Monaco Enigma - Berit Paton Reid - E-Book

Monaco Enigma E-Book

Berit Paton Reid

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Beschreibung

Elaine Volante, die vermögendste Frau Monacos, plant in Kürze das wichtigste Geschäft ihres Lebens abzuschließen. Plötzlich trifft Elaine ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Einen Mordanschlag überlebt sie nur schwer verletzt. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig. Welche Rolle spielen Mafia und Vatikan? Oder liegt der Schlüssel im geheimnisumwitterten Aufstieg des Familienclans? Im Fürstentum wird erbittert um Macht und Milliarden gepokert. Gelingt es Elaine, ihr Immobilien-Imperium zu erhalten, dabei die Familiengeheimnisse zu wahren, ihre Lieben zu schützen und einen politischen Skandal zu verhindern?

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Seitenzahl: 680

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Inspiriert von wahren Ereignissen und geschichtlichen Hintergründen, bleibt es eine fiktive Geschichte. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig, und alle Fehler liegen bei mir.

Berit Paton Reid

MONACO ENIGMA

Berit Paton Reid

Inhalt

Teil I

1. Schneegestöber

2. Omertà

3. Siebenundsiebzig

4. Schicksalsschläge

5. Chaos

6. Spannungen

7. Freundinnen

8. Neugier

9. Showtime

10. Ungewissheit

11. Halbseidenes

12. Vergangenheit

13. Tacheles

14. Unverfrorenheit

15. Fronten

16. Gefühle

17. Verbündete

18. Kalkül

19. Ahnung

Teil II

20. Schock

21. Träume

22. Probleme

23. Familie

24. Ermittlungen

25. Karrieren

26. Sonderkommission

27. Besuche

28. Drama

29. Kaffeekantate

30. Taktieren

31. Unruhe

32. Komplikationen

33. Rückfall

34. Multitasking

35. Action

36. Orchideen

37. Vernehmungen

38. Pressekonferenz

39. Verträge

40. Hieroglyphen

41. Magie

42. Blutsbande

43. Überraschungen

44. Gehirn-Yoga

45. Greta

46. Zorn

47. Wissens-Quellen

48. Licht

Teil III

49. Entsetzen

50. Konfrontation

51. Gewissen

52. Abschied

53. Pläne

54. Versprechen

55. Vermächtnis

Ein Wort danach

Berit Paton Reid

Bücher von Berit Paton Reid

Teil I

1

Schneegestöber

Dienstag, 17. Dezember 2013

Es schneite seit dem frühen Morgen. Tänzeln­de Eiskristalle verzauberten die farblose Landschaft innerhalb weniger Stunden in ein weißes Wunderland. Später hingen dicke Wolken drohend über den Schweizer Alpen, und der Horizont ging nahtlos in den grauen Himmel über.

Trotzdem brach Elaine Volante am Nachmittag zu einem Spaziergang auf. Sie hoffte, die Bewegung an der frischen Luft würde den Druck etwas lösen, der seit gestern Mittag auf ihr lastete. Die Diagnose ihres Arztes drehte sich als Endlosschleife in ihrem Kopf. Doch genauso wie sich die Nässe der Schneeflocken stetig in ihren Mantel saugte, bohrte sich die Angst mit jedem Schritt tiefer in ihr Herz. Sogar das Wetter schien sich ihrer Stimmung angepasst zu haben.

Um jeden Irrtum auszuschließen, ließ der Arzt die Proben in einem Speziallabor nochmals untersuchen. Schweren Herzens hatte Elaine zugestimmt, in zwei Tagen wiederzukommen. Um unerkannt zu bleiben, verbrachte sie die Zeit im neu eröffneten Luxushotel Chedi in Andermatt und nicht wie sonst nach ihrem jährlichen Routinecheck in Vitznau.

Der Concierge hatte ihr empfohlen, links vor der Konditorei den Fußweg Richtung Nätschen hinauf zu nehmen. Erst jetzt, als sie langsam durch den frisch gefallenen Schnee stapfte, merkte Elaine, dass die ausgeliehenen Wanderschuhe mindestens eine Nummer zu groß waren. Ihren glockenförmigen Wollfilzhut im Stil der Zwanzigerjahre hatte sie tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Seitentaschen ihres Nerzmantels vergraben. Die feinen Lederhandschuhe wärmten kaum. Obwohl Elaine regelmäßig pausierte, erschöpfte sie der Anstieg.

Kurz bevor sie die Skipiste kreuzte, lehnte sie sich keuchend an einen Kiefernstamm. Von einem tief hängenden Ast nieselten ein paar Flocken herab. Genau in dem Augenblick, als sie nach oben sah, entlud sich eine größere Ladung Schnee über sie. Elaine wischte das nasse Weiß aus dem Gesicht und erinnerte sich, wie ihre Mutter den Geschwistern in einem Winterurlaub verboten hatte, Schnee zu essen. Natürlich taten sie es trotzdem, wie alle Kinder. Um von den Brüdern nicht gehänselt zu werden, machte Elaine auch mit. Aber war es nicht wie Wassertrinken aus einer Pfütze?

Trotzig streifte sie jetzt die Handschuhe ab, bückte sich und formte einen Schneeball. Die Wärme ihrer Finger ließ die flockige Masse schnell zu einer festen Kugel werden. Elaine schaute sich zuerst um, bevor sie die Zunge herausstreckte und daran leckte. Erfrischend, trotz des immer noch faden Nachgeschmacks. Sie warf den Schneeball in die Zweige des gegenüberliegenden Baums und schaute auf ihre Uhr. Kurz nach halb vier. Es dämmerte bereits. Im Tal stieg Rauch aus den Schornsteinen der Häuser, hier und da brannte Licht hinter den Fenstern. Das Chedi war nur durch die Umrisse der weihnachtlichen Außen­beleuchtung zu erkennen.

Elaine wollte weitergehen, schaffte es aber nur ein kurzes Stück. Weit weg von ihrem Zuhause, dem mondänen Monaco, überwältigte sie plötzlich Todesangst. Ihre Beine drohten nachzugeben. Mühsam schleppte sie sich bis zur nächsten Bank, wischte den Schnee flüchtig zur Seite und brach zusammen. Elaine weinte hemmungslos, dann schrie sie die Diagnose verzweifelt heraus: Bauchspeicheldrüsenkrebs! Das lange Wort verhallte ohne Echo im Halbdunkel. Sie wiederholte es einige Male. Schnell wurde ihre Stimme leiser, bis nur noch Tränen aus den Augenwinkeln über ihre Wangen rannen. Vermischt mit Wimperntusche, bildeten sie eine schwärzliche Spur. Als die Tränen versiegten, spürte Elaine die Kälte in den Rücken kriechen. Die Angst war nur kurz gewichen, dafür waren ihre Hände blau gefroren. Sie musste sie heftig aneinanderreiben, bis sie die Finger wieder bewegen konnte, um mit dem Taschentuch ihr Gesicht abzutupfen. Mühsam erhob sie sich. Die Muskeln ihrer steif gewordenen Beine reagierten nur lan­gsam, und sie stützte sich an der Rückenlehne der Bank ab. Dabei fiel ihr Blick auf die kleine Plakette: Andermatt – Starke Momente. Welche Ironie! Sie atmete tief durch und sog dabei die kalte Luft ein. Schluss mit dem Lamentieren!

Die Dunkelheit brach nun rasch herein. Elaine begab sich auf den Rückweg und beschloss, den Befund vorerst für sich zu behalten. Ihr stand ein wichtiges Jahr bevor, der Zeitpunkt war unpassend, nicht zu reden von ihrem überquellenden Terminkalender. Die bevorstehenden Feiertage wollte sie mit Besuchen bei den Kindern und Enkeln genießen. Ab Mitte Januar, nach ihrem Geburtstag, sollte es ruhiger werden. Dann würde sie mit ihrem Sohn Alessandro reden.

Sollte sie ihm die Geschäfte dann gleich ganz übergeben?

Als sie an der kleinen Pfarrkirche vorbeikam, sandte sie ein Stoß­gebet gen Himmel. Konfuzius kam ihr in den Sinn: Der Weg ist das Ziel. Abrupt blieb Elaine stehen. Ließ sich das Leben wirklich auf diesen Satz reduzieren?

2

Omertà

Montag, 30. Dezember 2013

»Als privater Anwalt des amtierenden Fürsten und ehemals Vertrauter seines alten Herrn wissen Sie nichts über einen derart wichtigen Vertrag?«, fragte Kardinal Bretone bestürzt. »Er muss vor seinem Tod doch delikate Angelegenheiten einer Person seines Vertrauens übergeben haben?«

Das entschiedene Kopfschütteln von Thierry Louron, bei dem er lässig seine Unterlippe vorschob, ließ die Gesprächsstrategie des Kardinals wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.

»Monsignore, wenn ich könnte, würde ich Ihnen selbstverständlich helfen. Es gab genug delikate Geschäfte, die – um Ihre Worte zu benutzen – der alte Herr geklärt hat. Trotzdem nahm er viele Geheimnisse mit ins Grab.« Thierry grinste schlitzohrig: »Omertà, wie die Mafia das Gesetz der Schweigepflicht nennt, gilt auch in Monaco.«

Schnell schloss Kardinal Bretone die Augen, um sein Entsetzen zu verbergen. Er hatte den Anwalt noch nie ausstehen können. Vielleicht auch, weil er seiner eigenen, zum Narzissmus tendierenden Persönlichkeit zu ähnlich war. Heute musste er seine Erwiderungen jedoch freundlich hinunterschlucken, denn er brauchte ihn als Verbündeten.

