 60-Jährige kennt alle Facetten der Polizeiarbeit. In "Mittendrin" lässt Tim Stinauer, Redakteur und langjähriger Polizeireporter des "Kölner Stadt-Anzeigers", Volker Lange von 19 herausragenden Einsätzen berichten, die ihm in Erinnerung geblieben sind - weil sie besonders spektakulär waren oder in hohem Grad brisant, rührend, komisch, abseitig oder traurig. Klar und offen spricht er über die Gefühle eines Polizisten, über die Last der Verantwortung im Job, über Schuld, Angst und Fehlentscheidungen. Und darüber, wie es sich damit lebt, für den Tod eines Menschen mitverantwortlich zu sein.

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Ähnliche


Ein Kölner Polizist erzählt

vonVolker Lange und Tim Stinauer

Impressum

Math. Lempertz GmbH

Hauptstr. 354

53639 Königswinter

Tel.: 02223-900036

Fax: 02223-900038

[email protected]

www.edition-lempertz.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

1. Auflage – August 2021

© 2021 Math. Lempertz GmbH

Produktion: NEOGRAFIA, a.s., Slowakei, www.neografia.sk

ISBN: 978-3-96058-402-5eISBN: 978-3-96058-433-9

Umschlaggestaltung: Kerstin Pfeiffer

Satz: Hilga Pauli

Lektorat: Philipp Gierenstein, Eva Weigelt

Bildnachweis:

Titelbild: © Adobe Stock: dietwalther

Klappen: © Volker Lange und © Tim Stinauer

Fotos Innenteil: © Volker Lange

Außer:

S.74: © Peter Hanau

S.94: © #CR110 Carsten Rust

S. 111: © Klaus Michels

S. 142: © U. Nockemann, Polizei Köln

S. 151: © Adnan Akyüz

S. 194: © Stadt Köln: Flyer „Mehr Spaß ohne Glas“

S. 204: © Peter Rakoczy

S. 207: © dauckgrafik

INHALT

Vorwort

Grußwort Peter Hanau

1. Papa macht neu Tod unter der Hochbahn

2. Die Balletttänzerin Ein unmoralisches Angebot

3. Ein Nationalspieler auf AbwegenSchreck auf der Pferderennbahn

4. Im Rotlicht Bestechungsversuch im Nachtdienst

5. Kölsche HausordnungAbdrücken oder nicht? Wenn Polizisten zur Waffe greifen

6. Fahnderglück Drei Festnahmen an einem Tag

7. Das Gladbecker Geiseldrama Journalisten außer Rand und Band

8. Bombendrohung an der UniVom Zivilfahnder im Kölner Westen zum SEK

9. Sieben Stunden NervenkriegDer Rabe Abraxas und die Last der Verantwortung

10. SEK-Quickies „Kein langer Zock“

11. Der Einsturz Der Tag, an dem das Stadtarchiv verschwand

12. Einsatz in zwei WeltenParty, Alkohol, Gewalt – wenn es Nacht wird auf den Ringen

13. Hausbesuch bei bösen Buben Von Höllenengeln und Banditen

14. Den Ball am Kopf Hooligans und fröhliche Engländer

15. Der Überfall Zwanzig gegen Einen

16. Die Schlacht vom Rudolfplatz „Geil weggeklatscht“

17. Ein Dom-Kapitel Einsatz am Weltkulturerbe

18. Karneval in Kölle Ausnahmezustand

19. Immer im Dienst Festnahme in der Freizeit

Danke …

Vorwort

Der 4. November 2008 ist ein milder Wintertag in Köln, ein Dienstag. Um kurz nach neun Uhr bricht in der Innenstadt Hektik aus. Die Polizei sperrt Straßen rund um den Friesenplatz, zieht rot-weißes Flatterband von Laternenmast zu Laternenmast. Ein Hubschrauber kreist über dem Hotel Pullman an der Magnusstraße. Aus Vans mit verdunkelten Scheiben steigen vermummte Beamte eines Spezialeinsatzkommandos (SEK). Der Grund für die Aufregung: Zeugen haben auf dem Dach des Hotels eine Person bemerkt, die etwas in der Hand hielt, das für sie aussah wie ein Gewehr. Ein Heckenschütze? Ein Terrorist? Ein Selbstmörder? Die Zeugen wählen den Notruf. Und es ist, wie es eigentlich immer ist, wenn die Polizei in der Medienstadt Köln zu einem größeren Einsatz ausrückt: Es spricht sich rasch herum, auch die ersten Journalisten sind schnell vor Ort.

Ein paar Stunden später, nach Einsatzende, treffen wir zum ersten Mal aufeinander. Auf dem Gehweg gegenüber des Pullman-Hotels steht Einsatzleiter Volker Lange den wartenden Journalisten Rede und Antwort – unter ihnen Tim Stinauer, Polizeireporter beim „Kölner Stadt-Anzeiger“.

In den folgenden Jahren bis zu Langes Pensionierung 2021 begegnen wir uns immer wieder – an Einsatzorten, auf Pressekonferenzen oder bei Hintergrundgesprächen zu verschiedenen Themen, die die Arbeit der Polizei betreffen. Bei diesen Gelegenheiten lernen wir zunehmend auch die Perspektive des anderen kennen. Denn es ist ja so: Vielfach existieren zwar große Schnittmengen, mitunter arbeiten Polizei und Medien eng zusammen, zum Beispiel bei Öffentlichkeitsfahndungen nach Straftätern oder wenn es darum geht, Präventionstipps an die Öffentlichkeit zu vermitteln. Aber: Es gibt eben auch viele Situationen, in denen Journalisten und Polizisten nicht dasselbe Ziel verfolgen – und das auch nicht tun sollten. Denn neben der sachlichen Abbildung polizeilicher Arbeit ist es auch Aufgabe von Journalismus, interne Abläufe und Methoden bei der Polizei wachsam zu begleiten und kritisch zu kommentieren.

