Montagsmenschen - Milena Moser - E-Book

Montagsmenschen E-Book

Milena Moser

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Beschreibung

Als Balletttänzerin und als Yoga-Lehrerin konnte sich die 36-jährige Nevada stets auf ihren Körper verlassen. Plötzlich aber lässt er sie im Stich. Drei Schüler halten ihr dennoch die Treue und kommen immer montags zum Kurs. Als ein Mord geschieht, gesteht eine Schülerin die Tat der Polizei - allerdings ohne sie begangen zu haben, wie Nevada mit Hilfe eines Yoga-Spruchs herausfindet. Milena Mosers neuer Roman knüpft an ihre großen Erfolge an: treffend beobachtet, spannend und witzig erzählt, verwickelt die Autorin aus der Schweiz vier Menschen in ein tragikomisch-furioses Lebens- und Liebesdrama.

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Seitenzahl: 592

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Nagel & Kimche eBook

Milena Moser

Montagsmenschen

Roman

Nagel & Kimche

Für Thomas – this one, not the last one.

© 2012 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

ISBN 978-3-312-00528-4

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

www.milenamoser.com

1. Teil

Was zum Teufel tun wir hier?

Sie setzte sich auf das schmale Bett. Es war hart. Ein schwerer Metallrahmen, mit der Wand verschraubt. Darauf eine Matratze, mit Plastik überzogen, Kissen, eine breite nordische Decke. Unter dem Fenster, über die ganze Wandbreite, ein Tisch aus Beton, ein Hocker, ebenfalls aus Beton, unverrückbar. Ein gelbes Kissen lag darauf. Das Fenster vergittert. Eine blasse Sonne schien herein. Auf dem Tisch ihr Essgeschirr aus blauem Plastik. Besteck aus Plastik. Gelbe Bettwäsche, ein blauer Pyjama. Waschlappen, Handtuch, zwei Putzlappen. Sie sollte das Bett machen, hatte man ihr gesagt. Sie stand auf, nahm die Bettwäsche vom Tisch und bezog das Kissen. Dann setzte sie sich wieder hin. Der Plastiküberzug der Matratze quietschte. Sie saß auf der Pritsche, ihre Hände baumelten zwischen den Knien. An der gegenüberliegenden Wand ein Waschbecken, ein Spiegel aus Metall. Eine offene Dusche. Die Toilette immerhin hatte eine Tür. Die Wände waren aus Beton, grau gestrichen, die Betonmaserung schimmerte durch. Sie hatte in Designerhotels übernachtet, die solche Wände hatten. Sie dachte an Peter, ihren geschiedenen Mann.

«Du brauchst eine halbe Stunde», hatte er immer gesagt, «und schon hast du jeden Raum verwüstet.» Hier würde ihr das nicht passieren. Hier könnte sie es nicht einmal. Selbst wenn sie das wollte.

Sie atmete aus. In dieser Zelle war nichts. Nichts, das sie verlieren, nichts, das sie herumliegen lassen konnte. Keine Bücherstapel, keine Kleiderhaufen, keine schlecht verschlossenen Tuben, keine ungelesenen Zeitungen, keine Haarknäuel, nichts.

Man hatte ihr alles abgenommen. Jede Entscheidung, jeden Gedanken. Sie hatte einen blauen Trainingsanzug bekommen, Unterwäsche, Socken, Turnschuhe mit Klettverschluss. Eine Zahnbürste, ein Stück Seife. Die Glocke schrillte, sie stand auf. Man sagte ihr, was sie zu tun hatte. Im Wesentlichen nichts.

Sie atmete ein und richtete sich auf. Sie hob den Kopf. Hier würde sie bleiben.

So könnte es gehen, dachte sie.

So könnte sie leben.

draṣṭṛdṛśyayoḥ saṃyogo heyahetuḥ

Alles Leiden beruht auf einem Missverständnis:

das Wahrgenommene

mit dem Wahrnehmenden gleichzusetzen.

Patanjali Yoga Sutra 2.17

Nevada

Sie stand im Hund, und sie fiel auf die Schnauze.

Hinabschauender Hund. Gähnender Hund. Totgeschossener Hund.

Als Kind hatte sie einmal ein Bild gesehen, in einer Zeitschrift. Ein versehentlich getroffener Jagdhund. Er lag auf der Seite, dunkles Blut auf dem nassen Herbstlaub unter ihm wie eine Decke. Die Vorderpfoten waren angewinkelt, eng an den Körper gezogen und nach innen gekrümmt, als versuchte er zu beten.

Hier lag sie nun. Nevada, die Schneebedeckte. Auf der abgewetzten blauen Yogamatte, die ihr Zuhause war. Ihre Nase drückte gegen den weichen Kunststoff, das Blau flimmerte vor ihren Augen, sie schloss sie.

Endlich schlafen, dachte sie. Einfach liegen bleiben. Nie mehr aufstehen. Seit Wochen quälte sie diese Schwere, als hätte sich die Erdanziehungskraft vervielfacht, sie konnte kaum die Arme heben, den Kopf aufrecht halten. Jede Bewegung kostete sie Kraft, die sie nicht mehr hatte. Seit einigen Wochen wachte sie außerdem jeden Morgen auf wie der tote Jagdhund auf dem Bild: die Handgelenke nach innen geknickt, die Finger gegen die Handflächen gezogen wie von einem Gummiband im Innern der Arme. Das Band war zu kurz. Es spannte, es juckte. Manchmal zog es plötzlich an, im nächsten Moment war es überdehnt, und ihre Finger schlackerten. Der Schmerz war als solcher kaum zu erkennen, ein unterirdisches Summen, aushaltbar, aber konstant. Manchmal flammte ein Jucken auf, das sich zum Stechen steigern konnte. Elektrische Leitungen spannten sich zu den Ellbogen hinauf, den Schultern. Ein Surren, Summen, etwas wie Zahnweh, nur eben in den Händen. Sie ertappte sich immer öfter dabei, wie sie die Hände rang. Wie die Mutter Gottes, dachte sie, und dann: Wo kommt das bloß her? Betete sie nicht seit zehn Jahren vor den Altaren hinduistischer Gottheiten? Mit einer Hand umfasste sie ihr Handgelenk und presste es sanft zusammen, als ließen sich die Nervenenden zurückdämmen. Als ließe sich der Schmerz ins Innere des Körpers zurückdrängen, dorthin, wo er wohnte, dorthin, wo er schlief.

Nevada war sechsunddreißig Jahre alt und Yogalehrerin. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf und übte zwei Stunden lang für sich. Sie unterrichtete jeden Tag, manchmal zweimal. Sie aß seit zwanzig Jahren kein Fleisch mehr, sie spülte sich die Nasenlöcher mit Salzwasser aus, sie konnte die Füße im Nacken verschränken, während sie auf den Händen balancierte, sie konnte ihren großen Bauchmuskel hervortreten und rotieren lassen wie einen Quirl. Sie war so gesund, wie ein Mensch nur sein konnte. Als Kind hatte sie Ballett getanzt, sie wusste, was sie ihrem Körper abverlangen konnte. Nevada übte noch härter, noch länger. Die Handgelenke kräftigen, dachte sie und baute Chatturangha Dandasana, die Yoga-Liegestütze, ein, wo sie nur konnte.

Der Schmerz wurde stärker. Sie rieb sich die Handgelenke. Zog die Pulloverärmel bis über die Fingerspitzen. Dann kroch der Schmerz in die Schulter, und sie dachte, das sei ein gutes Zeichen. Etwas löst sich, dachte sie. Wenn sie nur nicht so müde wäre.

Sie wickelte elastische Binden um die Handgelenke. Dann konnte sie deren Druck nicht ertragen und riss sie wieder hinunter. Sie musste ihre Ringe abstreifen. Der dünne rote Faden, den sie seit ihrem letzten Meditationsretreat umgebunden trug, schien mitten in der Nacht Feuer zu fangen und sich in ihre Haut zu brennen. Sie biss ihn mit den Zähnen durch wie ein gefangenes Tier seine Fesseln. Doch ihre Fesseln lagen tiefer. Unter der Haut. Sie kam nicht an sie heran.

Danach hatte sie lange wach gelegen, die Hände zwischen den Brüsten versorgt, und sich gefragt, was es wohl für karmische Konsequenzen haben würde, dass sie den von ihrem Meditationslehrer gesegneten Faden durchgebissen hatte. Ob sie ihn anrufen, um einen neuen Faden bitten konnte? War der Schmerz bereits die Strafe? Wenn ja, wofür?

Der Faden war mit einem Wunsch verbunden gewesen, der in Erfüllung gehen sollte, wenn der Faden sich auflöst. Das hatte sie jetzt wohl verhindert. An ihren Wunsch konnte sie sich ohnehin nicht mehr erinnern. Etwas Ungefähres vermutlich, wie «Klarheit». Jetzt hatte sie nur noch einen Wunsch, und der war klar: Aufhören! Es soll aufhören!

Die Stunde am Montagabend war eine ihrer liebsten. Sie kannte die meisten ihrer Schüler schon länger. Lakshmi, der das Yogastudio am Wasser gehörte, fand, sie unterrichte zu viel.

«Du dominierst das Studio», hatte sie gesagt. «Lass doch auch mal die jüngeren Lehrerinnen ran!» Die Yogalehrerinnen, die sie selber ausbildete, wollten schließlich beschäftigt sein. Doch Nevadas Klassen waren immer voll. Ihre Schüler schätzten ihre anstrengenden und klarstrukturierten Lektionen. Sie wollten schwitzen, nicht beten. Nevada verlor keine Zeit mit dem Rezitieren unverständlicher Sanskritverse. Bei ihr gab es nur einatmen, die Arme zur Decke strecken, ausatmen, mit den Händen den Fußboden berühren.

