Monas Augen – Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit - Thomas Schlesser - E-Book

Monas Augen – Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit E-Book

Thomas Schlesser

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Beschreibung

Von der Macht der Kunst, unser Leben zu verändern Und plötzlich ist alles anders: Als die zehnjährige Mona für eine Stunde ihr Augenlicht verliert, verweisen ihre Ärzte die besorgten Eltern an einen Kinderpsychiater. Monas Großvater Henry soll sie zu den Terminen begleiten, doch der hat eine andere, bessere Idee: Mona soll die ganze Schönheit der Welt in sich aufnehmen. Heimlich gehen die beiden in die großen Pariser Museen und betrachten dort Woche für Woche ein einziges Kunstwerk. Mit jedem Leonardo, jedem Monet und Kandinsky entdeckt Mona eine neue Weisheit – und dringt zum Grund ihres Leidens vor …  »Monas Augen« hat Frankreich und die Welt im Sturm erobert: ein tief berührender, hoffnungsvoller Roman über die rettende Kraft der Kunst! »Der Triumph dieses Buches gleicht einem Märchen, das wahr wird.« Le Monde »Die Idee des Romans ist fabelhaft. Er liest sich ein bisschen wie ›Sofies Welt‹ in der Welt der Kunst, wie ein Bildungsroman, ein Roman der Freude.« Le Figaro Littéraire »Eine Ode an die Schönheit und die Weisheit.« Le Parisien »Die Verbundenheit zwischen Großvater und Enkelin trägt die Lesenden durch eine ausgesprochen erfrischende Annäherung an die Kunstgeschichte.« Lire Magazine »Eine ausgezeichnete Einführung in die Kunstgeschichte, die umso lebendiger ist, da sie durch zwei Figuren vermittelt wird.« Libération »Ein herausragendes Buch, das in aller Munde ist.« France Inter

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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((bei fremdsprachigem Autor:))

Aus dem Französischen von Nicola Denis

Die französische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Les Yeux de Mona bei Albin Michel, Paris.

© Éditions Albin Michel, 2024

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: FAVORITBUERO, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

I

LOUVRE

1 – Sandro Botticelli

2 – Leonardo da Vinci

3 – Raffael

4 – Tizian

5 – Michelangelo

6 – Frans Hals

7 – Rembrandt

8 – Jan Vermeer

9 – Nicolas Poussin

10 – Philippe de Champaigne

11 – Antoine Watteau

12 – Antonio Canaletto

13 – Thomas Gainsborough

14 – Marguerite Gérard

15 – Jacques-Louis David

16 – Marie-Guillemine Benoist

17 – Francisco de Goya

18 – Caspar David Friedrich

19 – William Turner

II

Musée d’Orsay

20 – Gustave Courbet

21 – Henri Fantin-Latour

22 – Rosa Bonheur

23 – James Whistler

24 – Julia Margaret Cameron

25 – Édouard Manet

26 – Claude Monet

27 – Edgar Degas

28 – Paul Cézanne

29 – Edward Burne-Jones

30 – Vincent van Gogh

31 – Camille Claudel

32 – Gustav Klimt

33 – Vilhelm Hammershøi

34 – Piet Mondrian

III

Centre Pompidou

35 – Wassily Kandinsky

36 – Marcel Duchamp

37 – Kasimir Malewitsch

38 – Georgia O’Keeffe

39 – René Magritte

40 – Constantin Brancusi

41 – Hannah Höch

42 – Frida Kahlo

43 – Pablo Picasso

44 – Jackson Pollock

45 – Niki de Saint Phalle

46 – Hans Hartung

47 – Anna-Eva Bergman

48 – Jean-Michel Basquiat

49 – Louise Bourgeois

50 – Marina Abramović

51 – Christian Boltanski

52 – Pierre Soulages

Epilog

Bildteil

Bildnachweise

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für alle Großeltern dieser Welt

Prolog

Nichts mehr sehen

Alles wurde dunkel. Wie mit einem Trauerflor bedeckt. Dann hier und da ein Aufblitzen nach Art der Flecken, die die Sonne verursacht, wenn die Augen hinter geschlossenen Lidern vergeblich auf sie starren, so wie man die Faust ballt, um einen Schmerz oder ein Gefühl auszuhalten.

Natürlich hatte sie das völlig anders beschrieben. Im Mund einer unbefangenen, besorgten Zehnjährigen klingt die Verzweiflung knapp, ohne Schnörkel und Überschwang.

»Mama, alles ist dunkel!«

Mona hatte diese Worte mit erstickter Stimme hervorgebracht. Eine Klage? Ja, aber nicht nur. Ohne dass sie es wollte, hatte sich ein Anflug von Scham daruntergemischt, was ihre Mutter immer sofort ernst nahm. Wenn es etwas gab, das Mona nie vortäuschte, war es Scham. Kaum schlich sie sich in ein Wort, eine Haltung oder einen Tonfall, war die Situation wie verhext: Eine unangenehme Wahrheit hatte sich eingenistet.

»Mama, alles ist dunkel!«

Mona war blind.

Dafür schien es keinen Grund zu geben. Es war nichts Besonderes vorgefallen. An einer Ecke des Tisches, auf dem ihre Mutter einen saftigen Braten mit Knoblauch spickte, saß sie brav über ihren Matheaufgaben, einen Stift in der rechten Hand, ein Heft unter der linken. Mona zog gerade vorsichtig eine Kette von ihrem Hals, die sie störte, weil sie die schlechte Angewohnheit hatte, mit krummem Rücken zu schreiben, und der Anhänger über ihrem Übungsblatt baumelte. Sie spürte, wie sich ein schwerer Schatten auf ihre Augen legte, als würden sie dafür bestraft, so blau, so groß und so klar zu sein. Der Schatten kam nicht von außen, so wie sonst, wenn es dunkel wird oder die Lichter in einem Theater erlöschen; der Schatten griff aus ihrem eigenen Körper, von innen heraus nach ihrem Augenlicht. In ihr hatte sich ein undurchdringlicher Nebelteppich ausgebreitet, der sie von den Vielecken in ihrem Schulheft trennte, dem braunen Holztisch, dem ein Stück weiter weg stehenden Braten, von ihrer Mutter mit der weißen Schürze, der gefliesten Küche, von ihrem Vater, der im Nebenzimmer saß, von der Wohnung in Montreuil und dem gräulichen Herbsthimmel, der über den Straßen hing, von der ganzen Welt. Wie durch einen Zauber tauchte das Kind ins Dunkel ein.

Hektisch rief Monas Mutter den Hausarzt an. Sie beschrieb wirr die verschleierten Pupillen ihrer Tochter und ergänzte, weil der Arzt sie danach fragte, dass sie keine Sprachstörung oder Lähmungserscheinungen habe.

»Das sieht nach einer TIA aus«, sagte er, ohne sich weiter zu erklären.

Fürs Erste verordnete er eine hohe Dosis Aspirin und vor allem Monas sofortige Einweisung ins Hôpital Hôtel-Dieu, wo er einen Kollegen anrufen wolle, damit sie sofort behandelt werden könne: Er sei ein hervorragender Kinderarzt, noch dazu ein ausgezeichneter Augenspezialist und nebenbei ein begabter Hypnotherapeut. Normalerweise, schloss er, werde die Blindheit nicht länger als zehn Minuten anhalten, dann legte er auf. Seit dem ersten Alarm war schon eine Viertelstunde vergangen.

Im Auto weinte Mona und hämmerte sich an die Schläfen. Ihre Mutter hielt ihre Ellbogen fest, hätte aber im Grunde ihres Herzens am liebsten auch gegen den runden, zerbrechlichen kleinen Kopf gehämmert, so wie man auf eine defekte Maschine einhämmert und vergeblich darauf hofft, dass sie wieder anspringt. Der Vater, am Steuer ihres klapprigen alten Volkswagens, wollte sich einen Reim auf die Krankheit machen, von der seine Tochter befallen war. Er war wütend, weil er meinte, in der Küche sei etwas vorgefallen, das man ihm verheimlichte. Immer wieder ging er die möglichen Ursachen durch – ein Dampfschwall, ein übler Sturz?

Aber nein, Mona erklärte schon zum hundertsten Mal: »Das ist ganz von allein gekommen!«

»Man wird doch nicht einfach so blind!«, protestierte ihr Vater.

Doch, man konnte auch »einfach so« erblinden, das war der beste Beweis dafür. Und heute war dieses man Mona, mit ihren zehn Jahren und ihren Tränen der Angst – Tränen, von denen sie sich an diesem Oktobersonntag, während es Abend wurde, vielleicht erhoffte, dass sie den an ihren Pupillen klebenden Ruß wegwaschen würden. Kaum standen sie vor dem Krankenhaus, das sich direkt neben Notre-Dame auf der Île de la Cité befand, hörte sie unvermittelt zu schluchzen auf und erstarrte:

»Mama, Papa, es kommt wieder!«

Sie stand im kalten Wind auf der Straße und bewegte den Kopf vor und zurück, um ihrer zurückkehrenden Wahrnehmung auf die Sprünge zu helfen. Wie ein Rollo, das man hochzieht, hob sich der Schleier von ihren Augen. Endlich sah sie wieder Linien, die Konturen der Gesichter, die Umrisse der Gegenstände in ihrer Nähe, die Beschaffenheit der Gemäuer und sämtliche Farbabstufungen von hell bis dunkel. Das Mädchen erkannte die zarte Gestalt seiner Mutter wieder, ihren langen Schwanenhals und ihre schmächtigen Arme, dann auch die massigere Gestalt des Vaters. In der Ferne sah sie eine graue Taube auffliegen, was sie überglücklich machte. Die Blindheit hatte Mona gepackt und wieder losgelassen. Sie hatte sie durchbohrt, so wie eine Kugel die Haut durchlöchert und auf der anderen Seite des Körpers wieder austritt, was natürlich wehtat, aber dem Körper dennoch die Möglichkeit ließ zu heilen. Ein Wunder, dachte ihr Vater, der genau nachrechnete, wie lange der Anfall gedauert hatte: dreiundsechzig Minuten.

