Moonlight und die Tochter des Perlenfischers - Lizzie Pook - E-Book

Moonlight und die Tochter des Perlenfischers E-Book

Lizzie Pook

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Beschreibung

1886 Bannin Bay, Westaustralien: Strände voller glänzender Perlen und Muscheln so groß wie Teller – hier wollen die Brightwells mit Tochter Eliza ihr Glück finden. Zehn Jahre später ist Charles Brightwell der erfolgreichste Perlenfischer der Küste. Eines Tages jedoch kehrt sein Boot ohne ihn zurück, Charles ist spurlos verschwunden. Eliza weigert sich zu glauben, dass ihr Vater tot ist und forscht entschieden nach. Doch in einer Stadt voller Korruption, Vorverurteilung und Erpressung lernt sie schnell: Die Wahrheit wird mehr kosten als Perlen. Findet Eliza auf einer waghalsigen Seereise mit ihrem Boot Moonlight heraus, was wirklich passiert ist?

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Seitenzahl: 410

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ÜBERDASBUCH

Westaustralien, Ende des 19. Jahrhunderts: Nach einer kräftezehrenden Überfahrt erreicht das Schiff aus London die Küste der Bannin Bay. Vom Deck aus betrachten die junge Eliza Brightwell und ihre Familie ihr neues, fremdes Zuhause. Es ist ein unbarmherziges Land, in dem das Glück geduldig auf dem Grund des Ozeans liegt. Ein Meer, das unvorstellbare Reichtümer verspricht, jedoch den Perlenfischern ein hartes Leben abverlangt.

Zehn Jahre später kehrt das Perlentauchboot, dessen Kapitän Elizas exzentrischer Vater ist, nach Monaten auf See zurück – ohne Elizas Vater an Bord. Die Gerüchte der Stadtbewohner deuten auf Meuterei oder Mord hin. Die eigenwillige Eliza weiß, dass es an ihr liegt, herauszufinden, wer oder was wirklich verantwortlich ist. Wie weit ist Eliza bereit zu gehen, um das Geheimnis ihres verschwundenen Vaters zu lösen? Und welche Familiengeheimnisse werden sie auf dem Weg dorthin heimsuchen?

ÜBERDIEAUTORIN

Von London aus bereist die Journalistin Lizzie Pook die entferntesten Ecken der Welt – auf der Suche nach Schneeleoparden im Himalaya bis zu den unbewohnten Küsten von Grönland. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine wie The Guardian, Lonely Planet, The Sunday Times und Condé Nast Traveler. Lizzie Pooks erster Roman »Moonlight und die Tochter des Perlenfischers« basiert auf ihren gründlichen Nachforschungen über die Perlenindustrie und die Ära der britischen Kolonialherrschaft in Australien.

LIZZIE POOK

Moonlight

und die

Tochter

des

Perlenfischers

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN

VON ANDREA BRANDL

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Nachweise der Zitate:

[>>]: William Shakespeare, DERSTURM, I. Akt, 5. Szene, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, aus: William Shakespeare, SÄMTLICHEWERKE, Magnus Verlag, Essen, 2004.

[>>]: Robert Louis Stevenson, DIESCHATZINSEL, Kap. 7, übersetzt von Heinrich Conrad, aus: Robert Louis Stevenson, DIESCHATZINSEL, Goldmann Verlag, München, 1963.

[>>]: Dante Alighieri, DIEGÖTTLICHEKOMÖDIE, »Das Fegefeuer«, 2. Gesang, übersetzt von Karl Witte, aus: Dante Alighieri, DIEGÖTTLICHKOMÖDIE, Askanischer Verlag, Berlin, 1916.

[>>]: Thomas Moore, LALARUKH, übersetzt von Friedrich de la Motte Fouquet, aus: Thomas Moore, LALARUKH, DIEMONGOLISCHEPRINZESSIN, Verlag Christian F. Schade, Wien, 1826.

Copyright © 2022 by Lizzie Pook

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel Moonlight and the Pearler’s Daughter

bei Mantle, London.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Antje Nissen

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Magdalena Russocka/Trevillion Images;

Shutterstock.com (Palsur; Belish; Arthur Balitskii)

Kartengestaltung: James Mills-Hicks, Ice Cold Publishing

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-28426-8V001

www.diana-verlag.de

Für Rose

Anmerkung der Autorin

Ich erkenne die Völker der Aborigines und Torres-Strait-Inseln als First Peoples des australischen Kontinents und der Region an, in der diese Geschichte spielt, und zolle den Ältesten von damals und heute meinen Respekt.