Thierry Louron, dem die Reaktion des Kardinals nicht entgangen war, bemerkte beflissen: »Vielleicht war mein Vergleich übertrieben, aber was beunruhigt Sie wirklich?«

Kardinal Bretone trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand rhythmisch auf den Mahagonischreibtisch. Dann seufzte er theatralisch und richtete sich im Sessel auf. »Die Fünfziger- und Sechzigerjahre waren ereignisreich für Monaco. Darf ich Ihr Gedächtnis auffrischen?«

»Bitte.« Der Anwalt griff nach seinen Marlboro. »Ich fand die Achtziger­ spannender, aber der Tag vor Silvester eignet sich hervorragend als Märchenstunde im Vatikan.«

Kardinal Bretone war es unbegreiflich, wie man mit derart flapsigen Kommentaren in den engen Machtzirkel in Monaco vorstoßen und sich dort seit Jahrzehnten behaupten konnte. Dem Hörensagen nach nannte man Thierry Louron ›die Wildcard im Royal Flush‹ und spielte damit auf seinen Klienten und seine Rolle als Troubleshooter für spezielle Fälle an. Und genau aus diesem Grund hatte auch er den Anwalt in sein Büro gebeten. »Ich muss ausholen, um einem Youngster wie Ihnen alles zu erklären«, entgegnete er, Gelassenheit vortäuschend.

»Sie kokettieren gekonnt mit Ihrem Alter, aber mit fast fünfund­achtzig noch eine führende Position zu bekleiden, funktioniert nur in der Politik oder eben im Vatikan.« Thierry Louron legte die Zigaretten­schachtel wieder zurück. »Würden Sie mich bitte einen Moment entschuldigen, Kardinal? Es ist mir peinlich, aber ich müsste dringend austreten.«

Auf der Toilette schaltete er das winzige Diktiergerät ein, das er immer bei sich trug, seitdem ihn sein Gedächtnis gelegentlich im Stich ließ. Die moderne Technik erleichterte sein Leben enorm.

»So, wann und wie laufen die Fäden zusammen?«, fragte der Anwalt kurz darauf, lässig die Beine übereinanderschlagend.

Kardinal Bretone umriss die Geschichte des Fürstentums während des Zweiten Weltkriegs und erklärte die Zusammenhänge des Bruchs des Fürsten mit dem reichen Griechen Onassis, seinerzeit Monacos größter Investor.

»Der Fürst wollte seinen Stadtstaat als Touristenhochburg ausbauen und für eine breitere Schicht erschwinglich machen. Das Geld für seine Visionen sollte Onassis liefern. Dem gefiel diese Idee aber nicht. Onassis wollte Monaco exklusiv als Paradies für die wirklich Reichen erhalten. Der Streit zwischen den beiden eskalierte, bis Rainier den ewigen Rivalen in einer komplizierten Aktienschlacht austrickste. Onassis nahm die Gerüchte um die Aktion bis zum Schluss nicht ernst. Warum der clevere Grieche sich um sein Prestige-Investment damals so wenig kümmerte, verstand niemand. Als klar wurde, dass dem Fürsten der Coup gelungen war, verließ Onassis quasi über Nacht das Fürstentum und kehrte nie wieder zurück.«

Der Kardinal beobachtete genau, dass Thierry Louron dem schweren Rotwein reichlich zusprach. Nach weiteren zehn Minuten kam er zum entscheidenden Punkt.

»Auf ein Sonderkonto der Vatikanbank laufen jährlich – seit knapp fünfzig Jahren – 25 Prozent der Mieteinnahmen aus den Lorvetto-­Immobilien der Familie Volante. Wir wurden als Treuhänder ausgewählt, und damit sollte die Rückzahlung des Kredits von 4,3 Milliarden Dollar im kommenden Mai gesichert werden. Bis heute wissen wir nicht, wer dem Vater von Elaine Volante einen derart hohen Kredit gewährt hat.«

»4,3 Milliarden entsprechen 25 Prozent der Einnahmen über fünfzig Jahre? Die Vatikanbank verwaltet Milliarden Dollar der Volantes? Darüber wären andere Banken erfreut.«

Dass der umtriebige Anwalt auf die Milliardenbeträge sofort ansprang und das wirkliche Problem übersah, verwunderte den Kardianl nicht. Er schwieg und wartete, ob er weitere Schlussfolgerungen ziehen würde.

»Ich wusste nicht, dass es einen Kredit von einem Unbekannten gab, die Vatikanbank der Verwalter der Gelder ist und dass dieser Kredit in wenigen Monaten fällig wird.« 

Seine arglose Wortwahl verriet dem Kardinal, dass Thierry Louron weder die schwierige Konstellation überschaute noch von den Dimensionen des Geschäfts eine Ahnung hatte. Um das Gespräch voranzubringen, musste er die Bombe platzen lassen.

»Darüber wäre ich auch froh. Uns fehlen 3 Milliarden.«

Thierry Louron lachte ungläubig und ein wenig zu schrill auf, bevor er nachfragte: »Die heilige Bank hat 3 Milliarden Dollar veruntreut? Mit welchem Volante verhandelt Monsignore, Marcel oder Elaine?«

»Elaine. Das nächste Treffen ist für Ende Januar vereinbart. Spätestens dann muss ich ihr sagen, dass wir nicht zahlen können. Die Zeit drängt.«

Thierry Louron schüttelte den Kopf. »Darf ich Sie korrigieren, Kardinal? Elaine Volante kann nicht zahlen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, nahmen die Volantes vor fünfzig Jahren einen Kredit auf, dessen Rückzahlungsgelder – 25 Prozent der jährlichen Mietein­nahmen aus den Lorvetto-Immobilien – die Vatikanbank treuhänderisch verwalten sollte. Davon sind aber 3 Milliarden verschwunden, weshalb das Geld nicht an die Volantes zurückfließen kann, und die können den Kredit nicht bezahlen.«

Kardinal Bretone nickte.

»Und Sie fürchten nicht Elaine Volante, sondern den unbekannten Kreditgeber, da die Vatikanbank indirekt dessen Gelder veruntreut hat?«, fragte der Anwalt mit spitzem Unterton.

»Wir fürchten niemanden«, beeilte sich Kardinal Bretone zu versichern, »sind aber um unseren Ruf besorgt.«

»Da könnte ein ganz schöner Eklat auf den Vatikan zukommen.« Thierry Louron winkte lässig ab. »Naja, in der Öffentlichkeit ist der Ruf sowieso schon lange ruiniert. Die Bank des Vatikans gilt nicht umsonst als Synonym für Skandale, Geldwäsche und versteckte Konten.«

Die flapsigen Behauptungen trieben dem Kardinal die Schamröte ins Gesicht. Bevor er zu Wort kam, wollte Thierry wissen, welche Einnahmen die Vatikanbank zusätzlich aus dem Geschäft verwaltete.

»Ich sehe keinen Grund, das offenzulegen«, erwiderte Kardinal Bretone pikiert.

»Sie wollen mich doch auf Ihre Seite ziehen, oder?«

Der Kardinal zögerte, bevor er wegen fehlender Alternativen schließlich auf die Frage des Anwalts einging. Er erklärte, dass abgesehen von den 25 Prozent Rücklage für den Kredit, der amtierende Fürst jährlich 20 Prozent der Mieteinnahmen kassierte, die Vatikanbank 3 Prozent als Verwaltungsgebühr erhielt, 2 Prozent über viele Ecken an die Erben des Vermittlers flossen und den Volantes 50 Prozent der Einnahmen blieben.

»Sehr lukrativ für alle Beteiligten, vor allem für die Nummer Eins. Wie hoch war der Kredit damals?« 

»300 Millionen Dollar. Sie nennen Ihren Mandanten die Nummer Eins?«

»Ist er das nicht? So spricht man in Monaco von ihm, wenn man den Namen nicht erwähnen möchte.«

»Interessant.« Der Kardinal beobachtete, wie Thierry Louron seine Wangen aufblies.

»Aus 300 Millionen sind 4,3 Milliarden geworden? Geduld scheint sich auszuzahlen«, kommentierte er amüsiert.

»Theoretisch 4,3 Milliarden.« 

»Hm. Aber es muss doch herauszufinden sein, von wem die Volantes das Geld erhielten? Heute sind 300 Millionen keine ungewöhnliche Summe, aber 1965 war das eine hübsche Stange Geld.«

»Deswegen sitzen wir hier.«

Der Kardinal führte aus, dass damals keine Bank in Europa Kredite in dieser Höhe an Privatpersonen vergeben habe, von Rückzahlungskonditionen über fünfzig Jahren gar nicht zu sprechen. Demzufolge musste es sich um eine Institution oder einen privaten Kreditgeber handeln, der diese enorme Summe in Monaco investiert oder geschickt versteckt hatte. »Wir müssen eine Lösung finden, und zwar ohne Aufsehen zu erregen«, setzte er noch leise nach.

Thierry Louron schritt mittlerweile erregt im Büro auf und ab, rauchte dabei eine weitere Zigarette. »Ich will offen sein. Mich interessieren weder die Probleme der Vatikanbank noch möchte ich in eine derartige Veruntreuung verwickelt sein. Aber die seltene Konstellation, von einem ranghohen Vertreter des Vatikans ins Vertrauen gezogen und um Hilfe gebeten zu werden, stachelt meinen Ehrgeiz an.« Noch im Stehen drückte er die Zigarette aus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kurz überschlagen: Elaine Volante hat 8,6 Milliarden Dollar Mieteinnahmen kassiert. Unvorstellbar.«

Kardinal Bretone nickte.