In der Augenabteilung des Hôtel-Dieu wollte man die Kleine erst nach einer Reihe von Untersuchungen mit einer Diagnose und den entsprechenden Anordnungen wieder gehen lassen. Die Angst war aufgeschoben, aber nicht verflogen. Ein Pfleger schickte sie in einen Raum im ersten Stock, das Behandlungszimmer des vom Hausarzt informierten Kinderarztes. Doktor Van Orst hatte schütteres Haar, und sein weiter, blütenweißer Kittel hob sich leuchtend vom kränklichen Grün der Wände ab. Sein breites Lächeln, das fröhliche kleine Falten in sein Gesicht grub, machte ihn sympathisch. Und doch war er Zeuge zahlreicher Tragödien geworden. Er trat auf sie zu.

»Wie alt bist du?«, fragte er mit einer vom Rauchen heiseren Stimme.

*

Mona war zehn. Sie war das einzige Kind von Eltern, die sich liebten. Ihre Mutter Camille ging auf die vierzig zu. Sie war nicht sehr groß, hatte kurzes, zerzaustes Haar und einen Rest des spöttischen, für die Vororte typischen Tonfalls in der Stimme. Nach Aussage ihres Mannes hatte sie einen »irgendwie schrägen« Charme, der allerdings von einer beängstigenden Entschlossenheit begleitet wurde: eine Mischung aus Anarchie und Autorität. Sie arbeitete in einer Zeitarbeitsagentur, eine gute Angestellte, die sich einbrachte und engagierte. Zumindest vormittags. Nachmittags rieb sie sich mit diversen Ehrenämtern auf. Alle Anliegen waren ihr recht, ob vereinsamte alte Menschen oder misshandelte Tiere.

Was Monas Vater Paul anging, so war er inzwischen siebenundfünfzig und in zweiter Ehe verheiratet. Seine erste Frau war mit seinem besten Freund durchgebrannt. Er trug Krawatte, um von seinen Hemden mit den abgewetzten Kragen abzulenken, und schuftete als Antiquitätenhändler, der sich vor allem für die amerikanische Kultur der Fünfziger begeisterte: Jukeboxen, Flipper, Plakate … Und weil in seiner Jugend alles mit einer Sammlung aus herzförmigen Schlüsselanhängern begonnen hatte, besaß er eine stattliche Anzahl davon, die er nicht verkaufen wollte und die sowieso niemanden interessiert hätte. Mit der Entwicklung des Internets hätte er seinen Laden, der direkt unter ihrer Wohnung lag, fast schließen müssen. Stattdessen hatte er sich selbst eine Website zugelegt, die er regelmäßig aktualisierte und ins Englische übersetzte. Obwohl ihm jeder Geschäftssinn abging, konnte er auf eine Stammkundschaft aufmerksamer Sammler zählen, die ihn regelmäßig vor der Pleite bewahrte. Im vergangenen Sommer hatte er einen Gottlieb-Flipper, Modell »Wishing Well«, von 1955 repariert und dafür satte zehntausend Euro kassiert. Ein willkommenes Geschäft nach langen, mageren Monaten. Auf die dann wieder die große Leere folgte. Die Krise, hieß es. Paul trank im Laden jeden Tag eine Flasche Rotwein und stülpte sie wie eine Trophäe über einen dieser igelförmigen Flaschentrockner, die Marcel Duchamp berühmt gemacht haben. Er stieß mit sich selbst an, ohne seine Lage irgendwem übel nehmen zu können. In Gedanken stieß er auf Mona an. Auf ihre Gesundheit.

*

Während ein Pfleger Mona durch das Labyrinth des Krankenhauses begleitete, um diverse Tests durchzuführen, saß Doktor Van Orst in seinem riesigen Sessel und nannte Paul und Camille eine erste Diagnose:

»TIA, oder transitorische ischämische Attacke.«

Das bedeutete, dass die Organe vorübergehend nicht mehr durchblutet würden und man die Ursache für diese Störung finden müsse. Monas Fall, fuhr er fort, verunsichere ihn: Einerseits war die für ein Kind ihres Alters ausgesprochen seltene Attacke sehr heftig, weil beide Augen betroffen gewesen waren und sie über eine Stunde gedauert hatte; andererseits hatte sie ihre Bewegungs- und Sprachfähigkeit nicht beeinträchtigt. Das MRT würde sicher mehr ergeben. Verlegen setzte er hinzu, sie müssten sich auf das Schlimmste gefasst machen.

Mona wurde auf einer Liege in eine schreckliche Maschine geschoben und musste alles brav über sich ergehen lassen, ohne sich zu rühren. Sie sollte die Kette mit ihrem Anhänger abnehmen, doch sie weigerte sich. Die winzige Muschel, die an einer dünnen Schnur hing, hatte ihrer Großmutter gehört und ihr immer Glück gebracht. Sie hatte sie getragen, seit sie denken konnte, und ihr geliebter »Dadé« trug die gleiche Kette. Die beiden Glücksbringer verbanden sie miteinander, dachte sie, und sie wollte nicht, dass man sie ihrem Großvater entriss. Weil der Anhänger kein Metall enthielt, durfte sie ihn behalten. Dann wurde ihr Kopf, ihr von halblangen, kupferbraunen Haaren gerahmter Kopf mit dem runden Mund, in einen riesigen Kasten geschoben, in dem es hämmerte und brummte. Während der Viertelstunde, die diese Qual dauerte, sang Mona pausenlos vor sich hin, um diesem Sarg ein bisschen Zuversicht und Leben einzuflößen. Sie sang ein harmloses Wiegenlied, das ihre Mutter früher beim Zubettgehen für sie gesummt hatte; sie sang einen Popsong, der im Supermarkt rauf und runter gespielt wurde und dessen Clip ihr mit all den Jungs und ihren gestylten Haaren gut gefiel; sie sang Ohrwürmer aus der Werbung, sang Une souris verte und dachte an den Tag, an dem sie den Text gebrüllt hatte, um ihren Vater rasend zu machen, allerdings ohne Erfolg.

Die Ergebnisse des MRT waren da. Doktor Van Orst ließ Camille und Paul kommen und beeilte sich, sie zu beruhigen. Es sei nichts zu sehen. Absolut gar nichts. Auf den Schnittbildern zeige die Anatomie des Gehirns nur homogene Bereiche. Kein Tumor also. Die ganze Nacht lang wurden weitere, endlose Untersuchungen durchgeführt: von der Pupillenweite über das Blut, die Knochen, die Muskeln und Arterien bis ins Innenohr. Wieder nichts. Die Ruhe nach dem Sturm. Ja, hatte es überhaupt einen Sturm gegeben?

Das Ziffernblatt einer verwaisten Uhr im Gang des Hôtel-Dieu zeigte fünf Uhr morgens. Camille kam das Bild aus einem Kinderlied in den Kopf: Als hätte ein böser Geist Mona beide Augen gestohlen und wieder zurückgegeben, sagte sie erschöpft zu ihrem Mann. Als hätte er das falsche Opfer gewählt, ergänzte Paul. Oder als hätte er ein Warnsignal abgegeben, bevor er seine Tat wiederholte, dachten beide im Stillen.

*

Im Hof ertönte das Klingeln. Die Kinder strömten unter den Rufen von Madame Hadji in den zweiten Stock. Die Lehrerin informierte ihre Viertklässler, dass sie Mona erst nach den Herbstferien wiedersehen würden. Sie war gerade von Camille in Kenntnis gesetzt worden, die ihr am Telefon alles oder fast alles von der grauenvollen Nacht erzählt hatte, ohne den Ernst der Lage zu verschweigen. Die Kinder stellten natürlich Fragen. Hatte Mona eine Woche vor den anderen in den Urlaub fahren dürfen?

»Sie ist ein bisschen krank«, begnügte sich die Lehrerin zu erklären, war mit ihrer Wortwahl aber nicht ganz zufrieden.

»Ein bisschen krank, so ein Glück!«, rief Diego in der dritten Reihe, und seine schrille Stimme fand die Zustimmung der ganzen Klasse.

Die meisten Kinder stellen sich unter Krankheit eine Zauberformel für die Freiheit vor …

Hinten in der Klasse, direkt neben den kreidebestäubten Vorhängen, malten sich Lili und Jade, Monas beste Freundinnen, die jeden Winkel ihres Zimmers kannten, alles in noch bunteren Farben aus. Ach, wie gern wären sie bei ihr gewesen! »Ein bisschen krank«? Mag sein, dachte Lili, aber sie würde bestimmt den ganzen Tag im Laden ihres Vaters verbringen. Und Jade, die zu Monas freiem Platz schaute, stellte sich vor, wie sie sich in dem kleinen Laden mit all den Dingen, die nach Amerika rochen – ein Sammelsurium aus schillernden, lustigen und geheimnisvollen Dingen, von dem Kinder nur träumen konnten – mit Mona alle möglichen Spiele und Geschichten ausdenken würde.

Aber Lili protestierte: »Nein, nein, wenn sie krank ist, passt ihr Opa Dadé auf sie auf, und vor dem habe ich Angst.«

Jade lachte spöttisch, um zu zeigen, dass sie nichts erschrecken konnte, schon gar nicht Monas Großvater. Dabei musste sie es insgeheim doch zugeben: Vor dem riesigen, dünnen alten Mann mit dem narbigen Gesicht, der mit einer tiefen, raspelnden Stimme sprach, fühlte auch sie sich ein bisschen kleinlaut.