Zwanzig Minuten bevor die Lektion begann, öffnete Nevada den Raum, rollte die Matten aus, zündete eine Kerze an. Dann setzte sie sich unter den kleinen Altar, auf dem eine Statue des Elefantengottes Ganesha neben einer Vase mit frischen Blumen stand.

Ganesha, mach die Schmerzen weg, dachte Nevada. Aufgabe des Elefantengottes war es schließlich, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Allerdings auch, sie einem vor die Füße zu legen. Es war gut möglich, dass Ganesha ihr diese Schmerzen untergejubelt hatte. Doch warum? Sollte sie aus dem Gleichtritt gebracht, gebremst werden? Worüber sollte sie nachdenken? Ganesha, ich tue alles, aber bitte nimm mir den Schmerz!

Nevada bezweifelte, dass Ganesha sich erbarmen würde. Er war hart im Nehmen, schließlich hatte ihn sein eigener Vater aus Versehen geköpft und dann in der Eile mit einem Elefantenkopf versehen, dem erst noch ein Stoßzahn fehlte. Brennende Hände konnten ihn nicht beeindrucken. Nevada öffnete die Augen und richtete sich auf. Sie saß mit gekreuzten Beinen und im Schoß gefalteten Händen. So beobachtete sie die eintreffenden Schüler. In der ersten Reihe sah sie Poppy, eine ihrer treuesten Schülerinnen, die ihre Matte immer auf denselben Platz legte, links, gleich bei der Tür. Poppy starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Als ob sie sich etwas von Nevada erhoffte. Eine Antwort? Nevada schien diese Hoffnung jedes Mal neu zu enttäuschen, und doch starrte Poppy sie zu Beginn jeder Stunde so an, unbeirrbar. Später würde sich ihr Blick verlieren. Poppy würde Nevadas Ansagen ignorieren und eine wahllose Abfolge von Asanas ausführen, die ihr eine innere Stimme zu diktieren schien.

Weiter hinten erkannte Nevada Marie, die nur unregelmäßig kam. Sie war Oberärztin im nahegelegenen Kantonsspital und arbeitete oft abends oder nachts. Marie hatte die Augen fest geschlossen, die Stirn gerunzelt, wie ein Kind, das innerlich bis zehn zählt. Marie schlief manchmal in der Endentspannung ein, auf dem Rücken liegend, den Mund leicht geöffnet, den Atem zu einem leisen Schnarchen verdickt.

Liegen. Schlafen. Nur nicht daran denken. Das Bild eines liegenden Körpers war schon zu viel. Sie war so müde. Wie konnte ein Mensch so müde sein? Sie konnte sich kaum aufrecht halten. Hatte sie geschlafen? Sie wusste es nicht mehr.

«Einatmen.» Sie hob ihre Hände über den Kopf, zog sie durch immer zähflüssigeren, schnell härtenden Beton. Als sich die Handflächen über ihrem Kopf berührten, weinte sie beinahe. Sie presste die Lippen zusammen.

«Ausatmen.» Sie beugte sich vor. Ihre Arme schlackerten. Sie führte die Gruppe durch die ersten Sonnengrüße, langsam, da war ein Neuer, ein junger Mann in modischer Turnhose, der mit Mühe den Rücken beugte, die Hände nach unten streckte, weit vom Fußboden entfernt. Immer wieder hob er den Kopf, schaute sich im Raum um, sein Blick huschte verstohlen über die Frauenkörper, die ihn umgaben. Später würde sie den Pfau vorführen, Männer reagierten auf solche Demonstrationen der Überlegenheit.

«Chatturangha Dandasana», sagte sie.

Langsam senkte sich ihr Körper in die Stütze, flach wie ein Brett. Eine Handbreit über dem Fußboden hielt sie inne, wandte den Kopf zur Klasse, die Hälfte der Schüler lag flach auf dem Bauch. Am liebsten hätte sie es ihnen gleichgetan. Diese Schwere, die sie seit Wochen begleitete, drückte sie nieder.

«Urdvha Mukho Svanasana, der hinaufschauende Hund.»

Sie streckte die Arme durch, reckte den Oberkörper nach oben, legte den Kopf in den Nacken, sie hatte noch nie einen Hund in dieser Stellung gesehen.

«Ausatmen, Adho Mukha Svanasana, der hinabschauende Hund.» Fünfzehn Hinterteile reckten sich in die Luft.

«Weiteratmen», befahl Nevada. Sie wollte aufstehen, durch den Raum gehen, ihre Hand auf den Rücken des Neuen legen, seine Stellung korrigieren. Sie sah, wie sein Blick wanderte, ihr Geist wanderte mit, und plötzlich knickten ihre Handgelenke weg. Ihr Hintern blieb einen Augenblick in der Luft hängen, als könnte er ihren Körper dort verankern. Im nächsten Augenblick lag sie flach auf der Matte. Blut füllte ihren Mund.

Ted

Da stand er nun. Mit gebeugten Beinen und gesenktem Kopf. Umringt von Frauen, die ihre Hintern in die Luft streckten. Einer schöner als der andere. Satt verpackt in Schwarz und Grau. Ein riesiger, wassermelonenroter, schwebte direkt vor ihm. Wenn er den Kopf hob, wenn er sich nach vorne reckte … Schweiß tropfte von seinem Gesicht und auf die schwarze Gummimatte. Was tat er hier? Wie zum Teufel war er hier gelandet? Er war der einzige Mann. Der Witz seines Lebens. Er war neununddreißig Jahre alt, Primarlehrer, einer von zwei Männern in einem Lehrerzimmer voller Frauen, er hatte eine Tochter, die er nicht verstand, eine Exfrau, die nichts mit ihm zu tun haben wollte, eine Mailbox voll mit Stimmen von Frauen, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Umzingelt von Frauen – bis in die Yogastunde hinein. Die Probestunde war immerhin gratis. Er hatte also nichts verloren. Und eine gute Geschichte zu erzählen. Wenigstens würde er in Zukunft mithalten können, wenn andere von ihren Yogastunden berichteten.

Und das nur, weil Tina zu spät gekommen war. Weil er zu denen gehörte, die einen Film von Anfang an sehen müssen, die nicht nach Beginn noch in den dunklen Kinosaal schleichen können. Nun war er hier, in seiner ersten Yogastunde überhaupt, und die Lehrerin lag auf der Matte und blutete. Sollte er in dieser lächerlichen Stellung verharren, den Hintern in der Luft? Seine Arme zitterten bereits. Yoga ist nichts für Weicheier, dachte er. Dann ging er in die Knie.

Tina kam fast immer zu spät. Das Wochenende begann manchmal am Donnerstag und endete am Dienstag. Aber auch darauf konnte er sich nicht verlassen. Er hätte es besser wissen müssen. Der Film würde gleich beginnen. Es gab nur ein Kino in der kleinen Stadt. Er hatte nur einen Freund.

Er hasste das. Wenn die Kleine schon im Mantel auf dem Sofa saß, ihre Tasche neben sich, und starr vor sich hin schaute. Jeder Versuch, sie noch einmal in ein Gespräch zu verwickeln, in ein Spiel zu ziehen, scheiterte an ihrem starren Blick. Er bemühte sich, nicht auf die Uhr zu schauen, er spielte mit seinem Handy, hielt es beiläufig ins Licht: keine Nachrichten. Sie rief nie an, um ihn wissen zu lassen, dass es später wurde. Es wurde immer später. Außer, wenn er darauf eingerichtet war. Dann kam sie garantiert pünktlich oder sogar zu früh. Er hörte den flachen Atem seiner Tochter und wusste, dass sie sich schämte.

Dabei hatte es so gut begonnen. Tina und Ted. Ted und Tina. Ein vielversprechender Titel. Ein filmreifes Paar. Ihre Beziehung war von Anfang an dramatisch gewesen. Intensiv. Er hätte es wissen müssen. Solche Filme endeten nie gut.

Er nahm sein Handy vom Tisch. «Ich geh schnell telefonieren.»

Emma nickte nur. Er ging in die Küche und rief Tobias an.

«Du, ich schaff es nicht.»

«Lass mich raten.»

«Nicht nötig.»

Einen Prinzessinnen-Junkie nannte ihn Tobias, einen Räf-o-philen. Sie kannten sich seit der Schule, schon damals hatte Ted einen unglücklichen Hang zu herzlosen Frauen gehabt. Tobias sagte, Ted sei ein Weichei. Tobias sagte, er solle endlich einmal durchgreifen. Tobias wusste nicht, wie es war, ein Wochenende mit Emma zu verbringen, ihrem stummen Blick ausgeliefert, ihrem herzzerreißenden Bemühen, ihm keine Umstände zu bereiten.

«Ich kann doch alleine warten», sagte sie jetzt. «Mama kommt bestimmt gleich.» Sechs Jahre und schon so alt.

«Alleine warten? Spinnst du?», rief er, zu laut. Er boxte sie in die Schulter – sie wich ihm aus. War es möglich, dass man sein eigenes Kind nicht kannte? Sie hatte dieselben grauen Augen wie Teds Mutter. Vielleicht war es das.

Tina kam eine Stunde zu spät. Sie entschuldigte sich nicht. Ihr Blick forderte ihn heraus, doch etwas zu sagen. Er wusste es besser.

«Du schuldest mir jetzt schon zwei Jahre ununterbrochenen Hütedienst», hatte sie ihm einmal vorgerechnet.

«Hütedienst? Ich bin der Vater!»

«Vater!» Sie hatte geschnaubt.