In mehr als 10 Jahren unserer Zusammenarbeit hat sich ein gegenseitiger Respekt aufgebaut sowie eine Akzeptanz für unsere unterschiedlichen Rollen und Aufgaben – und nicht zuletzt die gemeinsame Überzeugung: Volker Lange hat in seinen 43 Dienstjahren bei der Polizei NRW, davon 40 in Köln, so viel erlebt, dass man ein Buch darüber schreiben kann. Schreiben muss. Also machten wir uns an die Arbeit.

Ein paar Seiten hatte Volker Lange in den vergangenen Jahren selbst schon aufgeschrieben. Es sind Aufzeichnungen über Einsätze, die ihn nie losgelassen haben, aus völlig verschiedenen Gründen. Das meiste Material aber haben wir gemeinsam über ein komplettes Jahr in vielen, stundenlangen Gesprächen zusammengetragen. Der Polizist hat erzählt, der Journalist hat aufgezeichnet, Fakten geprüft und alles in Form gebracht – jedenfalls ein bisschen. Denn wir hielten es für wichtig, möglichst wenig von der Sprache zu verändern, die Volker Lange eigen ist und für die er unter seinen Kolleginnen und Kollegen im ganzen Land bekannt ist: direkt, ehrlich und authentisch.

Und wer ihn kennt, der weiß: Genau so wie er spricht, so ist er auch. Volker Lange war nie ein Chef, der sich im stillen Kämmerlein verschanzt und Einsatzkonzepte und Strategiepapiere geschrieben hat, um damit in Besprechungen zu glänzen. Er war und ist Teamplayer – und am liebsten draußen auf der Straße. Ob anfangs als Streifenpolizist oder später als Kommandoführer eines SEK und Leiter von Großeinsätzen: Volker Lange war immer am liebsten mittendrin in der Lage, wie man bei der Polizei so sagt. Er wollte die Stimmungen spüren, die jeder Einsatz mit sich bringt, und er suchte wann immer es möglich war die persönliche Begegnung und das offene Wort mit allen Beteiligten – seien es Polizisten, Rocker, Fußballhooligans, Verbrechensopfer, politisch Verantwortliche oder Journalisten.

Wer nun vielleicht erwartet, dass hier ein erfahrener Polizeidirektor nach dem Ende seiner Laufbahn auf 208 Seiten „auspackt“, geheime Interna ausplaudert oder aus Frust mit dem „Apparat Polizei“ oder mit einzelnen Weggefährtinnen und Weggefährten abrechnet, der muss allerdings enttäuscht werden. Denn darum geht es nicht. Kritik, auch Selbstkritik, wo sie im Rückblick angebracht ist – ja, die wird man in diesem Buch finden. Aber Angriffe oder ein Nachtreten gegen ehemalige Kolleginnen oder Kollegen nicht. Vertrauliche Einsatzdetails, die unter Verschluss stehen, ebenso wenig.

Zu einer Abrechnung gäbe es auch gar keinen Grund, denn zum einen ist Volker Lange 43 Jahre lang mit voller Überzeugung und mit vollem Engagement Polizist gewesen; Meinungsverschiedenheiten mit Vorgesetzten oder Mitarbeitenden gab es natürlich, Verärgerung über interne Vorgänge oder Fehler im Einsatz ebenso, aber Frust ist nie zurückgeblieben.

Und zweitens ist ein Schutzmannsleben in einer Millionenstadt nach mehr als 4 Jahrzehnten so reich an Erlebnissen und Erfahrungen, dass es keine sensationsheischende Enthüllungsstory braucht. Die Geschichten in diesem Buch beweisen das. In 19 Kapiteln werden Sie auf Abseitiges stoßen, auf schwer zu Glaubendes, auf Komisches, Trauriges, Dramatisches und in hohem Grad Rührendes. Und alles, was Sie gleich lesen werden, ist wahr und genau so geschehen. Nur an manchen Stellen haben wir Namen oder biografische Details leicht verändert, um bestimmte Personen nicht erkennbar zu machen.

Und warum auch zuspitzen? Die Realität ist spannender und berührender als jeder Krimi, und kaum ein Beruf ist derart abwechslungsreich wie der des Polizeibeamten – oder der Polizeibeamtin.

Damit wären wir bei einem weiteren Thema, das uns beim Schreiben umgetrieben hat: Gendern wir? Dass wir jedes Mal, wenn wir in diesem Buch ganz allgemein von Polizisten, Politikern, Straftätern oder Kölnern sprechen, nicht nur Männer, sondern grundsätzlich alle meinen, die diesen Gruppen angehören, versteht sich für uns eigentlich von selbst. Aber sollten wir das dann nicht auch über die Sprache transportieren? Und falls ja, wie? Reicht es, von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Beamtinnen und Beamten zu sprechen – oder müsste es nicht auch Rockerinnen und Rocker heißen, Gewalttäterinnen und Gewalttäter, Fußballstörerinnen und Fußballstörer, Zuhälterinnen und Zuhälter? Konsequenterweise schon, aber manches klingt einfach irgendwie schräg. Wir haben uns daher entschieden, wo immer es geht, sowohl die maskuline als auch die feminine Form zu verwenden oder genderneutrale Begriffe zu benutzen. Wo wir darüber hinaus in allgemeinen Zusammenhängen nur die maskuline Form verwendet haben, so ist dies einzig aus Gründen des Leseflusses und der besseren Lesbarkeit geschehen. Wir meinen aber ausdrücklich immer alle Menschen, die den genannten Gruppen angehören.

Dieses Buch gibt einen tiefen, unverstellten Einblick in die tägliche Arbeit der Polizei in einer Millionenstadt. Wer Kommissarin oder Kommissar werden möchte, schwört in seinem Diensteid, dass sie oder er die Verfassung und die Gesetze befolgen und verteidigen wird, alle Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben wird. Das ist einigermaßen leicht gesagt.

Dass das auch bedeutet, hinlaufen zu müssen, wenn andere wegrennen, Lösungen finden zu müssen, während andere in Angst erstarren, und aushalten zu müssen, dass manchmal aller persönlicher Einsatz vergebens ist – auch davon erzählt dieses Buch.

Volker Lange und Tim Stinauer

Volker Lange beim Schießtraining 1993.