*

»Hallo, Papa, ich bin’s.«

Es war Mittag, als Camille noch immer taub vom Schreck beschloss, ihren Vater anzurufen. Henry Vuillemin weigerte sich, sein Handy zu benutzen, unerschütterlich antwortete er auf dem Festnetz mit einem trockenen »Ja«, das keinen Raum für Begeisterung ließ. Seine Tochter hasste dieses Ritual und trauerte jedes Mal den Zeiten nach, in denen ihre Mutter noch gelebt und den Hörer abgenommen hatte. Sie spulte die einzelnen Silben ab.

»Papa, ich muss es dir sagen: Gestern Abend ist etwas Furchtbares passiert.«

Sie erzählte alles der Reihe nach und versuchte dabei, ihre Gefühle im Griff zu behalten.

»Und jetzt?«, fragte Henry mit einem Anflug von Ungeduld.

Aber Camille hatte ihre Tränen beim Erzählen so unterdrückt, dass jetzt ein riesiger, erstickender Schluchzer aus ihrem Körper aufstieg: Sie war unfähig zu antworten.

»Liebes, und jetzt?«, drängte ihr Vater.

Das unerwartete »Liebes« gab ihr neue Energie, sie holte tief Luft und sagte: »Nichts! Vorerst nichts. Ich glaube, es geht ihr gut.«

Henry stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die fröhlichen Motive aus prallen Früchten, Laubwerk und Frühlingsblumen an seiner Stuckdecke.

»Kann ich sie kurz sprechen?«

Doch Mona hatte sich unter einer rotbraunen Decke in einen Wohnzimmersessel gekauert und war eingeschlafen.

Ovid beschreibt die Phase, in der das Bewusstsein in Schlaf fällt, als Betreten einer riesigen Grotte, wo, träge hingegossen, der Schlafgott haust. Er stellte sich eine Höhle vor, die für Phöbus, den Herrn über die Sonne, unzugänglich ist. Mona hatte von ihrem Großvater gelernt, dass es für den Menschen keine kostbarere Reise gab als diesen regelmäßigen Eintritt in die geheimnisvollen, veränderlichen Regionen des Schlafs. Sie durften also nicht vernachlässigt werden.

*

In den darauffolgenden Tagen leitete Doktor Van Orst im Hôtel-Dieu weitere Untersuchungen in die Wege. Sie ergaben noch immer keine besondere Auffälligkeit. Die Erklärung für Monas dreiundsechzigminütige Blindheit stand weiterhin aus, sodass der Arzt inzwischen von der Bezeichnung »Transitorische ischämische Attacke« absah, die eine ihm nicht mehr zwingend erscheinende Durchblutungsstörung des Gehirns voraussetzte. In Ermangelung einer eindeutigen Diagnose schlug er Mona – und ihren Eltern – vor, Hypnose einzusetzen. Diese Idee verschlug Paul die Sprache. Mona wusste nicht genau, was sie sich darunter vorzustellen hatte. Sie verband Hypnose mit dem »Kopftuchspiel«, von dem sie in der Schule gehört hatte, und entsprechend groß war ihre Angst. Um diese Annahme zu korrigieren, erklärte Van Orst, dass er Mona, indem er sie in den Zustand der Hypnose versetze, vorübergehend beeinflussen könne. Auf diese Weise könne er sie in die Vergangenheit zurückführen, zu dem entscheidenden Moment, an dem ihr Sehvermögen versagt hatte, sie das Ereignis nacherleben lassen und die Ursache herausfinden. Paul rebellierte: Das komme gar nicht infrage, es sei viel zu gefährlich. Van Orst bestand nicht weiter darauf. Damit ein Kind erfolgreich hypnotisiert werden kann, muss es Vertrauen haben. Zwischen Monas Vorurteilen und der verärgerten Überreaktion ihres Vaters bewegten sie sich auf heiklem Terrain. Camille hatte gar nichts dazu gesagt.

Van Orst verschrieb seiner jungen Patientin also eine herkömmliche medizinische Behandlung: wöchentliche Blut- und Arterienkontrollen, Termine beim Augenarzt und eine zehntägige Rekonvaleszenz. Er forderte Paul und Camille auf, »alle subjektiven Symptome« zu überwachen, was bedeutete, dass sie die Empfindungen ihrer Tochter sehr aufmerksam beobachten mussten. Außerdem schlug er ihnen vor, einen Kinderpsychiater aufzusuchen: »Eher als Alltagsprophylaxe, nicht als Therapeutik im engeren Sinn«, versicherte er ihnen.

Paul und Camille hörten ihm mit halbem Ohr zu, denn im Grunde beschäftigte sie nur eine Frage: Würde Mona irgendwann das Augenlicht verlieren? Seltsamerweise erwähnte Doktor Van Orst zu keinem Zeitpunkt das Risiko eines endgültigen Rückfalls, und trotz ihrer Panik vermieden die Eltern das Thema lieber. Sie sagten sich, dass es keinen Grund gab, das Thema zu erörtern, wenn der Arzt es nicht erwähnte.

Henry Vuillemin sprach seine Tochter direkt darauf an. Er war niemand, der Fragen aus dem Weg ging, auch wenn sie Abgründe eröffneten. Während er sich normalerweise mit dem Telefonieren zurückhielt, es sei denn, er wollte Mona sprechen, rief er in dieser Woche ständig an. Mit warmer, leidenschaftlicher Stimme setzte er Camille zu: Würde seine geliebte Enkelin, der Schatz seines Lebens, nun erblinden oder nicht? Henry bat nachdrücklich darum, Mona sehen zu dürfen, und Camille konnte es ihm nicht abschlagen. Sie bot ihm an, sie am kommenden Sonntag zu besuchen, genau eine Woche nach dem Blindheitsanfall. Paul, der schon ahnte, worauf das Gespräch hinauslief, fand sich damit ab und leerte quasi in einem Zug ein Glas herben Burgunder. Neben seinem Schwiegervater fühlte er sich immer ganz jämmerlich. Mona hingegen platzte vor Ungeduld, als sie von der Neuigkeit erfuhr.

Sie liebte diesen Großvater mit all seinen Lebensjahren und seiner Kraft. Und sie beobachtete gern, wie er die Menschen, die ihm begegneten, mit seiner wuchtigen Gestalt und seiner schweren, fast quadratischen Brille bezauberte. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich geborgen. Und beflügelt. Henry hatte immer Wert darauf gelegt, mit ihr wie mit einer Erwachsenen zu sprechen. Sie mochte diese Augenhöhe und genoss es. Nie hatte sie Angst, etwas nicht zu verstehen, und sie lachte über Irrtümer und Missverständnisse. Zugleich achtete sie auf ihre Sprache und fasste das Ganze als Spiel auf.

Henry wollte kein gelehrtes Äffchen aus ihr machen. Er wollte keine Karikatur eines Großvaters sein, der nur auf die Fehler der Jugend lauert, um sie in einem belehrenden Tonfall zu korrigieren. Das war nicht seine Art. Er hatte noch nie Hausaufgaben mit ihr gemacht und mischte sich auch in die Zeugnisse nicht ein. Außerdem mochte er Monas Ausdrucksweise. Ihre Redewendungen faszinierten ihn regelrecht. Warum, konnte er nicht genau sagen. Von jeher fesselte ihn etwas an ihrer Kindersprache. War es etwas, das sie beitrug, oder etwas, das ihr fehlte? Dieser Eindruck war umso irritierender, als er ihm schon lange vertraut war: Monas »Wortmusik« hatte seit jeher etwas Geheimnisvolles gehabt, das Henry durch stetiges Hinhören unbedingt ergründen wollte.

Camille äußerte manchmal ihre Verwunderung angesichts dieser Beziehung – »zu schön, um wahr zu sein«, sagte sie dann, musste aber einräumen, dass sie wunderbar funktionierte und ihre Tochter glücklich machte. Henry, der gern Victor Hugos Die Kunst, Großvater zu sein zitierte, erinnerte jeden ungefragt an eines der Grundprinzipien der Wissensvermittlung: Es sei unerheblich, ob man auf Anhieb alles verstehe, nicht jedes neue Wort müsse schon ein blühender Baum im riesigen Obstgarten des Geistes sein. Solange Furchen gegraben und Samen gepflanzt worden seien, würden die Knospen sich eines Tages schon öffnen.

Die Furchen und Samen entsprachen bei Henry Vuillemin einem wohlbedachten Redefluss, der jeden vom ersten Wort an in seinen Bann zog und nicht mehr losließ: einfache Worte, die aber so in die Tiefe gingen, dass sie einen ganz euphorisch stimmten; die Diktion eines Märchenerzählers, die sich häufig beschleunigte, bevor sie wieder langsamer wurde und einen milden Klang annahm. Geballte Welterfahrung und gelassene Belesenheit.

Die Beziehung zu diesem »Dadé« war also eine besondere. Zwischen Großeltern und Enkeln knüpft sich manchmal ein wunderbares Band, weil die Älteren, der Lebenskurve folgend, zu den Gefühlen ihrer frühen Jugend zurückkehren und besser als alle anderen den Frühling des Lebens kennen.