»Und ihr gehören die Immobilien, abgesehen davon, was sie noch alles in und außerhalb von Monaco besitzt. Vielleicht löst sie das Problem aus der Familienkasse? Die ist mit Bestimmtheit reichlich gefüllt.«

»Ausgeschlossen. Die Dame hat Haare auf den Zähnen, und das meine ich mit allem Respekt.«

»Was dann, Kardinal?«

Jetzt kamen sie endlich zum Knackpunkt. Kardinal Bretone senkte die Stimme bedeutungsvoll. »Elaine Volante weiß, dass 20 Prozent der Einnahmen an das Fürstenhaus fließen. Wollen Sie den Skandal riskieren, dass die Vatikanbank unter Umständen fragwürdige Gelder verwaltet hat, während mit dem anderen Teil des Geldes Monacos Luxus­wohnungen gebaut wurden« – er ergänzte, nun seinerseits sarkastisch – »und die Nummer Eins im Gegenzug kräftig für die Baugenehmigung kassiert hat? Das finanzielle Problem liegt auf meiner Seite, das moralische Dilemma und die Gefahr eines politischen Skandals genauso auf der des amtierenden Fürsten.« 

Thierry Louron verschlug es zunächst die Sprache, dann konterte er: »Jetzt verstehe ich, warum Sie so weit ausgeholt haben. Diplomatisch eingefädelt, Kardinal. Hinter dem Begriff Vatikanbank verstecken Sie Misswirtschaft und Korruption, ohne jemanden persönlich verantwortlich zu machen. Gleichzeitig steht der Vatikan für die machtvollste religiöse Institution, die man besser nicht angreift. Zusätzlich schüren Sie geschickt die Möglichkeit skandalöser Enthüllungen rund um das Fürstentum. Und nun soll der kleine Anwalt seine Kontakte nutzen und die anrüchige Detektivarbeit erledigen? Im Namen des Heiligen Vaters, der seine Hände in Unschuld wäscht?«

Das anfängliche Geplauder war harten Worten gewichen, Thierrys Gesicht war rot vor Wut.

»Lassen Sie den Zynismus. Muss ich Sie wirklich daran erinnern, dass wir damit Ihrem Klienten helfen, das Ansehen seines Kleinstaats zu schützen? Stellen Sie sich die Schlagzeilen vor, wenn die Presse davon erfahren sollte. Das Problem muss irgendwie gelöst werden.«

»Ein reichlich hypokritischer Ansatz für meinen Geschmack, nachdem vom ›Treuhänder‹ 3 Milliarden Dollar veruntreut wurden. Und Sie fordern obendrein, dass die Opfer ausschließlich von anderen gebracht werden, vor allem von den Volantes.« Thierry Louron, der immer noch stand, stützte die Arme auf den Tisch und beugte sich zu Kardinal Bretone. »Nach Monacos Gesetzgebung kann der Fürst ohne öffentliche Ausschreibung über Bauprojekte entscheiden.« Dann lächelte er süffisant. »Aber ich stimme Ihnen zu, dass diese Details nie an die Öffentlichkeit gelangen dürfen.«

»Danke, Thierry.« Der Kardinal schenkte noch einmal Wein nach. Er hatte geschickt den Rahmen vorgegeben, inzwischen ging es bereits um Feinheiten, und das hatte der Anwalt verstanden.

»Was wissen Sie über die Hierarchie in der Familie Volante? Wer trifft Entscheidungen? Wie können wir gezielt Druck auszuüben?«

»Bewundernswert, wie rasch Ihre Kompetenz und Ihr hoch gelobtes Verhandlungsgeschick aufscheinen«, unterbrach ihn Kardinal Bretone. »Leider kann ich keine der Fragen beantworten. Vielleicht können Sie über Elaine Volantes Anwalt, Jacques Verrier, Einzelheiten in Erfahrung bringen, sozusagen unter Kollegen?«

»Schwierig, Dr. Verrier ist für seine absolute Diskretion bekannt.«

»Dann bleibt mir keine Wahl, als beim nächsten Treffen mit Elaine das Terrain zu sondieren.«

»Auf keinen Fall! Wir müssen uns sofort um die Familie kümmern.«

Der Kardinal schwieg. Er hatte die Eitelkeit des Anwalts durch Komplimente angestachelt, und die Androhung eines Skandals für das Fürstentum hatte das Übrige getan.

Thierry Louron überlegte, zog das Nikotin tief in die Lungen. »Der Fürst entscheidet gerade über die Auftragsvergabe für die Erweiterung von Port Hercule. Es wird die letzte Landaufschüttung im Meer vor Monaco sein. Große internationale Firmen, private Konsortien und die Familie Volante kämpfen hart um diesen lukrativen Auftrag.« Er drückte die Zigarette aus, trank einen Schluck Wein und taxierte den Kardinal ungeniert. »Hier könnte man ansetzen. Eine komplizierte Angelegenheit, aber ich werde versuchen, etwas zu arrangieren. Versprechen kann ich allerdings nichts.«

Kardinal Bretone atmete auf. Sein Informant hatte nicht über­trieben. Thierry Louron liebte politische Pokerspiele und hatte längst durchschaut, dass bei den schwindelerregenden Summen auch für ihn garantiert etwas herausspringen würde. Ein Intrigant par excellence. Aber die Geschichte kam in seinem Sinne ins Rollen ...

3

Siebenundsiebzig

11. Januar 2014

»Oma, du musst über den Bildschirm wischen und die Figur durch das Labyrinth rollen lassen«, feixte der fünfjährige Luca. »Schau, das ist doch ganz einfach.« Er hielt sein iPad hoch, damit Elaine das Display besser sehen konnte, und spielte sich geschickt in die nächsthöhere Ebene. Dabei folgten seine Augen konzentriert den Bewegungen der drolligen Figur, während seine kleinen Finger geschickt über den Screen flogen. »Wieso verstehst du das nicht?« 

»Ach, Luca, das geht mir zu schnell. Aber ich freue mich, dass du Spaß damit hast.« Elaine drückte ihren Enkel liebevoll. »Wie heißt das Spiel?«

»Thinkroll. Was war dein Lieblingsspiel, Oma?«

»Als ich so alt wie du war, gab es noch nicht mal einen Fernseher, ein iPad war unvorstellbar.«

»Das hat Papa auch erzählt. Womit hast du denn gespielt?«

Elaine erzählte Luca von ihrer Puppe, die sie von ihrem Großvater als kleines Mädchen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. »Greta bedeutete damals die Welt für mich und sitzt heute noch in meinem Schlafzimmer.«

»Was, du hast nur mit einer Puppe gespielt?« Er verdrehte die Augen und kicherte: »Das verstehen nur Mädchen.«

Elaine streichelte über seinen dunklen Lockenschopf. »Ich habe mit Greta gekocht, ihr Kleidung ausgesucht oder Einkaufen gespielt. Hat diese runde Figur mit dem Schnauzbart einen Namen?«

»Der blaue Avokiddo heißt Benny.«

»Avokiddo?«

»Na, ein Avatar-Kid, Oma.«

Lucas Erwiderung, als wäre sie begriffsstutzig, ließ Elaine schmunzeln. Die freudige Erregung, mit der er spielte, seine ehrlichen Reaktionen und sein grenzenloses Vertrauen ins Leben rührten sie. Wie wundervoll musste sich das anfühlen? Sie konnte sich an ihrem jüngsten Enkel nicht sattsehen. Die dichten und lang geschwungenen Wimpern über den braunen Augen, seine samtweiche Haut, die noch unschuldig duftete, und die frappierende Ähnlichkeit mit seinem Vater berührten ihr Herz jedes Mal wieder. Sie würde alles tun, um diesen lieben, klugen Jungen mit seiner unschuldigen Seele vor den Schlechtigkeiten dieser Welt zu beschützen. Natürlich war dies illusorisch, trotzdem inspirierte Luca sie und Elaine wünschte sich sehnsüchtig, seinen Weg noch so lange wie möglich begleiten zu dürfen. 

Luca, der nichts von den schwermütigen Gedanken seiner Großmutter ahnte, war schon wieder ins Spiel versunken. »Puh, das Wurmloch-Level ist schwer.« Er schaute sich um. »Papa, hilfst du mir?« 

Alessandro unterbrach die Unterhaltung mit Elaines Freundin und nahm seinen Sohn auf den Schoß. Glücklich beobachtete Elaine die beiden und wünschte, sie könnte die Zeit anhalten.

»Zeig mal her«, sagte Alessandro. Gemeinsam schafften sie es im dritten Versuch, den Wurmlöchern auszuweichen, den Avokiddo durch das Labyrinth zu rollen und den Ausgang zu erreichen. Sie gaben sich High-five. Glücklich lief Luca zu seiner älteren Schwester.

Elaine nutzte den günstigen Moment, als sie mit Alessandro allein war, und bat ihn, am Montag in ihr Büro zu kommen.

»Da bin ich ziemlich voll mit Terminen. Wir müssten uns schon um 8 Uhr treffen.«

»Das passt. Du solltest eine Stunde einplanen.«

Alessandro schaute seiner Mutter ins Gesicht. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Elaine nickte und bemerkte schnell: »Du siehst abgekämpft aus.«

»Mich plagen Kopfschmerzen, wahrscheinlich mein verspannter Nacken.« Alessandro massierte ihn mit einer Hand. »Mittwoch habe ich einen Termin beim Chiropraktiker.«

Besorgt fragte sich Elaine, ob er Stress in der Firma oder wieder Streit mit seiner Frau hatte.

Unterdessen legte Alessandro galant den Arm um ihre Schulter und küsste sie auf die Wange. »Hast dich super gehalten, Mama. Nochmals alles Liebe zum Geburtstag.«

Sein lieb gemeintes Kompliment versetzte Elaine trotzdem einen Stich. »Danke. Sag mal, treibst du keinen Sport mehr?«, überspielte sie die Situation nach einem Blick auf das Hemd ihres Sohnes, das er neuerdings über der Hose trug, um den Bauchansatz zu kaschieren und mahnte, dass er nach den beiden Infarkten auf sich aufpassen solle.