Fünf Faden tief liegt Vater dein,

Sein Gebein wird zu Korallen;

Perlen sind die Augen sein;

Nichts an ihm soll verfallen,

Das nicht wandelt Meereshut

In ein reich und seltnes Gut.

Nymphen läuten stündlich ihm,

Da horch! ihr Glöcklein: Bim! bim! bim!

William Shakespeare

Der Sturm

Auf in See! Hol der Teufel den Schatz!

Die Herrlichkeit der See hat mir ganz den Kopf verdreht.

Robert Louis Stevenson

Die Schatzinsel

Prolog

Bannin Bay, Western Australia, 1886

Nie zuvor hat Eliza ein Land gesehen, das so sehr Blut ähnelte. Wie ein rot schimmernder, von der Sonne ausgedörrter Fleck erstreckt es sich vom Deck des Dampfers aus scheinbar endlos in der Ferne.

Sie hebt eine Hand, um ihre Augen gegen das grelle Licht abzuschirmen, stellt sich auf die Zehenspitzen und späht über die polierte Reling auf das in leuchtendem Grün glitzernde, wogende Meer mit dem rot flirrenden Staub im Hintergrund. Etwas Beunruhigendes liegt in der matten Brise, heiß und vom mineralischen Seegrasgeruch erfüllt.

»Wir haben es geschafft, meine Liebsten, wir haben es geschafft. Wunderbar.« Die Spitzen von Vaters sorgsam eingeöltem Schnauzer heben sich, als er grinst. Er kehrt seiner Familie den Rücken zu und blickt auf die eigentümlich anmutende Landschaft mit den spiegelnden Buchten und schartigen Klippen in der Farbe zertretener Insekten.

Diese Reise wird ihre Rettung sein. Das hatte Vater ihnen bei Hammelbraten mit Soße zu Hause erklärt. Zuerst hatte er sie mit Geschichten von Perlenmuscheln gelockt, von den Schätzen aus schimmernden, champagner-, creme- oder silberfarbenem Perlmutt geschwärmt. Gemeinsam mit seinem Bruder würde er eine Flotte aus Loggern zusammenstellen, um das kostbare Gut aus den Tiefen des Meeres zu bergen und es in rauen Mengen an die Amerikaner und Franzosen zu verkaufen. Die Welt sei regelrecht verrückt nach Perlen aus Bannin Bay, aus deren Perlmutt sich Knöpfe und die prächtigsten Pistolenknäufe fertigen ließen, die man sich nur vorstellen könne.

Mit offenen Mündern hatten sie zugesehen, wie Vater den alten Atlas hervorgezogen, die Seite aufgeschlagen hatte und mit der flachen Hand über eine Gegend namens New Holland gestrichen war. »Hier, seht nur.« Mit dem Finger hatte er die westliche Küstenlinie nachgezogen. »Wenn wir erst einmal dort sind, können wir alles vergessen, was vorgefallen ist.«

Der Strand erstreckt sich in gleißendem Weiß vor Eliza, dahinter zeichnen sich scharf die Dünen mit wogendem Salzbusch ab. Möwen kreisen über einem Anlegesteg, der sich wie ein gewundener Krokodilschwanz in einen Mangrovenhain hineinschlängelt.

Ihr Vater befiehlt ihnen, ihm zu folgen, geht voran, ihren Onkel Willem und ihre Tante Martha im Schlepptau, dann verlassen ihre Mutter und ihr Bruder das Schiff. Thomas, der Eliza mittlerweile um einen ganzen Kopf überragt, sticht in seinen kurzen Hosen und seinem geplätteten Jackett in der Gluthitze hervor. Sie blickt hinter sich und sieht die gebeugten Schultern der Schauerleute, die in schmutzigen Westen und knielangen Moleskinhosen die verbliebenen Habseligkeiten der Brightwells von Bord schaffen.

Eine Hand Halt suchend nach den Röcken ihrer Mutter ausgestreckt, betritt Eliza vorsichtig den Steg, als ihr unvermittelt und so schnell wie ein durch Speck gleitendes Messer die Füße unter dem Boden weggerissen werden und sie mit dem Hinterteil auf den Planken landet. Trotz des widerlichen Gestanks stützt sie sich mit der flachen Hand auf dem schmierigen Holz ab. Überall kleben Fischschuppen und faserige Fleischfetzen, die in der Sonne knochentrocken werden. »Komm, Eliza. Wisch dir die Hände ab.« Eliza blickt auf die breite, tröstliche Hand ihrer Mutter.