Henry Vuillemin lebte in einer schönen Wohnung in der Avenue Ledru-Rollin, direkt über dem Bistrot du peintre, einem schmalen, holzgetäfelten Lokal im Art-Nouveau-Stil. Er war dort ein morgendlicher Stammkunde: Kaffee und Croissant, die überregionale Presse, ab und zu ein kleines Schwätzchen mit einem Kunden oder den pausierenden Kellnern. Er fühlte sich einer alten Welt zugehörig und ging seinem Ritual folgend langsam bis zur Place de la Bastille, schaute sich die Möbel in den Schaufenstern der Rue du Faubourg Saint-Antoine an, lief auf dem Grünstreifen des Boulevard Richard-Lenoir weiter bis zur Place de la République und bog auf den Boulevard Voltaire ein. Am späten Nachmittag blätterte er zu Hause in seinen Kunstbüchern, die sich bis zur Decke stapelten. Henry, der einen Zentimeter größer war als Charles de Gaulle, griff ohne Tritthocker oder Leiter nach den unzugänglichsten Büchern, erstaunlicherweise oft genau die, die ihn am meisten interessierten. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis, wobei man unterscheiden musste zwischen seinem Hang, über das zu sprechen, was er wusste, und seinen persönlichen Erinnerungen, die er nur ungern preisgab. Mona kannte die Regeln. Das Einzige, worüber nicht gesprochen werden durfte, war ihre Großmutter Colette Vuillemin, die ihn sieben Jahre zuvor zum Witwer gemacht hatte. Auch Camille kannte ihren Vater und brachte nie die Sprache darauf. Wenn Mona ab und zu einen Vorstoß wagte, antwortete ihr nur drückendes Schweigen. Über Colette wurde nicht gesprochen. Nie. Die einzige Ausnahme in Bezug auf dieses Tabu: Henry trug immer noch den Talisman in Erinnerung an seine verstorbene Frau um den Hals. Es war eine kleine, auf eine Schnur aufgezogene Nadelschnecke, die er im Sommer 1963 mit ihr an der Côte d’Azur gefunden hatte – er wusste nicht mehr, an welchem Tag genau, erinnerte sich aber noch an die brütende Hitze und daran, dass er Colette verschiedene Versprechen gegeben hatte.

Wir haben alle unsere Art zu schwören. Henry Vuillemin schwor auf »das Schöne auf der Welt«. Dieser Ausdruck überraschte Mona; wenn sie ihn hörte, zuckte sie jedes Mal mit den Schultern und lachte verlegen: das Schöne auf der Welt – das war irgendwie alles und nichts. Außerdem fragte sie sich, ob er, ihr vergötterter Großvater, auch dazugehörte. Offenbar war Henry ein attraktiver junger Mann gewesen, und er wirkte noch immer imposant und charmant. Sein abgezehrtes, spitzes Greisengesicht strahlte nach wie vor eine ansteckende Energie und Intelligenz aus. Obwohl seine rechte Gesichtshälfte von einer Narbe entstellt wurde, die unter dem Wangenknochen begann und sich bis zur Braue zog. Die Verletzung musste sehr schmerzhaft gewesen sein. Sie hatte nicht nur die Haut weggerissen, sondern auch ein Stück der Hornhaut. Es war eine Erinnerung an den Krieg, an einen Tag des Grauens: Am 17. September 1982 hatte ihm ein Falangist bei einer Fotoreportage für die französische Nachrichtenagentur AFP im Libanon einen Messerhieb verpasst, um ihn zurückzuhalten. Er war gerade auf dem Weg in das Flüchtlingslager Schatila gewesen. Gerüchten zufolge wurden dort Massaker verübt und palästinensische Flüchtlinge willkürlich und ohne Prozess getötet, als Vergeltungsmaßnahme für die Ermordung des Präsidenten Bachir Gemayel. Henry hatte den Ereignissen nachgehen wollen. Bis man ihm mit unmenschlicher Gewalt den Weg versperrte. Er hatte viel Blut verloren, und sein rechtes Auge. Dieses Gebrechen, zusätzlich zu seiner Größe und einer im Laufe der Jahre immer ausgeprägteren Magerkeit, verlieh ihm ein fast übernatürliches Aussehen. Der attraktive Reporter, der Eddie Constantine ähnlich gesehen hatte, war zu einer Legende geworden.

*

Am Sonntag war Mona in guter Verfassung. Ihre Eltern hatten sich bemüht, die bleierne Novemberstimmung ein bisschen aufzuheitern. Jade und Lili waren vorbeigekommen und hatten ein Stück von Toy Story mit ihr geschaut. Sie hatten ausgelassen gekichert, Jade vor allem. Sie war ein hübsches, lustiges Mädchen, mit wachem Blick, gebräunter Haut und perfekt gekämmten Haaren. Ihre große Leidenschaft war es, Grimassen zu schneiden. Sie hatte die Gabe, ihr ebenmäßiges Gesicht in eine bewegliche Bühne zu verwandeln, über die lauter ungewöhnliche, drollige Ausdrücke glitten wie außer Rand und Band geratene Schauspieler. Mona war begeistert, sie konnte nie genug davon bekommen.

Um neunzehn Uhr klingelte es. Paul verzog den Mund und runzelte die Stirn. Camille drückte auf einen Knopf: »Papa?«

Er war es, pünktlich auf die Minute. Paul begrüßte ihn und brachte Jade und Lili nach Hause, während Mona, ihre Mutter und ihr Großvater zu dritt in der Wohnung blieben. Nach dem ersten Sturm der Begeisterung erzählte Mona, die ihren beiden Freundinnen bewusst nichts von ihrem Unfall gesagt hatte, ihm ausführlich von dem dreiundsechzigminütigen Horrortrip und ihrem Leidensweg durch das Krankenhaus. Camille unterbrach sie nicht.

Während er Mona reden und reden hörte, musterte Henry mit klinischem Blick das Umfeld, in dem sie lebte. Selbst ihr Zimmer schien ihm trotz des ganzen Glitzerkrams ausnehmend trist: die Tapete mit den Blumengirlanden, die mit Pailletten besetzten Herzen oder Tiere, die rosafarbenen oder braunen Plüschfiguren, die grotesken Poster mit den gerade mal der Pubertät entronnenen Stars, der Plastikschmuck, die Möbel, die wie bei Prinzessinnen aus Zeichentrickfilmen aussahen. All die grellen Farben nahmen ihm die Luft zum Atmen. In dem geschmacklosen Sammelsurium gab es nur zwei Dinge, die sich dem Schönen annäherten. Eine robuste amerikanische Industrielampe aus den Fünfzigern, die Paul irgendwo aufgetrieben, Mona geschenkt und an ihrem kleinen Sekretär befestigt hatte. Und dann, über dem Bett, ein gerahmtes Ausstellungsplakat, das ein Gemälde zeigte. Ein Schillern unendlich zarter, kühler Farben. Auf dem Bild war eine nackte Frau im Profil zu sehen, die leicht nach vorn gebeugt auf einem mit einem weißen Stoff überzogenen Hocker saß und den linken Knöchel auf das rechte Knie gelegt hatte. In einer Ecke war zu lesen: »Musée d’Orsay Paris – Georges Seurat (1859–1891)«.

Trotz dieser beiden Lichtblicke kam Henry zu der deprimierenden Erkenntnis, dass die Kindheit aus Bequemlichkeit oft von unwichtigen und hässlichen Dingen geprägt wurde. Und Mona stellte keine Ausnahme dar. Die Schönheit, die wahre künstlerische Schönheit, führte in ihrem Alltag nur ein Schattendasein. Das war völlig normal, sagte sich Henry: Die Verfeinerung des Geschmacks, die Ausbildung der Sensibilität würden sich später einstellen. Mit dem Unterschied – und dieser Gedanke schnürte ihm erneut die Luft ab –, dass Mona fast erblindet wäre und ihr, falls ihr Augenlicht in den kommenden Tagen, Wochen oder Monaten endgültig erlöschen würde, nur die Erinnerung an geschmacklose, banale Dinge bleiben würde. Ein ganzes Leben in Dunkelheit, bei dem sie mental mit dem Schlimmsten, was die Welt hervorbrachte, zurechtkommen musste, ohne Ausflucht in Form von Erinnerungen? Das war unmöglich. Und erschreckend.

Zum großen Ärger seiner Tochter blieb Henry das gesamte Abendessen über schweigsam und unnahbar. Als Mona endlich ins Bett ging, drehte Camille mit entschlossener Miene Coltranes Saxofon lauter, das aus einer alten, verchromten Jukebox drang, um die Stimmen zu übertönen und sicherzugehen, dass ihre Tochter nichts hörte.

»Papa. Mona scheint …«, sie zögerte mit ihrer Wortwahl, »das Vorgefallene bisher … gut zu verdauen. Aber der Arzt rät zu einer Betreuung durch einen Kinderpsychiater. Das wird vielleicht komisch für sie sein, und ich dachte, vielleicht könntest du sie zu dem Termin begleiten, damit sie beruhigt ist …«

»Ein Psychiater? Soll der wirklich verhindern, dass sie blind wird?«

»Das ist hier doch nicht die Frage, Papa!«

»Ich glaube doch, zumindest solange ihr euch nicht traut, sie dem Arzt zu stellen! Doktor wie noch mal?«

»Er heißt Van Orst und ist sehr kompetent«, warf Paul ungeschickt ein, um sich an der Unterhaltung zu beteiligen.

»Papa, warte«, fuhr Camille fort. »Paul und ich werden alles unternehmen, damit Mona nichts geschieht, hörst du? Aber sie ist zehn, und wir können nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Der Arzt hält ihr psychisches Gleichgewicht für einen wichtigen Faktor. Ich frage dich also nur, ob du dich darum kümmern willst, weil ich weiß, dass Mona dir vertraut. Hörst du, Papa?«

Henry hörte sogar sehr gut. Doch in diesem Moment blitzte in seinem Kopf eine Idee auf, die er tunlichst für sich behielt. Er würde seine Enkelin nicht zu einem Kinderpsychiater bringen, nein … Stattdessen würde er ihr eine andere Behandlung verordnen, eine Behandlung, die vermochte, alles Hässliche in ihrer Kindheit zu kompensieren.