Grußwort Peter Hanau

Autobiografien, eigene Lebensbeschreibungen, von Polizeibeamten sind selten. Hier ist nun eine von einem Polizisten mit Leib und Seele. Seine beruflichen Erlebnisse sind ihm so gegenwärtig, dass er sie ohne Hilfe eines Tagebuchs mit allen Einzelheiten wiedergeben kann, sodass Leser (oder Hörer) meinen können, sie seien dabei gewesen.

Die hohen Anforderungen und die Härten des Polizeidienstes werden dadurch eindrucksvoll, oft auch beklemmend, deutlich.

Dabei zeigt sich während seiner ganzen Laufbahn dieselbe Persönlichkeit: stets einsatzbereit, aber nicht überhastet; engagiert, aber nicht einseitig; im Kampf für das Recht mutig, aber auch besonnen.

Dies zeigte sich schon 1988/89 bei seinem Einsatz in der Universität zu Köln, den ich als Rektor aus der Nähe beobachten konnte und der mir ein Gefühl der Sicherheit gab.

Sicherheit und Schutz hat er auch vielen und vielem anderen gegeben, wie dieses Buch belegt. Großen Dank!

Prof. Dr. Dres. h. c. Peter Hanau (em.)

1

Papa macht neu

Tod unter der Hochbahn

Der Junge, der unter der Hochbahntrasse spielt, trägt einen hellblauen und etwas zu großen Pullover. Er wirkt fröhlich und rennt mit anderen Kindern umher, sie rufen sich unverständliche Dinge zu, lachen und schreien. Der Junge läuft zur Bordsteinkante. Das Auto, das von links kommt, sieht er nicht.

Frühes Sonnenlicht dringt durch das Fenster und wirft Schatten an die Zimmerdecke. Ich wache noch vor dem Wecker auf und freue mich auf einen schönen Sonntag im Frühsommer. Es ist kurz vor fünf. In zwei Stunden beginnt die Frühschicht. Bis 14 Uhr werde ich heute Motorradstreife im Kölner Norden fahren. Eine angenehme Aussicht. Sonntags ist für gewöhnlich weniger Hektik auf den Straßen; während der Fahrt kann ich den Blick schweifen und meinen Gedanken freien Lauf lassen.

Nach Dienstende werde ich mich mit meiner Freundin treffen. Sie studiert in Bielefeld, ich werde sie vom Bahnhof abholen. Ein pünktlicher Feierabend steht heute also hoch im Kurs.

Ich stelle mein Auto auf einem Mitarbeiterparkplatz in der Garage ab, nehme die frisch gewaschenen, gefalteten Uniformhemden in der Papiertüte vom Rücksitz und betrete die Wache. Ich bin bester Laune. Mal sehen, ob mich mein eher konservativer Wachdienstführer auch heute wieder auf den Heckaufkleber auf meinem Auto anspricht: „Es ist besser, unsere Jugend besetzt leer stehende Häuser als fremde Länder!“

Ich begrüße die müden Kolleginnen und Kollegen der Nachtschicht, sie müssen jetzt bei schönstem Wetter zur Ruhe kommen und sich ausschlafen. Um 22 Uhr geht es für sie weiter.

Der Dienstgruppenleiter informiert knapp über die wichtigsten Einsätze der vergangenen Stunden, dann streife ich meine schwarz-grüne Lederkombi über, steige in die geputzten Stiefel und nehme den Helm und die Handschuhe mit. Aus dem Waffenschrank hole ich meine SIG-Sauer-Pistole. Überprüfe sie und befestige sie im Gürtelholster, den Schlagstock stecke ich in den rechten Stiefel. In der Garage steht die schwere BMW. Ein kurzer Check: Luft, Bremsen, Öl, Funkgerät – alles in Ordnung, es kann losgehen.

Mit dem Motorrad fahre ich gerne an jene Orte, wo ich mit dem Streifenwagen nicht gut hinkomme: zu den Hundespaziergängern auf den Rheinwiesen, den Anglern am Strom, zu den Kletterern an der Kaimauer oder durch den üppig blühenden Rheinpark zwischen Deutz und Mülheim, dem alten Schauplatz der Bundesgartenschau von 1957. Unterwegs bleibe ich stehen, schaue Menschen zu, höre mir ihre Sorgen an, bekomme Hinweise auf wilde Müllkippen oder verdächtige Fahrzeuge.

An diesem Sonntagmorgen rolle ich zuerst nach Norden, grobe Richtung: Weidenpesch, Pferderennbahn. Auf der Neusser Straße fällt mir ein roter Kleinwagen auf. Der Fahrer heizt über das Kopfsteinpflaster der Straßenbahnschienen, überholt trotz des Überholverbots. Ich halte ihn an. Ein verspäteter Nachtschwärmer, wie sich herausstellt. Seine Alkoholfahne schlägt mir entgegen. Ich lasse mir Führerschein und Fahrzeugschein geben und bitte ihn, kurz zu warten.

Neben ihm sitzt eine junge Frau, sie lächelt. Während ich die Daten überprüfe, bestelle ich über den Polizeifunk einen Streifenwagen hinzu. Der Fahranfänger muss gleich mit zur Blutprobe auf die Polizeiwache, und ich kann ihn schlecht auf dem Sozius mitnehmen. Dass die Fahrt für ihn hier zu Ende ist, soll er erst erfahren, wenn meine Kollegen da sind. Der Tag ist zu schön für unnötigen Stress.

Seine Tanznacht kann das junge Paar vorerst nicht wie geplant fortsetzen. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Spielverderber. Während ich der Frau den Weg zur nahen Straßenbahnhaltestelle weise, steigt ihr Begleiter in den Streifenwagen ein; ich fahre mit dem Motorrad hinterher.

Auf der Wache macht der Autofahrer freiwillig ein paar Tests unter Anleitung des Blutproben-Docs: auf der Fuge des grauen Linoleums geradeaus gehen, mit geschlossenen Augen einen Zeigefinger zur Nasenspitze führen, ein paar Worte nachsprechen. Der Arzt entnimmt ihm eine Blutprobe und füllt den „Torkelbogen“ aus. Ich schreibe die Anzeige und behalte den Führerschein ein. Für die Heimfahrt bestelle ich dem jungen Mann ein Taxi. Ich entlasse ihn durch die schwere Glastür aus der Wache. Beim Verabschieden überlege ich noch, wie mein freundlich gemeintes „Auf Wiedersehen“ auf ihn wirken muss. Ich werde mir wohl für solche Fälle eine andere Redewendung überlegen müssen.