Er hatte alles richtig gemacht. Als Tina ihm den Schwangerschaftstest mit dem rosa Pluszeichen im Fenster (plus eins? plus Kind?) ins Zahnglas gesteckt hatte, hatte er sich gefreut. Er hatte Champagner geholt und in das Zahnglas gefüllt.

«Du rücksichtsloses Arschloch, meinst du, ich darf jetzt noch Alkohol trinken? Typisch», sagte sie. «Für dich geht das Leben weiter wie gehabt. Ich bin die, die sich anpassen muss. Mein Leben ist zu Ende!»

«Warum – willst du das Kind denn nicht?»

Sie hatten darüber gesprochen. «Dein Bauch gehört dir», hatte er gesagt. Das warf sie ihm heute noch vor, auch vor Emma: «Du! Du wolltest schließlich abtreiben, nicht ich!»

Die Schwangerschaft hat alles kaputtgemacht, dachte er damals. Doch Tina war schon vorher unzufrieden gewesen. Mit ihrem Leben, ihrem Job, mit ihm. Sie war es geblieben.

Als Emma zwei Jahre alt war, hatte Ted eine Reihe eindeutiger Nachrichten auf Tinas Handy entdeckt. Sie gestand eine bereits länger andauernde Affäre mit ihrem Vorgesetzten und zog aus. Er sah Emma jedes zweite Wochenende und eine qualvolle Ferienwoche im Sommer. Nach einem weiteren Jahr war Tinas neue Beziehung zerbrochen, seither sah er Emma, wenn Tina einen Babysitter brauchte. Manchmal oft, manchmal gar nicht.

«Mama, komm jetzt!» Emma hatte ihre Mutter aus der Wohnung gezerrt, und dann war er allein gewesen. Allein mit dem angefangenen Abend. Es war zu spät gewesen, um ins Kino zu gehen, zu früh, um zu Hause zu bleiben. Er hatte – keine Ahnung warum – eine Turnhose eingepackt, ein Handtuch. Er war die Straße hinuntergegangen bis zu dem Yogastudio, an dem er jeden Tag mindestens zweimal vorbeiging. Er stieß die Tür auf, ging die Treppe hoch und schrieb sich für eine Probelektion ein. Er hatte Glück, die nächste Stunde würde gleich beginnen.

Teds Arme zitterten. Sein Rücken schmerzte, seine Oberschenkel brannten. Was sollte er jetzt tun? Sein Leben war ein Witz. Seine erste Yogastunde, und dann so etwas! Die Lehrerin lag flach auf dem Gesicht und rührte sich nicht. Sollte er es ihr gleichtun? Seine Beine gaben nach. Ted ließ sich auf die Knie sinken. Die pralle Wassermelone erhob sich – grandioser Hintern, schoss ihm durch den Kopf. Warum dachte er so etwas? Andererseits, warum trug sie diese enge rote Hose, wenn sie nicht wollte, dass man ihren Hintern beachtete? Wenn sie stand, verschoben sich ihre Proportionen zu einer nahezu perfekten Sanduhr – Herrgott, halt deine Gedanken im Zaun! «Ich bin Ärztin», sagte sie. Sie schritt zwischen den gähnenden, stehenden und zusammenfallenden Hunden hindurch, kauerte sich neben die Yogalehrerin und drehte sie routiniert auf die Seite. Dann richtete sie sich auf.

«Ich glaube, sie hat sich auf die Zunge gebissen. Nichts Schlimmes. Aber ich bringe sie sicherheitshalber ins Krankenhaus.»

«Heißt das, die Stunde fällt aus?»

Ted wandte den Kopf und sah sie, neben ihm auf einer blumenbedruckten Matte, die dünnen Beine verbrezelt, die Stirn gerunzelt, die Unterlippe vorgeschoben.

«Sieht fast so aus.»

«Ausgerechnet! Ausgerechnet heute, wo ich so verspannt bin!» Sie hob eine Hand und rieb ihren Nacken. Eine beleidigte Prinzessin. Empört, dass das Leben ihren Ansprüchen einmal mehr nicht gerecht wurde. Er kannte diesen Ausdruck. Er war ihm hilflos ausgeliefert.

In seinem Kopf hörte er die Stimme von Tobias. Ted, du Idiot, kannst du dir nicht mal ein anderes Modell aussuchen? Es gibt auch nette Frauen, weißt du!

Ich kenne nette Frauen, antwortete Ted. Sie reizen mich nicht.

Er wandte sich der Prinzessin zu. «Wir könnten stattdessen einen Kaffee trinken», sagte er. «Unten in der Bar.»

«Ich trinke keinen Kaffee.»

«Tee?»

Poppy

Poppy stand auf. Sie rollte ihre Matte zusammen, sorgfältig, wie sie es immer tat, im Knien. Sie schaute nicht zu Nevada hinüber und nicht zu Marie, die sich über sie beugte. Und sie schaute vor allem nicht zu dem Blutfleck, der sich auf der Matte ausbreitete. Marie würde sich darum kümmern. (War sie für eine Ärztin nicht zu jung?) Marie würde wissen, was zu tun war.

Poppy konnte hier nicht bleiben. Sie durfte ihren Blick nicht auf die Matte richten, die voller Blut war – war es Nevadas persönliche Matte? War es eine der Studiomatten? Wenn ja, würde sie entsorgt werden? Oder würde diese Matte, oberflächlich abgewischt, bei der nächsten Stunde wieder auf dem Holzboden liegen, womöglich auf dem Platz, den Poppy sich ausgesucht hatte, in der ersten Reihe, ganz außen bei der Tür?

Poppy kam meist zu spät. Nickte der Praktikantin an der Kasse zu, die stirnrunzelnd den Kopf schüttelte. Eine Neue, dachte Poppy. Eine Studentin, vielleicht noch Gymnasiastin, die sich die teuren Stunden nicht leisten konnte und sie stattdessen abarbeitete. Ein junges Mädchen, das das Leben noch vor sich hatte, das sich noch einbilden konnte, es hätte die Lösung gefunden, die Antwort auf alle Fragen. Alles würde gut werden, wenn sie nur genug Yoga übte. Poppy beneidete sie darum. Sie selber hatte diese Gewissheit längst verloren. Seit zwei Jahren besuchte sie jede Woche Nevadas Montagabendstunde, und ihr Leben war kein bisschen einfacher geworden. Es waren nur neue Probleme dazugekommen, zum Beispiel fragte sie sich, was die anderen Yogaschüler dachten, wenn sie während der kurzen Anfangsmeditation ins Studio schlüpfte, ihre Matte gleich bei der Türe ausrollte und über die Studiomatte legte. So sehr sie sich bemühte, leise zu sein, jedes Mal stieß sie einen hölzernen Yogablock oder eine Wasserflasche um. Manchmal meinte sie, die Nächstsitzenden ungeduldig schnauben zu hören. Vielleicht praktizierten sie auch nur den Feueratem. Poppy brachte ihre eigene Matte von zu Hause mit, eine Antirutschauflage, ein Handtuch, eine Flasche Wasser. Sie baute einen Wall zwischen sich und den anderen Schülern auf, sie richtete ihren Blick auf Nevada. Diese hatte einmal eine Geschichte von einem indischen Lehrer erzählt, der die westlichen Schüler gleich als Erstes aufgefordert hatte, einen (nackten!) Fuß auf die Matte des Nachbarn zu stellen. Poppy wusste, an wen diese Geschichte gerichtet war. Sie spürte durchaus auch Nevadas pointierten Blick auf ihr Arsenal. Vielleicht sollte sie das Nevada einmal sagen, unter vier Augen, nach der Stunde. Doch sie hatte das Gefühl, Nevada weiche ihr aus.

Poppy hatte vor zwanzig Jahren schon Yoga geübt, als es noch nicht Mode gewesen war. Es war eine andere Art von Yoga gewesen, langsamer, trotzdem hatte sich ihr Körper erinnert. Manche Übungen fühlten sich an wie eine Heimkehr. Als hätte sie nie etwas anderes getan. Andere fühlten sich falsch an. Sie hatte Nevada darauf aufmerksam gemacht. Nevada hatte ihr zugehört und ihr dann einen anderen Kurs empfohlen. So hatte Poppy es nicht gemeint. Sie hatte nur zeigen wollen, dass sie keine Schülerin wie alle anderen war. Zum einen war sie mit Abstand die Älteste in der Gruppe. Und, das nahm sie befriedigt zur Kenntnis, die Beweglichste. Wenn sie ihre Beine aus der Kerze über den Kopf in den Pflug senkten, war sie oft die Einzige, deren Fußspitzen den Boden berührten. Natürlich sollte sie sich nicht mit den anderen vergleichen. Und schon gar nicht, wenn sie auf dem Rücken lag und die Füße hinter ihrem Kopf abgestellt hatte. Ihr Nacken hatte die leichte Drehung mit einem Knacken quittiert, danach hatte sie tagelang Schmerzen gelitten. Und Angst. Angst, dass ihr Kopf abfallen würde.

Das hatte ihre Mutter früher auch immer gesagt: «Wenn dein Kopf nicht angeschraubt wäre!» Poppy fasste sich dann unwillkürlich an den Nacken, als könnte sie die Schrauben fühlen. Als müsste sie sich vergewissern, dass es wirklich so war.

