Monsters of Verity (Band 1) - Dieses wilde, wilde Lied - Victoria Schwab - E-Book

Monsters of Verity (Band 1) - Dieses wilde, wilde Lied E-Book

Victoria Schwab

0,0

Beschreibung

Monsters of Verity – Dieses wilde, wilde Lied ist der Auftakt einer neuen Urban Fantasy-Reihe, in der die Grenzen zwischen Moral und Sünde verschwimmen. Auf mitreißende Weise erzählt #1-New York Times-BestsellerautorinVictoria Schwab von einer düsteren Zukunft, in der Monster aus uns Menschen entstehen und uns die eigenen Abgründe aufzeigen. Die perfekte Lektüre für Fans von Cassandra Clare und Maggie Stiefvater! In der geteilten Metropole Verity City herrscht ein erbitterter Kampf ums Überleben. Denn jede neue Gewalttat der Menschen bringt leibhaftige Monster hervor, welche nachts den Bewohnern der Stadt auflauern ... In dieser düsteren Welt treffen die Kinder der beiden verfeindeten Herrscher aufeinander: Kate, die den Drang hat, sich endlich gegenüber ihrem Vater zu beweisen. Und August, der jeden Tag damit ringt, seine wahre Identität zu verbergen – denn August ist ein Sunai, eine extrem seltene und sehr gefährliche Art von Monster. Als Kate eines Tages in einen Hinterhalt gerät, müssen die beiden gemeinsam fliehen. Doch wem kannst du noch trauen, wenn die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwinden? Monsters of Verity – Dieses wilde, wilde Lied ist der erste von zwei Bänden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 488

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für die Sonderlinge, die Verrückten und die Monster

Viele Menschen sind wie Monster, und viele Monster wissen, was sie tun müssen, um für Menschen gehalten zu werden.

– V. A. VALE

PRÄLUDIUM

KATE – In der Nacht …

In der Nacht, in der Kate Harker beschloss, die Schulkapelle in Flammen aufgehen zu lassen, war sie weder wütend noch betrunken. Sie war verzweifelt.

Die Kirche anzuzünden war das letzte Mittel. Sie hatte bereits einem Mädchen die Nase gebrochen, im Schlafsaal geraucht, bei ihrer ersten Prüfung geschummelt und drei der Nonnen wüst beschimpft. Aber egal, was sie auch anstellte, die St. Agnes Academy vergab ihr jedes Mal aufs Neue. Das war das Problem mit katholischen Schulen. Dort galt sie als jemand, der gerettet werden musste.

Aber Kate wollte nicht gerettet werden; sie musste einfach nur weg.

Es war fast Mitternacht, als ihre Schuhe das Gras unter dem Fenster des Schlafsaals berührten. Die Geisterstunde, wie man sie früher genannt hatte, jene dunkle Zeit, in der ruhelose Seelen nach der Freiheit griffen. Ruhelose Seelen und Teenager, die man in ein Internat gesperrt hatte, viel zu weit weg von ihrem Zuhause.

Sie lief über den gepflasterten Weg, der von den Schlafsälen zur Kreuzkapelle führte, über der Schulter eine Reisetasche, in der Flaschen im Rhythmus ihrer Schritte klirrten wie Sporen. Die Flaschen hatten alle hineingepasst, bis auf einen teuren Wein aus Schwester Merilees privatem Vorrat, den Kate nun in der Hand trug.

Glocken verkündeten die volle Stunde, leise und tief, doch die Schläge kamen von der Allerheiligenkapelle auf der anderen Seite des Schulgeländes. Die andere Kapelle war nie völlig ohne Aufsicht – Mutter Alice, die Direktorinnennonne oder wie auch immer man das nannte, schlief in einem Raum, der direkt danebenlag. Selbst wenn Kate sich in den Kopf gesetzt hätte, ausgerechnet dieses Gebäude niederzubrennen – sie war nicht so dumm, der Brandstiftung auch noch einen Mord hinzuzufügen. Der Preis für Gewalt war zu hoch.

Die Türen der kleineren Kapelle wurden nachts abgesperrt, doch Kate hatte ein paar Stunden vorher den Schlüssel stibitzt, während sie einen von Schwester Merilees Vorträgen über Gnade und Erbarmen über sich hatte ergehen lassen. Sie verschaffte sich Zugang und stellte ihre Tasche direkt hinter der Tür ab. Die Kapelle war so dunkel, wie Kate sie noch nie gesehen hatte; die blauen Bleiglasfenster glänzten schwarz im Mondlicht. Ein Dutzend Kirchenbänke trennten sie vom Altar und für einen Moment hatte sie fast ein schlechtes Gewissen, weil sie dieses idyllische Bauwerk in Brand setzen wollte. Aber es war nicht die einzige Kapelle der Schule – und nicht einmal die schönste –, und schließlich hatten die Nonnen von St. Agnes pausenlos darüber geredet, wie wichtig es war, Opfer zu bringen.

Im ersten Jahr ihres Exils hatte Kate zwei Internate verschlissen (bildlich gesprochen), dann noch eines im zweiten Jahr – alles in der Hoffnung, dass es dann zu Ende sein würde. Doch ihr Vater war genauso stur wie sie selbst (von irgendjemandem musste sie es ja geerbt haben) und hatte immer wieder neue Möglichkeiten ausfindig gemacht. Das vierte Internat, eine Art Jugendstrafanstalt für auffällig gewordene Teenager, hatte es fast ein Jahr mit ihr ausgehalten, dann aber doch das Handtuch geworfen. Das fünfte, eine Jungenschule, die bereit gewesen war, als Gegenleistung für eine großzügige Spende eine Ausnahme zu machen, hatte bereits nach ein paar Monaten kapituliert. Allerdings musste ihr Vater die Nummer dieser privaten Klosterschule hier bereits ins Handy gespeichert und einen Platz für sie reserviert haben, denn nach ihrem Rauswurf war Kate sofort an die St. Agnes Academy verfrachtet worden, ohne V-City auch nur fünf Minuten zu Gesicht zu bekommen.

Sechs Schulen in fünf Jahren.

Aber das war es jetzt. Es musste klappen.

Kate ging in die Hocke, öffnete den Reißverschluss der Tasche und machte sich an die Arbeit.

Nach dem Geläut der Glocken war die Nacht viel zu ruhig und in der Kapelle herrschte gespenstische Stille. Kate begann, ein Kirchenlied zu summen, während sie ihre Reisetasche auspackte: zwei Flaschen Jack Daniels und fast einen Dreiviertelliter Wodka, beides aus einem Karton beschlagnahmter Gegenstände, außerdem drei Flaschen des roten Hausweins, ein mehrere Jahrzehnte alter Whiskey aus Mutter Alices Hausbar und Schwester Merilees teurer Wein. Sie stellte den Alkohol auf die hinterste Bank und ging zu den Gebetskerzen. Neben den drei Reihen aus flachen Glasschalen stand eine Schüssel mit Streichhölzern, die altmodische Sorte mit langen hölzernen Stäbchen.

Kate, die immer noch summte, kehrte zu ihrer Hausbar auf der letzten Bank zurück und öffnete die verschiedenen Flaschen. Dann ging sie von Reihe zu Reihe und goss den Inhalt auf die Sitze, wobei sie versuchte, sich den Alkohol einzuteilen. Den Whiskey von Mutter Alice sparte sie sich für die Kanzel ganz vorn auf. Auf der Brüstung lag eine aufgeschlagene Bibel und in einem kurzen Anfall von Aberglauben bewahrte Kate das Buch vor seinem Schicksal, indem sie es durch die offene Tür nach draußen ins Gras schleuderte. Als sie sich wieder umdrehte, schlug ihr der feuchte, süßliche Geruch von Alkohol entgegen. Sie hustete und spuckte den beißenden Geschmack aus.

Am anderen Ende der Kapelle hing ein riesiges Kruzifix über dem Altar und Kate spürte selbst in der Dunkelheit den Blick der Figur auf sich, als sie die Hand mit dem Streichholz hob.

Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt, dachte sie, während sie das Streichholz am Türrahmen entzündete.

»Nimm’s nicht persönlich«, sagte sie laut, als das Streichholz abrupt zum Leben erwachte. Eine ganze Weile sah Kate zu, wie die Flamme auf ihre Finger zukroch. Und dann, kurz bevor sie ihr zu nahe kam, ließ sie das Hölzchen auf die Sitzfläche der Kirchenbank neben sich fallen. Der Alkohol fing sofort Feuer, das sich mit einem hörbaren Zischen ausbreitete und schließlich auch das Holz erfasste. Innerhalb weniger Augenblicke brannten die Kirchenbänke, dann der Boden und schließlich der Altar. Das Feuer wuchs und wuchs und wuchs, aus einer Flamme von der Größe ihres Fingernagels wurde ein Brand, der ein Eigenleben entwickelte. Kate stand wie gebannt da und sah zu, wie es tanzte und loderte und Zentimeter um Zentimeter der Kapelle eroberte, so lange, bis Hitze und Rauch sie in die kühle Nacht hinauszwangen.