Eliza reibt sich die Ellbogen, streicht ihre Röcke glatt und lässt sich von ihrer Mutter wieder auf die Füße ziehen. Die Sonne wirft glitzernde Punkte auf das Meer, die wie winzige Sterne vor Elizas Augen verschwimmen. Sie sieht auf, doch der Himmel ist halb vom Seidenhut ihrer Mutter verdeckt, dessen geradezu absurd breite Krempe zu Hause schon so manchen Mann fast in die Knie gezwungen hat. Wie fremd sie an diesem merkwürdigen neuen Ort wirkt, denkt Eliza. Wie eine Libelle, einst prachtvoll strahlend, sitzt sie nun in einem Eimer voll abgestandenem Schmutzwasser fest.

Sie setzen ihren Weg über den Steg fort, immer ihrem Vater und Bruder hinterher. Schweiß sammelt sich in Elizas Kniekehlen und Ellbogen. Mit ausdruckslosen Mienen sehen die Arbeiter ihnen zu, drehen wortlos ihre schmutzigen Kalfathämmer und -eisen in den rauen Händen. Ihre Mutter schenkt ihnen keinerlei Beachtung – was jemandem wie ihr, die an Bewunderung gewöhnt ist, nicht weiter schwerfällt –, sondern blickt stattdessen auf den changierenden Ozean jenseits des Ufers.

»Sieh nur, Kind, wie wunderschön.« Lächelnd geht sie vor Eliza in die Hocke, sodass sich ihre Gesichter auf derselben Höhe befinden. Eliza spürt den herannahenden Schwall bereits, bevor er auftrifft, registriert die Bewegung aus dem Augenwinkel, wendet sich jedoch einen Sekundenbruchteil zu spät ab. Mit einem Ächzen spritzt es über sie und ihre Mutter hinweg, übel riechend und mit festen Brocken darin, ehe es ihr mit widerwärtiger Langsamkeit übers Gesicht rinnt. Beide wenden sich einem Mann mit wettergegerbtem Gesicht und ein paar vereinzelten grauen Zahnstümpfen zu, der einen Eimer mit Fischabfällen unter dem Arm hält, die schrundige Hand entschuldigend erhoben.

»Tut mir leid«, presst er hervor, obwohl der Anflug eines Lächelns seine Mundwinkel umspielt. »Aber die Damen sind mir geradewegs in die Bahn gelaufen. Ich bitte vielmals um Verzeihung.« Er tritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. »Bitte sehr.«

Mit einem empörten Schnauben zerrt Elizas Mutter ihre Tochter unwirsch hinter sich her. Eliza wischt sich den Unrat aus dem Gesicht, wendet sich noch einmal um und sieht, wie der Mann den Hut abnimmt, einen dicken Klumpen Schleim aus der Kehle hochzieht und ihn mitsamt einem klebrigen Speichelfaden auf den Boden vor sich spuckt. Eliza immer noch fest an der Hand, beschleunigt ihre Mutter entsetzt ihre Schritte, während Eliza auch jetzt noch hinter sich sieht.

Die Worte erreichen sie kaum, ehe die Brise sie schon mit sich fortträgt. Vier Worte, die sie niemals vergessen wird.

»Willkommen in Bannin Bay.«

Kapitel 1

Zehn Jahre später

Bannin Bay, Western Australia, 1896

Sie wird die Kakerlake einfach sterben lassen. Ja, genau das wird sie tun. Zunächst wird das Insekt noch eine Weile hilflos zappelnd in der schwülen Hitze auf dem Rücken liegen, bevor die Bewegungen seiner Beinchen immer langsamer werden und schließlich vollends erstarren.

Draußen streckt die aufgehende Sonne ihre Strahlen wie weiche Finger über das Land. Über der Bucht wird das Kreischen der Seevögel laut, und das sanfte Licht der Morgendämmerung taucht die staubige Landschaft in wattiges Rosa. Elizas Blick fällt auf die Kommode und die Uhr mit den schimmernden vier Monden hinter dem verstaubten facettierten Glas. Ihre Finger tanzen, als sie im Geiste die Zahlen addiert.

Einundsechzig.