»Das mache ich doch, keine Sorge.« 

Wie bei den meisten Menschen, verlief auch bei Elaine die Kurve zwischen Alter und Interesse an Geburtstagsfeiern entgegengesetzt, der Schnittpunkt beider lag Jahrzehnte zurück. In diesem Jahr war sie über ihren Schatten gesprungen. Seit der Arzt die niederschmetternde Diagnose bestätigt und ihr zudem gesagt hatte, dass der Tumor inoperabel war, sah sie Feiertage in einem anderen Licht. Jetzt träumte sie davon, die Achtzig zu erreichen. Bisher hatte sie nur konsequent ihre Ernährung umgestellt, und im Moment fühlte Elaine sich gut, verspürte keine Schmerzen. Es half ihr, die Krankheit zu verdrängen. Trotzdem gab sie dem sentimentalen Anflug nach, dass es ihr letzter Geburtstag sein könnte. Deswegen hatte sie ihre Kinder Claudia und Alessandro mit ihren Familien und ihre vier engsten Freunde zu einer gemütlichen Feier nach Hause eingeladen.

Es fügte sich perfekt, dass der Geburtstag auf einen Samstag fiel. Ihre engste Freundin Béatrice du Marignac, die sie bereits als ihre eigentliche ›bessere Hälfte‹ bezeichnet hatte, als sie noch einen Ehering trug, war schon gestern aus Rom gekommen und würde übers Wochenende bleiben. Isabella Corsini, ihre andere Freundin, kannte sie seit über sechzig Jahren aus der gemeinsamen Schulzeit. Die Juristin unterhielt ein Büro für Personenauskünfte in Monaco und überprüfte alle potenziellen Mieter für sie.

Vervollständigt wurde die Runde von zwei Männern, die über ihre Arbeit zu Freunden und wichtigen Vertrauten für Elaine geworden waren. Jacques Verrier vertrat seit vier Jahrzehnten als Anwalt ihre Interessen und Paolo Bernasconti war seit über dreißig Jahren ihr Hausarzt.

Elaine hatte vorab scherzhaft mit einer Strafe gedroht, sollte ihr jemand etwas schenken wollen. Siebenundsiebzig zu werden, sei bereits Geschenk genug. Da jedoch weder die Kinder noch die Freunde mit leeren Händen kommen wollten, glich ihr Wohnzimmer einem Blumengeschäft. Die Mischung von Freunden und Familie aus drei Generationen funktionierte. Man witzelte über den letzten Monaco-Klatsch, hörte den Geschichten der Enkel zu, die man angeregt kommentierte, und trank Champagner. Elaine genoss es wie lange nicht, ihre Lieben um sich zu haben.

Vor dem Abendessen klopfte Béatrice mit dem Silberlöffel an ihr Glas, und gab danach lustige Anekdoten ihrer Freundschaft mit Elaine zum Besten. Dafür hatte sie sogar alte Fotos mitgebracht. Die Jüngsten lachten Tränen über die Outfits und Frisuren.

Nach dem Essen unterhielten sich Alessandro und Jacques Verrier auf der Terrasse über die neuesten Automodelle, Trends und die zeitlose Eleganz von Oldtimern. Plötzlich versteifte sich Alessandros Körper, seine Gesichtszüge verschoben sich und er lallte Unverständliches. Sekunden später zersplitterte sein Glas auf dem Boden. Der Rotwein spritzte über die hellen Fliesen.

Geistesgegenwärtig umfasste Jacques den viel kräftigeren Mann, hievte ihn in einen breiten Korbsessel und rief laut: »Paolo, schnell! Mit Alessandro stimmt was nicht!«

Schlagartig verstummten die Gespräche. 

Paolo Bernasconti, ein erfahrener Allgemeinmediziner, beugte sich über Alessandro, hob seine Augenlider an und fragt ihn, ob seine Arme bewegen könne.

»Nur lin…«, lallte er.

»Fühlt sich der rechte Arm gelähmt an?« 

»Hm.«

»Das Gesicht?«

»Ja«, murmelte er gequält.

Paolo tippte bereits die Nummer des Notdienstes ins Handy. »Dr. Bernasconti, ich habe einen Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall. Er hat eine Vorgeschichte mit Herzinfarkten und benötigt einen Transport ins Krankenhaus nach Nizza. Sofort bitte!« Dann suchten seine Augen Elaine. »Wir brauchen Kissen. Holst du welche?«

»Stirbt mein Papa?«, fragte Luca und sprach damit aus, was sich die anderen nicht zu denken trauten. Als er laut zu weinen begann, nahm ihn seine Mutter, selbst kalkweiß im Gesicht, auf den Arm.

Elaine versuchte ihren Schock durch Aktivität zu überspielen, hastete zurück ins Wohnzimmer und reichte schließlich Paolo einige Kissen, die er hinter Alessandros Rücken schob.

»Seine linke Pupille ist stark erweitert. Ich werde zur Sicherheit ins Krankenhaus mitfahren, damit er gleich richtig behandelt wird.« Paolo sah erst jetzt, wie Elaines Hände zitterten. »Kein Grund, die Nerven zu verlieren«, versuchte er sie zu beruhigen.

Inzwischen hatte er die Knöpfe von Alessandros Hemd sowie den Gürtel der Hose geöffnet und seine Beine auf einen Stuhl gelegt. »Ärztliche Hilfe ist unterwegs. Alles wird gut.«

Besorgt zog er Jacques Verrier zur Seite. »Rede mit Alessandro, erzähl ihm irgendetwas. Wir müssen ihn bei Bewusstsein halten«, flüsterte er. »Ich werde drinnen mit dem Krankenhaus telefonieren. Ich fürchte, sie müssen das Katheter-Labor vorbereiten. Jede Minute zählt. Ich will vermeiden, dass Alessandro mithört und Panik schiebt.« 

Elaine erlebte den Rest ihres Geburtstags wie in Trance. Nachdem der Krankenwagen abgefahren war, hatte Béatrice resolut alle Gäste nach Hause geschickt und kümmerte sich um die Freundin, die apathisch auf dem Sofa lag.

Erst kurz vor Mitternacht, als Paolo Bernasconti vom Krankenhaus zurückkam und berichtete, dass Alessandro einen ischämischen Schlaganfall erlitten habe, die Durchblutungsstörung aber relativ harmlos gewesen sei, murmelte Elaine erleichtert: »Gott sei Dank.«

»Der Schlaganfall und Alessandros vorherige Herzinfarkte sind, umgangssprachlich ausgedrückt, Verwandte. Diesmal war ein Gefäß im Gehirn anstatt im Herz verstopft. Deswegen sind im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig einige Fähigkeiten seines Gehirns ausgefallen.« Die bildliche Schilderung des Hausarztes war gut gemeint, hallte aber wie eine Bedrohung durch das Wohnzimmer.

»Alessandro muss endlich seine Lebensweise umstellen. So geht das nicht weiter«, unterbrach ihn Elaine. Ihre Stimme vibrierte.

Béatrice legte fürsorglich den Arm um die Freundin. »Jetzt sei doch erst einmal froh, dass Alessandro den Eingriff gut überstanden hat.«

Elaine nickte und seufzte gleichzeitig. »Er hat wirklich Glück gehabt.«

»Wie man’s nimmt.«

Hellhörig griff sie nach Paolos Arm. »Was weiß ich noch nicht?«

»Der Neuroradiologe versicherte mir, dass die Sauerstoffversorgung von Alessandros Gehirnzellen nur kurz unterbrochen war.«

»Und weiter?« Auf einmal war Elaine schrecklich aufgeregt.

»Dass er die Thrombektomie innerhalb von 90 Minuten durchgeführt, das Blutgerinnsel mit dem Mikrokatheter entfernt und den Blutfluss wieder hergestellt hat.« Paolo, dem Elaines Anspannung nicht entgangen war, strich sich einige Male die Haare aus der Stirn und suchte nach entschärfenden Worten. Er fand sie nicht und schaute auf den Boden, als er leise gestand, Alessandro würde schlimmstenfalls geringe bleibende Schäden zurückbehalten. 

»Wovon redest du?«, fragte Elaine erschrocken.

»Unmittelbar nach dem Eingriff konnte der Neuroradiologe noch keine endgültige Diagnose stellen. Möglich, dass Alessandro motorische Bewegungen wieder neu erlernen muss oder sein Sprachzentrum vorübergehend geschädigt ist.« 

»Er wird für Monate krank sein?«

»Was hast du erwartet?«

Elaine zuckte innerlich zusammen. Wie Alessandros Diagnose aus­fallen würde sowie ihre Folgen, hatte sie bisher verdrängt.

»Die Heilung variiert natürlich von Patient zu Patient. Die Rehabilitation wird aber sicher sechs, sieben Monate oder noch länger dauern. Sieh es positiv«, versuchte er Elaine aufzubauen, »mit größter Wahrscheinlichkeit kann alles therapiert werden, und was ist schon ein halbes Jahr in seinem Alter?«

Inzwischen klopfte Elaines Herz wieder hart vor Angst um ihren geliebten Sohn, und in ihrem Kopf echote die zeitliche Prognose der Heilung. Sicher normalerweise kein Problem für einen Mann Mitte vierzig, aber in ihrer Situation? Für sie hatte Zeit inzwischen eine andere Bedeutung. Diese Nachricht konnte Elaine nicht mehr verarbeiten. Ihr Körper kollabierte, und es wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie sank in die Arme von Béatrice, die neben ihr saß. Die hielt Elaine für eine Weile einfach ganz fest. Dann brachte sie mit Paolo zusammen die Freundin ins Bett, wo er ihr ein Beruhigungsmittel einflößte. Nach wenigen Minuten legte sich eine Schwere wie ein schützender Vorhang über Elaines Bewusstsein und ließ sie in einen traumlosen Schlaf gleiten.

4

Schicksalsschläge

Donnerstag, 06. Februar 2014

Alessandros Schlaganfall sollte nicht der einzige Schicksalsschlag in diesem Winter sein. Es war bereits der dritte Monat hintereinander, an dem ein unerwarteter Einschnitt Elaine erschütterte.