Lauf weg, sagte eine Stimme in ihrem Kopf – leise, drängend, instinktiv –, als die Kapelle lichterloh brannte.

Kate widerstand dem Drang und ließ sich stattdessen in sicherer Entfernung auf eine Bank sinken, wo sie die Beine baumeln ließ und ihre Schuhe durch das Gras des Spätsommers zog.

Wenn sie die Augen zukniff, konnte sie die Lichter der am nächsten gelegenen Teilstadt sehen: Des Moines. Ein altmodischer Name, ein Relikt aus der Zeit vor dem Wiederaufbau. Es gab ein halbes Dutzend dieser Teilstädte, die am äußeren Rand von Verity lagen, doch keine hatte mehr als eine Million Einwohner, die hinter Mauern eingesperrt waren, und keine konnte der Hauptstadt das Wasser reichen. Was Absicht war. Niemand wollte die Monster auf sich aufmerksam machen. Oder Callum Harker.

Kate holte ihr Feuerzeug aus der Tasche – es war aus Silber und bereits in der ersten Woche von Mutter Alice beschlagnahmt worden – und spielte damit, um das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Als das nicht funktionierte, fischte sie eine Zigarette aus ihrer Blusentasche – noch eine Trophäe aus dem Karton mit verbotenen Gegenständen – und zündete sie an. Sie starrte auf die kleine blaue Flamme, die vor der orange glühenden Feuersbrunst tanzte.

Dann nahm sie einen Zug von der Zigarette und schloss die Augen.

Wo bist du, Kate?, fragte sie sich.

Es war ein Spiel, das sie manchmal spielte, seit sie zum ersten Mal etwas von unendlich vielen Parallelen gehört hatte. Einer Theorie, dass der Weg eines Menschen durch das Leben im Grunde genommen keine gerade Linie war, sondern ein Baum, bei dem jede Entscheidung ein anderer Ast war und ein anderes Ich entstehen ließ. Ihr gefiel die Vorstellung, dass es hundert verschiedene Kates gab, die hundert verschiedene Leben führten.

Vielleicht gab es in einem dieser Leben keine Monster.

Vielleicht war ihre Familie noch intakt.

Vielleicht hatten sie und ihre Mutter nie das Haus verlassen.

Vielleicht waren sie nie zurückkommen.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht – und selbst wenn es hundert Leben gab, hundert Kates, dann war sie nur eine von ihnen, und diese eine war genau die, die sie sein sollte. Letzten Endes war es einfacher, das zu tun, was sie tun musste, wenn sie glauben konnte, dass irgendwo anders eine andere Version von ihr eine andere Wahl treffen konnte. Ein besseres – oder wenigstens einfacheres – Leben führen konnte. Vielleicht rettete sie die anderen sogar. Ermöglichte einer anderen Kate, normal und in Sicherheit zu leben.

Wo bist du?, fragte sie sich erneut.

Ich liege auf einer Wiese und sehe mir die Sterne am Himmel an.

Die Nacht ist warm. Die Luft ist sauber.

Das Gras unter meinem Rücken fühlt sich kühl an.

Es gibt keine Monster in der Dunkelheit.

Wie schön, dachte Kate, als die Kapelle vor ihr in sich zusammenstürzte und eine Wolke aus glühenden Holzstücken nach oben stieg.

In der Ferne heulten Sirenen. Sie setzte sich auf.

Es geht los.

Innerhalb von Minuten strömten Mädchen aus den Schlafsälen. Mutter Alice kam angelaufen, nur mit einem Morgenmantel bekleidet. Ihr blasses Gesicht wurde von der immer noch lichterloh brennenden Kapelle in rotes Licht getaucht. Kate hatte das Vergnügen, ein paar äußerst unflätige Ausdrücke aus dem Mund der hoch angesehenen Nonne zu hören, bevor die Löschfahrzeuge der Feuerwehr eintrafen und die Sirenen alles übertönten.

Selbst für katholische Schulen gab es Grenzen.

Eine Stunde später saß Kate auf der Rückbank eines Streifenwagens, den die Polizei von Des Moines vorbeigeschickt hatte, die Hände vor sich gefesselt. Das Fahrzeug schoss durch die Nacht, quer über das im Dunkeln liegende Gebiet, das die nordöstliche Ecke von Verity bildete, weg von der Sicherheit der Außenbezirke, in Richtung Hauptstadt.

Kate rutschte hin und her und versuchte, es sich bequemer zu machen. Verity war so groß, dass man drei Tage brauchte, um es mit dem Auto zu durchqueren, und sie schätzte, dass es bis zur Stadt immer noch gute vier Stunden waren und eine Stunde bis zum Ödland – doch mit diesem Fahrzeug hier würde der Polizist sich auf keinen Fall dort hinwagen. Der Streifenwagen hatte so gut wie keine Panzerung, lediglich einen Rammbügel und VUV-Scheinwerfer – verstärktes Ultraviolettlicht –, die helle Streifen in die Dunkelheit schnitten.

Der Mann hielt das Steuer so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass er keine Angst zu haben brauchte, jedenfalls jetzt noch nicht – sie waren zu weit draußen. Die Außenbezirke von Verity waren verhältnismäßig sicher, denn nichts von dem, was in der Hauptstadt sein Unwesen trieb, würde sich die Mühe machen, das Ödland zu durchqueren und sie zu jagen. In der Nähe von V-City gab es genug Menschen, die man fressen konnte.

Kate drehte den Kopf zur Seite, das gesunde Ohr an den Lederbezug des Rücksitzes gelehnt, und starrte nach draußen in die Dunkelheit.

Die Straße vor ihnen war leer, die Nacht pechschwarz. Sie starrte ihr Spiegelbild im Fenster an. Es war seltsam, dass nur die auffallendsten Teile davon in dem dunklen Glas zu erkennen waren – helle Haare, kantiges Kinn, dunkle Augen –, aber nicht die Narbe an ihrem Augenwinkel, die wie eine getrocknete Träne aussah, oder die andere, die sich an ihrem Haaransatz entlang von der Schläfe bis zum Kiefer zog.

In St. Agnes war von der Kreuzkapelle inzwischen wohl nur noch ein verkohltes Gerippe übrig.

Die wachsende Gruppe von Mädchen in Schlafanzügen hatte sich beim Anblick der brennenden Kapelle bekreuzigt (Nicole Teak, der Kate vor Kurzem die Nase gebrochen hatte, lächelte süffisant, als ob Kate jetzt bekam, was sie verdiente, als ob sie nicht gewollt hätte, dass man sie erwischte) und Mutter Alice hatte ein Gebet für ihr Seelenheil gesprochen, als Kate abgeführt worden war.

Fahr zur Hölle, St. Agnes.

Der Polizist sagte etwas, aber die Worte wurden zu Fetzen, bevor sie Kate erreichten, und sie hörte nur ein dumpfes Brummen.

»Was?«, fragte sie. Sie tat so, als würde es sie nicht interessieren, und drehte den Kopf herum.

»Wir sind fast da«, murmelte er. Offenbar war er immer noch verärgert darüber, dass er sie so weit fahren musste, anstatt sie einfach über Nacht in eine Zelle zu stecken.

Sie kamen an einem Wegweiser vorbei – 375 Kilometer bis V-City. Jetzt näherten sie sich dem Ödland, dem verwüsteten Gebiet zwischen der Hauptstadt und dem Rest von Verity, das als eine Art Pufferzone diente. Ein Graben, dachte Kate, mit seinen eigenen Monstern. Es gab keine sichtbare Grenze, aber man spürte den Übergang, wie an einer Küstenlandschaft: Der Boden fiel kaum merklich ab, obwohl er flach blieb. Die letzten kleinen Städte wichen vertrockneten Feldern und die Welt war nicht nur still, sondern leer.

Nach ein paar quälend schweigsamen Kilometern – der Polizist weigerte sich, das Radio einzuschalten – wurde die Monotonie der Straße von einer Abzweigung durchbrochen. Der Streifenwagen bog abrupt ab und aus dem Asphalt unter den Rädern wurde Schotter, auf dem sie schlitternd zum Stehen kamen.

Zaghafte Vorfreude keimte in ihr auf, als der Polizist sein Umgebungslicht einschaltete, VUV-Fernlicht, das einen Bogen aus Licht um den Wagen warf. Sie waren nicht allein; am Rand der schmalen Straße stand ein schwarzer Transporter mit laufendem Motor. Sein VUV-Unterboden, das Rot der Bremsleuchten und das dumpfe Grollen des Motors waren das einzige Anzeichen dafür, dass es hier Leben gab. Der Lichtkreis des Streifenwagens traf die dunkel getönten Fenster des Transporters und blieb an den Metallgittern des Fahrzeugs hängen, die allem, was zu nah kam, einen Stromstoß von hunderttausend Volt versetzen konnten. Das war ein Wagen, der das Ödland durchqueren konnte – und alles, was dort auf ihn wartete.