So viele Nächte hat sie allein in diesem Bungalow geschlafen. Und mit jeder weiteren wird ihre Einsamkeit anwachsen, wie festbackender Ruß im dunklen Kaminschlot. Wenn sie allein ist, was ziemlich häufig passiert, macht sie die Geräusche des Alltags zu ihren Gefährten: das ungeduldige Knacken des rostenden Eisens, das leise Klick, Klick, Klick der Schabenbeinchen auf dem polierten Fußboden aus Eukalyptusholz. Heute jedoch – an diesem Tag, an dem es so schwül ist, dass man die Feuchtigkeit auf der Zunge spüren kann – wird ihr Zuhause wieder mit Leben erfüllt werden.

Sie schlüpft in ihre Stiefel und streicht ihre Röcke glatt, während sie sich ausmalt, wie Bannin Bay allmählich erwacht. Die weit aufgerissenen Fensterläden überall in der Stadt; Ladenbesitzer, die mit gebeugtem Rücken den Bürgersteig vor ihren Geschäften fegen; der Wind, der durch die verschlammten Straßen pfeift und Geschichten vom Tod auf dem Meer heranträgt. Die Leute werden einander grüßen, sich im Vorbeigehen die Höhe der Muschelausbeute zuflüstern und von aufziehenden Stürmen raunen, die wie halb verfaulte Zähne den Himmel verfärben. Im Watt wird der erste Logger im blauschwarzen Schlick auflaufen und zur Seite kippen, ehe schließlich auch die anderen Perlenfischerboote nach Monaten auf See ankommen. Ihr Vater und ihr Bruder werden unter den Heimkehrenden sein und Elizas Einsamkeit ein Ende bereiten.

Sie bändigt ihr Haar mit einer Schleife und wischt sich einen Schmutzfleck vom Hals. Die mit jeder Minute klarer werdende Morgensonne dringt durch das Gitterwerk vor den Fenstern und wirft breite Schattenmuster auf die Möbel. Ein Blick über die Schulter bestätigt, dass das Insekt noch lebt. Zehn Jahre, und sie hat sich immer noch nicht an die Schaben gewöhnt. Sie ist nicht sicher, ob es ihr jemals gelingen wird. Sie baut sich über dem Ungeziefer auf und betrachtet es, den glänzenden Körper, die wie abgeknickte Zweige aussehenden Krabbelbeine. Dies ist ein Ort, an dem der Tod an jeder Ecke lauert, denkt sie. Überall in der Stadt stolpert man darüber – aufgeblähte Krokodile in den Fallen neben dem Kingfish Hotel, im Sand knapp unterhalb der Flutlinie eingesunkene Leichen ertrunkener Perlentaucher.

Sie schließt die oberen Knöpfe ihrer Bluse und schlüpft aus dem Haus. Inzwischen sind ihr die unbefestigten Wege so vertraut wie früher die Straßen Londons, nur dass hier orangefarbener Staub statt dichtem Nebel und Gossenschmutz himmelwärts wabert. Rosakakadus sitzen laut keifend zwischen den Blüten, überreife Mangos schimmern wie dickliche Königinnen an den Bäumen.

Nach wenigen Metern bleibt sie unvermittelt stehen und dreht sich zu dem auf grauen Steinstelzen gebauten Bungalow um. Ihre Schultern sacken herab. Schwer seufzend schleppt sie sich die Treppe wieder hinauf und tritt durch die Tür. Ihre Röcke streifen über die mehrere Wochen alte Terpentinpolitur auf dem Holzboden, als sie durch das Haus geht. Sie beugt sich über das Insekt und dreht es mit einem sanften Schnippen des Zeigefingers auf die Beine zurück. Sein winziger Körper scheint unter der Berührung kurz zu erbeben, ehe es suchend die vibrierenden Fühler in die Luft reckt. Als Eliza wieder hinaus in die Hitze tritt, hat es sich längst in Bewegung gesetzt und ist davongeflitzt.

* * *

Ein Perlenlogger kann über mehrere Monate auf See bleiben. Bei der Rückkehr ist die Crew von einer dicken weißen Salzkruste überzogen, die sie wie gesalzene Heringe aussehen lässt. In Anbetracht ihrer langen Zeit auf den engen Holzbooten, ganz auf sich gestellt und ständigen Gefahren wie reißenden Fluten oder starker Strömung ausgesetzt, ist es kein Wunder, dass enge Bindungen entstehen, die weder von Ereignissen noch von anderen Menschen gebrochen werden können. Mit Blei beschwerte Stiefel halten die Taucher am Meeresboden, dazu tragen sie dicke Brustplatten und mit dem Helm ein Halsstück aus Kupfer auf den Schultern. In der Zeitung hat Eliza gelesen, dass Männer, die durch einen Schlag des Baums über die Reling gerissen wurden, vom Gewicht all des Metalls in die Tiefe gezogen wurden und qualvoll ertranken. »Die Helfer an Bord müssen die Taucher langsam nach oben ziehen«, hatte ihr Vater stets betont. »Macht man es zu schnell, können sie schlimmste Verletzungen erleiden, die sie für immer zum Krüppel machen.« Manche Männer waren bereits tot, wenn man sie aus dem Wasser zog, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, mit brutal in den Brustkasten gepressten Mägen und Gedärmen; andere mit aufgedunsenen Gesichtern, geschwollenen tiefschwarzen Zungen und irren, durch den Wasserdruck aus den Höhlen gedrückten Augen.