Es ist wärmer geworden, zunehmend sind mehr Menschen auf der Straße unterwegs. Ich fahre wieder Richtung Norden. Ein paar Kinder spielen unter der Hochbahntrasse. Ein Junge springt an den Straßenrand. Er trägt einen zu großen hellblauen Pullover, ist nicht älter als fünf Jahre. An der Bordsteinkante bleibt er stehen und blickt nach rechts in meine Richtung. Von links nähert sich ein rotes Auto. Der Junge sieht es nicht, er tritt auf die Straße, der Fahrer versucht noch zu bremsen, aber es ist zu spät – das Kind prallt gegen die Stoßstange.

Wie in Zeitlupe sehe ich, wie der Kleine stürzt und auf dem Boden aufschlägt. Der Fahrer war zum Glück nicht so schnell wie der angetrunkene Nachtschwärmer. Das Kind wurde nicht überrollt, sein Oberkörper liegt vor dem Auto, die Beine darunter. Vielleicht, hoffe ich, hat der Junge Glück gehabt.

Über Funk setze ich einen Notruf ab, nenne die Straße, fordere einen Notarzt und einen Rettungswagen und weitere Kollegen zur Unterstützung an. Meine Stimme klingt anders als üblich, aufgeregter, fast überdreht, merke ich. Der Schreck steckt mir in den Gliedern. Ich bremse, stelle das Motorrad auf den Seitenständer und hocke mich neben den Jungen auf den Boden.

Der Motor des Autos strahlt große Wärme ab, es stinkt nach Benzin und Öl. Der Junge lebt, er sieht mich aus großen schwarzen Augen an und zittert am ganzen Körper. Er spricht kein Wort.

Ich versuche, ihn zu beruhigen, obwohl ich selber zittere. Ich ziehe meine Handschuhe aus, nehme meinen Motorradhelm ab und lege dem Jungen meinen Arm um. Sein Kopf lehnt an meinem schwarzen Stiefel. Um uns herum sammeln sich immer mehr Kinder- und Erwachsenenfüße, die Körper darüber nehme ich gar nicht wahr. Ich konzentriere mich nur auf den Jungen. Spreche ihn an, tröste ihn, erkläre ihm, dass schon ein Arzt unterwegs ist, der ihm gleich helfen wird.

Der Autofahrer kommt hinzu. Er ist außer sich, macht sich Vorwürfe. Er spricht in einer fremden Sprache, ich kann mir trotzdem vorstellen, wie ihm zumute ist. Er tut mir leid – er hatte keine Chance, den Unfall zu vermeiden.

Das Warten auf die Kollegen und den Notarzt ist quälend. Die Zeit kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ich höre nicht auf zu zittern. Der Junge scheint unter der Fahrzeugfront eingeklemmt zu sein. Ich traue mich nicht, ihn zu bewegen, etwas zu verändern. Stattdessen rede ich weiter auf ihn ein und versuche, ihn zu beruhigen.

Wann kommt endlich Hilfe?

Ein paar Passanten stehen mir bei, andere spekulieren lauthals darüber, ob der Kleine die Verletzungen wohl überlebt. Ich hätte große Lust, sie anzuschreien.

Die Kinder um uns herum sind neugierig, sie stellen mir Fragen, ich verstehe sie nicht richtig. Plötzlich sagt der Bruder des Jungen einen Satz, den ich bis heute nicht vergessen kann: „Ist nicht so schlimm. Papa macht neu.“

Ich bin geschockt, ich möchte mich am liebsten unter dem Auto verkriechen. Die sich nähernden Sirenen der Feuerwehr lenken mich ab. Und dann geht alles ganz schnell. Rettungskräfte befreien das Kind, unsere Blicke trennen sich. Mit schweren Verletzungen wird es in die Kinderklinik an der Amsterdamer Straße eingeliefert. Ob es überleben wird, ist nicht sicher.

Ich unterstütze die Kollegen bei der Unfallaufnahme, schildere ihnen, was ich gesehen habe. Die weiteren Ermittlungen im Krankenhaus und die Benachrichtigung der Eltern übernehmen zum Glück andere.

Am Mittag lenke ich das Motorrad zurück in die Polizeigarage und schreibe meinen Streifenbeleg. Mache eine kurze Aussage zum Unfallhergang. Das so lange ersehnte Wochenende mit meiner Freundin ist für mich gelaufen.

Als ich am Mittwochabend zum Nachtdienst erscheine, erkundige ich mich zuallererst, wie es dem Jungen geht. Er hat es leider nicht geschafft. Die inneren Verletzungen waren zu schwer. Mir kommen die Worte seines Bruders in Erinnerung. Ist nicht so schlimm. Papa macht neu. Tränen schießen mir in die Augen. In dieser Nacht mache ich Innendienst.

2

Die Balletttänzerin

Ein unmoralisches Angebot

Den Tag der Arbeit verbringt Melania Regner allein in ihrer Wohnung. Es ist ein warmer Vormittag. In den Straßencafés sitzen die Kölner beim Brunch in der Sonne, ein paar tausend ziehen pfeifend mit Transparenten auf der traditionellen Maidemo durch die City.

Melania Regner ist eine attraktive Frau. Anfang dreißig, grazil, gepflegt. Ihrer betörenden Wirkung ist sie sich sehr wohl bewusst. Wenn sie einen Mann verführen will, setzt sie einen leichten, fast federnden Gang auf. Sie scheint dann zu schweben, wie eine Balletttänzerin. Gegen Mittag greift Melania Regner zum Telefon.

Ich stehe neben meinem Motorrad, den Helm auf dem Sitz abgelegt. Mit meinem Kollegen Andreas regele ich den Verkehr rund um die Maidemonstration – nichts Besonderes, Service für den Bürger. Ehrlich gesagt habe ich mein Geld schon schwerer verdient.