Kate lächelte. Es war das gleiche Lächeln, das Nicole ihr vor der Kapelle zugeworfen hatte – süffisant, ohne Zähne zu zeigen. Kein glückliches Lächeln, aber ein Siegeslächeln. Der Polizist stand auf, öffnete die Tür und zerrte sie am Ellbogen vom Rücksitz. Er befreite sie von ihren Fesseln und murmelte etwas von Politik und Privilegien, während Kate sich die Handgelenke rieb.

»Kann ich gehen?«

Er verschränkte die Arme vor der Brust. Kate interpretierte das als Ja und machte ein paar Schritte auf den Transporter zu. Dann drehte sie sich um, ging zu dem Mann zurück und streckte die Hand aus. »Sie haben etwas, das mir gehört«, sagte sie.

Er rührte sich nicht.

Kate kniff die Augen zusammen. Sie schnippte mit den Fingern. Der Mann warf einen Blick auf den gepanzerten Transporter hinter ihr und holte schließlich das silberne Feuerzeug aus der Tasche.

Ihre Finger schlossen sich um das kühle Metall und sie wandte sich ab, obwohl sie mit ihrem gesunden Ohr das Wort Miststück aufschnappte. Kate machte sich nicht die Mühe, einen Blick zurückzuwerfen. Sie stieg in den Transporter, ließ sich auf den Ledersitz fallen und hörte, wie der Streifenwagen davonfuhr. Der Fahrer telefonierte. Ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel.

»Ja, ich habe sie. Ja, okay. Hier.« Er streckte den Arm aus und hielt ihr das Mobiltelefon hin. Kates Herz schlug schneller, als sie es ihm aus der Hand nahm und an ihr linkes Ohr hob.

»Katherine. Olivia. Harker.«

Die Stimme am andere Ende klang wie dumpfes Gewittergrollen, wie ein Erdbeben – nicht laut, aber kraftvoll. Die Art von Stimme, die Respekt oder gar Furcht einflößte, die Art von Stimme, die Kate noch immer einen Schauer über den Rücken laufen ließ, obwohl sie sie schon seit Jahren übte …

»Hallo, Vater«, sagte Kate. Sie achtete darauf, dass ihre Stimme ruhig und fest klang.

»Bist du stolz auf dich, Katherine?«

Sie starrte auf ihre Fingernägel. »Sehr.«

»Mit St. Agnes sind es jetzt sechs.«

»Hmm?« Sie tat so, als wäre sie abgelenkt.

»Sechs Schulen. In fünf Jahren.«

»Na ja, die Nonnen haben gesagt, ich könnte machen, was ich will, solange ich mich richtig darauf konzentriere. Oder waren das die Lehrer in Wild Prior? So langsam verliere ich den Überblick …«

»Es reicht.« Es war wie ein Schlag auf die Brust. »So kann das nicht weitergehen.«

»Ich weiß«, sagte sie. Sie wollte die richtige Kate sein, die Kate, die bei ihm sein wollte, die, die es verdient hatte, bei ihm zu sein. Nicht das Mädchen, das auf der Wiese lag, oder das Mädchen, das in einem Auto weinte, kurz bevor es verunglückte. Das Mädchen, das vor nichts Angst hatte. Nicht einmal vor ihm. Das süffisante Lächeln wollte ihr nicht gelingen, aber sie stellte es sich wenigstens vor. »Ich weiß«, sagte sie noch einmal. »Ich könnte mir vorstellen, dass solche Streiche nicht ganz einfach zu vertuschen sind. Und teuer werden.«

»Warum hast du dann …«

»Du weißt, warum, Dad«, unterbrach sie ihn. »Du weißt, was ich will.« Kate hörte, wie er heftig ausatmete, und lehnte den Kopf in den Nacken. Das Schiebedach des Transporters war offen, sie konnte die Sterne sehen, die den tintenschwarzen Himmel mit kleinen Pünktchen überzogen.

»Ich will nach Hause.«

AUGUST – Es begann mit …

Es begann mit einem Knall.

August las die Stelle nun schon zum fünften Mal, ohne etwas zu begreifen. Er saß in der Küche, rollte mit der einen Hand einen Apfel im Kreis umher und hielt in der anderen ein Buch über das Universum. Hinter den mit Stahlläden gesicherten Fenstern des Hauptquartiers war es Nacht geworden und er spürte, wie die Stadt durch die Wände hindurch an ihm zerrte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, wobei sich der Ärmel seines Hemds nach oben schob und die untersten der schwarzen Striche sichtbar werden ließ. Aus dem Zimmer nebenan drang die Stimme seiner Schwester zu ihm, doch das, was sie sagte, war nicht für ihn bestimmt, und aus den achtzehn Stockwerken unter ihm konnte er eine Vielzahl von Stimmen hören, den Rhythmus schwerer Schritte, das metallische Klicken einer Waffe, die geladen wurde, und die tausend anderen Geräuschfetzen, aus denen die Musik im Hauptquartier der Flynns bestand. Er zwang sich dazu, seine Aufmerksamkeit wieder auf das Buch zu lenken.

Es begann mit einem Knall.

Der Satz erinnerte ihn an ein Gedicht von T. S. Eliot mit dem Titel »Die hohlen Männer«. In dem Buch ging es um den Beginn des Lebens, in dem Gedicht um das Ende und August begann nachzudenken: über das Universum, über die Zeit, über sich selbst. Die Gedanken in seinem Kopf fielen um wie Dominosteine, einer kippte gegen den nächsten gegen den nächsten gegen den nächsten …

Augusts Kopf schoss nach oben, einen Sekundenbruchteil bevor die Küchentür aus Stahl aufgeschoben wurde und Henry hereinkam. Henry Flynn, groß und schlank, mit den Händen eines Chirurgen. Er trug den dunklen Kampfanzug, den alle Mitglieder des Flynn-Einsatzkommandos trugen, mit einem silbernen Stern am Hemd, der einmal seinem Bruder gehört hatte und davor seinem Vater und davor seinem Großonkel und so weiter. Über einen Zeitraum von fünfzig Jahren, vor dem Zusammenbruch und dem Wiederaufbau und der Gründung von Verity und vermutlich noch davor, denn im Herzen dieser Stadt hatte es immer einen Flynn gegeben.

»Hallo, Dad«, sagte August. Er versuchte, so zu klingen, als hätte er nicht die ganze Nacht auf diesen einen Moment gewartet.

»August«, erwiderte Henry, während er eine HUV – eine Taschenlampe mit hoch verdichtetem UV-Licht – auf die Arbeitsfläche der Küche legte. »Wie geht’s?«

August hörte auf, den Apfel im Kreis herumzurollen, klappte das Buch zu und zwang sich, ruhig dazusitzen, obwohl ein ruhiger Körper immer von einem unruhigen Verstand begleitet wurde. Er hatte die Vermutung, dass es etwas mit Spannung und kinetischer Energie zu tun hatte; jedenfalls war er sich sicher, dass sein Körper geradezu nach Bewegung schrie.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Henry, als er keine Antwort bekam.

August schluckte. Er war nicht fähig zu lügen. Warum fiel es ihm dann so schwer, die Wahrheit zu sagen?

»Ich kann das nicht«, stieß er hervor.

Henry warf einen Blick auf das Buch. »Astronomie?«, fragte er mit gespielter Heiterkeit. »Dann mach eine Pause.«

August sah seinen Vater an. Henry Flynn hatte gütige Augen und einen traurigen Mund, oder traurige Augen und einen gütigen Mund; sein Gesicht war nie ausdruckslos. Gesichter hatten so viele verschiedene Partien, die ein Eigenleben entwickeln konnten, und doch ergab sich daraus immer ein ganz bestimmter, auf Anhieb erkennbarer Ausdruck wie Stolz, Abscheu, Enttäuschung, Erschöpfung – August verlor schon wieder den Faden. Er versuchte, ihn festzuhalten, bevor er ihn nicht mehr zu fassen bekam. »Das Buch meine ich nicht.«

»August …«, begann Henry, denn er wusste bereits, wo das hinführen sollte. »Wir werden nicht darüber sprechen.«

»Hör mir doch einfach …«

»Das Einsatzkommando ist vom Tisch.«

Die Stahltür ging wieder auf und Emily Flynn kam mit einem Karton Lebensmittel herein, den sie auf die Arbeitsfläche stellte. Sie war nur etwas kleiner als ihr Mann, mit breiteren Schultern, dunkler Haut, kurzen, vom Kopf abstehenden Haaren und einem Holster an der Hüfte. Emily hatte den Gang einer Soldatin, aber die gleichen müden Augen und das gleiche energische Kinn wie Henry. »Nicht schon wieder«, sagte sie.