Ihr Bruder Marcel Volante, einer der mächtigsten Männer im Fürstentum, den man insgeheim den zweiten Prinzen nannte, war letzten Sonntag überraschend gestorben. Nur die engste Familie und wenige Eingeweihte hatten zuvor von seiner Krebserkrankung gewusst. Wie die Tentakel des Oktopus reichte sein Einfluss in wichtige Bereiche der Wirtschaft, der Politik, des Sports sowie der Kunst in Monaco. Ging es um Immobilien an der Riviera, kam niemand an ihm vorbei. Sein Wort zählte, und man hatte Marcel Volante besser zum Freund. Ehrfurcht und Neid ihm gegenüber hatten sich zeitlebens die Waage gehalten.

Fünfhundert Gäste, unter ihnen alte Adelsgeschlechter, Politiker, tonangebende Geschäftsleute, Freunde und Bekannte aus aller Welt, hatten sich zu Marcels Beerdigung angesagt. Aus diesem Grund hatte die Familie Volante entschieden, eine offizielle Trauerfeier in der Kirche Saint-Charles durchzuführen, die einen würdigen Rahmen setzte.

Es war ein ungewöhnlicher Februartag, an dem das Wetter von einer Sekunde auf die andere wechselte. Soeben war die Sonne hinter einer dicken Wolke verschwunden. Es hatte leicht zu nieseln begonnen, der Wind frischte plötzlich auf und ließ vor allem die Frauen auf den Stufen vor dem Glockenturm frösteln. Es dauerte, ehe alle im Inneren der Kirche ihren Platz gefunden hatten. Nach der berührenden Rede des Priesters traten lediglich seine Witwe Chantal, ihre fünf Kinder und seine Schwester Elaine an den offenen Sarg, um Abschied zu nehmen.

Die Volantes verband eine enge Beziehung mit der kleinen Kirche Saint-Charles. Der Großvater hatte bei ihrem Erbau ab 1880 genau hier seine erste Arbeitsstelle als fünfzehnjähriger Steinmetz in Monaco ergattert und diese Geschichte Elaine immer wieder erzählt, denn damit hatte der unglaubliche Aufstieg der Familie begonnen.

Die Verantwortung, das Imperium und die führende Stellung der Volantes im Fürstentum zu erhalten, ruhte nun – als letzte Lebende der dritten Generation – auf Elaines schmalen Schultern. Obwohl ihr Patronat nach dem Tod der Brüder ein ungeschriebenes Gesetz in der Familie war, gab sie sich keinen Illusionen hin, dass deshalb innerhalb des Clans bald Kämpfe ausbrechen würden. Schließlich ging es um Milliarden, Immobilen, Kunst und vor allem um Macht im Fürstentum.

Elaine beugte sich andächtig über den aufgebahrten Bruder und bewunderte ein letztes Mal seine imposante Statur, sah sein verbindliches Lächeln vor sich und hörte das leichte Lispeln beim Reden, was seiner Präsenz stets einen charmanten Zug verliehen hatte. Der Nachzügler war der Liebling ihrer Mutter gewesen, dem mancher Streich von den strengen Eltern verziehen wurde. Elaine fielen lange vergessene Episoden ihrer Kindheit wieder ein. Diese Erinnerungen gehörten nun ihr allein. Sie fürchtete für eine Sekunde, dass ihre Knie nachgeben würden. Seit Dezember hatte sie fünf Kilo abgenommen. Nach den Ereignissen der letzten Wochen bekam sie kaum einen Bissen hinunter.

Hingebungsvoll flüsterte sie ein letztes Gebet für Marcel. Als Elaine sich bekreuzigte, zitterte ihre rechte Hand. Die linke hielt verkrampft ein Bukett aus weißen Rosen, das sie küsste, bevor sie es andächtig neben den Sarg legte. Dabei fielen ihr die schulterlangen, dunklen Haare ins Gesicht, die eine perlenbesetzten Spange zu einem tiefen Pferdeschwanz gehalten hatte, der sich gerade auflöste. Den Mund hatte sie zusammengepresst, so dass ihre Lippen wie ein schmaler Strich erschienen. Ihre Augen verbarg Elaine hinter einer leicht getönten Brille mit großem Gestell. Man sah nur die Muskeln in ihrem Gesicht zucken.

Marcel, ihr jüngerer Bruder, war siebzig Jahre alt geworden. Ihr älterer Bruder Vittorio war vor dreizehn Jahren im Alter von sechsundsechzig gestorben. Beide waren dem Krebs erlegen, obwohl sie sich mit den besten Ärzten und allem, was die moderne Medizin bot, dagegen gewehrt hatten.

Den Tod von Vittorio hatte Elaine damals als unglücklichen Umstand hingenommen, auch wenn sie ahnte, dass dies nicht der vollen Wahrheit entsprach. Der Todeszeitpunkt von Marcel war wieder so ein seltsamer Zufall – drei Wochen, nachdem er mit seinen Partnern das Großprojekt Port Hercule gewonnen hatte. Zog sich die Laune des Lebens bis in den Tod oder lag gar ein Fluch auf der Familie?

Elaine atmete tief durch, ließ ihren Blick zu der goldenen Taube, dem Symbol des Heiligen Geists am blauen Deckengewölbe schweifen und ihre Gedanken fliegen. Was stand ihr in Zukunft bevor? Zukunft?  ... Dabei streckte sie leicht, aber entschieden das Kinn nach vorn. Voller Mitgefühl schloss sie kurz darauf die Hände von Marcels Witwe Chantal in ihre und küsste sie auf die Wangen.

Um sich nicht weiter in der melancholischen Stimmung zu verlieren, nahm sie gemeinsam mit Marcels Familie die Beileidsbekundungen entgegen und schüttelte unzählige Hände. Nach einer halben Stunde war sie der trivialen Reden überdrüssig, der Magen schmerzte, ihr wurde schwindlig. Außer einem Glas Wasser hatte Elaine nichts zu sich genommen. Sie versuchte unauffällig die Veranstaltung zu verlassen. Bevor sie den Ausgang erreichte, griff ihre Schwägerin nach ihrem Arm und zog sie zur Seite. 

»Danke für deine Anteilnahme. Elaine, wir müssen dringend reden.«

»Worüber?«, fauchte sie kurz angebunden zurück. Sie hatte sich erschrocken, und es missfiel ihr, von Chantal auf diese Art aufgehalten zu werden.

»Marcel hat mir vor Wochen noch einmal bestätigt, dass du automatisch das Familienoberhaupt bist, falls er stirbt. Wir müssen die Nachfolge zwischen unseren Kindern regeln, erst recht nach dem Schlaganfall von Alessandro.«

Ja, Elaine trauerte nicht nur um den kleinen Bruder, sondern sorgte sich vor allem auch um ihren Sohn. Täglich fuhr sie nach Nizza ins Hospital, und das würde sie auch heute tun. Alessandro musste rund um die Uhr betreut werden. Abgesehen von den körperlichen Leiden durchlief er immer wieder depressive Phasen. Zudem fiel es ihm schwer, in vollständigen Sätzen zu sprechen. Ein Desaster, das Elaine fast verzweifeln ließ.

Sie musterte Chantal kalt, sah ihre verweinten Augen mit den dunklen Rändern, das zerzauste Haar, das zerflossene Make-up. Das war nicht mehr die lebenslustige Frau, die früher auf Empfängen im Rampenlicht geglänzt hatte. Aber was wusste Chantal schon von ihren Sorgen?

»Wie geschmacklos von dir, das Thema heute anzusprechen. Die Nachfolge unter unseren Kindern ist dein größtes Problem, noch bevor Marcel unter der Erde ist?«, entgegnete sie unwirsch.

»Den Kommentar kannst du dir sparen. Das muss schnellstens geklärt werden, ob es dir passt oder nicht. Es sind große Gelder im Umlauf. Marcel hat …«     

Hinter lächelnden Masken, und ausschließlich durch ihre Augen, verschossen die Frauen blitzschnell unsichtbare Pfeile, getränkt mit dem Gift des Neids bei Chantal und mit Unverständnis bei Elaine. Ein nonverbales Beben, nur eine winzige Sekunde lang. Elaine hielt dem abschätzenden Blick der Schwägerin problemlos stand, bis diese ihre Augenlider senkte. Erst dann trat sie forsch einen Schritt auf sie zu, ihre Gesichter trennten bloß wenige Zentimeter.

»Jetzt hör gut zu, Chantal. Ich entscheide über meinen Nachfolger sowie den Zeitpunkt der Ernennung. Du kannst sicher sein, ich bin mir der Verantwortung bewusst. Aber jetzt fahre ich zu Alessandro.« Dann äffte Elaine ihre Schwägerin nach: »Ob es dir passt oder nicht«, und lief festen Schrittes zu ihrem Wagen, wo ihr Chauffeur bereits die Tür offen hielt.

5

Chaos

Donnerstag, 13. Februar 2014

Wegen der tragischen Geschehnisse in ihrer Familie hatte Elaine das Treffen im Vatikan mit Kardinal Bretone mehrmals verschoben. Aus ihrer Sicht eilte es nicht, denn die Geschäfte waren seit Jahrzehnten geregelt. Dem Kardinal allerdings blieb nur noch eine Frist von gut drei Monaten bis zum Datum der Rückzahlung, weshalb er keine andere Wahl hatte, als heute gleich zwei elementare Punkte anzusprechen – die Nachfolgeregelung und die Finanzen.

»Ich rechne nicht damit, dass der Papst mich erneut als Kardinal bestätigt, und ähnlich steht es um den Chef der Vatikanbank. Wir sind die letzten der alten Garde, und abgesehen von personellen Veränderungen, die jeder neue Papst durchsetzt, werden wir nicht jünger. Madame Volante, Sie sollten Ihren Nachfolger bestimmen, damit wir umgehend Vorkehrungen für die Zukunft treffen können«, mahnte er höflich. Dann lehnte sich Kardinal Bretone in dem modernen Sessel zurück, faltete die Hände vor der Brust und schaute Elaine aufmerksam an. Er registrierte ihr Nicken, aber auch den besorgten Ausdruck, der sich über ihr Gesicht legte. Sie sah müde aus und schien seit ihrem letzten Besuch im Sommer um Jahre gealtert. Kein Wunder, nach allem, was sie in den letzten Wochen durchstehen musste.