Volker Lange 1981 als Streifenbeamter in Köln-Nippes.

Für Polizisten in einer Großstadt gibt es auch an Feiertagen wie dem 1. Mai jede Menge Arbeit. Ob die Großdemo der Gewerkschaften oder ausuferndes Freizeitverhalten mit reichlich Alkohol – als Polizist sind deine Auftragsbücher immer prall gefüllt. Uns drohen keine Werksschließungen.

Auf dem Rückweg vom Ebertplatz zur Polizeiwache erreicht uns ein Funkspruch: „Fahrt mal nach Nippes, Hilfeersuchen bei Frau Regner.“ Die Adresse liegt auf dem Weg zur Wache, also schnell noch erledigen, denke ich, und dann zur Dienstbesprechung. „Verstanden, sind unterwegs“, melde ich der Leitstelle zurück.

Wir biegen in die Straße mit den herrlichen Jugendstilhäusern ein; das Haus, in dem Frau Regner wohnt, liegt auf der linken Seite. Ein wunderschönes Mehrfamilienhaus, die Fassade geschmackvoll begrünt. In der Lederkombi mit dem Helm unterm Arm Treppen zu steigen, ist immer schweißtreibend – und für Polizisten scheint es ein ungeschriebenes Gesetz zu geben: Einsätze in Mehrfamilienhäusern ohne Aufzug haben grundsätzlich in der obersten Etage stattzufinden. Das so genannte Schutzmannsparterre. Aber diesmal haben wir Glück, Frau Regner wohnt im ersten Stock.

Um was mag es wohl gehen beim diesem „Hilfeersuchen“, frage ich mich, während ich das Motorrad abstelle. Obwohl „Hilfeersuchen“ für viele, die nichts mit Polizei zu tun haben, womöglich erst einmal dramatisch klingt, reihen sich solche Einsätze fast immer am unteren Ende der Dringlichkeit ein. Bei der Polizei unterscheiden wir zwischen mehr als hundert verschiedenen Stichwörtern, nach denen die Leitstelle die Einsätze kategorisiert: von „Verkehrsunfall mit Blechschaden“ über „Diebstahl“ bis zu „Geiselnahme“ und „Totschlag“. Ein „Hilfeersuchen“ ist eher so die Kategorie „Katze auf dem Baum“ oder „Vogel ausgebüxt“. Nichts Schlimmes also. Auch die Leitstelle hat keine genaueren Informationen. Frau Regner – so viel scheint jedenfalls sicher – schwebt nicht in Lebensgefahr.

In diesem Moment trifft Andreas eine Bekannte auf dem Bürgersteig, die beiden fangen an zu plaudern. Ich deute Andreas mit einem Kopfnicken an, dass ich schon mal hoch gehe, nehme mein Handfunkgerät, klemme es in die Halterung am Gürtel und drücke auf die Türklingel neben dem Namensschild, M. Regner. Eine schöne alte Glocke ertönt.

Nach einigen Sekunden wird die Tür aufgedrückt. Ich schiebe die schwere Haustür auf und trete in einen halbdunklen, kühlen Hausflur. Der Steinboden ist aufwändig verziert, die hohe Decke mit Stuck dekoriert. Die breite, uralte Steintreppe zeugt noch heute von den guten Vermögensverhältnissen der Erbauer. Auf dem Boden steht ein schwerer Kupferkessel, der mit rankenden Blumen bepflanzt ist. Es riecht nach Frühling.

Im ersten Obergeschoss gibt es nur eine Wohnung; es steht kein Name an der Tür, nur ein metallener Klopfer ist montiert. Die Tür ist angelehnt, ich höre nichts, aus der Wohnung strömt ein frischer Duft. Ich betätige den Klopfer, drücke die Tür weiter auf und blicke in einen großzügigen Flur. Vorsichtig trete ich ein. Soweit ich es im Halbdunkel erkennen kann, ist er geschmackvoll eingerichtet. Farbenfroh, viele Blumen, Kerzen in großen Windlichtern – alles passt zum altehrwürdigen Haus.

Ich gebe mich als Polizist zu erkennen und rufe nach Frau Regner. Ein Luftzug streicht durch die Wohnung. Geradeaus scheint die Sonne durch eine große zweiflügelige Glastür mit weißem Rahmen, rechts und links gehen je zwei Zimmer ab.

Hinter mir fällt die Wohnungstür ins Schloss. Ich drehe mich um und traue meinen Augen nicht. Mit weit ausgebreiteten Armen steht jemand vor dem Ausgang. In dem diffusen Licht erinnert mich die Person an die berühmte Figur von Leonardo da Vinci: der vitruvianische Mensch.

Auf den zweiten Blick erkenne ich, dass es eine Frau ist. Sie ist splitternackt. Mit angenehm leiser und heller Stimme bittet sie mich nach links in das Zimmer. Ich bleibe stehen und überdenke die Situation – oder wie wir Polizisten sagen: Ich beurteile die Lage.

Vor mir steht eine attraktive nackte Frau, schätzungsweise Anfang 30, zehn Jahre älter als ich.

Soweit ich das auf den ersten Blick erkennen kann, ist sie weder betrunken noch berauscht von irgendwelchen Drogen. Ich frage sie nach dem Grund ihres Notrufs. Sie lächelt, stößt sich leicht von der Tür ab und kommt mit federndem Gang auf mich zu. Sie scheint zu schweben, sie erinnert mich an eine Balletttänzerin. Als sie vor mir steht und sanft versucht, mir den Motorradhelm aus der Hand zu nehmen, wird mir klar, dass es hier um ein sehr persönliches Hilfeersuchen gehen soll.

Ich spüre, wie ihre Aura mich in ihren Bann zieht. Eine faszinierende Situation. Und ein angenehmes Gefühl, das muss ich zugeben. Ich fühle mich geschmeichelt.