Mittlerweile befindet sich die White Starling seit fast neun Wochen auf See. Die geborgenen Perlmuscheln lagern im Schiffsrumpf, gemeinsam mit Trockenfisch und Currypulver. Viele Male hat Eliza die Männer bei ihrer Rückkehr gesehen – magere, hohlwangige Burschen mit tief in den Höhlen liegenden Augen, die in teilnahmsloser Erschöpfung von Bord wanken, ihre hervorstehenden Knochen wie Klaviertasten, die nur darauf warten, dass man auf ihnen spielt.

* * *

Sie setzt ihren Weg zum Anlegesteg fort, begleitet von mattem Nicken der Stadtbewohner, deren flache Bungalows, geschützt von schwankenden Palmen und Eukalyptusbäumen, allesamt in hellem Beige oder kränklich-fahlem Grün gestrichen sind, was sie jedoch kaum vor dem rötlichen Staub bewahrt, der sich überall breitmacht.

»Du bist auf dem Weg, um sie in Empfang zu nehmen, ja?« Mrs. Riesly späht unter einem kühlenden Tuch hervor. Eliza hat Mühe, sie über den Radau der Kakadus auf dem Dach hinweg zu verstehen. »Heute kommen sie wieder, stimmt’s?« Die alte Witwe stemmt ihren fülligen Leib vom Verandastuhl. Eliza nickt mit einem dünnen Lächeln und geht weiter, Mrs. Rieslys neugierige Blicke im Rücken.

In den Büschen und Sträuchern summen die Insekten, als Eliza den Weg entlangeilt, zunächst noch über rötlichen Staub, der schließlich in blassgoldenen Sand übergeht. In der Ferne erblickt sie die sturmgebeutelten Baracken unter den stämmigen Eukalyptusbäumen. Selbst jetzt noch verschlägt ihr der Kontrast den Atem. Bungalows inmitten weitläufiger Grundstücke voll üppiger Vegetation, dahinter der Ozean in der Farbe von geschmolzenem Eisen, dessen Wellen sich in der brütenden Hitze kräuseln.

»Die Bürste hat heute wohl nicht den Weg durch dein Haar gefunden, was?«, ruft Min ihr aus einer nahe gelegenen Hütte zu. Offenbar ist sie bei der Arbeit. Lächelnd geht Eliza zu ihr. »Heute ist der große Tag, stimmt’s?«, fragt ihre Freundin. Mins Haar ist zu einem ordentlichen Knoten im Nacken frisiert und mit perlmuttbesetzten Nadeln festgesteckt, die wie eine Schneckenspur in der Sonne glitzern. Eliza weicht zurück, als ein gedämpftes Husten aus den Tiefen der Hütte dringt.

»Ich will es hoffen.« Sie nickt knapp. Beim Gedanken daran, ihren Vater schon bald wiederzusehen, zieht sich ihr Herz zusammen. »Diesmal war es besonders lange. Aber es geht mir gut. Wirklich. Es geht mir gut«, erklärt sie, wie üblich bemüht, ihre Stimme sachlich klingen zu lassen. Ein winziges Diamanttäubchen landet auf einem Ast über der Hütte. Die beiden jungen Frauen sehen zu, wie es seine Schwanzfedern putzt, ehe es innehält und sie aus seinen von einem orangefarbenen Ring umgebenen Knopfaugen ansieht.

»Nun ja, ich nehme an, es ist jedes Mal schwer«, bemerkt Min schließlich. »Vor allem, wenn man drauf wartet.« Geistesabwesend kaut sie auf ihrer Unterlippe. Ihre Züge sind scharf, beinahe wie gemeißelt.

»Du stellst meine Geduld auf eine harte Probe, Mädchen«, ertönt eine missgelaunte Stimme aus dem Inneren der Hütte. Eliza zuckt zusammen, findet jedoch sofort ihre Beherrschung wieder, nur ihre Gesichtszüge bekommt sie nicht rechtzeitig unter Kontrolle.