»Macht Alessandros Genesung Fortschritte?«, fragte er einfühlsam. »Ich gehe davon aus, dass er Ihr Nachfolger werden soll?«

»Sein Arzt meint, es besteht die Chance einer vollständigen Heilung, was mich hoffen lässt«, antwortete Elaine. »Vor zwei Wochen wurde er von der Intensivstation in die Rehabilitationsabteilung verlegt. Mein Sohn beginnt flüssiger zu sprechen, wir können uns wieder unterhalten. Leider kann er seine Bewegungen nur schlecht koordinieren, deswegen muss er noch rund um die Uhr betreut werden, und ich besuche ihn täglich im Krankenhaus.«

»Das sind doch trotzdem positive Nachrichten. Ich werde Alessandro heute Abend in mein Gebet einschließen. Sie sind eine starke, bewundernswerte Frau, Elaine.«

»Was bleibt mir anderes übrig?« 

»Nehmen Sie doch bitte das Kompliment an.«

Endlich lächelte Elaine und Kardinal Bretone schob erleichtert einen Stapel Dokumente über den Tisch, die sie konzentriert durcharbeiteten. Erst danach fragte er, ob sie den Tod des Bruders inzwischen etwas verarbeiten konnte, und tastete sich vor, wie es um die Familie stand.

»Ich wusste natürlich von seinem Krebs. Marcel hoffte bis zuletzt und auch wir glaubten, dass er die Krankheit im Griff hatte. Sein plötzlicher Tod hat uns alle überrascht. Aber kommt er jemals zur rechten Zeit?« Elaine schaute den Kardinal traurig an. Ohne seine Antwort abzuwarten, erzählte sie, dass Marcel vor einem Monat zusammen mit seinen Geschäftspartnern den Zuschlag für das Mega-Projekt Port Hercule erhalten hatte.

Kardinal Bretone erklärte, dass er die Entscheidung des Fürsten für klug hielt, das prestigeträchtigste Bauprojekt des nächsten Jahrzehnts in Monaco an dieses Konsortium zu übertragen. »Damit bindet er den einflussreichen französischen Nachbarn über den Bogo-Konzern, die Italiener über die Michelottis und die mächtigste Familie Monacos ein.«

»Ganz so einfach ist das nicht«, erwiderte Elaine und ließ sich über die Schwierigkeiten dieser Kooperation nach dem Tod des Bruders aus. Der Kardinal spürte, wie seine Konzentration schwand. Es fiel ihm schwer, ihr zuzuhören, ohne seine eigene Thematik aus den Augen zu verlieren. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, schlug er geschickt den Bogen zu Elaines letzter Frage.

»Obwohl wir wissen, dass der Tod Teil des Lebens ist, verdrängt unsere Kultur die Endlichkeit. Und jeder Abschied fällt schwer.«

»Danke für die ehrlichen Worte«, wiegelte Elaine den ihr unangenehmen Punkt ab. »Wir wollten heute ja die Finanzen besprechen. Das Datum der Rückzahlung kommt näher.« Sie nahm ihre Lesebrille aus dem Etui und schob sie auf die Nase. Die letzte Bilanz – abgelegt unter Vatikan 2013 in den vorbereiteten Dokumenten – lag obenauf. »Nach meinen Kalkulationen sollten 52 Millionen Dollar mehr auf meinem Konto sein, als ich zahlen muss. Die Restsumme …«

Jetzt, da sie den Sachverhalt angesprochen hatte, konnte der Kardinal nicht mehr ausweichen. »Die Kalkulation stimmt so nicht«, unterbrach er sie kaum vernehmbar.

»Was stimmt nicht?« Sie schaute mit hochgezogenen Brauen von den Unterlagen auf.

Zögerlich gestand Kardinal Bretone, dass es Unregelmäßigkeiten bei den Geldanlagen gegeben hatte.

»Wir haben sichere Investments getätigt, nur marginal mit Aktien spekuliert. Was gab es da zu managen? Ich frage mich, wieso über Jahrzehnte nicht mehr Gewinn erwirtschaftet worden ist.«

Als hätte Elaine erst durch das folgende Schweigen die ursprüngliche Antwort des Kardinals begriffen, fragte sie nach: »Was genau meinen Sie mit ›Unregelmäßigkeiten‹?«

»Es sind nur 1,3 Milliarden Dollar auf dem Konto.« Endlich hatte es Kardinal Bretone hinter sich gebracht und den verhängnisvollen Satz ausgesprochen.

»1,3 Milliarden? Statt 4,3 Milliarden?«, wiederholte sie mechanisch.

Er starrte schweigend an ihr vorbei. Irritiert drehte sich Elaine um und entdeckte ein Gemälde, das ihr nie zuvor aufgefallen war. Es zeigte den Kopf von Jesus und seinen Oberkörper, hinter ihm ein überdimensionales Kreuz. Das Gemälde umrandete ein weißes Passepartout, das in einem einfachen Goldrahmen gefasst war.

»Jesu leidender Gesichtsausdruck passt genau«, kommentierte sie bitter. »Ich habe kontinuierlich die vereinbarten Prozente überwiesen und Sie haben bestätigt, die Gelder wie besprochen angelegt zu haben.«

»Das betraf nur die letzten zehn Jahre. Davor liefen die Geldanlagen chaotisch. Bedauerlicherweise.« 

»Sie können mir doch nicht einfach diese Zahlen an den Kopf werfen? 1,3 statt 4,3 Milliarden? Haben Sie mir jahrelang fingierte Abrechnungen vorgelegt? Mich belogen? Und versuchen sich jetzt mit einer ›chaotischen Vergangenheit‹ herauszureden?«

Elaine merkte dem Kardinal an, wie unwohl er sich fühlte, trotzdem folgte sie erneut seinem Blick und sagte enttäuscht: »Erhoffen Sie sich höheren Beistand von Gott, indem Sie das heiligste Symbol der Christenheit unentwegt anstarren?« 

Kardinal Bretone fühlte sich ertappt und senkte devot die Augen.

Unbewusst suchte Elaines rechte Hand das goldene Kreuz, das sie seit ihrer Jugend an einer feinen Kette um den Hals trug. Sie drehte es zwischen den Fingern hin und her. »Ich habe in den letzten Wochen über unsere Familie nachgedacht. Die Geheimniskrämerei funktionierte für unsere Generation, wir waren nur drei Kinder. In der nachfolgenden haben wir elf direkte Erben. Die Machtkämpfe unter den Kindern haben begonnen. Niemand ahnt, welcher Preis für den Erfolg zu zahlen ist.«

Dem Kardinal war bewusst, dass Elaine sich intuitiv sträubte, seine Nachricht wirklich zu verstehen. Er ließ sie reden.

»Ich wollte endlich ein langes Kapitel abschließen. Die Zahlungen an den Fürsten kann man weiter unter ›Monacos Sondersteuer‹ verbuchen. Wie soll das jetzt laufen? Und wer entschädigt uns?«

Kaum hatte Elaine die Frage ausgesprochen, wurde ihr schlagartig heiß. Sie schien ins Bodenlose zu stürzen, schwitzte, und die weiße Seidenbluse klebte an ihrem Rücken. Gleichzeitig fröstelte sie am ganzen Körper, und ihre Hände verkrampften, sodass sie unfähig war, den obersten Knopf der Bluse zu öffnen. Selbst ihr tapferes Lächeln, das sie in schwierigsten Situationen aufsetzen konnte, war erloschen.

»3 Milliarden Dollar sind einfach verschwunden? Kardinal, Sie enthüllen das erst wenige Wochen vor der Rückzahlung und in meiner schwierigen Situation?«, fragte sie entsetzt. »Sie wissen doch sicher schon länger davon?«

Der Kardinal duckte sich tief in den Sessel, versank noch ein Stückchen weiter in sein Schweigen und schien sich darin verstecken zu wollen.

»Wie feige Sie sind«, sagte Elaine ruhig, bevor sie ihrem aufbrodelnden Temperament freien Lauf ließ. »Das lasse ich mir nicht bieten! Auch die Vatikanbank hat weltliche Verpflichtungen, und ich werde keine Mühe scheuen, den Schleier über dieser Misswirtschaft zu lüften! Wer hat sich mit unserem Vermögen die Taschen gefüllt?«

»Von Entschädigung kann keine Rede sein. Meine Abteilung hat das Geld nicht, und wir können es niemals verdienen.« Mit seinem Beschwichtigungsversuch schüttete der Kardinal noch Öl ins Feuer.

»Lächerlich! Der Vatikan ist unermesslich reich.« Elaine scherte sich nicht mehr um Etikette. »Hören Sie auf, mir solchen Quatsch aufzutischen!«

Kardinal Bretone vermied es tunlichst, ihr in die Augen zu schauen. Lautstarke Auseinandersetzungen war er nicht gewohnt, schon gar nicht mit einer Frau. Krampfhaft suchte er nach Argumenten. »Lassen Sie uns das diskret regeln, Madame Volante, bitte.«

»Ich soll den guten Ruf meiner Familie und 3 Milliarden Dollar diskret opfern?«, echauffierte sie sich. »Im Namen des Heiligen Vaters?« Danach stockte sie. Der ›Heilige Vater‹ hallte wie ein Echo durch das Büro, bevor eine bedrückende Stille einsetzte. Plötzlich beugte Elaine sich aufgebracht über den Tisch und schaute dem Kardinal wütend in die Augen. »Ich bestehe darauf, sofort die echten Unterlagen einzusehen! Fünfzig Jahre meines Lebens habe ich …«

Jählings fasste sich Elaine an den Hals, rang um Luft und fiel erschöpft in den Sessel zurück.

Der Kardinal lief um den ovalen Schreibtisch, denn ihr Gesicht sah plötzlich grau aus und wirkte ganz eingefallen.

»Madame, beruhigen Sie sich. Brauchen Sie einen Arzt?« Er reichte ihr ein Wasserglas.