»Ich bin die ganze Zeit von Mitgliedern des FEK umgeben«, protestierte August. »Immer wenn ich irgendwohin gehe, trage ich die gleiche Kleidung wie sie. Ist es denn so eine große Sache, auch einer von ihnen zu sein?«

»Ja«, erwiderte Henry.

»Es ist zu gefährlich«, fügte Emily hinzu, während sie sich daranmachte, den Karton auszupacken. »Ist Ilsa in ihrem Zimmer? Ich dachte, wir könnten zusammen …«

Aber August gab keine Ruhe. »Es ist überall gefährlich«, unterbrach er sie. »Darum geht es doch. Unsere Leute riskieren da draußen jeden Tag ihr Leben, wenn sie gegen diese Kreaturen kämpfen, und ich sitze hier rum, lese ein Buch über Sterne und tue so, als wäre alles in Ordnung.«

Emily schüttelte den Kopf und zog ein Messer aus einem Fach unter der Arbeitsfläche. Sie begann, Gemüse zu schneiden, schuf Ordnung aus Chaos, immer jeweils eine Scheibe. »Im Hauptquartier ist es nicht gefährlich, August. Jedenfalls nicht so gefährlich wie im Moment auf der Straße.«

»Und genau deshalb sollte ich jetzt da draußen sein und helfen.«

»Du trägst deinen Teil bei«, sagte Henry. »Das ist …«

»Wovor hast du solche Angst?«, fuhr August ihn an.

Emily legte das Messer aus der Hand. »Das weißt du ganz genau.«

»Du glaubst, ich könnte verletzt werden?« Und dann, bevor sie ihm antworten konnte, sprang August auf. Mit einer blitzschnellen, fließenden Bewegung nahm er das Messer und rammte es sich in die Hand. Henry zuckte zusammen und Emily schnappte nach Luft, aber die Klinge glitt an Augusts Haut ab, als wäre er aus Stein, und bohrte sich in das Holzbrett darunter. In der Küche wurde es sehr still.

»Du benimmst dich, als wäre ich aus Glas«, sagte August, während er das Messer hinlegte. »Aber das stimmt nicht.« Er nahm ihre Hände, auf die gleiche Art, wie Henry es immer tat. »Em«, sagte er leise. »Mom. Ich bin nicht zerbrechlich. Ich bin das Gegenteil von zerbrechlich.«

»Aber unbesiegbar bist du nicht«, wandte sie ein. »Nicht …«

»Ich werde dich nicht auf die Straße lassen«, warf Henry ein. »Wenn Harkers Männer dich erwischen …«

»Du hast Leo erlaubt, das Einsatzkommando zu leiten«, widersprach August. »An jeder Ecke hängt ein Steckbrief mit seinem Gesicht, trotzdem ist er noch am Leben.«

»Das ist etwas anderes«, sagten Henry und Emily gleichzeitig.

»Inwiefern?«, fragte er nach.

Emily nahm Augusts Gesicht in beide Hände, so wie früher, als er noch ein Kind gewesen war – aber das war nicht das richtige Wort dafür. Er war nie ein Kind gewesen, denn Kinder entstehen nicht voll entwickelt an einem Tatort. »Wir wollen dich doch nur beschützen. Leo war von Anfang an bei den Einsätzen dabei. Aber das macht ihn zur Zielscheibe. Und je mehr Boden wir in der Stadt gutmachen, desto brutaler werden Harkers Männer versuchen, unsere Schwächen auszunutzen und uns unserer Stärke zu berauben.«

»Und was bin ich?«, wollte August wissen, während er einen Schritt zurücktrat. »Eure Schwäche oder eure Stärke?«

Emilys warme braune Augen wurden groß und ausdruckslos, als sie das Wort herausstieß: »Beides.«

Er hätte nicht fragen sollen, aber die Wahrheit schmerzte trotzdem.

»Warum hast du deine Meinung geändert?«, fragte Henry, während er sich die Augen rieb. »Eigentlich willst du doch gar nicht kämpfen.«

Er hatte recht, August wollte nicht kämpfen – nicht mitten in der Nacht auf der Straße und nicht hier mit seiner Familie –, aber er hatte das Gefühl, dass seine Knochen vibrierten, als gäbe es da etwas, das aus ihm herauswollte, eine Melodie in seinem Kopf, die immer lauter wurde. »Nein«, erwiderte er. »Aber ich will helfen.«

»Das tust du doch schon«, beharrte Henry. »Das Einsatzkommando kann nur die Symptome bekämpfen. Du, Ilsa und Leo, ihr bekämpft die Krankheit. So funktioniert es.«

Aber es funktioniert eben nicht!, wollte August brüllen. Der Waffenstillstand in V-City hatte nur sechs Jahre gehalten – Harker auf der einen Seite, Flynn auf der anderen – und bröckelte bereits. Jeder wusste, dass er nicht andauern würde. Jede Nacht kroch mehr Tod über den Übergang. Es gab zu viele Monster und nicht genügend gute Männer.

»Bitte«, sagte er. »Ich kann mehr tun, wenn ihr es mir erlaubt.«

»August …«, fing Henry an.

Er hob abwehrend die Hand. »Versprich mir einfach, dass du darüber nachdenken wirst.« Dann lief er aus der Küche, bevor seine Eltern gezwungen waren, ihm die Wahrheit zu sagen.

***

In Augusts Zimmer existierten Ordnung und Unordnung einträchtig nebeneinander, als eine Art gebändigtes Chaos. Der Raum war klein und fensterlos und so eng, dass er Platzangst ausgelöst hätte, wenn er nicht so vertraut gewesen wäre. Die Regale quollen über von Büchern, die inzwischen auch als gefährlich schiefe Stapel auf und neben seinem Bett verteilt waren. Einige davon lagen aufgeschlagen und mit den Seiten nach unten auf dem Laken. Manche Leute bevorzugten ein bestimmtes Genre oder Thema; August las alles, solange es keine Belletristik war – er wollte alles darüber erfahren, wie die Welt war, gewesen war, sein könnte. Als jemand, der ganz plötzlich entstanden war, wie das Ende eines Zaubertricks, fürchtete er die unsichere Art seiner Existenz und hatte Angst, dass er von einem Moment zum anderen wieder aufhörte zu sein.

Die Bücher waren nach Themen geordnet: Astronomie, Religion, Geschichte, Philosophie.

Er wurde zu Hause unterrichtet, was im Grunde bedeutete, dass er sich selbst unterrichtete. Manchmal versuchte Ilsa zu helfen, wenn ihr Verstand gerade in Spalten arbeitete anstatt in Knoten, aber sein Bruder, Leo, hatte keine Geduld für Bücher und Henry und Emily waren zu beschäftigt. Daher war August die meiste Zeit sich selbst überlassen. Und die meiste Zeit war das auch ganz in Ordnung. Oder besser gesagt, es war ganz in Ordnung gewesen. Er war sich nicht sicher, wann genau aus der Isolierung Isolation geworden war, er wusste nur, dass es passiert war.

Der einzige andere Gegenstand in seinem Zimmer außer den Möbeln und Büchern war eine Geige. Sie lag in einem offenen Kasten, der auf zwei Bücherstapeln balancierte, doch August widerstand dem Drang, sie in die Hand zu nehmen und zu spielen. Stattdessen ging er zum Bett, schob ein Buch von Platon zur Seite und ließ sich auf das zerwühlte Laken fallen.

Es war stickig im Zimmer und er schob die Ärmel seines Hemds nach oben, wobei er die vielen Hundert schwarzen Striche enthüllte, die an seinem linken Handgelenk begannen und sich an seinem Arm entlang nach oben zogen, über den Ellbogen und die Schulter, an Schlüsselbein und Rippen entlang.

An diesem Abend waren es vierhundertzwölf.

August schob sich die dunklen Haare aus der Stirn und hörte Henry und Emily Flynn, die immer noch in der Küche standen, dabei zu, wie sie sich leise miteinander unterhielten, über ihn, die Stadt und den Waffenstillstand.

Was würde geschehen, wenn er tatsächlich gebrochen wurde? Wenn. Leo sagte immer wenn.

August war noch nicht am Leben gewesen, als die Territorialkriege als Folge des Phänomens ausgebrochen waren; er hatte nur die Geschichten über das Blutvergießen gehört. Doch er konnte die Angst in Henrys Augen sehen, wenn das Thema zur Sprache kam, was inzwischen immer häufiger passierte. Leo schien sich keine Sorgen zu machen. Er behauptete, dass Henry den Territorialkrieg gewonnen hätte, dass sie den Waffenstillstand zustande gebracht hätten, dass sie es wieder tun könnten.

»Wenn es so weit kommt«, sagte Leo immer, »sind wir bereit.«

»Nein«, antwortete Flynn dann mit düsterem Gesicht, »dafür ist niemand bereit.«

Irgendwann verstummten die Stimmen in der Küche und August war mit seinen Gedanken allein. Er schloss die Augen, suchte Ruhe, doch kaum hatte die Stille eingesetzt, wurde sie auch schon gebrochen. Das Tackern von Schüssen in der Ferne hallte in seinem Schädel wider, wie immer. Das Geräusch störte jeden friedlichen Moment.