»Ach, Missy, muss ich dich daran erinnern, dass nicht jeder einen Vater mit einer eigenen Flotte hat?« Min streicht sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr. Eliza verspürt einen Anflug von Gewissensbissen. In dem Moment bemerkt sie den Schmuck an Mins kleinen Ohrläppchen – vielleicht das Geschenk eines Verehrers. Aber vermutlich eher dessen Entschuldigung.

Dabei war es nicht immer so. Als sie noch klein waren, zusammengeschweißt durch ein Leben in dieser Stadt im scheinbar hintersten Winkel des Erdballs, hatten sie ausgelassen über Abenteuer auf dem Meer fantasiert, hatten einander heimlich ihre Träume anvertraut, ferne Länder zu entdecken. Min sprach unverblümt von wilden Romanzen, in die sie sich stürzen wollte, von dem tapferen Seemann, den sie eines Tages heiraten würde, und ihren gemeinsamen Kindern, die prächtig wachsen und gedeihen würden. Sie war ganz vernarrt in die Babys der Damen der Gesellschaft, gurrte und säuselte mit den Winzlingen, nur um von den Müttern wie eine lästige Schmeißfliege verscheucht zu werden, wenn sie für deren Geschmack zu nahe herankam. Mit den Jahren offenbarte sich Mins Schönheit immer mehr, wohingegen Eliza eher unscheinbar und reizlos wurde. »Du wirst es in der Stadt nie zu etwas bringen, wenn du keinerlei Interesse an Männern zeigst«, hatte Min sie oft geneckt.

»Ich habe durchaus Interesse an Männern«, hatte Eliza dann kühl entgegnet, »nur eben nicht an einem künftigen Ehemann.«

»Interesse an der Bibliothek eines Mannes gilt nicht als Interesse an Männern«, hatte Min dann tadelnd gekontert.

»Oi!« Wieder dringt die verärgerte Stimme aus den Tiefen der Hütte. »Ich bezahle dich nicht fürs Schwätzen.«

Mit einem Blick über die Schulter löst Min ihre Stola.

»Ich sollte dann mal lieber.« Sie drückt Eliza einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwindet im Halbdunkel der Behausung.

* * *

An dem in der sengenden Sonne daliegenden Anlegesteg herrscht rege Betriebsamkeit. Wie Ameisen, die emsig Blätter zu ihrer Königin tragen, eilen die mit Körben beladenen Männer zwischen den Perlenbooten und dem Ufer hin und her, wobei ihre lauten Stimmen in der warmen Brise heranwehen. Und über allem hängt ein penetranter Gestank nach altem Schweiß, weichem Uferschlamm und verrottetem Austernfleisch, ein Geruch nach dem Leben und dem Tod gleichermaßen, denkt Eliza mit einem tiefen Atemzug.

Einige der Boote haben bereits festgemacht, und schon bald wird man sie in die Ufergräben ziehen, damit sie vor heftigen Böen geschützt sind. Im Schlamm kippen die Logger zur Seite, sodass bei Einsetzen der Flut das Wasser über die Rippen aus Kajeputholz hinwegwäscht und Ratten und Kakerlaken orientierungslos auf den Strand gespült werden.

Sie blickt auf das zurückweichende Wasser, doch weit und breit ist nichts vom Schiff ihres Vaters zu sehen. Die Intensität der Gezeiten in Bannin Bay überrascht sie immer wieder – wie schnell die Flut einsetzt und das Wasser durch die Mangroven drückt, nur um sich, scheinbar innerhalb eines Wimpernschlags, wieder zurückzuziehen. Die Perlentaucher und ihre Crews haben sowohl ihr Leben als auch ihr Sterben voll und ganz auf die Anziehungskraft des Mondes ausgerichtet, auf Spring- und Nipptiden, auf die endlose Schleife aus einlaufenden und hinausfahrenden Booten.