Mona, die ihm ganz und gar vertraute, die ihm mehr Glauben schenkte als jedem anderen Erwachsenen, sollte ihn dorthin begleiten, wo das Schönste und Menschlichste auf der Welt aufbewahrt wird: ins Museum. Falls das Unglück wollte, dass Mona eines Tages für immer erblindete, könnte sie so wenigstens auf einen Vorrat an visuellen Schätzen in den Tiefen ihres Geistes zurückgreifen. Ihr Großvater malte sich sein Vorhaben aus: Nach einem unveränderlichen Ritual würde er Mona einmal in der Woche bei der Hand nehmen und mit ihr ein Kunstwerk betrachten – ein einziges –, zunächst schweigend, damit seine Enkelin die grenzenlose Lust der Farben und Formen empfinden konnte, dann erklärend, damit sie das Stadium des visuellen Entzückens hinter sich lassen und verstehen konnte, wie die Künstler uns vom Leben erzählen und wie sie es beleuchten.

Für seine kleine Mona schwebte ihm etwas Besseres vor als die Medizin. Zuerst würden sie in den Louvre gehen, dann ins Musée d’Orsay und schließlich ins Centre Pompidou. An diesen Orten würde er Heilung für seine Enkelin finden. Henry zählte nicht zu jenen Kunstliebhabern, die sich, den Dingen des Alltags enthoben, mit dem Schimmer einer von Raffael gemalten Gestalt oder mit dem Rhythmus einer von Degas’ Kohlestiften skizzierten Linie zufriedengaben. Er mochte die aufwühlende Kraft der Werke. Manchmal sagte er: »Die Kunst ist Pyrotechnik oder Wind.« Und er mochte es, dass ein Gemälde, eine Skulptur, eine Fotografie, als Ganzes oder in einem Detail, den Sinn des Lebens anfachen konnten.

Während Camille ihn um seine Hilfe bat, stürmten Hunderte von Bildern auf Henry ein: die Felsenlandschaft im Hintergrund der Mona Lisa, der gemeißelte Affe auf der Rückseite von Michelangelos Sterbendem Sklaven, der erschrockene Gesichtsausdruck des blond gelockten Kindes in der rechten Bildhälfte des Schwurs der Horatier; die seltsam gelatineartigen Lenden von Goyas Schafskopf; und dann die Erdklumpen in Pflügen im Nivernais von Rosa Bonheur; die Signatur in Form eines Schmetterlings, die Whistler im Porträt seiner Mutter verwendet; die wackelige Chorkapelle von van Goghs Kirche; die Farben eines Kandinsky; die Brüche eines Picasso oder Soulages’ Schwarz jenseits jedes Schwarz. Lauter Zeichen, die an ihn appellierten, die gesehen, gehört, verstanden und geliebt werden wollten. Wie ein Gegenfeuer zu der Asche, die Monas Augen bedrohte.

»Abgemacht«, sagte Henry mit strahlendem Lächeln, »ich nehme Mona jeden Mittwochnachmittag. Ab jetzt bin ich der Einzige, der sich um ihre psychologische Behandlung kümmert. Das wird unser gemeinsames Projekt sein, einverstanden?«

»Findest du denn jemand Gutes, Papa? Fragst du deine alten Freunde um Rat?«

»Wenn ihr grundsätzlich einverstanden seid, kümmere ich mich darum. Unter der Bedingung, dass ihr nicht ständig nachfragt und euch einmischt.«

»Aber du suchst nicht wahllos irgendeinen Kinderpsychiater, ja? Du hörst dich schon um?«

»Vertraust du mir, Liebes?«

»Ja«, bekräftigte Paul energisch, um bei Camille alle Zweifel auszuräumen. »Mona bewundert und respektiert dich, und sie liebt dich wie sonst niemanden. Natürlich vertrauen wir dir.«

Camille hatte den entschlossenen Worten ihres Mannes nichts hinzuzufügen. Henry spürte, wie sein gesundes Auge feucht wurde. Coltranes Saxofon ließ die Wände beben. Mona schlief in ihrem Zimmer, behütet von Georges Seurat.

I

LOUVRE

1 – Sandro Botticelli

Lerne zu empfangen

Mona mochte die große Glaspyramide. Sie war begeistert, wie unverfroren sie zwischen den steinernen Gebäudeflügeln des Louvre aufragte, von der luftigen Form, von ihrer Durchlässigkeit und davon, wie sie die kalte Novembersonne reflektierte. Ihr Großvater sagte nicht viel. Sie sah dennoch genau, dass er bester Laune war, denn er drückte ihre Hand in seiner mit der unverbrüchlichen Zärtlichkeit glücklicher Menschen und schlenkerte mit den Armen. Seine Fröhlichkeit war stumm, aber strahlte etwas Kindliches aus.

»Wie schön diese Pyramide ist, Dadé! Wie ein großer Hut aus China«, sagte Mona und schlängelte sich durch die Menschentrauben auf dem Vorplatz.

Henry sah sie lächelnd an und verzog den Mund in scherzhafter Skepsis. Er sah so komisch aus, dass Mona lachen musste. Sie betraten die Glaskonstruktion, gingen durch die Sicherheitskontrolle, nahmen eine Rolltreppe, standen in einer Halle, die einer beliebigen Bahnhofs- oder Flughafenhalle glich, und bogen dann in den Denon-Flügel ab. Das aufgeregte Treiben um sie herum war erdrückend. Erdrückend, weil die meisten Besucher eines bedeutenden Museums nicht wissen, was sie vorhaben; sie sorgen für eine allgemeine Unschlüssigkeit, für die stagnierende, zögerliche und leicht verstörende Atmosphäre, die so typisch ist für Orte, die ihrem eigenen Erfolg zum Opfer fallen.

Mitten in dem Stimmengewirr ging Henry mit seinen langen, mageren Beinen in die Hocke, um Mona beim Sprechen in die Augen sehen zu können. Das machte er immer, wenn er ihr etwas Wichtiges zu sagen hatte. Seine raspelnde, klare und tiefe Stimme erhob sich über den allgemeinen Lärm. Als wollte sie das leere Gerede und das ermüdende Raunen verstummen lassen.

»Mona, wir gehen jede Woche ins Museum und schauen uns ein Kunstwerk an – eines, nicht mehr. Die Leute um uns herum würden am liebsten alles auf einmal verschlingen, sie wissen gar nicht, wo ihnen der Kopf steht. Wir wollen vernünftiger sein. Wir schauen uns nur ein einziges Werk an, erst ein paar Minuten lang, ohne etwas zu sagen, und dann unterhalten wir uns.«

»Ach wirklich? Ich dachte, wir gehen zum Arzt.« Sie wollte »Kinderpsychiater« sagen, war sich aber nicht mehr ganz sicher, ob dies das richtige Wort war.

»Möchtest du danach gern noch zum Psychiater gehen? Ist dir das wichtig?«

»Als hätte ich Lust drauf! Pfff!«

»Dann hör mir gut zu, mein Schatz. Das brauchst du auch nicht, wenn du dir aufmerksam ansiehst, was wir uns hier anschauen.«

»Wirklich? Ist es schlimm, wenn wir dem Kinder…«, sie stolperte wieder über das Wort und entschied sich für die einfachere Variante, »dem Arzt absagen?«

»Nein, das ist nicht schlimm. Das schwör ich dir bei allem Schönen auf der Welt.«

*

Nachdem sie durch ein Labyrinth von Treppen gelaufen waren, standen Henry und Mona in einem kleinen Saal, durch den die meisten hindurchliefen, ohne sich Zeit für einen längeren Blick auf das Werk zu nehmen, das dort hing. Henry ließ die Hand seiner Enkelin los und sagte liebevoll: »Und jetzt, schau nur, Mona. Lass dir alle Zeit, die du brauchst, um dir das Bild anzusehen. Es wirklich anzusehen.«

Mona platzierte sich ein bisschen verschüchtert vor dem stark beschädigten Gemälde, von dem ganze Stücke fehlten und das an mehreren Stellen tiefe Risse aufwies, ein Gemälde, das auf den ersten Blick an eine fremde, ferne Vergangenheit denken ließ. Henry betrachtete es ebenfalls, aber er musterte vor allem seine Enkelin, spürte ihre Verwirrung, ihre Ratlosigkeit. Sie runzelte die Stirn und unterdrückte ein verlegenes Lachen. Er wusste, dass eine Zehnjährige, so aufgeweckt, neugierig, sensibel und schlau sie auch sein mochte, vor einem Meisterwerk der Renaissance nicht in Begeisterung ausbrechen konnte. Er wusste, dass es entgegen einer weitverbreiteten Annahme Zeit brauchte, um die Kunst in ihrer Tiefe zu erfassen, dass es eine aufwendige Übung war, kein schnelles Entzücken. Er wusste auch, dass Mona mitmachen würde, weil er es war, und dass sie trotz ihrer Verwirrung aufmerksam Formen, Farben und Materialien betrachten würde.

Die Bildaufteilung war denkbar einfach. Ganz links konnte man einen Brunnen erahnen, vor dem sich, wie auf einem Fries, vier junge Frauen mit langen, lockigen Haaren aufreihten, die einander erstaunlich ähnlich sahen. Sie hielten sich am Arm, als bildeten sie eine verschlungene Menschengirlande, die durch ihre unterschiedlichen Kleider rhythmisiert wurde: Die erste Frau war in Grün und Zartlila gekleidet, die zweite ganz in Weiß, die dritte in Rosa und die vierte trug ein ins Orange gehendes Gelb. Diese bunte Prozession schien sich nach vorn zu bewegen. Gegenüber davon stand, auf der rechten Seite des Bildes und vor neutralem Hintergrund, eine fünfte junge Frau, die ausnehmend schön war und einen herrlichen Anhänger sowie ein purpurrotes Kleid trug. Auch sie schien einen Schritt nach vorn machen zu wollen, als wollte sie der Prozession entgegengehen. Sie hielt den anderen Frauen ein Wäschestück hin, auf dem eine der Figuren – die rosa gekleidete Frau – vorsichtig etwas ablegte. Nur was? Es war unmöglich festzustellen. Der Gegenstand war nicht mehr zu erkennen. Außerdem war im Vordergrund ein kleiner, blonder Junge im Profil zu sehen, der verschmitzt lächelte. Die Kulisse war äußerst schlicht gestaltet: Das einzige Pendant zu dem Brunnen linker Hand war eine abgeschnittene, stark verblasste Säule, die auf der rechten Bildseite die Szene begrenzte.