Poppys Mutter seufzte. Gerade hatte sie Poppy gebeten, den Tisch abzuräumen, das Mädchen hatte artig genickt und war dann, keine drei Sekunden später, mit leeren Händen in die Küche gegangen. Dort war Poppy einen Augenblick stehen geblieben, hatte sich gefragt, was sie hier wollte, hatte den Kühlschrank geöffnet, die Milchflasche herausgeholt und auf den Küchentisch gestellt. Jetzt fehlte ihr noch ein Glas. Auf dem Abtropfbrett neben der Spüle standen die Gläser in einer Reihe, mit der Öffnung nach unten, auf dem weichen, geriffelten Plastikuntersatz. Immer bestand ihre Mutter darauf, dass Poppy die Gläser sofort abtrocknete und wegräumte, und dann tat sie es selber nicht! Ungerecht, dachte Poppy, nahm sich ein Glas und wischte den noch feuchten Rand am Latz ihres Manchesterrocks ab. Der, das stellte sie gleich fest, überhaupt nicht saugfähig war. Sie füllte das Glas mit Wasser und nahm es mit in ihr Zimmer.

«Pooopppeee!», schrie ihre Mutter aus dem Esszimmer.

Poppy hieß eigentlich Annamarie, aber ihre Mutter, die aus Graubünden stammte, nannte sie Poppeia, oder Poppe – Mädchen. Später, in Amerika, war Poppy daraus geworden. Sie wusste nicht mehr, wie der Mann hieß, der ihren Namen so abgewandelt hatte, nur noch, was er gesagt hatte: «Du bist wie eine Mohnblume, berauschend und vergänglich …»

Mohnblumen waren außerdem dünnhäutig, unbeständig, wurden in alle Winde zerstreut. Ein Lufthauch knickte sie, ein Regentropfen köpfte sie. Poppy fand, der Name passe zu ihr.

«Pooopppeee!», schrie ihre Mutter, und Poppy drehte sich um – was hatte sie jetzt wieder falsch gemacht? Sie sah an sich herunter, Wassertropfen auf dem Manchesterlatz, die Socken verrutscht – was hatte sie getan?

Da fiel es ihr wieder ein: den Tisch abräumen! Das Geschirr abwaschen!

«Tut mir leid!», rief sie, stellte das Wasserglas auf das Fensterbrett im Flur und ging schnell zurück ins Esszimmer.

«Wenn dein Kopf nicht angeschraubt wäre …»

Poppy räumte das Geschirr ab. Sie kratzte die Essensreste von den Tellern und kippte sie in den Abfalleimer. Sie ließ Toro, den Hund, die Teller ablecken. Dann stapelte sie die Teller in ein Plastikbecken und ließ heißes Wasser darüberlaufen. Ein, zwei, drei Spritzer Abwaschmittel dazu, es schäumte. Schneeberge.

Direkt über dem Wasserhahn hing eine Postkarte vom Silsersee. Poppy stellte sich vor, wie ihre Mutter hier stand, das Geschirr abwusch, dabei auf die Postkarte schaute und sich wünschte, sie wäre zu Hause in den Bündner Bergen. Poppy mochte die Berge nicht. Jeden Winter, jeden Sommer verbrachten sie dort, ihre Mutter und sie, bei der weitverzweigten Verwandtschaft. Ihre Cousins und Cousinen waren sportlich, praktisch, rotwangig. Sie wussten, wie man Kühe zusammentrieb, von einem Felsen in den eiskalten See sprang, wie man, bevor man am Ende des Skilifts angelangt war, elegant aus der Spur schwang. Unter den Cousinen fühlte sich Poppy noch ungenügender als zu Hause. Auch weil die Tanten sie oft mit gerunzelter Stirn musterten, wenn sie mit dem Knie gegen den Tisch stieß und ihre Milch verschüttete, wenn sie das Tor zum Hasenkäfig nach dem Füttern nicht geschlossen hatte. Mit der Taschenlampe hatte sie nachts im Garten die riesigen Viecher gesucht, aber nur einen von den vieren wieder einfangen können. Sie hatte für die Hasen bezahlen müssen. Mit ihrem Taschengeld.

«Du bist eine Träumerin», sagte die Großmutter. «Das hast du nicht gestohlen!» Poppys Mutter war nicht wie die Tanten, wie die anderen Frauen im Dorf. Sie war weggelaufen, durchgebrannt mit einem Unterländer, einem Flachländer, Poppys Vater. Trotzdem kam sie jeden Sommer und jeden Winter zurück in ihr Dorf. Und Poppy musste mit.

«Kannst du nicht aufpassen?» Die Stimme ihrer Mutter holte sie zurück in die Küche, ans Abwaschbecken, aus dem der Schaum quoll, viel zu viel Schaum. Wasser tropfte auf Poppys Schuhe. Ihre Brille hatte sich beschlagen. Grob riss die Mutter sie am Arm zurück und drehte den Wasserhahn zu.

«Geh in dein Zimmer», sagte sie. «Du machst mehr Arbeit, als du mir abnimmst!»

In ihrem Zimmer setzte sich Poppy an ihren Schreibtisch. Sie würde sich bessern. Sie würde ihr Zimmer aufräumen. Sie würde ihre Schulsachen ordnen, in Schubladen, jede Schublade würde sie beschriften: Rechnen. Sprache. Lebenskunde. Nichts würde mehr verlorengehen, nichts vergessen. Jeden Abend würde sie die Hausaufgaben erledigen – sie musste sich einen Plan machen. Was sie brauchte, war eine Korkwand, direkt über ihrem Schreibtisch, ihre Freundin Regine hatte so eine, da hingen, neben einem Foto von Bernhard Russi und einem von David Cassidy, ihr Stundenplan, Mitteilungen von der Schule über den Ausflug vor den Ferien, den Sporttag, die Lehrerfortbildung. Stecknadeln mit dicken runden Köpfen hielten die Mitteilungen fest, Regine hatte sie ständig vor Augen, sie wusste immer, welche Fächer am nächsten Tag drankamen, welche Aufgaben sie machen musste. Regine würde nie an einem Mittwoch als Einzige vor verschlossenen Schultüren stehen, weil sie vergessen hatte, dass an diesem Tag kein Unterricht stattfand, und sich dann nicht nach Hause trauen. Die Versuchung, nach Hause zu gehen, zurück ins warme Bett, zu ihrem Buch, war groß, aber sie wusste, wie sehr ihre Mutter schimpfen würde.

«Hast du eigentlich kein anderes Ziel, als mir das Leben schwerzumachen? Meinst du, ich finde es lustig, um sechs Uhr aufzustehen und Madame das Frühstück zu bereiten? Für nichts und wieder nichts?»

Poppy ging zu Regine, als hätten sie sich verabredet. Ihre Mutter glaubte sie in der Schule. Poppy hatte keine Geschwister. Sie hatte schon lange aufgehört, danach zu fragen. Einmal, ganz früh morgens, hatte sie gehört, wie ihre Eltern in der Küche stritten.

«Du wirst ja schon mit einem Kind nicht fertig», hatte der Vater gesagt. «Was willst du denn mit zweien?» Die Mutter hatte geweint, sie hätte sich noch mehr Kinder gewünscht, aber Poppy war zu schwierig, wenn Poppy nur nicht so schwierig wäre.Dabei gab sie sich jede Mühe. Jeden Abend fasste sie neue Vorsätze, jeden Tag scheiterte sie an der Umsetzung. Ihr Schreibtisch stand vor dem Fenster. Wenn Poppy eine Korkwand aufhängen wollte, musste sie den Tisch an die Wand schieben. Plötzlich schien die Korkwand die Lösung aller Probleme, das unverzichtbare Requisit für ihr neues Leben, in dem sie alles richtig machen würde. Poppy versuchte ihren Tisch zu ziehen, sie zerrte daran, eine der Schubladen rutschte heraus und fiel krachend auf den Teppichboden. Die Nachbarin von unten klingelte an der Tür und verlangte zu wissen, warum es die Schneiders nicht fertigbrachten, die gesetzlich vorgeschriebene Mittagsruhe von elf Uhr dreißig bis dreizehn Uhr dreißig einzuhalten. Und ausgerechnet während der Nachrichten! So ein Krach, man verstehe sein eigenes Wort nicht, und wenn jetzt der Krieg ausgebrochen wäre? Dann wüssten sie an der Rathausgasse 17 nichts davon, weil die Schneiders immer so einen Krach machten. Poppys Mutter entschuldigte sich. Dann kam sie in Poppys Zimmer ohne anzuklopfen, sah die Schreibtischschublade am Boden, die verstreuten Hefte, die herumliegenden Buntstifte, den halb vom Fenster weggezerrten Tisch. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie schüttelte den Kopf.

«Du bringst mich noch ins Grab», sagte sie und ging aus dem Zimmer.

An diesem Nachmittag schloss Poppy sich ein. Sie fegte alles, was auf dem Schreibtisch lag, auf den Fußboden, Hefte, Papiere, Klebestifte, Scheren, dann kippte sie den Inhalt ihrer drei Schreibtischschubladen darüber. Sie zog den Ärmel ihres Plüschpullovers über ihre Hand und wischte damit über die Schreibtischplatte und in die Ecken der Schubladen. Mit Buntstift schrieb sie auf den Boden jeder Schublade, was hineinkommen solle.

Papier und Farbstifte. Bastelsachen. Schulzeug. In die oberste Schublade schrieb sie außerdem: Ich hasse die Berge und ich hasse meine Mutter!

Dann räumte sie die Schubladen wieder ein. Sie schob den Tisch wieder vor das Fenster – sie würde ihr Zimmer nicht umstellen, ihre Mutter nicht um eine Korkwand bitten. Aber wenn sie schon dabei war, konnte sie ihren Kleiderschrank ausräumen. Sie riss alle nachlässig gestapelten Pullover, Unterhemden, Socken heraus und legte alles neu zusammen. Dabei dachte sie zum ersten Mal: Mama ist nicht besser als ich. Sie kann es auch nicht.