Die Hitze ist die reinste Tortur. Eliza zieht ihren Kragen vom Hals weg und rollt die Ärmel bis zu den Ellbogen auf. Ihre einst bleichen Unterarme haben inzwischen eine sanfte Bräune angenommen, die den früheren Freundinnen ihrer Mutter gewiss gar nicht gefallen würde. Nach all den Jahren in Bannin Bay weiß Eliza, dass man gefälligst eines von beiden sein sollte: eine Dame der Gesellschaft, die weiße Handschuhe trägt, oder ein gewöhnliches Flittchen. Sie ist weder das eine noch das andere, und ihre Weigerung, sich der Sittsamkeit der ersten Gruppe zu unterwerfen, hat schon so manche der Frauen hier erzürnt. Wenn sie ihnen, diesen sorgsam zurechtgemachten Geschöpfen, auf der Straße begegnet, sehen sie aus wie etwas, das man auf einer Torte erwarten würde, der duftige Taft, aus dem ihre Tageskleider gefertigt sind, oder die Schleier der Hüte. Dazu tragen sie Handschuhe sowie hübsche Perlmuttbroschen an der Brust. Im Vorbeigehen würdigen sie Eliza keines Blickes.

Sie setzt sich auf eine lose Planke, schiebt sich die Röcke unter die Beine und presst die Finger auf ihre verbrannte Kopfhaut, sodass der Schmerz ihr Blut für einen kurzen Moment in Wallung bringt. Pelikane stolzieren umher, ein einzelner Fischadler dreht seine Runde über die Dünen. Sie streicht sich das Haar aus der Stirn und blickt auf den Ozean hinaus. Allmählich erscheinen erste Segel am Horizont, leuchtend weiß wie polierte Knochen im Dunst.

»Wahrscheinlich sind sie alle abgesoffen«, krächzt eine verschleimte Stimme hinter ihr, gefolgt von einem keuchend-pfeifenden Gackern. Eliza dreht sich halb um, bis ihr Gesicht sich auf Augenhöhe mit einem stämmigen Holzbein befindet – so dicht, dass sie die Nagespuren der gefräßigen Holzwürmer darin erkennen kann. »Charles war ja noch nie ein guter Seemann.« Ihr Onkel, dessen einst weißer Anzug braun vom Staub ist, verzieht das Gesicht mit den hohlen Wangen und der höchst unkleidsamen wächsernen Gesichtsfarbe zu einem boshaften Feixen, ehe er einen zittrigen Zug an seiner stumpfstieligen Tabakspfeife nimmt. Die Haut an seinen Händen ist von Sandfliegenbissen übersät.

»Willem.« Sie bemüht sich, seinen säuerlichen Schnapsatem zu ignorieren, als sie sich erhebt. »Ich wollte nur das Empfangskomitee bilden. Bist du wohlauf?« Sie hofft, dass ihre aufgesetzte Freundlichkeit halbwegs überzeugend klingt. Bestimmt ist es kein Zufall, dass ihr Onkel ausgerechnet in diesem Moment auftaucht, denn er drückt sich häufig an der Anlegestelle herum, wenn die Schoner die bevorstehende Rückkehr der Perlenfischerflotten ankündigen. Er giert förmlich nach den Perlmuscheln, die er selbst nie wieder erbeuten wird, und kann kaum den Blick von den eleganten Tropenhelmen der Perlenbarone wenden, fährt sich beim Anblick ihrer glänzend polierten weißen Schuhe vor Aufregung mit der Zunge über die Lippen.

»Sag deinem Vater, er soll mich sofort nach seiner Ankunft aufsuchen«, ordnet Willem an. »Wir haben wichtige Angelegenheiten zu besprechen.« Eliza sieht ihm nicht hinterher, als er davonhinkt.

Der Nachmittag zieht sich unter der sengenden, wie ein poliertes Pennystück am Himmel strahlenden Sonne. Eliza vertreibt sich die Zeit, indem sie sich ausmalt, wie der tief im Wasser liegende Logger ihres Vaters unter vollen Segeln durch die kreidig türkisfarbenen Gewässer gleitet, wie Shuzo Saionji, der oberste Taucher, im trüben Licht des beginnenden Tages langsam ins Wasser gleitet. Sie schmeckt förmlich das Fleisch der Muscheln, die an sämtlichen Masten zum Trocknen hängen, hat den scharf-süßlichen Schweißgeruch der Mannschaft in der Nase – barfüßige Helfer, Muschelöffner und Köche, die schlaffe Angelschnüre über das Schandeck hängen. Schließlich hat sie das vertraute Gesicht von Balarri vor Augen, die tief in seine sonnengegerbte Haut gegrabenen Furchen des Alters.