Mona gab sich alle Mühe. Doch nach sechs Minuten wurde es ihr zu viel. Sechs Minuten vor einem abblätternden Bild stellten eine ungewohnte, anstrengende Übung dar. So frech, wie nur sie es sich erlauben konnte, wandte sie sich an ihren Großvater: »Dadé, dein Gemälde ist aber ganz schön heruntergekommen! Daneben wirkt dein Gesicht wie neu …«

Henry betrachtete das Kunstwerk und all die Narben, die sich darüberzogen. Wieder ging er neben seiner Enkelin in die Hocke.

»Besser, du hörst mir erst mal zu, anstatt so einen Unsinn zu reden. Ein Gemälde, sagst du! Falsch! Es handelt sich hier nicht um ein Gemälde, sondern um ein Fresko. Weißt du, was ein Fresko ist?«

»Ich glaube, ja … aber ich hab es vergessen!«

»Ein Fresko ist eine Malerei, die direkt auf die Wand aufgetragen wird und sehr empfindlich ist, denn wenn die Wand bröckelt – und Wände bröckeln viel im Laufe der Zeit –, dann bröckeln auch die Farben.«

»Warum hat der Maler genau auf diese Wand gemalt? Weil wir im Louvre sind?«

»Nein, gar nicht. Es stimmt schon, dass ein Künstler Lust haben könnte, ein Fresko im Louvre zu malen, weil es das größte Museum der Welt ist, sozusagen wie eine zweite Haut. Aber der Louvre war früher noch kein Museum, Mona. Erst seit ungefähr zweihundert Jahren. Vorher war er ein Schloss für die Könige und ihren Hofstaat. Der Künstler hat dieses Fresko um 1485 gemalt. Nicht auf die Wände des Louvre, sondern in einer Villa in Florenz.«

»Florenz?« Mona spielte gedankenverloren mit dem Anhänger an ihrem Hals. »Das erinnert mich an den Vornamen einer früheren Verlobten von dir, vor Oma, oder?«

»Ach, weißt du, daran erinnere ich mich nicht mehr so genau. Schon möglich! Florenz ist eine Stadt in Italien, in der Toskana, genauer gesagt. Der Entstehungsort der sogenannten Renaissance. Im 15. Jahrhundert – die Italiener sagen Quattrocento – hat Florenz eine unglaubliche Blütezeit erlebt. Damals hatte die Stadt ungefähr hunderttausend Einwohner und war durch den Handel und die Banken zu Reichtum gekommen. Und, siehst du, religiöse Orden, hohe politische Würdenträger und sogar einfache, aber gesellschaftlich gut gestellte Bürger, wollten ihren Reichtum nutzen und ihr Prestige unter Beweis stellen, indem sie das zeitgenössische Kunstschaffen unterstützten. Man nennt sie auch Mäzene. Maler, Bildhauer und Architekten haben von ihrem Vertrauen und ihrem Geld profitiert, um Gemälde, Statuen oder wunderschöne Gebäude zu schaffen.«

»Bestimmt aus Gold …«

»Nicht unbedingt. Im Mittelalter gab es tatsächlich herrliche Gemälde, die über und über mit Blattgold überzogen waren. Das erhöhte ihren Wert und symbolisierte außerdem das göttliche Licht! Aber während der Renaissance verzichtete die Malerei immer mehr auf die auffällige Wirkung von Gold und versuchte, die Wirklichkeit besser wiederzugeben, die Landschaften, die Einzigartigkeit der Gesichter, die Tiere, die Bewegungen aller Lebewesen, des Meeres oder des Himmels.«

»Sie mochten also die Natur?«

»Ganz genau: Man beginnt, die Natur zu schätzen. Aber weißt du, wenn von der Natur die Rede ist, geht es nicht nur um das, was auf der Erde wächst.«

»Ach, und worum noch?«

»Es geht auch abstrakter um die menschliche Natur. Die menschliche Natur ist das, was wir in unserem Inneren sind, mit unseren Licht- und Schattenseiten, unseren Stärken und Schwächen, Hoffnungen und Ängsten. Und genau diese menschliche Natur will der Künstler besser machen.«

»Wie denn?«

»Wenn du deinen Garten bestellst, tust du der Natur etwas Gutes. Du hilfst ihr aufzublühen. Dieses Fresko versucht, der menschlichen Natur etwas Gutes zu tun, indem es ihr etwas sehr Einfaches, aber Wichtiges verrät, das du dir für immer merken solltest.«

Doch Mona, die ihren Großvater provozieren wollte, hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen, als wollte sie weder hören noch sehen, was er ihr zu sagen hatte. Nach ein paar Sekunden blinzelte sie vorsichtig mit einem Auge, um seine Reaktion zu testen. Er lächelte gelassen. Also hörte sie mit ihrem Spielchen auf und nahm ihre ganze Aufmerksamkeit zusammen. Denn sie spürte, dass ihr Großvater nach den langen Minuten, die sie miteinander geschwiegen, geschaut und geredet hatten, nach der kleinen Reise durch das beschädigte Bild, endlich eines jener Geheimnisse mit ihr teilen würde, die man für immer im Herzen bewahrt.

Henry forderte sie auf, sich den verblassten Bereich anzuschauen, in dem sich der Gegenstand zu befinden schien, den die junge Frau rechts im Bild entgegennahm. Mona tat es.

»Die Prozession der vier Frauen auf der linken Seite setzt sich aus Venus und den drei Grazien zusammen. Das sind großzügige Gottheiten. Sie überreichen dem jungen Mädchen ein Geschenk – was genau, wissen wir nicht, weil hier die Farbe abgeblättert ist. Die drei Grazien sind das, was man Allegorien nennt, Mona. Es gibt sie nicht im wirklichen Leben, du wirst ihnen nie begegnen, aber sie verkörpern kostbare Werte. Angeblich stellen sie die drei Etappen dar, die uns zu geselligen und gastfreundlichen Wesen machen, zu wirklich menschlichen Menschen. Und dieses Fresko zeigt, wie grundlegend diese drei Etappen sind. Es will sie in uns verankern.«

»Drei Etappen? Und welche sind das?«

»Die erste besteht im Gebenkönnen, die dritte im Zurückgebenkönnen. Und zwischen den beiden gibt es noch eine, ohne die gar nichts möglich wäre, die wie ein Grundpfeiler der menschlichen Natur ist.«

»Welche denn?«

»Guck, was macht das Mädchen auf der rechten Seite noch mal?«

»Das hast du schon gesagt: Sie hat das Glück, ein Geschenk zu bekommen.«

»Genau, Mona. Sie bekommt ein Geschenk. Und das ist ganz zentral. Das Empfangenkönnen. Dieses Fresko sagt uns, dass wir lernen müssen, etwas zu empfangen, dass die menschliche Natur, damit sie große und schöne Dinge vollbringen kann, bereit für dieses Empfangen sein muss: Die menschliche Natur muss das Wohlwollen der Mitmenschen empfangen können, ihren Wunsch, uns eine Freude zu machen, aber auch das, was sie noch nicht hat und noch nicht ist. Wer etwas empfangen hat, kann es immer noch zurückgeben, aber um zurückzugeben, also um aufs Neue schenken zu können, muss man erst fähig gewesen sein zu empfangen. Verstehst du?«

»Ganz schön kompliziert, deine Geschichte. Aber ja, ich glaube, ich verstehe.«

»Ich bin mir sicher, dass du das verstehst! Und diese schönen Frauen, die so geschmeidig und anmutig gezeichnet sind, mit einer ununterbrochenen Linie, die keinen Zweifel zulässt, sollen die Bedeutung dieser Kontinuität zum Ausdruck bringen, dieser Kette, die die Menschen miteinander verbindet und ihre Natur besser machen soll: geben, empfangen und zurückgeben; geben, empfangen und zurückgeben; geben, empfangen und zurückgeben …«

Mona wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie wollte vor allem ihren Großvater nicht enttäuschen. Sie hatte bereits ein bisschen Humor in ihr Gespräch gebracht und schwieg jetzt, um nicht etwas zu erwidern, was vielleicht zu naiv gewesen wäre. Sie wusste genau, dass er sie in dieses riesige Museum mitnahm und mit ihr sprach, damit sie ein Stück weit erwachsener wurde. Doch vorerst fühlte sie sich nur hin- und hergerissen. Dieser Appell zum Größerwerden, dieser Entdeckungsrausch einer neuen Welt übte auf sie eine ungeheure Anziehungskraft aus, zumal er von Henry ausging, den sie über alles liebte. Trotzdem hatte sie tief in ihrer Seele schon die schreckliche Vorahnung, dass man das, was man zurückgibt, nie mehr wiedersieht. Und diese schmerzliche, wenn auch ferne Trauer um eine für immer verflossene Kindheit schnürte ihr die Kehle zu.