Während sie mit beiden Händen danach griff, flüsterte sie: »Mir wurde auf einmal schwarz vor Augen und übel. Wahrscheinlich rebelliert mein Magen wieder.«

Kardinal Bretone hörte nicht genau hin, legte aber seinen Arm scheinbar fürsorglich um ihre Schulter. Dann stellte er eiskalt die Frage, die ihm seit Monaten unter den Nägeln brannte. »Wer ist Ihr Gläubiger? Es gibt für alles im Leben eine Lösung.«

Elaines Herz hämmerte. Sie konzentrierte sich darauf, tief ein und aus zu atmen. Dreimal. Viermal. Bis sie wieder logisch denken konnte. »Sie wissen es nicht?«, stellte sie wie nebenbei fest, trank das Wasser aus und wischte sich den leichten Schweißfilm mit einem Taschentuch von der Stirn. »Können Sie bitte das Fenster öffnen?«

»Natürlich.«

Der kurze Moment ihrer Erschöpfung ermutigte den Kardinal. »Der Vatikan kennt nur den Teil des Vertrags, der unsere Einbindung in die Verwaltung regelt. Besteht eine Verhandlungsmöglichkeit?«

»Nein«, antwortete Elaine bestimmt. »Ich muss pünktlich zahlen, das hat mein Vater immer wieder betont.«

»Madame Volante, wenn Sie etwas Geld zuschießen, können wir die Hälfte bezahlen. Das ist nicht wenig.« 

»Wir, Kardinal? Und die Hälfte ist nicht genug.« Frustriert klappte sie den Ordner zu und legte die Brille wieder ins Etui zurück. »Ich verschwende meine Zeit nicht länger mit manipulierten Dokumenten. Verstehen Sie eigentlich, wie viel Geld 3 Milliarden Dollar wirklich sind?«

»Madame, lassen Sie mich doch die Verhandlungen übernehmen. Der Vatikan kann Angelegenheiten auf spezielle Art regeln.« In diesem Moment ging Kardinal Bretone durch den Kopf, dass sie die echten Abrechnungen auf gar keinen Fall zu Gesicht bekommen durfte. Wie konnte er sie bloß davon abbringen?

»Ah ja?«, erwiderte Elaine spitzzüngig. »Es gibt keine Möglichkeit auszusteigen, nicht unmittelbar vor Vertragsende. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, schon gar nicht in diesen heiligen Hallen, aber die Situation könnte sich zu einem internationalen Konflikt ausweiten. Wie konnten Sie das nur zulassen?«

»Elaine, Sie müssen mir glauben. Ich habe das Geld nicht veruntreut!«, bat er und nannte sie beim Vornamen, um die geschäftliche Vertrautheit wieder herzustellen.

»Welchen Unterschied macht das für mich?«

»Für unsere Zusammenarbeit sehr wohl. Jeder muss im Leben irgend­wann Zugeständnisse machen. Ihre Familie profitierte Jahr­zehnte von diesem Vertrag. Ich versuche zu helfen, arbeiten Sie bitte mit mir zusammen«, appellierte Kardinal Bretone noch einmal inständig.

»Soll das ein Witz sein? Ich soll Ihnen helfen, nachdem Sie Unsummen veruntreut haben?«

Der Kardinal gewann seine Selbstsicherheit zurück, denn er hatte das Schlimmste hinter sich gebracht. Den lodernden Zorn in Elaines Augen ignorierte er. »Ich habe keinen Dollar unterschlagen und in den vergangenen zehn Jahren dafür gesorgt, dass heute zumindest 1,3 Milliarden auf dem Konto sind. Wo liegt das Problem, mir zu sagen, wer damals der Kreditgeber war? Haben Sie etwas zu verbergen?« 

»Was erlauben Sie sich!« Elaine beharrte darauf, den Gläubiger nicht zu kennen. Ihr Vertrauen zu Kardinal Bretone hatte sich in den vergangenen Minuten in Luft aufgelöst. »Die Rückzahlung muss termingerecht über die Bühne gehen. Sehen Sie es als Schadenbegrenzung für unsere Familie, den Vatikan und Monaco.«

Der Kardinal versprach, mit dem Chef der Vatikanbank nochmals alle Möglichkeiten durchzusprechen, die fehlenden Milliarden aufzutreiben.

»Können Sie sich vorstellen, wie oft ich mich in den letzten Monaten verzweifelt gefragt habe, warum Gott nicht helfend eingreift? Warum erlitt mein Sohn einen schweren Schlaganfall? Mein kleiner Bruder Marcel starb, als sich die Dinge zu bessern schienen, und nun dieses finanzielle Desaster. Jedes Mal dachte ich, schlimmer kann es nicht mehr kommen, und doch gibt es immer noch eine Steigerung. Ich habe niemandem etwas getan.« 

»Deswegen muss ich wissen, wer der Gläubiger ist, verstehen Sie das bitte«, wiederholte der Kardinal. Ihm war nicht entgangen, wie schnell sich Elaine wieder unter Kontrolle hatte und geschickt seinen männ­lichen Beschützerinstinkt beschwor.

»Wir drehen uns im Kreis.«  

Beide schwiegen.

»Sie haben Angst, Kardinal Umberto Maria Emanuele Bretone«, sagte sie und betonte bewusst jede Silbe seines langen Namens.

»Das bestreite ich nicht«, gab er zu. »Lassen Sie uns bitte für heute diese schwierige Diskussion beenden. Wir sollten beide in Ruhe nochmals darüber nachdenken. Sie müssten noch die Dokumente der Geldanlagen der letzten Monate abzeichnen.«

»In Ruhe? Kardinal, mir bleiben nur wenige Wochen! Und jetzt, wo Sie Ihr Problem auf mich abgewälzt haben, soll ich noch Papiere unter­schreiben?« Elaines Brust hob und senkte sich aufgeregt. »Welche Seilschaft greift dieses Mal in die Kasse?«, schrillte ihre Stimme erzürnt auf.

»Madame, bitte.« Kardinal Bretone suchte nach Worten, um die Wogen zu glätten, als sich Elaine plötzlich im Sessel nach vorn beugte und ihre Arme auf den Bauch drückte. Erneut sprang er auf, füllte das Wasserglas und reichte es ihr. Dann griff er mit fahrigen Händen nach dem Telefon. »Ich rufe jetzt den Arzt!«

Elaine trank einen Schluck und wiegelte erneut ab. »Die Nachricht ist mir auf den Magen geschlagen. Tun Sie nicht so gekünstelt überrascht. Da hilft kein Arzt.«

Der Kardinal wartete unschlüssig einen Moment ab.

Kurz darauf pustete Elaine sich betont lässig eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus der Spange gelöst hatte, richtete den Blusenkragen unter dem Blazer und legte die Perlenkette kunstvoll darüber. »Ich möchte heute keine emotionale Entscheidung treffen. Wo soll ich unterschreiben?«, lenkte sie kalt ein.

Verdutzt zeigte Kardinal Bretone ihr die markierten Stellen. Als Elaine danach kommentarlos aufstand, begleitet er sie erstmals bis zum Ausgang der Vatikanbank. Wann das nächste Treffen stattfinden würde, blieb offen.

6

Spannungen

Elaine Volante wies ihren Chauffeur an, sie zum Apartment von Béatrice du Marignac zu fahren. Die Freundinnen hatten lange abgesprochen, den Abend zusammen zu verbringen, und Elaine hatte sich nach den Schicksalsschlägen der letzten Wochen vor allem auf eine entspannte Unterhaltung mit Béatrice gefreut. Jetzt war Elaine nicht sicher, ob sie dafür die Kraft aufbringen würde. Viel lieber wäre sie nun alleine in ihrem Hotelzimmer geblieben, um die skandalöse Botschaft, die ihr gesamtes Lebenswerk bedrohte, zu verarbeiten. Andererseits wollte sie Béatrice nicht absagen, denn seit ihrem Geburtstag hatten sie kaum miteinander gesprochen. Und wie viel war in der Zwischenzeit passiert ...

Mit jedem Meter, den der Mercedes sich vom Gelände des Vati­kans entfernte, fiel etwas von Elaines mühsam aufrechterhaltener Fassade ab. Erregt hob und senkte sich ihre Brust immer schneller. Wie konnte ihr der Kardinal jahrzehntelang fingierte Abrechnungen vorlegen! Ihr Mund fühlte sich trocken an. Das Schuldgefühl, dass sie den Verlust durch bessere Kontrollen hätte verhindern können, ließ sie schnell fallen. 3 Milliarden verschwanden nur durch systematische, kriminelle Energie. Elaine wurde erneut heiß, die Bluse klebte wieder unangenehm am Rücken und sie bebte vor Wut. Dann drängte sich eine prekäre Frage in den Vordergrund: Was würde passieren, wenn ich es nicht schaffe, den Kredit pünktlich zurückzuzahlen? Der perfekt ausgearbeitete Plan, der garantierte, das Geheimnis vor der nächsten Generation zu bewahren sowie den Reichtum der Familie langfristig zu sichern, würde dann nicht aufgehen. Die Konsequenzen wären ein einziges Desaster. Allein die Spekulation nahm Elaine schier den Atem. Ihr wurde schwindlig. Mechanisch griff sie nach der Wasserflasche, trank. Ihre Hände zitterten, und ein Teil des Wassers lief aus dem Mundwinkel heraus das Kinn hinunter und rann ihr über den Hals bis in die Bluse.

Die Angst, den Auftrag des Vaters nicht erfüllen zu können, entzog Elaine endgültig den Boden unter den Füßen. Und wie viele Rückschläge konnte sie in ihrer gesundheitlichen Situation noch verkraften? Auch darüber wollte sie jetzt partout nicht grübeln. Sie trocknete mit einem Taschentuch das kleine Rinnsal an Kinn und Hals, den feucht geschwitzten Nacken und rieb einige Male über den Wasserfleck auf der Bluse. Die kleinen Bewegungen beruhigten Elaine. Um sich weiter abzulenken, nahm sie das Handy aus der Handtasche und drückte auf die Büronummer ihrer Tochter Claudia. Sie wollte nachfragen, wie der Tag im Geschäft gelaufen war.