Es begann mit einem Knall.

Er rollte sich herum, holte seinen Musik-Player unter dem Kissen hervor, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und drückte die Abspieltaste. Klassische Musik erklang, laut und klar und wunderschön. Er versank in der Melodie, während Zahlen durch seinen Kopf wanderten.

Zwölf. Sechs. Vier.

Zwölf Jahre seit dem Phänomen, als die Gewalt angefangen hatte, Form anzunehmen und V-City zerfallen war.

Sechs Jahre seit dem Waffenstillstand, der sie wieder geeint hatte, doch nicht als eine Stadt, sondern als zwei.

Und vier seit dem Tag, an dem er in der Cafeteria einer Schule aufgewacht war, die gerade mit Polizeiabsperrband gesichert wurde.

»Oh Gott«, hatte eine Frau gesagt und ihn am Ellbogen berührt. »Wo kommst du denn her?« Und dann jemand anderem zugerufen: »Ich habe einen Jungen gefunden!« Sie hatte sich hingekniet und ihm ins Gesicht geschaut, und er hatte gewusst, dass sie versuchte, ihm die Sicht auf etwas zu versperren. Etwas Schreckliches. »Wie heißt du denn?«

August hatte sie verständnislos angestarrt.

»Er hat bestimmt einen Schock«, hatte ein Mann gesagt.

»Bringt ihn von hier weg«, hatte ein anderer gerufen.

Die Frau hatte seine Hände genommen und gesagt: »Mach die Augen zu.« Und in dem Moment hatte er einen Blick über ihre Schulter geworfen. Und die schwarzen Planen gesehen, die wie Striche auf dem Boden aufgereiht waren.

In Augusts Ohren endete die erste Symphonie und einen Moment später begann die zweite. Er konnte jeden Akkord, jede einzelne Note heraushören, doch wenn er sich konzentrierte, vernahm er immer noch das Murmeln seines Vaters, die Schritte seiner Mutter. Und deshalb bekam er auch mit, dass Henrys Mobiltelefon dreimal klingelte. Bekam mit, wie sein Vater das Gespräch annahm, was er sagte, als seine Stimme leiser wurde und beunruhigt klang.

»Wann? Bist du sicher? Wann wurde sie angemeldet? Nein, nein, ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. Okay. Ja, ich weiß. Ich kümmere mich darum.«

Der Anruf war zu Ende und Henry schwieg eine Weile, bevor er wieder etwas sagte, dieses Mal zu Leo. August hatte alles gehört, nur nicht, dass sein Bruder zurückgekommen war. Sie redeten über ihn.

Er setzte sich auf und zog die Kopfhörer aus seinen Ohren.

»Gib ihm, was er will«, sagte Leo mit seiner leisen, gleichmäßigen Stimme. »Du behandelst ihn wie ein Haustier und nicht wie einen Sohn, aber er ist keins von beiden. Wir sind Soldaten, Henry. Wir sind das heilige Feuer …« August verdrehte die Augen. Er freute sich über das Vertrauensvotum seines Bruders, aber auf das Pathos konnte er verzichten. »Und du nimmst ihm die Luft zum Atmen.«

August war der gleichen Meinung wie er.

Emily beteiligte sich am Gespräch. »Wir versuchen doch nur …«

»Ihn zu beschützen?«, unterbrach Leo sie missbilligend. »Wenn der Waffenstillstand zerbricht, wird er hier im Hauptquartier nicht mehr sicher sein.«

»Wir werden ihn nicht hinter die feindlichen Linien schicken.«

»Du hast eine Gelegenheit bekommen. Ich schlage lediglich vor, dass du sie nutzt …«

»Das Risiko …«

»Ist nicht sehr groß, solange er vorsichtig ist. Und der Vorteil …«

August hatte es satt, dass über ihn gesprochen wurde, als wäre er gar nicht da, als könnte er nicht hören. Er stand auf, wobei er einen Turm aus Büchern heftig zum Schwanken brachte. Doch er kam zu spät – als er die Tür öffnete, war das Gespräch bereits vorbei. Leo war schon wieder weg, aber sein Vater stand vor ihm und hatte den Arm gehoben, als wollte er gerade klopfen.

»Was ist hier los?«, fragte August.

Henry versuchte erst gar nicht, die Wahrheit zu verschweigen. »Du hattest recht«, sagte er. »Du verdienst die Chance zu helfen. Und ich glaube, wir haben eine Möglichkeit gefunden.«

August begann zu lächeln.

»Egal, was es ist«, erwiderte er. »Ich bin dabei.«

1. STROPHE

MONSTER, ICH BIN SO FREI.

1 – So hatte August …

So hatte August sich das nicht vorgestellt.

Sein Schulrucksack lag geöffnet auf dem Bett und quoll über von Büchern und Schreibheften – und die Uniform war viel zu eng. Emily behauptete, das liege am Schnitt, doch August hatte das Gefühl, als würden Hemd und Hose versuchen, ihn zu ersticken. Die Anzüge des FEK waren aus einem elastischen Material und gaben nach, wenn man sich bewegte, doch die Uniform der Colton Academy fühlte sich steif und einengend an. Die Hemdsärmel reichten ihm nur knapp bis zum Handgelenk, und jedes Mal wenn er den Ellbogen beugte, wurde der erste der schwarzen Striche auf seinem Unterarm – inzwischen waren es vierhundertachtzehn – sichtbar. August stöhnte und zupfte an dem Stoff. Dann fuhr er mit einem Kamm durch seine Haare, was seine schwarzen Locken jedoch nicht davon abhielt, ihm in die hellen Augen zu fallen. Aber jetzt konnte er wenigstens behaupten, es versucht zu haben.

August richtete sich auf und sah sich im Spiegel an, doch sein Gesicht war so völlig ohne Ausdruck, dass ihm schauderte. Bei Leo konnte man die unbewegten Gesichtszüge als Selbstsicherheit interpretieren. Bei Ilsa hatte man den Eindruck von Ruhe und Gelassenheit. Doch August sah einfach nur so aus, als hätte er sich verirrt. Er hatte Henry und Emily beobachtet und alle anderen, mit denen er zu tun hatte, angefangen bei den Kadetten des FEK bis hin zu den Sündern, hatte versucht, sich einzuprägen, wie ihr Gesicht sich veränderte, wenn sie aufgeregt, wütend oder schuldbewusst waren. Er verbrachte Stunden vor dem Spiegel und versuchte, die verschiedenen Nuancen zu beherrschen und die Gesichter nachzuahmen, während Leo ihn mit einem starren Blick aus seinen ausdruckslosen dunklen Augen beobachtete.

»Du verschwendest deine Zeit«, sagte sein Bruder immer.

Doch Leo hatte sich geirrt. Jetzt zahlte es sich aus, dass August so ausdauernd gewesen war. Er blinzelte – noch ein natürlicher Vorgang, der sich für ihn unnatürlich und gekünstelt anfühlte –, schaffte es, eine winzige, nachdenkliche Falte zwischen seinen Brauen entstehen zu lassen, und sagte den Text auf, den er geübt hatte.

»Ich heiße … Freddie Gallagher.« Vor dem F zögerte er kurz und die Worte kamen ihm nur widerwillig über die Lippen. Es war keine Lüge, nicht wirklich – es war ein geliehener Name, so wie August. Er hatte keinen eigenen. Henry hatte sich für den Namen August entschieden und jetzt entschied sich August für den Namen Freddie, und sie gehörten beide zu ihm, und doch wieder nicht. Das sagte er sich immer wieder, so lange, bis er es glaubte, denn Wahrheit war nicht das Gleiche wie Tatsachen. Wahrheit war etwas Persönliches. Er schluckte und versuchte es mit der zweiten Zeile, der Zeile, die nur für ihn gedacht war. »Ich bin kein …«

Seine Stimme versagte. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken.

Ich bin kein Monster, wollte er sagen, doch er konnte es nicht. Er hatte keine Möglichkeit gefunden, es wahr werden zu lassen.

»Du siehst gut aus«, hörte er eine Stimme von der Tür.

Augusts Blick im Spiegel wanderte ein Stück höher und er bemerkte seine Schwester, Ilsa, die am Türrahmen lehnte und den Anflug eines Lächelns im Gesicht trug. Sie war älter als August, sah aber aus wie eine Puppe, mit langen erdbeerblonden Haaren, die wie immer zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst waren, und großen blauen Augen, die fiebernd wirkten, als hätte sie nicht geschlafen (sie schlief auch so gut wie nie).