Eine knarzende Durchsage aus dem Handfunkgerät unterbricht die angespannt prickelnde Stille. Ich zucke zusammen und werde mir schlagartig bewusst, dass ich mich in einer mission impossible befinde. Gedanken schwirren mir durch den Kopf, ich bin hin- und hergerissen. Im Gegensatz zu mir wirkt Frau Regner völlig unbeeindruckt, schelmisch lächelt sie mich an. Ich müsste nur den Knopf meines Funkgerätes drehen und alles weitere geschehen lassen.

Im Landesbeamtengesetz steht etwas von „voller Hingabe bei der Aufgabenerledigung“. Ich vermute aber, das ist damit nicht gemeint. Ich beschließe zu kneifen. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps. Aber wie entkomme ich der Situation?

Freundlich weise ich die Anruferin darauf hin, dass mein Kollege Andreas unten vor der Tür steht. Ich erkläre der Dame, dass ich ihn informieren müsse. Er mache sich sicher schon Sorgen. Mit einem Finger streicht Frau Regner sanft über mein Gesicht und bittet mich, Andreas ebenfalls hochzuholen. Zum Schein gehe ich darauf ein. Erleichtert verlasse ich die Wohnung. Während ich aufs Motorrad steige, erkläre ich dem Kollegen: „Hilfeersuchen erledigt.“ Ich setze den Helm auf und starte. Andreas stellt keine Fragen. Er verabschiedet sich von seiner Bekannten und folgt mir.

In der folgenden Dienstbesprechung bin ich etwas unkonzentriert. Die Gerüche, die Bilder im Kopf und der Gedanke an die vergebene Chance lassen mich nicht los. Erst Tage später erzähle ich Kollegen von dem speziellen Hilfeersuchen und ernte ein geteiltes Echo – viele hätten genauso gehandelt wie ich, andere eher nicht. Die Anschrift von Frau Regner habe ich vorsichtshalber für mich behalten.

3

Ein Nationalspieler auf Abwegen

Schreck auf der Pferderennbahn

Und entrüstet ruft mein Kollege Thomas noch: „Stopp! Anhalten!“ Aber der junge Autofahrer mit dem rosafarbenen Polohemd und der golden umrahmten Sonnenbrille denkt gar nicht daran. Er scheint Thomas gar nicht wahrzunehmen. Sein schweres 500er Daimler Coupé rollt langsam weiter – direkt auf den Polizisten zu.

Es ist ein herrlicher, warmer Sonntag im August, großer Renntag auf der Galopprennbahn in Weidenpesch; der Verein für Vollblutzucht hat geladen. Hier wird sich heute alles treffen, was Rang und Namen hat – auch Prominente und solche, die sich dafür halten.

Mein Kollege Thomas und ich beginnen unseren Spätdienst schon um elf Uhr, gut zwei Stunden vor der normalen Anfangszeit. Thomas ist kurzfristig für einen anderen Kollegen eingesprungen. Eher unverhofft hat er heute Zeit. Als passionierter Fußballer hätte er eigentlich ein Spiel gehabt, aber eine leichte Zerrung der Muskulatur hindert ihn daran.

Wir satteln unsere schweren Dienstmaschinen und rollen langsam und entspannt über die Scheibenstraße in Richtung Rennbahn. Ich bin gerne in dieser Gegend, am liebsten früh morgens um fünf, zum Ende des Nachtdienstes, wenn mit den Pferden gearbeitet wird – und eher nicht wie heute, wenn Schicki und Micki regieren.

Viele Seitenstraßen sind schon am Vormittag zugeparkt mit Autos, deren Besitzer ihr Geld ganz offensichtlich lieber zu den Wettschaltern bringen, als Gebühren für den Parkplatz zu bezahlen. Auf unserer ersten Streifenrunde sind wir noch großzügig. Wir lassen fünfe gerade sein. Zu späterer Stunde allerdings, wenn die Falschparker immer dreister werden, reihen sich hier wieder die Abschleppwagen aneinander.

Es wird wärmer, die Luft staut sich hinter der Verkleidung des Boxermotors und steigt an den Beinen zum Körper hoch. Wir fangen an zu schwitzen. Im langsamen Tempo macht Motorradfahren bei solchen Temperaturen einfach keinen Spaß, schon gar nicht in der Großstadt. In solchen Momenten sehne ich mich nach einer meiner Lieblingsrunden durch die Schweizer Alpen. Furka-, Grimsel- und Sustenpass, am Rhonegletscher entlang und von oben einen weiten Blick ins Rhonetal genießen – herrlich. Anschließend bis Brig, nach links zum Simplonpass und durch den schattigen Wald über Domodossola zum Lago Maggiore. Und das möglichst Anfang September und unter der Woche. Am Wochenende, wie die Schweizer sagen, sind zu viele Organspender auf ihren Töffs unterwegs.

Unsere aktuelle Alternative sind die alten, Schatten spendenden Bäume auf dem VIP-Parkplatz, direkt hinter dem Zieleinlauf des grünen Ovals. Aus nächster Nähe kann man hier ungestört die rassigen Vollblüter erleben. Dem Trommeln der Hufe auf dem Geläuf lauschen. Zusehen, wie der Schaum aus dem Maul und der Schweiß von den muskulösen Körpern tropft.

Wir grüßen den Platzwart, der heute die orangefarbene Weste einer Sicherheitsfirma trägt, stellen unsere Maschinen am Rand der Einfahrt in die letzten verbliebenen Lücken und kommen wie immer rasch mit ihm ins Gespräch. Er kennt sich aus, berichtet uns, wer schon alles da ist und verrät uns seine Tipps für den Rennausgang. Wir hören interessiert zu, sind aber im Dienst und begeben uns besser nicht in kompletter Motorraduniform zum Wettschalter.

Inzwischen geht nichts mehr auf dem Parkplatz. Er steht voller Jaguars und Range Rovers. Dazwischen entdecke ich drei wahre Schätze, jeder einzelne älter als ich: zwei dunkelgrüne Morgan Plus 4 und ein grauer MK 8. Klarer Fall: Engländer werden in bestimmten Kreisen immer noch bevorzugt gefahren, jedenfalls beim Ausflug zur Pferderennbahn. Für die Schweizer Pässe wären sie zu schade, lieber durch den Schwarzwald oder den Kaiserstuhl, denke ich. Solche alten Schätze müssen bewahrt werden; ich gönne sie jedem, der sie mit Stil bewegt.