Die Wäsche war zerknittert, manche Teile rochen muffig, weil Mama nicht die Geduld gehabt hatte, sie ganz trocknen zu lassen, bevor sie sie zusammenlegte. Poppy dachte an die Gläser, die nicht abgetrocknet waren. An die Unterschriften, die ihre Mutter vergaß. Nicht immer war Poppy schuld, wenn Herr Schumacher mit ihr schimpfte. Ja, sie hatte das Aufgabenbuch vergessen, aber ihre Mutter hatte auch vergessen, es zu unterschreiben! Herr Schumacher mochte es nicht, wenn man die Schuld auf andere schob, deshalb sagte Poppy nichts. Aber an diesem Nachmittag ging sie der Reihe nach die Verfehlungen ihrer Mutter durch:

Sie stand jeden Morgen zu spät auf und weckte Poppy zu spät. Sie stellte die Tasse mit der heißen Schokolade so hart auf den Tisch, dass sie überschwappte. Sie stritt mit Poppys Vater, der einen Kaffee im Stehen trank und dabei immer auf die Uhr schaute. Poppys Vater lebte sein eigenes ordentliches Leben in seinem Büro, das er selten verließ. Er kam spät nach Hause, machte sich sein Abendessen selber. «Überstunden», nannte er es. Er brachte seine Wäsche zu seiner Mutter, bei der er auch oft zu Mittag aß. Andere Väter, das wusste Poppy, kamen zum Mittagessen nach Hause. Großmutter mochte Mama nicht, Poppy hatte gehört, wie sie sie genannt hatte: eine verwilderte Bergziege.

Wenn man den Schrank im Flur öffnete, fielen Taschen, Gürtel und Schirme heraus. Die Milch war manchmal sauer, weil ihre Mutter sie nach dem Frühstück nicht gleich in den Kühlschrank zurückstellte. Poppys Mutter sah nicht aus wie andere Mütter, zum Besuchstag in der Schule kam sie zu spät, weil sie das Zimmer nicht gefunden hatte. Ihr Lippenstift war nicht immer auf den Lippen. Sie hatte ihre Haare zusammengebunden, nicht hochtoupiert und geföhnt und mit Haarlack fixiert. Das tat sie nur, wenn sie mit Poppys Vater ausging. Dazu brauchte sie einen ganzen Nachmittag, und am Ende musste er trotzdem auf sie warten.

Poppy schwor sich, sie würde alles besser machen. Gleich jetzt würde sie damit beginnen. Sie riss die zerknüllten Leintücher und Wolldecken von der Matratze und machte ihr Bett ganz neu, sie strich die Tücher glatt, sie kämpfte mit den Ecken. Das war gar nicht so einfach, sie konnte verstehen, dass ihre Mutter sich diese Mühe nur selten machte. Aber endlich sah das Bett so aus, wie Poppy es sich vorstellte, ordentlich und glatt. Poppy legte ihre rote Tagesdecke darüber und setzte ein paar Plüschtiere dazu. Vorsichtig setzte sie sich darauf. Regine hatte ihr Bett an die Wand geschoben und mit ein paar bunten Kissen zur Couch umfunktioniert. Auf Poppys Bett hatte man bisher nicht sitzen können. Sie legte sich auf das Bett und stellte sich vor, sie wäre erwachsen und würde alles richtig machen. Sie würde den Wecker jeden Tag eine Stunde früher stellen, sie würde eine Dusche nehmen und sich anziehen und frisieren, bevor ihr Mann und ihre Kinder wach wären. Sie würde sie erst wecken, wenn sie den Frühstückstisch gedeckt hatte. Sie hätte eine Handtasche mit verschiedenen Fächern, in denen sie immer alles finden konnte, Schlüssel, Portemonnaie, Sonnenbrille. Und eine Liste, auf der alles stand, was sie zu erledigen hatte. Eine Liste, die sie nur noch abhaken musste, Zeile für Zeile. Und über dem Abwaschbecken würde keine Postkarte hängen, sondern ein Stundenplan.

Poppy liebte es, neue Stundenpläne auszufüllen, mit sorgfältigen runden Buchstaben trug sie die Fächer ein, und für eine kurze Zeit schien alles möglich und überschaubar. Durchführbar. Doch dann wischte sie mit dem Handballen über die noch feuchte Tinte oder knickte eine Ecke ein oder stieß ein Glas um. Dann merkte sie, dass sie alles eine Stunde zu spät eingetragen hatte, weil die erste Stunde, halb acht bis Viertel nach, in das oberste Feld gehörte, das sie für einen Zwischenraum gehalten hatte. Der Moment, in dem Poppys Leben überschaubar und ordentlich schien, hielt nie lange an.

Poppy faltete den Rutschschutz zusammen, rollte die Matte sorgfältig auf, nahm ihre Decke, ihre Wasserflasche, ihr Buch. Sie stand auf. Sie ging zur Tür. Achtete darauf, nicht auf eine der Matten zu treten. Sie bildete sich ein, den angehaltenen Atem im Raum zu hören, die durch die Luft schwirrenden Gedanken: Was, haut die einfach ab? Aber alle Blicke waren dorthin gerichtet, wo Poppy nicht hinschauen wollte, auf die Matte, auf den Blutfleck.

«Es geht schon wieder», sagte jemand.

Sie geht schon wieder, hörte Poppy.

Marie

Ich bin eine Fälschung, dachte Marie. Ich führe ein Doppelleben.

«Warum gehst du nicht nach Hause?», fragte Nevada. Sie lallte wie eine Betrunkene. Im Fallen hatte sie sich auf die Zunge gebissen. Marie hatte ihren Mund ausgewaschen und mit Küchenpapier trockengetupft. Der Spalt in der Zunge war tief, aber zu schmal, um genäht zu werden. Marie hatte sofort gesehen, dass eine Notaufnahme nicht nötig war. Trotzdem hatte sie Nevada in ihr Auto gepackt und zum Kantonsspital gefahren. Der Feierabendverkehr, das Warten in der chronisch unterbesetzten Station würden den Rest des Abends ausfüllen. Sie würde spät nach Hause kommen. Die Schlafzimmertür würde geschlossen sein.

«Ich will gar nicht nach Hause», sagte Marie.

«Ach ja?»

Hatte sie das tatsächlich ausgesprochen? Beschämt zuckte sie mit den Schultern.

«Ich dachte, du seist die glücklichste Frau der Schweiz?» Nevada hielt eine fast zwei Jahre alte Zeitschrift hoch. Darin wurde über die Hochzeit des beliebtesten Serienarztes der Schweiz mit einer echten Ärztin berichtet: mit Marie.

Marie nahm das Heft in die Hand und betrachtete die bekannten Bilder: das gemietete Sofa, das ihre fast unmöblierte Absteige in der Altstadt als Zuhause erkennbar machte. Sie hatten die Schuhe ausziehen, die Beine anwinkeln müssen. Der Leser, so erklärte man ihnen, solle das Gefühl haben, unangekündigt in ihre Stube geplatzt zu sein und sie so vorgefunden zu haben: in traulicher Umarmung und in löcherigen Socken, auf einem viel zu großen grauen Sofa, das mit vielen bunten Kissen dekoriert war. Marie hatte nicht gewusst, wie viel Vorbereitung, wie viel Planung – Hinterhalt eigentlich – in so einem Schnappschuss steckte. In der Zeit, in der sie posierten, hätte sie einen Blinddarm entfernen können. Sie schaute ihn an, er schaute in die Kamera, auf dem Holzboden vor dem Sofa stapelten sich medizinische Fachbücher und zuoberst lag einsatzbereit ihr Stethoskop. Seine Tochter Stefanie hatte sich geweigert, mit ihnen zu posieren. Und in den Leserbriefen wurde gefragt, warum der gutaussehende Schauspieler mit dem charmanten Bündner Dialekt seine Frau und seine Tochter für so eine verlassen hatte. Es gab doch bestimmt Schönere. Schlankere sowieso.

Gion spielte Dr. Marc Santana in der Fernsehserie DasVorstadtspital. Seine Rolle, die eines aus dem Kosovo eingewanderten und gegen allerhand Vorurteile ankämpfenden glutäugigen Notarztes, hatte die serbelnde Seifenoper vorübergehend wieder ins Zuschauerbewusstsein geschoben. Doch in den letzten Monaten waren die Zuschauerzahlen wieder gesunken, und die Serie war abgesetzt worden. Da die letzten Folgen noch liefen, musste über diesen Umstand strengstes Stillschweigen bewahrt werden. Dieses Geheimhalten, dieses So-tun-als-ob, erinnerte Marie an die erste Zeit ihrer Liebe. Damals hatte sie es aufregend gefunden. Heute nur noch anstrengend.

Er hatte sie ein paar Tage lang durch ihren Alltag in der Notaufnahme begleitet, um sich auf seine Rolle vorzubereiten. Marie hatte sich sofort in ihn verliebt, doch sie hatte sich nichts anmerken lassen. Sie war nicht die Frau, die den Mann bekam. Sie war die beste Freundin, die Trauzeugin, der Kumpel zum Pferdestehlen. Die, mit der man über alles reden konnte. Marie war die, die man mitten in der Nacht anrufen konnte, wenn man verzweifelt war, betrunken, allein. Marie hatte Gion mit den Schwestern flirten sehen, den Raumpflegerinnen, Patientinnen, sie hatte ihn ignoriert. Als er sie zum Kaffee einlud, dachte sie, er erlaube sich einen Scherz mit ihr. Sie schaute erst über ihre Schulter, bevor sie antwortete, doch da war niemand. Er meinte sie.

Vielleicht hatte er eine Wette verloren?