»Brechen wir auf, Dadé? Los geht’s!«

»Ja, Mona, los geht’s!«

Henry nahm ihre Hand wieder in seine, und sie verließen den Louvre langsam, ohne ein Wort zu sagen. Draußen wurde es allmählich dunkel. Henry spürte die Verstörung seiner Enkelin. Aber er weigerte sich nun einmal, die Menschen zu schonen, um mit ihnen nichts als harmonische, erfüllte Momente zu teilen. Er wusste sehr gut, dass das Leben sich nur lohnte, wenn man auch seine Härten akzeptierte, und dass diese mit der Zeit ein kostbares, fruchtbares Material abgaben, eine nützliche Substanz, die es erst lebenswert machte.

Einem Privileg der Kindheit entsprechend, hielt Monas Verwirrung nicht lange an: Bald schon lief sie munter neben ihm her und summte vor sich hin. Henry unterbrach sie nie in diesen Momenten, die ihn zutiefst rührten. Als sie sich ihrer Wohnung näherten, hielt Mona plötzlich inne, weil ihr die gemeinsame Lüge wieder einfiel, die sie sich ausgedacht hatten, um die Sitzungen beim Kinderpsychiater zu umgehen. Sie lachte über den Streich, den sie ihren Eltern spielten, wandte sich ihrem Großvater zu und strahlte ihn aus ihren großen, blauen Augen an.

»Dadé, was soll ich denn sagen, wenn Papa und Mama mich nach dem Namen des Doktors fragen?«

»Sag ihnen, er heißt Doktor Botticelli.«

2 – Leonardo da Vinci

Lächle das Leben an

Die Herbstferien waren schnell vergangen, und Mona kehrte wieder in die Schule zurück. Camille traf mit ihr früh unter der tristen Pausenhofüberdachung ein, die Schutz vor dem ungemütlichen Novemberregen bot. Sie überließ ihre Tochter Madame Hadji und berichtete der Lehrerin schnell von Monas Rekonvaleszenz und ihrer medizinischen Betreuung, die unter anderem aus einem wöchentlichen Besuch beim Kinderpsychiater bestand. Sie beharrte darauf: Natürlich sollte sie ein Auge auf Mona haben, ihr aber im Vergleich zu ihren Klassenkameraden auch keine übertriebene Aufmerksamkeit schenken.

Mona lebte sich rasch wieder ein und holte klaglos die Grammatikübungen zum Akkusativobjekt und das Mathekapitel über die Dreiecksarten nach. Wie Jade und Lili lauerte sie auf die Meldungen von Diego in der ersten Reihe, der jede Gelegenheit nutzte, die Lehrerin mit seiner durchdringenden Stimme aus dem Konzept zu bringen. Die drei Freundinnen hatten einen Heidenspaß daran. Wenn Madame Hadji fragte, wer der Architekt des Eiffelturms sei, antwortete Diego wie aus der Pistole geschossen und ohne die Hand zu heben: »Disneyland Paris.«

Die Lehrerin, die bei seinen Sprüchen die Augen verdrehte, wusste nie genau, ob es sich um eine schlechte Antwort oder einen guten Witz handelte. Er im Grunde auch nicht.

Mona, Jade und Lili fühlten sich während der Pausen deutlich unwohler, zumindest wenn das Wetter schlecht war und sie wie die Sardinen in der Büchse unter der Überdachung stehen mussten, anstatt zu spielen. Die Wahrscheinlichkeit war umso größer, auf Guillaume zu treffen, einen blöden Angeber aus der Parallelklasse im gegenüberliegenden Gebäude. Er hatte lange blonde Locken, einen scheinbar sanften Blick und einen verkniffenen Mund. Guillaume hatte eine Klasse wiederholt und wirkte zwischen den anderen merkwürdig groß. Wie ein Gymnasiast, der bei den Kleinen geblieben war, eine Anomalie im Ökosystem des Pausenhofs. Die anderen hatten Angst vor ihm, weil er manchmal brutal war. Er konnte plötzlich wegen einer Kleinigkeit hochgehen und aggressiv werden.

Mona fürchtete sich vor ihm, aber sie fand, dass er toll aussah. Als sie an diesem Mittwoch am Schultor auf ihren Großvater wartete, beobachtete sie ihn von Weitem. Er hockte da und schlug mit der flachen Hand auf den Boden. Wollte er Ameisen zerquetschen? Gab es überhaupt welche mitten im November in einer Schule in Paris? Plötzlich riss er den Kopf hoch wie eine Raubkatze und sah Mona in die Augen. Dass er denken könne, sie habe ihn ausspionieren wollen, versetzte sie in Panik, sie rang nach Luft und krallte mechanisch die Finger um ihren Anhänger. Guillaumes Gesicht schien zwischen mehreren Ausdrücken zu schwanken. Er sprang auf und kam mit großen Schritten auf sie zu. Mona spürte, wie ein Arm nach ihr griff. Ihr Großvater war da. »Hallo, mein Schatz!«

Ihr fiel ein Stein vom Herzen.

*

Sie betraten den Louvre wieder über die gläserne Pyramide, und Mona betrachtete, während sie auf der Rolltreppe ins Innere des Museums vordrang, die schweren Novemberwolken und die auf die Scheiben prasselnden Tropfen. Ohne genau zu wissen, warum, dachte sie an einen riesigen Wasserfall, den sie durchqueren musste, um in die verborgenen, beunruhigenden Tiefen einer Höhle zu gelangen.

»Erinnerst du dich, was wir das letzte Mal gesehen haben, Mona?«

»Doktor Botticelli«, antwortete sie lachend.

»Genau, Venus und die drei Grazien von Botticelli. Und heute schauen wir uns eine Frau an, die deinen Vornamen trägt. Weißt du, wen ich meine?«

»Na klar, Dadé«, sagte sie mit der verdrossenen Miene von Kindern, die finden, dass man sie nicht mehr wie Kinder behandeln sollte. »Komm schon, wir sprechen doch sonst auch wie Erwachsene! Die Mona Lisa!«

Hand in Hand liefen sie bis zu dem berühmten Saal, auf den so viele orientierungslose Touristen zustrebten. Alle waren auf der Suche nach einer Ergriffenheit, die sie oft nicht fanden, weil ihnen der passende Schlüssel zum Verständnis fehlte. Henry hatte viel darüber nachgedacht. Er wusste, dass die Erwartungen vor diesem weltberühmten, millionenfach abgebildeten Gemälde immer übertrieben waren und die Enttäuschung dementsprechend groß. Warum, fragte man sich unter dem Eindruck der Ernüchterung, handelt es sich hier um das bekannteste, begehrteste und am meisten bewunderte Werk der Menschheitsgeschichte? Was macht ausgerechnet mich so unempfänglich dafür? Und schon fiel das Soufflé in sich zusammen. Als begeisterter Kunstliebhaber wusste Henry alles über die Mona Lisa und ihre wechselvolle Geschichte. Er wusste, dass sie von Francesco del Giocondo, einem reichen Florentiner Stoffhändler, 1503 bei Leonardo da Vinci in Auftrag gegeben worden war, dass Leonardo jedoch das Porträt seiner Gattin, Lisa Gherardini – daher der Spitzname »Madonna Lisa« und seine Abkürzung »Mona Lisa« – nie geliefert hatte, weil er es für unvollendet hielt. Henry wusste, dass das Gemälde seinem Urheber nach Frankreich gefolgt war, als er von König Franz I. eingeladen wurde, seinen Lebensabend im Schloss Clos Lucé zu verbringen. Er wusste, dass die Mona Lisa lange nicht mehr (oder weniger) als die anderen Werke da Vincis geschätzt worden war und erst 1911 ihre legendäre Bedeutung gewann: Damals hängte Vincenzo Peruggia, ein im Louvre beschäftigter Glaser, nachdem er sich über Nacht im Museum hatte einschließen lassen, die knapp achtzig mal dreiundfünfzig Zentimeter große Pappelholztafel ab, schmuggelte sie unter seinen Kleidern nach Hause und brachte sie später nach Italien.

Henry hatte, nicht ohne eine gewisse Verärgerung, die abwegigsten Hypothesen zu dem Bildnis studiert: Es sei ein Scheingesicht, hinter dem die abscheuliche Medusa lauere, oder ein Mann, vielleicht sogar da Vinci selbst, in Frauenkleidern … Außerdem hieß es, das hinter einer dicken, kugelsicheren Scheibe gezeigte Gemälde sei bloß eine Attrappe, eine schlichte Kopie des Originals, welches im Museumsdepot aufbewahrt werde. Man musste sich von dieser Hysterie distanzieren, und Henry wollte, dass Mona sich Zeit nahm, Leonardos Wunderwerk anzuschauen, ohne an etwas anderes zu denken als an das, was sie vor Augen hatte.

Es zeigte eine sitzende Frau im Dreiviertelprofil, deren linker Arm auf der Lehne eines Sessels ruhte (von dem sonst nichts zu sehen war). Die rechte Hand lag auf dem linken Handgelenk und verlieh dem Körper eine fast unmerkliche Drehung, die ihn lebendig wirken und nicht nur dem Raum, sondern auch der Zeit einzuschreiben schien. Die Dargestellte trug ein besticktes dunkles Kleid, das mit der hellen Haut ihres Gesichts und Dekolletés kontrastierte. Ein feiner Schleier bedeckte den Kopf, von dem sich das mittig gescheitelte Haar bis zur Brust lockte. In dem vollen Gesicht rahmten feste Wangen, eine hohe Stirn und ein kleines Kinn eine gerade Nase, braune, nach links auf den Betrachter gerichtete Augen sowie einen schmalen Mund, der ein feines Lächeln andeutete. Die Augenbrauen waren gezupft.

Im Rücken des Modells befand sich das Gemäuer einer Loggia, hinter der sich, scheinbar in weiter Ferne, eine Landschaft mit fantastischen Elementen erstreckte. Auf der linken Bildseite schlängelte sich ein Weg durch eine Ebene, die unvermittelt in Felsen überging. Daran schloss sich ein See an, der am Horizont von schroffen, stark zerklüfteten Bergen gesäumt wurde. Auch auf der rechten Bildseite waren Berge zu sehen, Felsen, Land und Wasser, außerdem ein Bauwerk, das ein Pendant zu dem gewundenen Weg links bildete. Es handelte sich um eine fünfbogige Brücke, die über einen Fluss führte.