Elaines Sekretärin war am Apparat und richtete aus, ihre Tochter sei schon gegen 16 Uhr nach Hause gegangen. Verärgert rief sie Claudia auf dem Handy an. Elaine hatte ihre Ausrede, es wäre nichts mehr zu tun gewesen, zu oft gehört. Empört giftete sie zurück. Ein Wort ergab das nächste, am Ende unterbrach Claudia einfach die Verbindung.

Fassungslos über diese Frechheit verkrampfte Elaine sich auf dem Rücksitz, die Übelkeit kehrte zurück. Sie nippte erneut am Wasser, diesmal langsam, und atmete tief durch, bis ihr besser wurde. Lief denn heute alles schief? Dann spürte sie den besorgten Blick ihres Fahrers im Rückspiegel.

»Alles in Ordnung, Ahmad, die üblichen Diskussionen mit meiner Tochter«, schwächte sie ab, nahm betont gelassen ihre Kosmetik­tasche aus der Mittelkonsole und schaute prüfend in den kleinen Spiegel. Sie erschrak, wie blass sie aussah. Routiniert puderte Elaine sich schnell das Gesicht, frischte die Wangen mit Rouge auf und strich mit der Bürste durch ihr Haar. Auf ihre Handgelenke tröpfelte sie etwas Parfüm, dann öffnete sie die Knöpfe ihrer schwarzen Chanel-Jacke.

Ein Abend mit der immer gut aufgelegten Béatrice würde ihr gut tun. Um die Probleme würde sie sich morgen wieder kümmern.

Wütend zog Claudia die Stöpsel des Headsets aus den Ohren und warf es auf den Boden. Als „Mama“ auf dem Display aufblinkte, hatte sie ihr Training unterbrochen, ihrem Mann Marek einen genervten Blick zugeworfen und auf die Annahmetaste gedrückt. Ihre Mutter bestand darauf, dass Claudia für sie jederzeit zu erreichen war, wenn sie die Verantwortung fürs Geschäft trug – auch außerhalb der offiziellen Büro­zeiten.

»Warum muss Mama bei jeder Kleinigkeit ihre Autorität raushängen lassen und mir hinterhertelefonieren?«, schimpfte sie und wischte sich mit dem XL-T-Shirt den Schweiß von der Stirn.

Marek stoppte prompt das Laufband und die Musik. Er befürchtete, dass Claudia wie so oft nach einem Streit mit ihrer Mutter die Nerven verlieren würde. »Magst du reden? Soll ich Ivo nach Hause schicken?«, bot er an und versuchte sie damit zu beruhigen.

»Von mir aus kann alle Welt wissen, wie meine Mutter in Wirklichkeit ist!«

Marek deutete dem Fitnesstrainer mit einer Kopfbewegung an, in Richtung Küche zu verschwinden. Er legte ein Handtuch über Claudias Schultern und strich liebevoll über ihren Rücken. »Führ dich vor dem Personal doch nicht wie eine Furie auf.«

»Mama kritisiert mich, weil ich um 4 Uhr aus dem Büro gehe, dabei war nichts mehr zu tun. Warum soll ich dort rumsitzen, nur weil sie es macht?«, schimpfte sie weiter.

»Du kennst ihren Kontrollwahn, warum regst du dich jedes Mal wieder auf? Bitte, Claudia, lass dich nicht runterziehen.«

»Doch nicht deswegen! Ein Wort gab das andere, und am Ende hat sie es abgelehnt, einen Vorschuss auf das Erbe zu zahlen. Am Handy! Und mir vorgeworfen, mich von dir ausnutzen zu lassen!«

»Was? Sie hat abgelehnt?«

»Schnallst du es endlich? Mama war so schlecht drauf, dass sie sogar gedroht hat, die monatliche Zahlung einzustellen, wenn wir so unverschämt weitere Millionen fordern!«

»Im letzten Jahr hat sie die 10 Millionen doch problemlos bezahlt?«, wunderte sich Marek.

»Weil ich kurz nach meiner OP darum gebeten hatte. Ich dachte, unser Verhältnis hätte sich in den letzten Monaten gebessert.« Claudia griff nach der Wasserflasche, ließ sich frustriert auf die Yogamatte sinken und trank einen Schluck. Plötzlich war sie wie von Sinnen, schmiss erst die Plastikflasche an die Wand und trommelte dann mit den Händen auf den Boden. »Ich ertrage die ewigen Kontrollen und Vorwürfe nicht mehr!«

»Beruhige dich!« Marek zog Claudia an sich und nahm sie fest in seine Arme. »Du tust dir noch weh!«

»Dann unternimm endlich was!«, kreischte sie und schlug erneut wild um sich. »Ohne ihre Zahlungen sind wir am Ende!« Claudia riss sich mit aller Kraft los, rannte aus dem Fitnessraum und knallte die Tür hinter sich zu.

Marek hob kopfschüttelnd das Handtuch vom Boden auf und ging in die Küche.

»Dicke Luft bei euch, das wird schon wieder. Die Frauen reagieren alle zu emotional«, kommentierte Ivo lässig vom Barhocker.

»Ich kann’s nicht mehr hören. Willst du ein Bier? Training ist für heute durch.«

»Klar, schieb eins rüber. Die Volante sitzt wie Dagobert Duck auf dem Geld?«

Marek trank einen Schluck und setzte sich neben Ivo. »Dagobert wäre witzig. Eher wie ein Drachen im Gewand einer Leopardnatter.«

»Leopardnatter?«

»Google es.«

»Kannst du nicht vermitteln?«

Resigniert schüttelte Marek den Kopf. »Für die existiere ich doch gar nicht. Seit ich mit Claudia zusammen bin, hackt sie auf mir rum.«

»Was hast du vor?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das Verhältnis ist kompliziert, und wir sind von ihr abhängig. Seit Alessandros Schlaganfall streiten Elaine und Claudia noch mehr, meist wegen Belanglosigkeiten. Und ich muss es dann ausbaden.« Mareks Stirn lag in Falten, sein frustrierter Gesichtsausdruck sprach für sich. Er pulte mit den Fingern das Etikett von der Bierflasche.

Ivo trank sein Bier aus, stellte die Flasche auf den Tresen und rülpste leise. »Wie alt ist sie?«

»Ende siebzig.«

»Puh, da kann sie gut noch fünfzehn Jahre leben.«

»Super Kommentar.« Marek stand auf und wollte aus der Küche gehen. Dann überlegte er es sich anders, nahm stattdessen noch zwei Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie zischend. Er schob Ivo eins rüber.

»Dein geiles Leben wünschte ich mir. Das Penthouse, deine Autos, ein Boot, du fliegst durch die Welt, heiße Partys …«

»Was weißt du schon?«, wies Marek seinen Fitnesstrainer in die Schranken und setzte seine Flasche hart auf dem Tresen ab. Ein Schluck Bier schwappte heraus.

»Okay, bleib cool, war nicht so gemeint. Willst du tauschen?« Ivo lamentierte, dass seine Frau jeden Monat Stress mache, weil nicht genügend Kohle da sei. Seine 3.000 Euro reichten hinten und vorne nicht. Exotische Urlaubsreisen, Designerklamotten, Schmuck oder eine coole Handtasche kann ich ihr nicht bieten.« Ivo trennte eine Lage Papier von der Küchenrolle und wischte das verschüttete Bier weg. »Wir zahlen unsere Rechnungen und kommen knapp über die Runden. Deine Geschenke helfen, haben sie aber auf den Geschmack gebracht.«

»Du beschwerst dich darüber? Dir kann man’s auch nicht recht machen.«

»Nee, nicht bei dir. Ich muss den Druck nur mal loswerden.«

»Willkommen im Club«, sagte Marek versöhnlicher. Was würdest du denn mit 200.000 Euro machen?«, fragte er, umfasste sein Fußgelenk und zog die Ferse ans Gesäß, um seinen Oberschenkel zu dehnen.

»Ich würde mir ein gebrauchtes 911-Cabrio kaufen, außen schwarz und innen rotes Leder«, antwortete Ivo wie aus der Pistole geschossen. Seine Augen glänzten. »Knie zusammendrücken und die Hüfte mehr nach vorn«, korrigierte er Mareks Haltung.

»Was noch? Spontan?«

»Meiner Frau würde ich eine Handtasche und ein paar Klamotten schenken und mit dem restlichen Geld ein eigenes Studio aufziehen. Ich bin ein guter Trainer, und die Mädels stehen auf mich.«

»Glaubst du echt, das reicht als Business-Plan?«

»In Monaco gibt es genügend gelangweilte Hausfrauen mit Sugar Daddys, die ein bisschen Pep unterm Hintern brauchen.« Ivo lächelte verschmitzt. Aber so schnell wie er geantwortet hatte, winkte er auch schon wieder ab. »Das wird immer nur ein Traum bleiben.«

»Naja, leicht anrüchiges Geschäftsmodell.«

»Das mit dem Bett war Spaß, aber die Frauen wollen abnehmen und zahlen für den Traum vom Idealkörper die Mitgliedschaft. Dass sie dann nur einige Male im Fitnessstudio aufkreuzen, ist eine andere Geschichte«, verteidigte Ivo seine Idee.

»Ehrlich?«

»Was, ehrlich? Wenn eine drauf bestehen würde, warum nicht?«

»Großmaul, aber rede doch mal mit Claudia über ein Studio, wenn sie wieder gut drauf ist«, schlug Marek vor. »Es würde ihr bestimmt gefallen, mal was anderes zu tun außer Vermietungen unter der Fuchtel ihrer Mutter.«

»Echt?«

»Fragen kostet nichts.«

7

Freundinnen

Béatrice hatte