Gion war verheiratet gewesen, als sie sich kennenlernten. «Meine Ehe ist schon lange kaputt, uns verbindet nichts mehr, wir bleiben nur wegen unserer Tochter zusammen …»

Ob er das heute zu einer anderen Frau sagte? Wie schrecklich, hatte sie damals gedacht. Wie kann man es nur so weit kommen lassen. Würdelos war das.

«Eine Frau wie dich …», hatte er gesagt. «Eine Frau wie dich habe ich noch nie getroffen.» Das hatte noch niemand zu ihr gesagt: Eine Frau wie Marie hatte jeder schon getroffen. Marie war nichts Besonderes. Gion dachte anders: Er behandelte sie wie eine Hauptdarstellerin. Er umwarb sie. Er brauchte sie.

Seine Frau, sagte er, seine Frau war schwach. Seine Frau stützte sich auf ihn. Forderte ständig. Immer musste Gion für sie da sein. Und wer war für Gion da? Marie.

Marie war stark. Marie konnte Leben retten, fremde, ihr eigenes, Gions. Gion zog bei ihr ein, noch bevor seine Recherchen abgeschlossen waren. Bevor die neue Staffel mit Dr. Santana anlief, riet Gions Agentin zur PR-Offensive. Sie bestellte Marie zu einem Treffen, begutachtete sie wie ein Möbelstück, von dem sie noch nicht wusste, ob sie es zum Sperrmüll stellen oder behalten sollte, und sagte schließlich: «Ärztin. Okay. Krankenschwester wäre besser, aber gut. Ärztin. Damit kann ich arbeiten.»

Und daraus war dann die Homestory geworden, die Marie jetzt in den Händen hielt. Damals war sie die glücklichste Frau der Schweiz gewesen. Damals hatte sie nicht schnell genug nach Hause kommen können. War nach sechsunddreißig Stunden Dienst noch mit dem Taxi zum Fernsehstudio gefahren, um ihn zu sehen, zwischen Stellwänden aus Sperrholz zu küssen.

Heute zögerte sie den Moment, in dem sie die Tür aufschloss, so lange wie möglich hinaus. Sie parkte an der Ecke, schlich sich an wie eine Diebin, sah zu den kleinen Fenstern hinauf, und hoffte, sie wären nicht erleuchtet. Hoffte, er wäre nicht zu Hause. Seit die Serie abgesetzt worden war, war er immer zu Hause. Gion war seit drei Monaten arbeitslos, und er schien Marie die Schuld daran zu geben.

Ich führe ein Doppelleben, dachte Marie. Ich bin zu Hause eine andere als in der Welt. Sie kam nach Hause und wurde einen Kopf kleiner. Sie nahm ihren Kopf ab und legte ihn in die Schale auf dem Tisch beim Eingang, zusammen mit ihren Schlüsseln. Sie betrat ihre Wohnung und hörte auf zu existieren. Sie war nicht mehr Dr. Marie Leibundgut, die kompetente Ärztin, sie war ein nutzloser Haufen Frau, der alles falsch machte. Und ihr Hintern war auch zu dick. Erst wenn sie nach Hause kam, fühlte sie sein Gewicht. Unter dem weißen Mantel, den sie zur Arbeit trug, schwang er königlich bei jedem Schritt mit. Er verankerte sie. Er verlieh ihr Substanz. Marie liebte ihren Hintern.

«Ich schau mal nach, wo der Bericht bleibt.» Marie stand auf. Als Oberärztin auf der Intensivstation war sie im Turnus auch für die Notaufnahme zuständig. Hier kannte man sie. Auch wenn sie keinen weißen Mantel trug, traten Schwestern und Patienten respektvoll zur Seite. Sie ging in der Mitte des Flurs, sie schaute nach vorn, weit nach vorn. Als sähe sie direkt in die Zukunft, und in der Zukunft nur gelöste Probleme, geheilte Patienten. Vor dem Aufnahmeschalter stand ein schlaksiger Assistenzarzt in zerknittertem Kittel. Er hatte seinen langen Körper unnatürlich gebeugt, um durch das Schiebefenster mit der Aufnahmeschwester flirten zu können. Diese sah Marie zuerst und knipste sofort ihr Lächeln aus. Der junge Mann drehte sich um.

Seine Brille war fleckig, die Augen dahinter müde. «Frau Doktor Leibundgut, ich wollte gerade Ihre Patientin …» Nervös schaute er auf die Akte, auf der außer den Angaben zur Versicherung nicht viel stand.

«Herr Kollega!» Marie nickte ihm zu. Sie konnte sehen, wie er sein müdes Hirn durchforschte. Sie erinnerte sich sehr gut an diese Angst während der Assistenzzeit, die ständige Angst, etwas übersehen, etwas falsch entschieden zu haben, vor den drastischen Konsequenzen. Damals war ihr bewusst geworden, dass sie Leben in der Hand hielt. Ein als Magendarmgrippe diagnostizierter Blinddarm konnte platzen. Eine Schmerztablette einen Hirntumor vertuschen. Als Assistenzärztin hatte sie den Tod gesehen, er drang aus allen Ritzen wie schwarzer Nebel, er waberte unter den Türen hindurch, er blähte die dünnen Vorhänge, die die Betten in der Notaufnahme voneinander trennten. Sie wedelte mit ihren Patientenakten, mit den Seiten ihrer Lehrbücher, mit Fachartikeln, mit den Schößen ihres weißen Mantels. Aber der Nebel wich nicht. Er war immer da. Es war ihre persönliche Mission, den Tod in Schach zu halten. Zu verhindern, dass er sich im Krankenhaus ausbreitete.

Es hatte Monate gedauert, bis sie wieder eine blutende Nase sehen konnte, ohne gleich das Schlimmste zu vermuten. Bis sie wieder das gesehen hatte, was vor ihr lag: das Leben. Das Leben mit einer Krankheit, mit einer Verletzung, mit Schmerzen. Bis sie wusste, was ihre Aufgabe war: nicht den Tod bezwingen, sondern am Leben arbeiten. Dann hatte sie auf die Intensivstation gewechselt, und alles war wieder da. Marie dachte wieder nur das Schlimmste.

Warum knickten einer gesunden jungen Frau, einer Yogalehrerin obendrein, die Handgelenke ein? Marie hatte es doch gesehen, das leichte Zögern, mit dem Nevada ihre Hände auf die Matte setzte, das Atemholen, mit dem sie sich Mut machte. Schmerzen, dachte Marie jetzt, typisches Anzeichen für einen Schmerz, den man schon kennt. Für einen Schmerz, von dem man schon weiß, dass er unausweichlich ist. Der Sturz selber war unspektakulär gewesen, die Arme eingeknickt, der Körper auf die Matte gesenkt, fast hätte man es für Absicht halten können. Marie war einen Augenblick lang abgelenkt gewesen durch einen Blick, den sie auf ihrem Hintern spürte wie eine Berührung. Sie hatte nicht gleich gemerkt, dass das Innehalten, flach auf dem Bauch, nicht gewollt war. Dass Nevadas Gesicht unnatürlich in die Matte gepresst war. Dass der Fleck, der sich unter ihr ausbreitete, Blut war.

Der Assistenzarzt schlug fahrig ein paar Untersuchungen vor, Marie unterbrach ihn: «Ob Sie sich die Patientin noch einmal kurz anschauen könnten? Nähen muss man nicht, aber mir gefällt nicht, dass ihre Handgelenke eingeknickt sind. Ich werde sie an den Rheumatologen überweisen.»

Warum haben Sie sie dann hergebracht?, fragte der Blick des Assistenten. Doch er leuchtete Nevadas Mund aus und bestätigte Maries Urteil. Genäht werden musste nicht. Marie fühlte sich plötzlich leer.

Sie fuhr Nevada, die in einem Zimmer über dem Yogastudio wohnte, zurück in die Fabrik am Wasser. Es war nach elf, doch die Bar im Erdgeschoss war voll. Marie setzte sich an den Tresen, bestellte ein Käsebrot und ein Glas Rotwein. In einer Ecke saßen zwei Yogaschüler, sie nickte ihnen zu, wurde aber nicht beachtet. Ineinander versunken saßen sie an einem Ecktisch, ihre Hände berührten sich nicht, aber ihre Blicke konnten nicht voneinander lassen. Marie wusste noch genau, wie sich das anfühlte. Sie erinnerte sich an den Anfang. Damals hatten sie beide unmögliche Arbeitszeiten gehabt, die sie vom normalen Leben ausschlossen. Sie trafen sich zu Unzeiten, fielen mit der Verzweiflung der Übermüdeten, der Unterzuckerten übereinander her, schliefen ein, wachten auf, machten weiter. Wie lange war das her? Nicht sehr lange. Was war passiert?

Marie war der letzte Gast an der Bar. Sie legte ein großzügiges Trinkgeld auf den Tresen und fuhr nach Hause. Sie machte einen Umweg. Aber irgendwann ließ es sich nicht mehr aufschieben. Sie öffnete die Tür. Es roch muffig. Der Fernseher lief. Das Sofa – sie hatten unterdessen eines gekauft, ein rotes, kein graues – war zum Doppelbett ausgezogen, zwei dunkelgelockte Köpfe drückten sich in die Kissen. Gion sah sich ein Formel-eins-Rennen an. Ohne Ton. Als er Marie hereinkommen hörte, schaltete er den Fernseher aus und stand auf.

«Wo warst du?»

«Im Yogakurs, wie jeden Montagabend.»

«Bis jetzt? Es ist gleich Mitternacht. Gib es zu: Du hast vergessen, dass die Kleine heute hier ist!»Die Kleine war dreizehn Jahre alt. «Das machst du doch mit voller Absicht. Du weigerst dich, Zeit mit ihr zu verbringen, und wunderst dich dann, dass sie dich nicht mag.»