»Gut«, sagte sie, während sie sich vom Türrahmen abstieß, »aber nicht glücklich.« Ilsa betrat das Zimmer; ihre bloßen Füße umschifften mühelos die Bücherstapel, obwohl sie kein einziges Mal zu Boden sah. »Du solltest glücklich sein, kleiner Bruder. Das hast du doch gewollt, oder nicht?«

Hatte er das gewollt? August hatte sich immer im Kampfanzug des FEK gesehen und sich vorgestellt, wie er den Übergang bewachte und South City beschützte. So wie Leo. Er hatte gehört, wie die Truppe über seinen Bruder redete, als wäre er ein Gott, der die Finsternis fernhielt, allein durch die Kraft der Musik in seinem Kopf. Leo wurde gefürchtet. Und verehrt. August rückte den Kragen seines Hemds zurecht, was dazu führte, dass die Ärmel schonwieder nach oben rutschten. Er zog sie nach unten, als Ilsa ihre Arme um seine Schultern legte. Er erstarrte. Leo lehnte Körperkontakt ab und August wusste nicht so recht, was er davon halten sollte – Berührung war zu oft gleichbedeutend mit Besitzergreifung –, doch Ilsa war schon immer so gewesen und hatte keine Hemmungen, jemanden anzufassen. Er hob die Hand und legte sie auf ihren Arm.

Seine Haut war mit kurzen schwarzen Strichen gezeichnet, ihre dagegen mit Sternen. So viele wie am Himmel. Jedenfalls glaubte er das. August hatte nie mehr als eine Handvoll richtiger Sterne gesehen, in den Nächten, in denen der Strom ausgefallen war. Aber er hatte gehört, dass es Stellen gab, die von den Lichtern der Stadt nicht erhellt wurden, Stellen, an denen so viele Sterne funkelten, dass man selbst in einer mondlosen Nacht noch etwas erkennen konnte.

»Du träumst«, sagte Ilsa mit ihrer melodischen Stimme. Sie legte ihr Kinn an seine Schulter und kniff die Augen zusammen. »Was ist das da in deinen Augen?«

»Was meinst du?«

»Der Fleck da. Genau da. Ist das Angst?«

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Vielleicht«, gab er zu. Er war noch nie in einer Schule gewesen, nicht seit dem Tag, an dem er entstanden war, und seine Nerven lagen blank. Aber da war noch etwas anderes, ein sonderbares Gefühl der Aufregung angesichts der Vorstellung, dass er so tun konnte, als wäre er normal. Doch jeder Versuch, dieses Gefühl zu analysieren, ließ ihn nur noch ratloser zurück.

»Sie lassen dich frei«, sagte Ilsa. Sie drehte ihn zu sich herum und beugte sich so weit vor, dass ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Pfefferminz. Sie roch immer nach Pfefferminz. »Sei glücklich, kleiner Bruder.« Doch dann verschwand die Freude aus ihrer Stimme und ihre blauen Augen wurden dunkler; sie wechselten die Farbe von Mittagsblau zu Dämmerschwarz, ohne ein Blinzeln dazwischen. »Und sei vorsichtig.«

August schaffte es, den Anflug eines Lächelns für sie aufzusetzen. »Ich bin immer vorsichtig, Ilsa.«

Aber sie schien ihn gar nicht zu hören. Sie schüttelte den Kopf, eine langsame Bewegung von links nach rechts und wieder zurück, die nicht aufhörte. Ilsa konnte von einem Moment zum anderen in ihren Gedanken versinken, manchmal nur für ein paar Momente, manchmal für ein paar Tage.

»Schon gut«, sagte er leise, um sie zurückzubringen.

»Die Stadt ist so groß«, stieß Ilsa hervor. Ihre Stimme klang angespannt. »Sie ist voller Löcher. Fall nicht hinein.«

Ilsa hatte das Hauptquartier der Flynns seit sechs Jahren nicht mehr verlassen. Seit dem Tag des Waffenstillstands. August kannte keine Einzelheiten, jedenfalls nicht alle, doch er wusste, dass seine Schwester keinen Fuß vor die Tür setzen würde, egal, was passierte.

»Ich werde aufpassen, wo ich hintrete«, erwiderte er.

Ihre Finger krallten sich in seine Arme. Plötzlich wurden ihre Augen heller und sie war wieder da. »Aber natürlich«, meinte sie fröhlich.

Sie küsste ihn auf den Scheitel, dann duckte er sich, tauchte unter ihren Armen hindurch und ging zu seinem Bett, wo der Geigenkasten lag. Er war offen, das Instrument wartete auf ihn. August hatte solche Lust zu spielen – das Verlangen danach fühlte sich an wie ein großes Loch in seiner Brust, wie Hunger –, aber er strich nur mit den Fingern über das Holz und klappte den Deckel zu.

Er warf einen Blick auf die Uhr, als er im Dunkeln durch die Wohnung ging. 6:15 Uhr. Selbst hier, zwanzig Stockwerke über dem Erdboden, ganz oben im Hauptquartier der Flynns, wurde das erste Morgenlicht von den unzähligen Gebäuden im Osten verdeckt.

In der Küche fand er ein Essenspaket in einem schwarzen Beutel, an den eine Nachricht geheftet war:

Viel Glück für deinen ersten Tag.

Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich abgebissen habe.

Em

Als August den Beutel öffnete, stellte er fest, dass der gesamte Inhalt, angefangen beim Sandwich bis hin zum Müsliriegel, bereits halb aufgegessen war. Es war eine sehr liebevolle Geste. Emily hatte ihm nicht nur sein Mittagessen gepackt. Sie hatte ihm eine Ausrede mit eingepackt. Wenn jemand fragte, konnte er sagen, dass er bereits gegessen habe.

Lediglich ein grüner Apfel ganz unten im Beutel war nicht angebissen.

Als er den Beutel in seinen Rucksack steckte, ging das Licht in der Küche an. Henry kam herein, eine Tasse Kaffee in der Hand. Er sah immer noch müde aus. Er sah immer müde aus.

»August«, sagte er mit einem Gähnen.

»Dad. Du bist aber früh auf.«

Henry war nachts wach. Die Monster jagen nachts, also müssen wir es auch, sagte er stets, aber in letzter Zeit waren seine Nächte immer länger geworden. August versuchte sich vorzustellen, wie er gewesen sein mochte, damals, in der Zeit vor dem Phänomen – bevor die Gewalt den Corsai, den Malchai und den Sunai Platz gemacht hatte, bevor Anarchie ausgebrochen war, bevor es geschlossene Grenzen, Machtkämpfe, Chaos gegeben hatte. Bevor Henry seine Eltern, seine Brüder, seine erste Frau verloren hatte. Bevor er der Flynn geworden war, auf den die Stadt vertraute, der einzige Flynn, den sie hatte. Der Gründer des Einsatzkommandos und der einzige Mann, der bereit gewesen war, sich einem als ehrbarer Bürger getarnten Kriminellen entgegenzustellen und zu kämpfen.

August hatte Fotos gesehen, doch der Mann darauf hatte leuchtende Augen und ein warmes Lächeln gehabt. Er sah aus, als gehörte er in eine andere Welt. In ein anderes Leben.

»Dein großer Tag.« Henry gähnte wieder. »Ich wollte mich von dir verabschieden.«

Es war die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. »Du machst dir Sorgen«, stellte August fest.

»Natürlich mache ich mir Sorgen.« Henrys Finger hielten die Kaffeetasse umklammert. »Müssen wir die Regeln noch mal durchgehen?«

»Nein«, erwiderte August, doch Henry redete trotzdem weiter.

»Du gehst auf direktem Weg zur Schule. Du kommst auf direktem Weg wieder nach Hause. Wenn die Route blockiert ist, rufst du an. Wenn die Sicherheitsvorkehrungen zu streng sind, rufst du an. Wenn es Ärger gibt, selbst beim kleinsten Anzeichen davon, selbst wenn du nur ein schlechtes Gefühl hast, August …«

»… rufe ich an.«

Henry runzelte die Stirn und August richtete sich auf. »Es wird schon gut gehen.« Sie waren den Plan in der letzten Woche x-mal durchgegangen, hatten sichergestellt, dass alles in Ordnung war. August warf einen Blick auf seine Uhr. Wieder wurden die Striche auf seinem Unterarm sichtbar. Wieder zog er den Hemdsärmel nach unten. Er wusste nicht, warum er sich überhaupt die Mühe machte. »Ich gehe jetzt besser.«

Henry nickte. »Ich weiß, es ist nicht gerade das, was du gewollt hast, und ich hoffe, es ist unnötig, aber …«

Jetzt runzelte August die Stirn. »Glaubst du wirklich, dass der Waffenstillstand gebrochen wird?« Er versuchte sich vorzustellen, wie V-City früher einmal gewesen war, zwei Hälften, die Krieg führten, und ein Zentrum, in dem Blutvergießen die Normalität war. Harker in North City. Flynn in South City. Die Menschen, die für ihre Sicherheit zahlen wollten, gegen die Menschen, die bereit waren, dafür zu kämpfen. Dafür zu sterben.

Henry rieb sich die Augen. »Ich hoffe, er hält«, meinte er, »um unser aller willen.« Es war ein Ablenkungsmanöver, aber August sagte nichts weiter dazu.