Der Platzwart stellt das alte Klapp-Schild „Einfahrt verboten“ in der Zufahrt auf und zieht ein rot-weißes Absperrband von Baum zu Baum. Für den tollsten Renner ist heute hier kein Schattenplätzchen mehr frei. Dem ein oder anderen besonders wichtigen VIP gibt der Platzwart zusätzliche Erklärungen ab, entschuldigt sich beinahe unterwürfig, bleibt aber standhaft – voll ist voll, andere waren eben früher da.

Gerade als wir uns zu unserer zweiten Streifenrunde verabschieden, rauscht ein schwarzer Bolide aus Untertürkheim heran. Der aufgewirbelte Staub nimmt uns kurz die Sicht auf das 500er Daimler Coupé der neusten W 126er-Generation. Als sich der Staub gelegt hat, fällt mein Blick auf die Lorinser Felgen. Die ganze Szene wirkt fast wie die Inszenierung der neuesten Luxuskarosse auf dem Genfer Autosalon.

Langsam öffnet sich das elektrische Seitenfenster auf der Fahrerseite. Ein braungebrannter, sportlicher junger Mann, bekleidet mit einem rosafarbenen Poloshirt von Ralph Lauren, schiebt seine goldene Ray-Ban-Sonnenbrille in die dunklen Haare, blickt mit zusammengekniffenen Augen in unsere Richtung und ruft dem Platzwart etwas zu. Weil ich gerade den Motorradhelm aufsetze, verstehe ich seine Worte nicht genau, aber die etwas forsche Tonart entgeht mir nicht.

Ich sitze auf dem Motorrad, Thomas steht noch neben seiner Maschine. Trotz seiner vorbildlichen, höflichen Art dringt der Platzwart bei dem jungen Mann offenbar nicht durch. Während der Fahrer den Sitz seiner Sonnenbrille korrigiert, rollt sein Daimler langsam weiter nach vorne, geradewegs auf Thomas zu. Er ruft dem Fahrer zu, er möge anhalten, wenden und die Ein- und Ausfahrt wieder freigeben. Stattdessen rollt das Fahrzeug sanft gegen Thomas’ Schienbeine – und er stürzt rückwärts in den Staub. Ich traue meinen Augen nicht.

Er hat ihn einfach angefahren!

Ich kenne jetzt nur noch ein Ziel: schneller am Auto zu sein als Thomas. Ich befürchte, er zieht den Sonnyboy sonst gewaltsam aus dem Seitenfenster. Ich brülle den Autofahrer an: „Motor abstellen und aussteigen!“

Der Fahrer hat einen ordentlichen Schreck bekommen – ob durch Thomas’ Sturz oder mein Rufen weiß ich nicht genau, ist mir aber auch egal.

Der Achtzylinder verstummt, der Kühlerventilator läuft noch leise nach. Erst als der junge Mann aus dem Coupé steigt, erkenne ich ihn: ein erfolgreicher Fußballprofi aus dem Rheinland, er spielt in einem Traditionsverein die gleiche Position wie Thomas. Ich bin nicht sicher, wer von beiden schneller sprintet. Ich jedenfalls sehe gegen Thomas im Dienstsport kein Land. Aus dem „Kicker“ und den Boulevardblättern ist bekannt, dass der Stürmer mit der goldenen Sonnenbrille ein besonderes Faible für den Pferderennsport hat. Jetzt ist ihm aber gerade wohl eher einer seiner 300 Gäule durchgegangen. Klare Rote Karte. Was reitet einen Menschen, einen Polizisten anzufahren, um auf einen überfüllten und abgesperrten Parkplatz zu kommen?

Thomas rappelt sich wieder auf – dank der Judofallschule aus den Selbstverteidigungskursen ist ihm nichts weiter passiert. Er ist allerdings von einer feinen Staubschicht überzogen – und ziemlich aufgebracht. Natürlich hat auch er den Nationalspieler erkannt. Zu dessen Glück spielt er bei einem Verein, der auch Thomas am Herzen liegt. Jetzt noch der falsche Club, denke ich, und Thomas wäre wohl auf den Stürmer losgegangen.

Der Fußballprofi sieht den verstaubten Schutzmann vor sich stehen und wird plötzlich ganz kleinlaut; das hier alles ist ihm sichtlich peinlich. Rasch stellt sich heraus, dass alles ein Versehen war. Von der hellen Straße in den schattigen Parkplatz einbiegend, hat er die Situation offenbar falsch eingeschätzt. Die Brille mit den stark getönten Gläsern tat wohl ihr Übriges dazu.

Der Fußballstar entschuldigt sich mehrfach und fragt, wie es Thomas geht. Die beiden kommen ins Gespräch über ihren Sport, stellen fest, dass sie in der Jugend in der Auswahlmannschaft desselben Verbandes gespielt haben, Thomas nur drei Altersklassen jünger war. Und siehe da: Mein Kollege hat ihm schon bald verziehen. Der Platzwart fühlt sich irgendwie mitverantwortlich, aber auch er erkennt, dass sich die Situation schnell entspannt hat.

Als dann noch zwei Männer auf dem Parkplatz erscheinen, die auf den ersten Blick aussehen wie Sherlock Holmes und Dr. Watson, lernen wir die Fahrer der beiden Morgan Plus 4 kennen. Sie brechen zu einer Rundfahrt ins Bergische Land auf, und nach einigem Rangieren bekommt unser Fußballer schließlich sogar noch einen Parkplatz direkt in erster Reihe. Die Welt ist ungerecht.

Wir verabschieden uns vom Platzwart und vom Starkicker, rollen noch eine Weile hinter den beiden Morgan her, biegen dann zur Wache ab und waschen uns dort den Staub aus unseren Gesichtern.

4

Im Rotlicht

Bestechungsversuch im Nachtdienst

Der Ringer trägt einen Oberlippenbart und eine schwarzhaarige Mähne. Unter seiner dunklen Jacke zeichnen sich mächtige Oberarmmuskeln ab. Die beiden Streifenpolizisten haben den Zuhälter mitten in der Nacht angehalten, weil er in der Hornstraße mit seinem Sportwagen falsch abgebogen war. Der Mann riecht nach Alkohol.