Stefanie mochte sie nicht? Das hatte Marie nicht gewusst. «Es tut mir leid», sagte sie, «ich hatte einen Notfall.»

«Im Yoga?»

«Ja, im Yoga!»

«Mann! Ich will schlafen!» Stefanie hob ihren Kopf aus dem Kissen. Ohne das glitzernde Augen-Make-up, das sie tagsüber trug, wirkte sie sehr jung. Fast wie ein Kind.

«Hey, Stefanie. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich musste unsere Yogalehrerin ins Krankenhaus bringen. Ein Notfall.»

«Ich dachte, Yoga sei gesund?»

«Dad! Du hast keine Ahnung. Yoga macht man, um einen knackigen Po zu bekommen!» Stefanie kicherte.

Marie schaute an sich hinunter. Die rote Hose, die sie den ganzen Abend schön gefunden hatte, schien plötzlich lächerlich. Fast schon obszön.

«Ich geh schlafen», sagte sie. «Ich habe morgen früh Dienst.» Sie ging aus dem Zimmer. Gion stand auf und folgte ihr. «Du bist nie für mich da!», rief er.

vyādhistyānasaṃśhayapramādālasyāvirati-

bhrāntidarśanālabdhabhūmikatvānavasthitatvāni

cittavikṣepāḥ te’ntarāyāḥ

Auf dem Weg zu geistiger Klarheit stolpert man gern über

folgende Hindernisse: Krankheit, Trägheit,

Unentschiedenheit, Hetzerei, Erschöpfung, Ablenkung,

Selbstüberschätzung, Mutlosigkeit

und Unbeständigkeit

Patanjali Yoga Sutra 1.30

Poppy

«Unsere neue Praktikantin», sagte Andreas, der Leiter des Ressorts Leserbeziehungen. «Sie wird dir diese Woche über die Schulter schauen. Und das ist Poppy, sie ist schon am längsten bei uns, seit … wie lange, Poppy?»

Poppy zuckte mit den Schultern. Immer schon, wollte sie sagen. Länger als du. Ressortleiter kamen und gingen und wurden immer jünger. Wie alle.

«Vermutlich länger, als du auf der Welt bist», grinste sie die junge Frau an. Sie war Anfang, Mitte zwanzig, schätzte Poppy, obwohl es ihr immer schwerer fiel, das Alter von jüngeren Leuten zu schätzen. Als ihre Kinder klein gewesen waren, hatte sie das Alter eines Säuglings auf den Monat genau erkannt. Diese Fähigkeit war ihr abhandengekommen, seit ihre Söhne nicht mehr bei ihr lebten. Auch Frauen ihres Alters konnte sie schwer einschätzen. Manchmal dachte Poppy, sie sei der älteste Mensch auf der Welt. Oder der jüngste. Sie erkannte ihr Spiegelbild nicht mehr, wenn sie ihm unverhofft entgegenkam. Gleichzeitig fühlte sie sich immer noch jeden Morgen so, als würde, als könnte alles wieder von vorn beginnen. Als hätte sie noch einmal eine Chance.

«Ich bin Audrey», sagte die junge Frau und schüttelte förmlich Poppys Hand. «Wie Hepburn», erklärte sie ernsthaft. «Meine Mutter hat ihre Filme geliebt. Manche Leute sagen, ich gleiche ihr.» Kokett wiegte sie sich in den Schultern, lächelte. Ein schmales Geschöpf mit dunklen Haaren. Sie trug Hotpants aus schwarzem Leder über schwarzen Strümpfen, flache Schuhe. Die dunklen Haare hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden wie eine Prinzessin in Rom.

«Hat was», sagte Poppy freundlich, «kann ich durchaus sehen.»

«Also, Poppy, du kennst den Drill! Audrey, viel Spaß.» Andreas wandte sich zur Tür, im Gehen zog er sein Handy aus der Hosentasche, das hier unten keinen Empfang hatte. Sobald er den ersten Treppenabsatz erreicht haben würde, würden die Balken wieder aufleuchten, und Andreas hätte nichts verpasst. Das Archiv im Keller gehörte nicht mehr zum Alltag der Lokalzeitung, ebenso wenig wie Poppy selber. Als sie vor fast dreißig Jahren hier angefangen hatte, waren sie zu fünft gewesen. Sie hatten die Zeitungsseiten von Hand ausgeschnitten und auf große Blätter geklebt. Die Arbeit war einfach gewesen, aber sie hatte einen gewissen Ordnungssinn verlangt. Aufmerksamkeit. Genau das, was Poppy so schwerfiel. Immer wieder hatte sie wichtige Stichworte übersehen, Querverbindungen nicht hergestellt. Niemand hätte geglaubt, dass ausgerechnet sie sich am längsten von allen hier halten würde. Damals hatten sie alle Pläne gehabt. Einige studierten, andere widmeten sich ihrer Kunst. Sie nahmen die Arbeit nicht besonders ernst. Das Archiv der Lokalzeitung war ein Ort, an dem man anfing. An dem man das Studium unterbrach, sich das nötige Reisegeld verdiente. Poppy hatte Journalistin werden wollen. Reiseschriftstellerin. Auch Schauspielerin, Malerin, Musikerin.

Einer nach dem anderen war gegangen, wurde durch andere ersetzt, ein endloser Reigen von Menschen, die hier unten im Keller kurz verschnauften wie Wanderer auf einer anspruchsvollen Tour. Nach einigen Monaten machten sie sich wieder auf, wurden Künstler oder bekamen Kinder. Manche blieben bei der Zeitung, arbeiteten sich Stockwerk für Stockwerk in die Redaktion oder in die Bildredaktion hinauf. Eine Zeitlang grüßten sie Poppy noch, wenn sie ihr im Lift oder in der Cafeteria begegneten, dann hatten sie sie vergessen, sie und den fensterlosen Raum im Keller. Irgendwann waren sie zu dritt, dann zu zweit, sie zogen in kleinere Räume um. Nur Poppy war immer wieder zurückgekommen und schließlich ganz hängengeblieben.

Unterdessen war sie die Einzige hier unten, in einem fensterlosen Raum, in dem sich früher die Leserbriefredaktion befunden hatte. Auch die hatte sich aufgelöst. Poppys Funktion war mit «Mitarbeiterin Digitale Kommunikation» nur vage festgelegt. Jedes Mal, wenn Andreas eine neue Praktikantin herunterführte, schaute er sich um, als sähe er diesen Raum zum ersten Mal. Jedes Mal wirkte er erstaunt, Poppy hier anzutreffen. Erstaunt darüber, dass sie immer noch da war. Sollte er einmal fünf Minuten Zeit haben, um ernsthaft darüber nachzudenken, würde er Poppy, so fürchtete sie, ersatzlos streichen. Poppy wusste nicht, was sie dann tun würde. Sie hatte keine Träume mehr. Keine Pläne. Ihre Wanderkarte, falls sie je eine gehabt hatte, hatte sie längst verloren. Sie hatte nichts gelernt.

«Im Medientraining haben sie gesagt, ich hätte Starqualität. Die Kamera liebt mich. Meine Mutter wusste schon, was sie tat, als sie mich Audrey nannte!» Die junge Frau kicherte. Sie hatte sich auf den alten Drehstuhl gesetzt und ihn in die Mitte des Zimmers gerollt. Mit ihren lang ausgestreckten Beinen schob sie den Stuhl sanft hin und her. Ihr Pferdeschwanz wippte mit ihr mit. Poppy ließ sich von der Bewegung hypnotisieren.

«Natürlich will ich zum Fernsehen. Das wollen alle. Aber ich bin schon auch am seriösen Journalismus interessiert. Darum mach ich ja die praktische Ausbildung. An der Uni lernst du das Handwerk nicht, verstehst du, und Handwerk ist es, was dich am Ende von den anderen unterscheidet. Handwerk hat wahre Größe. Ich will nicht einfach eins dieser Fernsehsternchen werden, die schnell verglühen, schon klar.»

«Klar.»

Poppy hatte nicht studiert. Sie hatte nicht einmal die Schule abgeschlossen. Plötzlich erinnerte sie sich an eine weit entfernte Mathematikstunde. Da war es auch um wahre Größe gegangen. Poppy hatte damals schon nicht gewusst, was das hieß.

Wahre Größe, hatte sie damals gedacht, wahre Größe ist, dass ich hier sitze, obwohl ich weiß, dass nichts Gutes dabei herausschauen kann, nie, an keinem Morgen, und doch komme ich wieder, steige die steinernen Stufen hinauf zu dem altmodischen grauen Bau. Die schwere Tür schlägt mir ins Gesicht, das Mädchen, das vor mir ging, hat sie nicht für mich aufgehalten, als wüsste sie, dass ich gar nicht hineingehen wollte. Wahre Größe ist, dass ich trotzdem hier bin.

Aber das war es nicht, was Herr Steiner damals hatte zeigen wollen. Ihm ging es um die Höhe einer Pyramide, die man mittels komplizierter Formeln berechnen konnte. Diese Formeln bleiben immer gleich. Man musste sie sich nur merken. Poppy erkannte die versteckte Schönheit der Formeln, sie sehnte sich nach der Überschaubarkeit, der unerschütterlichen Ordnung, die die Mathematik versprach und die ihr doch, trotz ehrlicher Anstrengung, verschlossen blieb. Es war, als stünde sie an der Grenze eines Landes, für das sie kein Visum hatte. Das Land des logischen Denkens. Tatsächlich hatte ihr Klassenlehrer, der gleichzeitig ihr Deutschlehrer war, einmal unter einen Aufsatz geschrieben: «Die Türen zum Reich des logischen Denkens bleiben Ihnen offenbar bis auf weiteres verschlossen.»