»Ruh dich ein bisschen aus, Dad.«

Henry lächelte grimmig und schüttelte den Kopf. »Die Bösen haben keine Ruhe verdient«, sagte er und August wusste, dass er damit nicht sich selbst meinte.

August ging auf die Fahrstühle zu, doch dort stand bereits jemand. Das Licht der geöffneten Türen machte aus der Gestalt eine Silhouette.

»Hallo, kleiner Bruder.«

Die Stimme war tief und weich, fast hypnotisierend, und eine Sekunde später bewegte sich der Schatten und trat einen Schritt vor, sodass ein Mann daraus wurde, mit breiten Schultern und einem durchtrainierten Körper, der lediglich aus Muskeln und langen Knochen bestand. Der Kampfanzug des Einsatzkommandos saß wie angegossen und unter den aufgerollten Ärmeln waren kleine schwarze Kreuze zu sehen, die beide Unterarme bedeckten. Oberhalb eines kantigen Kinns fielen helle Haare in Augen, die so schwarz waren wie die Nacht. Die einzige Unvollkommenheit an ihm war eine kleine Narbe, die sich durch seine linke Augenbraue zog – ein Überbleibsel aus seinen ersten Jahren beim Einsatzkommando. Doch auch mit diesem Makel sah Leo Flynn eher aus wie ein Gott und nicht wie ein Monster.

August drückte unwillkürlich den Rücken durch und versuchte, die Haltung seines Bruders nachzuahmen, bevor ihm auffiel, dass so etwas nicht zu einem Schüler passte. Er ließ die Schultern wieder hängen, dieses Mal allerdings zu sehr, und dann konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie normal aussah. Die ganze Zeit über lag der Blick aus Leos schwarzen Augen auf ihm, die kein einziges Mal blinzelten. Obwohl er aus Fleisch und Blut war, ging er nicht ganz als menschlich durch.

»Der junge Sunai, auf dem Weg in die Schule.« Seine Stimme ging am Ende des Satzes nicht nach oben, es war keine Frage.

»Lass mich raten«, sagte August, der ein schiefes Grinsen zustande brachte. »Du wolltest dich auch von mir verabschieden? Mir viel Spaß wünschen?«

Leo legte den Kopf schief. Sarkasmus hatte ihm noch nie gelegen – eigentlich konnte keiner von ihnen damit umgehen –, aber August hatte sich ein bisschen was von den Jungs im Einsatzkommando abgeschaut.

»Ob du Spaß hast oder nicht, ist mir egal«, erwiderte Leo. »Aber es ist mir nicht egal, ob du dich konzentrierst oder nicht. Du bist noch nicht mal zur Tür hinaus, August, und schon hast du etwas vergessen.«

Er warf einen kleinen Gegenstand durch die Luft. August fing ihn auf und zuckte zusammen, als sich seine Finger darum schlossen. Es war ein Medaillon aus North City, mit einem großen V auf der einen Seite und einer Reihe von Zahlen auf der anderen. Da es aus Metall bestand, spürte er ein unangenehmes Prickeln auf der Haut. Reines Metall vertrieb Monster: Corsai und Malchai konnten es nicht anfassen; Sunai mochten es einfach nicht besonders (sämtliche Uniformen des FEK waren damit beschichtet, lediglich seine und Leos bestanden aus einem Stoff mit einer Metalllegierung).

»Muss ich das wirklich tragen?«, fragte er. Beim Kontakt damit wurde ihm jetzt schon schlecht.

»Wenn du als einer von ihnen durchgehen willst – ja«, sagte Leo lediglich. »Wenn du dich erwischen und abschlachten lassen willst, kannst du es auch gern hierlassen.«

August schluckte und hängte sich das Medaillon um. »Es ist eine gute Fälschung«, fuhr sein Bruder fort. »Einem Menschen würde bei einem flüchtigen Blick darauf nichts auffallen, aber lass dich nach Einbruch der Dunkelheit nicht am Übergang erwischen. Ich würde nicht ausprobieren wollen, ob es auch gegen eines von Harkers Monstern wirkt.«

Es war natürlich nicht das Metall allein, das die Monster im Zaum hielt. Es war Harkers Siegel. Sein Gesetz.

August rückte das Medaillon auf seinem Hemd zurecht und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, die zur Uniform des FEK gehörte. Doch als er den Fahrstuhl betreten wollte, stellte sich ihm Leo in den Weg. »Hast du in letzter Zeit gegessen?«

Er schluckte, doch die Worte steckten bereits in seiner Kehle. Zwischen der Unfähigkeit zu lügen und dem Zwang, die Wahrheit zu sagen, gab es einen Unterschied, aber einfach zu schweigen war ein Luxus, den er nicht hatte, wenn es um seinen Bruder ging. Wenn ein Sunai eine Frage stellte, wollte er eine Antwort. »Ich habe keinen Hunger.«

»August«, tadelte Leo. »Du hast immer Hunger.«

Er zuckte zusammen. »Ich werde später essen.«

Leo antwortete nicht. Er beobachtete ihn nur aus zusammengekniffenen schwarzen Augen, und bevor er noch etwas sagen konnte – oder August dazu zwingen konnte, noch etwas zu sagen –, drängte August sich an ihm vorbei. Zumindest versuchte er es. Er war schon halb im Fahrstuhl, als Leos Hand nach vorn schoss und sich über seine legte. Die Hand, mit der er die Geige festhielt.

»Dann brauchst du die auch nicht.«

August erstarrte. Vier Jahre lang hatte er das Hauptquartier nie ohne sein Instrument verlassen. Bei dem Gedanken daran wurde ihm schwindlig.

»Und wenn etwas passiert?«, fragte er, während Panik in ihm aufstieg.

Leo sah tatsächlich leicht amüsiert aus. »Dann wirst du dir wohl die Hände schmutzig machen müssen.« Und damit nahm er August den Geigenkasten ab und schob seinen Bruder in den Fahrstuhl. August stolperte, dann drehte er sich um. Seine Hände prickelten, als ihm bewusst wurde, dass das Instrument nicht mehr da war.

»Auf Wiedersehen, kleiner Bruder«, sagte Leo, als er den Knopf für die Lobby drückte.

»Und viel Spaß in der Schule«, fügte er hinzu, als die Türen sich schlossen.

August steckte die Hände in die Taschen, als der Fahrstuhl zwanzig Stockwerke nach unten schoss. Das Hauptquartier der Flynns bestand aus einem Hochhaus und der Einsatzzentrale des Kommandos. Sämtliche Bauten waren wie eine Festung gesichert. Ein Ungetüm aus Beton, Stahl, Stacheldraht und Plexiglas, mit unzähligen Baracken, in denen die Mitglieder des FEK untergebracht waren. Die meisten der sechzigtausend Männer und Frauen lebten in anderen Kasernen, die überall in der Stadt verteilt waren, doch die fast tausend, die in der Zentrale stationiert waren, dienten vor allem als Tarnung. Je weniger Menschen in dem Gebäude ein und aus gingen, desto mehr fiel ein Einzelner auf. Da Harker versuchte, die drei Sunai Flynns – dessen Geheimwaffen – aufzuspüren, konnte man getrost davon ausgehen, dass er die Gesichter sämtlicher Bewohner kannte. Für Leo stellte das kein großes Problem dar, schließlich war er das Gesicht des Einsatzkommandos, und auch Ilsa war weniger davon betroffen, da sie das Hauptquartier nie verließ. Doch Henry war fest entschlossen, Augusts Identität geheim zu halten.

Da nachts Ausgangssperre herrschte und die Tage früh anfingen, wimmelte es im Erdgeschoss bereits von Leuten. August mischte sich unter die Menschen, als wäre er einer von ihnen. Er ging mit ihnen zusammen durch die Lobby aus Beton, passierte die bewachten Türen und trat hinaus auf die Straße. Der Morgen empfing ihn, hell und warm und nur getrübt durch die Scheibe aus Metall, die ihm auf der Haut brannte, und das Fehlen seiner Geige.

Sonnenlicht drang zwischen den Gebäuden hindurch. August holte tief Luft und warf einen Blick zurück auf das Hauptquartier der Flynns, das hinter ihm aufragte. Vier Jahre lang hatte er das Gebäude nur selten verlassen, und wenn, dann fast immer nur nachts. Jetzt stand er hier. Draußen. Allein. Bei der letzten Zählung hatte es vierundzwanzig Millionen Menschen in der Megastadt gegeben und er war nur einer davon, nur eines von vielen Gesichtern im morgendlichen Berufsverkehr. Für einen unendlich langen, verwirrenden Moment hatte August das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen, am Ende der einen Welt und dem Anfang einer anderen, Gewimmer und ein Knall.

Seine Uhr piepste. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen und lief los.

2 – Die schwarze Limousine …

Die schwarze Limousine schnitt sich wie ein Messer durch die Stadt.