Seit 20 Jahren ist er im Kölner Rotlichtgeschäft tätig, jetzt sitzt er in einem grell beleuchteten Bürozimmer, ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen. Er ist die Ruhe selbst.

Ob die beiden Herren denn nicht hin und wieder mal privat in Süddeutschland unterwegs seien, fragt der Zuhälter die Polizisten freundlich. Er besitze dort nämlich ein „Haus“, da könne man ganz wunderbar entspannen. Er greift in seine Hosentasche und schiebt den Polizisten zwei Hundert-D-Mark-Scheine über den Tisch.

Morgens um drei Uhr stehe ich mit meinem Kollegen Gerd rückwärts eingeparkt am Gleisdreieck und lausche dem Polizeifunk. Wir tragen Uniform, sitzen im Streifenwagen. Es ist eine unwirtliche Ecke. Laut, dunkel, dreckig, gleich neben der Autobahn. Täglich droht hier der Verkehrsinfarkt. Warum ausgerechnet an dieser Stelle eine große Mercedes-Niederlassung steht, hat sich mir nie erschlossen.

Um die Ecke ragt ein Hochhaus aus grauem Beton in den Himmel. Es liegt eingeklemmt zwischen zwei Bahnbrücken, dem alten Schlachthof, einer stinkenden Abdeckerei und einer Schnellstraße. Kaum einer möchte in der Hornstraße in Köln-Neuehrenfeld freiwillig auf Dauer wohnen. Und trotzdem ist es in dem Hochhaus sehr teuer. So mancher verprasst auf einer der 13 Etagen in einer Stunde eine ganze Monatsmiete – und fühlt sich dann womöglich sogar noch wie ein Pascha in Tausendundeiner Nacht. Mit diesem Slogan jedenfalls wirbt Kölns größtes Bordell. Oder besser: warb, wie man inzwischen sagen muss. Im Sommer 2020 meldete das Haus coronabedingt Insolvenz an.

Auf die Etagen verteilten sich knapp 200 Zimmer, und das stellt einen als Polizisten schon mal vor Probleme. 2017 erreichte uns ein Amtshilfeersuchen der Finanzverwaltung NRW. Es ging um den Verdacht der Steuerhinterziehung. Die Damen, so lautete die Vermutung, arbeiteten scheinselbständig, der Eigentümer des Bordells führe keine Sozialabgaben für sie ab. Ob da nun etwas dran war oder nicht, war mir egal. Jedenfalls sollten wir dabei helfen, alle Zimmer zu durchsuchen, man wollte alle Frauen befragen – und das möglichst gleichzeitig, damit sie sich nicht gegenseitig warnen oder absprechen konnten.

Ich forderte zwei Hundertschaften an, ungefähr 250 Polizisten, und wir erarbeiteten ein Konzept. Wie kommen wir ungesehen bis zum Haus? Wie kommen wir rein? Wie verteilen wir uns schnell und lautlos auf 13 Etagen? In der ersten Welle sind wir mit 120 Beamten rein, sie sind durchs Treppenhaus hoch und haben alle Stockwerke besetzt. Mit der zweiten Welle haben wir das Personal verdichtet. Alles in allem dauerte es viereinhalb Minuten, dann standen Kolleginnen und Kollegen vor jedem der 200 Zimmer. Zum Schluss kamen die Steuerfahnder mit 70 Leuten zu Fuß. Die sahen ein bisschen aus wie Schülerlotsen in ihren hellblauen Leibchen mit dem Schriftzug „Finanzverwaltung NRW“.

Vom hochummauerten Parkplatz mit dem kleinen Sex-Shop an der Seite ist es nur ein kurzer, hastiger Weg für die männlichen Besucher ins Haus. Der gläserne Eingang mit Schiebetüren führt links in einen spärlich beleuchteten Innenhof mit einer Theke, Barhockern, leiser Musik und künstlichen Blumen. Rechts geht es an der Rezeption vorbei zu den Aufzügen. Die Barhocker im Kontakthof dienen den Prostituierten als Stehhilfe, der Schein der Schwarzlichtlampen soll vermutlich die aufreizende Wirkung ihrer Kleidung unterstreichen. Einer der Betreiber erklärte mir einmal bei einem Gespräch vor seinen zahlreichen Überwachungsmonitoren, dass es sich hier um einen „Markt der Möglichkeiten“ handele – ich ordnete den Begriff bis dahin eher dienstlichen Workshops zu.

Die Hornstraße, an der das nunmehr verwaiste Hochhaus seit Anfang der 70er Jahre steht, liegt genau auf der Grenze zweier polizeilicher Bezirke – und so fühlen sich die Beamten zweier Wachen zuständig für die Überwachung der Verkehrsvorschriften außerhalb des Hauses.

In dieser Nacht ist nicht viel los rund um die Hornstraße, es brummt eher in den anderen Bereichen der Stadt. Ich nutze die Zeit, schreibe auf den Streifenbeleg, was bisher am Abend geschehen ist und notiere daneben, welche Maßnahmen wir getroffen haben.

Häufig biegen die Freier – auffallend oft Männer in Familienkombis mit Kindersitzen auf der Rückbank und Aufklebern mit Kindernamen am Heck – auf dem Weg von der Autobahn zum Puff verbotenerweise nach links in die Hornstraße ab. Aus dem „Krähennest“ oder – charmanter ausgedrückt – der „Adlerwarte“, einer Stelle, die gute Sicht auf das Szenario bietet und den Streifenwagen gut verbirgt, starten wir zu später Stunde die Verfolgung der Verkehrssünder.

Außer den Fahrzeugpapieren prüfen wir auch die Verkehrstüchtigkeit der Autofahrer. Viele sind alkoholisiert. Im Zweifel müssen sie ihren Wagen stehen lassen und stattdessen im Streifenwagen mit zur Polizeiwache fahren. Dort entnimmt ein Arzt ihnen eine Blutprobe. Die sichergestellten Führerscheine verschwinden bis auf weiteres in einem Stahlschrank.