Poppys Vater hatte gegen den Eintrag protestiert. Das tat er manchmal, tauchte aus dem Nichts auf und versuchte, Ordnung in Poppys Leben zu bringen. Kurz nachdem sie mit dem Gymnasium begonnen hatte, hatte er sich an einem Sonntagmorgen mit ihr hingesetzt, ließ sie ihre Schultasche ausräumen, hatte alle Hefte und Bücher auf dem Tisch ausgelegt, ihren Stundenplan studiert und die Stapel nach Wochentagen sortiert. Er hatte ihr geholfen, die Bücher und Hefte mit buntem Wachspapier ordentlich einzubinden und mit Etiketten zu versehen.

«Jeden Abend», sagte er, «bevor du ins Bett gehst, schaust du in deinen Stundenplan. Was hab ich morgen für Fächer? Was brauche ich? Dann packst du die entsprechenden Bücher und Hefte ein.»

Er zeigte ihr auch, was sie mit dem Aufgabenheft anfangen sollte. «Am Sonntag planst du deine Woche», sagte er. «Hier, schau: Auf Mittwoch hast du Französischvokabeln UND drei Matheaufgaben, auf Dienstag nichts. Das heißt, du machst die Mathe am Montag und die Vokabeln am Dienstag, dann sind sie am Mittwoch noch frisch in deinem Kopf.»

Poppy hatte genickt. Das klang einleuchtend, einfach, überschaubar. Alles ließ sich bewältigen. Poppy schaute ihren Vater an und dachte zum ersten Mal: Das kann ich. Ich kann so sein wie er, der jeden Abend ein frisches Hemd aus dem Schrank holt und auf den Bügel seines stummen Dieners hängt, zusammen mit einer passenden Krawatte und dem Anzug von gestern. Der seine Aktenmappe bei der Tür bereitstellt, den Schlüssel obendrauf legt. Ihr Vater geriet nie in Panik, selbst wenn sie in die Ferien verreisten, er ging langsam und methodisch vor und hatte alles im Griff. Und wenn sie sich der Grenze näherten und Poppys Mutter hektisch in ihrer Handtasche wühlte und feststellte, dass sie Poppys Pass nicht eingesteckt hatte, wendete er wortlos den vollgepackten Wagen und fuhr mehr als drei Stunden zurück nach Hause. Poppys Mutter weinte die ganze Zeit.

Ich bin nicht wie meine Mutter, dachte Poppy. Ich bin wie mein Vater. Und sie saß am Esstisch – der Schreibtisch in ihrem Zimmer war unter Bergen von Papier vergraben, denen sie sich nicht stellen wollte – und plante ihre Woche. Verteilte ihre Schularbeiten in überschaubare, machbare Portionen auf die ganze Woche. Zusätzlich würde sie jeden Tag zwanzig Minuten an ihrem Vortrag arbeiten, den sie nächsten Monat halten musste.

Mein Hobby.

Poppy hatte keine Hobbys. Sie hatte verschiedene Instrumente ausprobiert, ohne bei einem zu bleiben. Sie trieb keinen Sport. Scharf geschossene Bälle schüchterten sie ein, Kletterstangen noch mehr.

«Du bist so ungelenk», sagte ihre Mutter und meldete sie zum Ballettunterricht an. Dort hätte es Poppy gut gefallen, die rosafarbenen Trikots, die weichen Schuhe mit dem Gummiband um den Rist, Poppy hielt ihren Fuß hoch und drehte ihn nach rechts und nach links, sie bewunderte ihren Fuß, es war ein echter Tanzfuß. Schon hatte sie vergessen, in die Knie zu gehen, plié, zwei, drei, vier, relevé!

Madame Fionas Bambusrute zischte durch die Luft und schlug hart gegen Poppys Knöchel. Madame Claire unterbrach ihr Klavierspiel. «Attention!», schrie Madame Fiona. Die anderen Mädchen kicherten und drehten sich zu Poppy um.

Trotzdem liebte sie den Ballettunterricht, vor allem, wenn sie eine Schrittfolge einübten und quer durch den großen Saal hüpften, zu zweit, zu dritt, auf den wandbreiten Spiegel zu, in ihn hinein und durch ihn hindurch. Poppy war ein Schmetterling, eine Blume, ein Sonnenstrahl – bis sie kopfvoran gegen die Scheibe prallte und auf ihrem Hintern landete.

Madame Fiona erklärte Poppy zum hoffnungslosen Fall und empfahl rhythmische Gymnastik. Dazu trug man schwarze Stoffschuhe mit Gummisohle. Poppy war bei den Pfadfinderinnen gewesen und in der christlichen Jugendgruppe, nirgends hatte sie es lange ausgehalten. Worüber sollte sie also ihren Vortrag halten?

Pillen schlucken. War das ein Hobby?

Als Poppy zwölf Jahre alt war, hatte ihre Mutter eine Psychoanalyse begonnen und war einer Selbsterfahrungsgruppe beigetreten. Seither weigerte sie sich, zu putzen und zu kochen, und auf ihrem Nachttisch stand, neben einem Stapel Bücher mit Titeln wie Die Scham ist vorbei, eine kleine braune Flasche voller grauer Pillen. Valium. Poppy hatte aus Neugier eine geschluckt. Zwanzig Minuten später hatte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben wohl gefühlt in ihrer Haut. Die kalte Hand in ihrem Nacken war weg. Das nagende Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.

Poppy war zu einer Art Klassenclown geworden, einer Vorzeigerebellin. Irgendwo tief versteckt in den Falten ihres Selbst bewahrte Poppy ein Bild von sich, das sie als intelligente, fähige Schülerin zeigte, und war immer erstaunt, wenn sie eine schlechte Note schrieb. Niemand außer ihr schien dieses Bild zu sehen. Sie zweifelte nicht daran, dass sie das Gymnasium schaffen würde, und fiel aus allen Wolken, als sie eine Klasse wiederholen musste. Obwohl sie sämtliche Vorwarnungen bekommen hatte. Ihre Mutter war immer bereit, das Absenzenheft zu unterschreiben. Sie wollte Poppy nicht in eine bürgerliche Existenz zwingen, die ihr eigenes Leben zerstört hatte. Das war die Erkenntnis, die sie in ihren Gruppen gewonnen hatte: Die Ehe hatte sie an ihrer persönlichen Entfaltung gehindert, unter dem Joch von Haushalt und Kindererziehung war sie zerbrochen. Poppy sollte es einmal besser haben, sie sollte sich verwirklichen, sie sollte frei sein. Wenn Poppy sich gegen die Schule auflehnte, amüsierte sie nicht nur ihre Klassenkameraden, sie hatte auch zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Mutter auf ihrer Seite.

Dass sie sich heimlich nach einem bürgerlichen Leben sehnte, verriet sie niemandem, dass sie im Stillen ihre Mitschülerinnen um ihre Gelassenheit beneidete, um ihre sauber geführten Hefte, um ihre glänzenden braunen Haare. Poppy hatte angefangen, ihr Haar mit Henna zu färben, als sie dreizehn war, es wurde jedes Mal leuchtender, roter. Man sah nur noch das: ihr rotes Haar. Sie war das Mädchen mit dem Feuerhaar. Sie beneidete ihre Mitschülerinnen um ihre Eltern, die meist Akademiker waren, die die richtigen Bücher in ihren Regalen stehen hatten, die sie für ihre Hausaufgaben brauchten, um eine Übersetzung nachzuschlagen, eine Quelle zu finden, einen historischen Zusammenhang herzustellen. Eltern, die jeden Nachmittag fragten, wie es in der Schule gewesen war, was sie für Hausaufgaben hatten, und die sogar dabei helfen konnten. Poppy hatte versucht, sich diesen Mädchen anzuschließen, war auch von der einen oder anderen nach Hause eingeladen worden, hatte gesehen, wie es sein konnte.

Doch sie hatte nichts gemein mit diesen Mädchen, die Vorträge hielten über ihr Geigenspiel und ihre Pferde, ihr Engagement in der Jugendtheatergruppe. Sie fühlte sich unwohl in ihren aufgeräumten Wohnungen. Sie fürchtete, durch ihre bloße Gegenwart das aufgeräumte Bild zu verschandeln, das Gespräch in gefährliche Bahnen zu lenken, sie konnte sehen, wie sich die glatten Haare ihrer Mitschülerinnen in ihrer Gegenwart unweigerlich zu kräuseln begannen. Poppy brachte die Tablettenflasche ihrer Mutter in die Schule mit und hatte bald eine rege Abnehmer- und Anhängerschaft. Sie setzte sich in der Pause zu denen, die Joints rauchten und Wein aus dem Keller ihrer Eltern tranken. Wenn Poppy benebelt genug war, vergaß sie, dass sie eine gute Schülerin sein wollte. Wenigstens wusste sie dann, warum sie die Aufgaben vergessen hatte. Warum sie die Frage nicht verstanden hatte. Es gab einen Grund für ihr Versagen.

Als klar war, dass sie die Versetzung auch im zweiten Anlauf nicht schaffen würde, verließ sie die Schule mitten im Quartal, bevor man sie hinauswerfen konnte. Ihre Mutter bat ihre Selbsterfahrungsgruppe um Hilfe und fand eine Au-pair-Stelle für Poppy in Paris. Ihr Vater brachte sie zum Zug. Vom Bahnhof fuhr er direkt zur Arbeit. Als er abends nach Hause kam, lag Poppys Mutter schon im Bett. Sie hatte die restlichen Pillen, die Poppy ihr gelassen hatte, auf einmal geschluckt.