Kate sah zu, wie es Straßen und Brücken zerstückelte und den Verkehr wie Fleisch aufschlitzte, während der Wagen sich durch North City bewegte. Der Morgen draußen war laut und hell, doch durch die getönten Scheiben der Limousine sah die Szenerie aus wie ein alter Film, bei dem die Farben verblasst waren. Das Autoradio spielte klassische Musik, leise, aber beharrlich, was die Illusion von Ruhe noch verstärkte, eine Illusion, die so viele Menschen bereitwillig glaubten. Als sie den Fahrer, einen Mann mit versteinerter Miene namens Marcus, bat, den Sender zu wechseln, und er das einfach ignorierte, steckte sie sich einen der Kopfhörer ins linke Ohr und drückte die Abspieltaste. Aus ihrer Welt wurde ein schneller Beat, ein Rhythmus, eine zornige Stimme, während sie sich zurücklehnte und die Stadt an sich vorbeiziehen ließ. Von hier aus wirkte alles fast normal.

V-City war ein Ort, von dem Kate nur einen flüchtigen Eindruck besaß – Schnappschüsse, Zeitraffermomente, zwischen denen Lücken lagen, die Jahre gedauert hatten. Das erste Mal war sie zu ihrer eigenen Sicherheit weggeschickt worden, das zweite Mal war sie mitten in der Nacht fortgeschafft worden und das dritte Mal war sie um der Sünden ihrer Mutter willen verbannt worden. Doch jetzt war sie endlich wieder da, wo sie hingehörte. In der Stadt ihres Vaters. An der Seite ihres Vaters.

Und dieses Mal würde sie nicht wieder gehen.

Kate spielte mit ihrem Feuerzeug herum, während sie auf das Tablet in ihrem Schoß starrte, dessen Bildschirm einen Stadtplan von V-City zeigte. Auf den ersten Blick sah sie aus wie jede andere Megastadt – ein dicht besiedeltes Zentrum, das an den Rändern ausfranste –, doch als sie mit einem ihrer metallverstärkten Fingernägel auf den Plan tippte, erschien eine neue Ebene mit weiteren Informationen.

Eine schwarze Linie zog sich von links nach rechts durch die Grafik und zerschnitt V-City in zwei Hälften. Der Übergang. In Wirklichkeit war es keine gerade Linie, aber sie existierte und trennte die beiden Teile der Stadt voneinander. Wenn man in North City stand, war man in Callum Harkers Gebiet. Wenn man in South City stand, war man in dem von Henry Flynn. Die Lösung nach sechs chaotischen, grausamen Jahren voller Kämpfe, Sabotage, Morde und Monster war einfach. Zu einfach. Man zog eine Linie in den Sand. Bleib in deiner Hälfte. Kein Wunder, dass es nicht funktionierte.

Flynn war ein Idealist. Es war gut und schön, von Gerechtigkeit zu reden, davon, dass man für »die Sache« kämpfte, aber unterm Strich gesehen starben seine Leute. Fleisch und Knochen gegen Zähne und Klauen.

V-City brauchte keine moralischen Grundsätze. Die Stadt brauchte jemanden, der bereit war, die Kontrolle zu übernehmen. Jemanden, der bereit war, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie brauchte Harker. Kate machte sich nichts vor. Sie wusste, dass ihr Vater ein schlechter Mensch war, aber diese Stadt brauchte keinen guten.

Gut und schlecht waren schwache Wörter. Absichten oder Ideale waren Monstern egal. Es war ganz einfach. Im Süden herrschte Chaos. Im Norden Ordnung. Diese Ordnung war zwar mit Blut und Angst erkauft und bezahlt worden, aber es war immerhin Ordnung.

Kate fuhr mit dem Finger am Übergang entlang, dann über das grau gefärbte Viereck, mit dem der Krater dargestellt wurde.

Warum hatte sich ihr Vater mit der Hälfte der Stadt zufriedengegeben? Warum ließ er zu, dass Flynn sich hinter dieser Mauer versteckte? Nur weil er ein paar seltsame Monster an der Leine hatte?

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und tippte dann noch einmal auf das Tablet. Eine dritte Informationsebene wurde angezeigt.

Drei konzentrische Kreise – wie auf einer Zielscheibe – legten sich über den Stadtplan. Es war das Risikoraster, das die wachsende Zahl von Monstern und die Notwendigkeit von Sicherheitsmaßnahmen anzeigte, wenn man sich vom Stadtrand zum Zentrum bewegte. Der äußere Ring schimmerte Grün, dann kam ein gelber Bereich, und die Mitte leuchtete in grellem Rot. Tagsüber achteten die meisten Leute nicht auf die verschiedenen Zonen, doch jeder kannte die Grenzen, die Stellen, an denen das gefährliche Rot in das Wachsamkeit erfordernde Gelb wechselte und schließlich in das verhältnismäßig sichere Grün überging. Für Menschen, die unter dem Schutz ihres Vaters standen, verringerte sich das Risiko natürlich auf nahezu null … solange man innerhalb der Grenzen von North City blieb. Hinter dem Grün kam das Ödland, wo Norden und Süden keine Bedeutung mehr hatten. Hier war jeder auf sich allein gestellt.

Ging man noch weiter, erreichte man irgendwann wieder sicheren Boden, weit draußen in der Nähe der Grenzen, wo Monster immer noch selten waren und nicht viele Leute lebten. Weit draußen, wo die Menschen aus der Megastadt nicht willkommen waren, da sie die Finsternis mit sich brachten wie eine Seuche. Wo ein Mädchen eine Kapelle niederbrennen oder neben seiner Mutter auf einer Wiese liegen und die Sommersterne zählen konnte …

Irgendwo hupte es. Kate hob den Kopf und das Haus auf dem Land löste sich zwischen den Häuserfluchten auf. Sie starrte vorbei an der Trennscheibe und dem Fahrer nach vorn, zu dem silbernen Fratzengesicht auf der Motorhaube. Der Wagen war ursprünglich mit einem Engel als Kühlerfigur geliefert worden, bei dem Arme und Flügel von einem unsichtbaren Wind nach hinten gedrückt wurden. Harker hatte den Engel abgebrochen und durch das nach vorn gebeugte Scheusal ersetzt, das sich mit seinen winzigen Klauen an den Kühlergrill klammerte.

»Wir leben in einer Stadt der Monster«, hatte er gesagt, als er den Engel in den Müll geworfen hatte.

Ihr Vater hatte recht. Aber Monster – echte Monster – sahen nicht so aus wie diese dumme kleine Kühlerfigur. Echte Monster waren viel schlimmer.

3 – August reckte sein …

August reckte sein Gesicht der Sonne entgegen und genoss den Sommermorgen, während er weiterging. Sein Körper bewegte sich und sein Geist gab endlich Ruhe. Es war erstaunlich, wie einfach es war, klar zu denken, wenn er in Bewegung war, selbst ohne die Geige. Er lief über rissige Bürgersteige, an Gebäuden vorbei, deren Fenster mit Brettern vernagelt waren. Die Hälfte der Häuser bestand nur noch aus ausgebrannten Hüllen, die aufgegeben und entkernt worden waren. Noch brauchbares Material war weggeschleppt worden, um anderswo für mehr Sicherheit zu sorgen. Der Süden von V-City sah immer noch aus wie eine übel zugerichtete Leiche, doch der Wiederaufbau kam voran. Das FEK war überall, die Männer und Frauen standen auf Häuserdächern oder patrouillierten in den Straßen, während es aus den Funkgeräten an ihren Uniformen rauschte und knisterte. Bei Nacht jagten sie Monster, doch bei Tag versuchten sie zu verhindern, dass neue entstanden. Kriminalität. Das war die Ursache. Corsai, Malchai, Sunai – sie waren die Folge.

August mischte sich zwischen die zahlreich vorhandenen Passanten, während er sich nach Norden bewegte. Die Geräusche der Stadt umgaben ihn wie Musik, voller Harmonie und Dissonanz, Rhythmus und Widerspruch. Ein Ton nach dem anderen kam hinzu, so lange, bis aus der Melodie eine Kakophonie wurde, bis sich sein Staunen in Qual verwandelte und er sich dazu zwingen musste, sich auf den Weg zu konzentrieren anstatt auf das, was um ihn herum war. Der Weg selbst war einfach, vier Häuserblocks bis zur Center Avenue.

Der kürzeste Weg zum Übergang.

August wurde langsamer, als er in Sichtweite kam.

Die Sperre war gewaltig, eine dreistöckige Barrikade, die sich von Osten nach Westen durch die Innenstadt zog und mit Streifen aus reinem Metall und Überwachungskameras gesichert war. Die Mauer war das Ergebnis eines sechs Jahre andauernden Territorialkriegs, in dem jede Gewalttat, jeder Tod eines Menschen noch mehr Corsai und Malchai in die Welt gesetzt hatte. Und das alles nur, weil die Flynns die Stadt besaßen und Harker sie haben wollte.