Mona hatte Glück: Weil sie so klein und zierlich war, traute sich in der drängelnden Menge keiner, sie zur Seite zu schieben. Die Versunkenheit, die sie kerzengerade vor dem Kunstwerk stehen und ihre wachen Augen darüber wandern ließ, fesselte das Publikum genauso wie die Mona Lisa an sich. Manche Touristen fotografierten irgendwann sogar von hinten das kleine Mädchen, das vor dem Meisterwerk stand und mit ihm zu verschmelzen schien. Die Wärter fragten sich, wie ein Kind so geduldig dieses Gemälde betrachten konnte, dem die Besucher normalerweise nur einen flüchtigen Blick zuwarfen, als wollten sie sich eine Trophäe schnappen, bevor sie wieder zum Ausgang hasteten.

Obwohl es Mona leichter fiel, sich in da Vincis Gemälde zu versenken als eine Woche zuvor in das Fresko Botticellis, hatte sie auch jetzt nach gut zehn Minuten genug. Sie ging zu ihrem Großvater hinüber, der ein bisschen abseitsgestanden hatte. »Na, Mona, was hast du gesehen?«

»Du hast mir mal gesagt, dass Leonardo da Vinci den Fallschirm erfunden hat. Aber sein Himmel ist völlig leer!«

»Du hast aber sicher noch mehr entdeckt in den letzten zehn Minuten, oder?«

»Ich habe außerdem nach versteckten Flugmaschinen gesucht, die er sich doch auch ausgedacht haben soll …«

»Ja, das stimmt, Leonardo war nicht nur Maler, sondern auch Ingenieur. Die Fürsten schätzten seine Dienste, um Flüsse und Wasserstraßen kontrollieren, Gebiete ausbauen und die Städte mit Verteidigungsanlagen gegen ihre Feinde schützen zu können. Er war so neugierig und intelligent, dass er auch den menschlichen Körper genau studierte und Leichen sezierte, um seine Funktionen zu verstehen.«

»Er hat bestimmt viele Bücher gelesen.«

»Weißt du, um 1500, als Leonardo lebte, waren Bücher noch eine Seltenheit. Die Buchdruckerei war gerade erst erfunden worden. Er besaß ungefähr zweihundert Bände in seiner Bibliothek, das war schon enorm. Aber er war ein richtiger Einzelgänger und schrieb selbst: Tausende und Abertausende von Seiten über alle möglichen Themen. Letztlich hat er viel mehr geschrieben als gemalt. Wir kennen nur ungefähr zehn Gemälde von seiner Hand. Dabei ist man sich noch nicht einmal sicher, dass sie alle authentisch sind.«

»Und warum sieht man dieses da überall, Dadé? Ich erinnere mich sogar, dass Oma eine Frühstückstasse mit diesem Bild hatte. Ich wollte immer lieber, dass sie die Tasse im Schrank lässt.«

»Und warum?«

»Weil ein Frühstück doch fröhlich sein soll. Und dieses Gemälde ist … irgendwie ein bisschen traurig.«

»Ach ja? Und was ist daran so traurig?«

»Der Hintergrund … Der ist so dunkel und ganz leer.«

»Stimmt. Aber ich hab dir doch gesagt, dass es ein altes Gemälde ist. Die Farben der diesigen Landschaft im Hintergrund sind so vergilbt wie eine zerfledderte Zeitung. Einfach weil sich der Lack, der die Malschicht schützen soll, mit der Zeit abnutzt; er wird schmutzig und sieht irgendwann trist aus. Aber du kannst dir sicher sein, dass die Natur hier mit den Bergen, den verschlungenen Wegen, dem großen See und dem weiten Himmel ursprünglich in einem elektrisierenden Blau gemalt war.«

»Elektrisierend? Was redest du denn, Dadé? Damals hat man doch Kerzen benutzt!«

»Na, was du nicht sagst, Mona … Das hinderte die Künstler aber nicht daran, nach Quellen von Energie zu suchen. Und die Elektrizität ist Energie: Sie erzeugt Wärme, Licht und Bewegung. Merk dir gut, dass Leonardo in seiner Malerei nach dieser Energie suchte. Und zwar, um dich mitzureißen.«

»Mich? Das ist ja lustig. Dabei sagen die Leute doch immer, dass man vor einem Gemälde mucksmäuschenstill stehen bleiben soll!«

Henry lachte. Und sein Lachen wirkte ansteckend auf sie. Jetzt, in diesem Moment, hätte er ihr gern von dem Philosophen Alain erzählt. Alain meinte, dass alle, die sich bemühten, glücklich zu sein, einen Orden verdienten, einen staatsbürgerlichen Orden, weil ihr Streben nach Zufriedenheit auf die anderen ausstrahle – auch wenn es manchmal viel Kraft koste. So wie ein Lachen bisweilen eine Kettenreaktion nach sich zieht. Alain zufolge hat die Glückssuche nichts mit Persönlichkeitsentwicklung und individualistischen Zielsetzungen zu tun: Sie ist eine politische Tugend. Eines seiner Bücher hieß nicht umsonst Die Pflicht, glücklich zu sein. Das war wahrscheinlich zu kompliziert für Mona. Doch Leonardos Mona Lisa vermittelte diese Botschaft auf ihre Weise.

»Schau nur, diese ganze Landschaft, die dir traurig vorkommt, ist in Wirklichkeit eine Bewegung, in der die Energien des Lebens zu spüren sind wie ein allererster Pulsschlag. Trotzdem hast du absolut recht, die Landschaft hat etwas Beunruhigendes, Ungeordnetes. Gut, rechts haben wir diese Brücke, aber keinen Baum, kein Tier, kein menschliches Wesen. Die dunstige Atmosphäre des Hintergrunds, der von einem weiten graublauen Himmel beherrscht wird, hat gleichzeitig etwas Erhabenes und Trostloses. Über Jahre hat Leonardo hauchdünne Lasuren aufgetragen, also durchsichtige Malschichten, die dem Gemälde eine größere Dichte und Tiefe verliehen. Er trug sie einzeln nacheinander auf, und dieser Prozess dauerte so lange, dass er seine Werke nie vollendete. Die Schichten sorgen außerdem dafür, dass die Materie leicht zu flimmern scheint. Auf Italienisch nennt man das sfumato. Das Sfumato lässt die Dinge verschwimmen und verbindet sie gleichzeitig miteinander.«

»Ja, aber warum lächelt sie denn so? Das ist doch irgendwie komisch!«

»Es ist ja nur ein angedeutetes Lächeln. Die weite Landschaft hinter ihr ähnelt dem im Entstehen begriffenen Universum, das dem Chaos diverser Energien ausgesetzt ist – ein faszinierendes und Furcht einflößendes Chaos. Aber ihr Lächeln ist sehr treffend dargestellt, ohne Arroganz oder Herablassung. Es ist ein unendlich gelassenes, freundschaftliches Lächeln, und sie fordert dich auf, es ihr gleichzutun.«

»Dann komm, Dadé, jetzt wollen wir sie mal anlächeln!«

»Ich sehe, du hast verstanden … Leonardo da Vinci sagte über die Malerei, dass sie ein spiegelbildliches Gefühl bewirkt: Das Bild eines gähnenden Mannes lässt uns gähnen, das Bild eines aggressiven Mannes macht uns selbst aggressiv. Und das Bild einer lächelnden Frau, ein so entwaffnendes Lächeln, fordert auch uns zum Lächeln auf. Das ist die Energie, die Leonardos Malerei schaffen will: Wir sollen uns dem Leben öffnen, wir sollen das Leben anlächeln, sogar das, was wir vorerst nur schlecht einordnen können, was noch undurchsichtig und formlos ist, eine menschenleere, unstrukturierte Welt. Das ist der beste Weg, um ihr eine glückliche Ordnung zu verleihen. Dann meint dieses Glück nicht nur das Wohlergehen einer Frau aus der Renaissance, die vor einer Loggia sitzt, so aufwühlend und geheimnisvoll es auch sein mag, sondern das der ganzen Menschheit …«

Mona versuchte, ihre Mundwinkel leicht nach oben zu ziehen. Doch die Stille, die auf die Erklärungen ihres Dadés folgte, seine Großzügigkeit, auch die unbestimmte Schönheit dessen, was seine tiefe Stimme ihr anvertraut hatte, schnürten ihr die Kehle zu. Ein dünner Tränenschleier legte sich über ihre Augen und ließ auf einen Schlag die Lichter des Louvre verschwimmen.

3 – Raffael

Übe dich in Gelassenheit

Es war spät, aber Mona fand keinen Schlaf. Aus der Küche drangen Stimmen, die wild durcheinandergingen. Ein paar Sekunden nach einem vernehmlichen Klirren hörte sie die gereizte Stimme ihrer Mutter durch die Wand: »Meine Güte, Paul, so geht es wirklich nicht weiter!«

Mona schlüpfte aus ihrem Bett und lugte durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür. Camille hatte ihren Mann über dem Tisch zusammengesackt gefunden, in der rechten Hand ein Glas, um ihn herum, wie von einem Windstoß aufgewirbelt, Blätter voller Spalten und Zahlen. Sie war von dem Geräusch einer Flasche, die vom Tisch gerollt und laut auf dem Boden aufgeschlagen war, alarmiert worden. In seinem Laden konnte Paul die Flaschen wenigstens auf seinem rostigen Stahligel aufreihen, ohne dass sie herunterfielen und zu Bruch gingen.



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