Ihre Ohren klingeln leise in der Hitze, während sich immer mehr Logger dem Anleger nähern. Mit sich bringen sie das mulmige Gefühl, das sich in langsamer, ätzender Beständigkeit durch ihren Körper frisst. Sie sieht zu, wie völlig entkräftete Männer von Bord taumeln, ausgehungert nach Rum und ein bisschen Tröstlichkeit nach all den Wochen zwischen Segeltuch und Schiffsplanken. Zwei mickrige Kapuzineräffchen, beide in Brokatwesten und Fez-Hütchen auf dem Kopf, klettern von den Masten eines der Boote und flitzen über den Steg. Eliza blinzelt kaum. Verwegene Perlentaucher marschieren an ihr vorbei. Sie wirken wie die Soldaten, die sie in den Geschichtsbüchern ihres Vaters gesehen hat, strammen Schrittes mit hochgezogenen Knien marschierend, dazu die rauchenden Gewehre und flatternden Fahnen. Sie kennt die Landuniform der Perlentaucher so gut, dass sie sie auswendig zeichnen könnte – die Filzhüte, die weißen Hemden, weiten Seidenhosen und seidenen Halstücher.

Mittlerweile wandert die Sonne weiter auf die Rückseite der Dünen und taucht die Spitzen des vertrockneten Süßkopfgrases in warmes Licht. Immer noch kein Anzeichen der Starling – die Erkenntnis bohrt sich tief in Elizas Eingeweide, quetscht sie zusammen. Sie versucht, das Gefühl zu ignorieren. Sie kennt dieses Spielchen, die ewige Warterei. Bald wird der Logger eintreffen, und dann ist alles gut. So ist es immer. Sie schluckt gegen den sauren Geschmack in ihrem Mund an und lässt den Blick über die arbeitenden Männer schweifen, wohl wissend, dass keiner sich für ihr wenig auffälliges Äußeres interessieren wird: die grauen Augen, ihren jungenhaften Körper, ihre nach einer Begegnung mit der Faust ihres Bruders leicht schiefe Nase. Daher hat sie keine Scheu, die Männer zu beobachten, sich von der Vertrautheit ihres Anblicks beruhigen zu lassen. Doch noch während ihr Blick über die breiten Schultern und verschwitzten Nacken wandert, verspürt sie ein Kribbeln, zuerst in der Brust, dann bis hinauf hinter ihre Ohren. Suchend späht sie den Horizont entlang, als ihr unvermittelt bewusst wird, dass jemand sie beobachtet. Ein Mann, der sich den breitkrempigen Hut aus dem Gesicht geschoben hat, mit schmalem Gesicht und kantigem Kinn, lächelt ziemlich seltsam herüber – das Gefühl, das sein Lächeln in ihr auslöst, ist nicht gänzlich angenehm. Demonstrativ kehrt sie ihm den Rücken zu.

Weitere Stunden vergehen, und die Furcht verdickt sich zu einem unangenehmen Knoten in ihrem Innern. Die anderen Logger sind alle längst vertäut und gelöscht. Allmählich dämmert es, und nur eine Handvoll Arbeiter ist noch zugange. Gerade als sie aufgeben und sich ganz allein auf den beklemmenden Heimweg machen will, erscheint ein stecknadelkopfgroßes Licht am Horizont. Sie springt auf und legt den Kopf schief. Wenn sie sich anstrengt, kann sie mit Mühe die winzige Silhouette eines Loggers ausmachen. Ihre Kehle wird eng. Sie kneift die Augen zusammen, und jetzt erkennt sie auch die Schiffsfarbe. Die Starling war immer schon strahlend weiß gewesen, eine Art Gespensterschiff im endlosen blaugrünen Meer.

Langsam gleitet sie näher, und obwohl sie die Männer an Deck herumwerken sieht, spürt Eliza, dass etwas nicht stimmt. Beklommen lässt sie den Blick über den Logger schweifen. Da: Die Fahne ist nicht dort, wo sie sein sollte, sondern hängt schlaff und verloren auf halbmast. Eliza schluckt. Das Blut rauscht in ihren Ohren. Sie kennt diesen Anblick.

Die Deckhelfer springen von Bord, um das Schiff zu vertäuen. Elizas Zehen spannen sich an, als sie darauf wartet, dass ihr Bruder und ihr Vater von Bord gehen. Zuerst erscheint Shuzo, der oberste Taucher. Seine Augen sind beängstigend weit aufgerissen, sein Kiefer ist angespannt. Sie ruft ihn, doch er meidet ihren Blick.

»Es tut mir so leid, Eliza.« Seine Stimme ist kaum mehr als ein leises Tröpfeln, die Medaillen, die die Taucher nach der Saison für ihre Erfolge angesteckt bekommen, schimmern im Schein der untergehenden Sonne an seiner Brust. Er schlüpft an ihr vorbei. Innerhalb von Sekunden hat ihn die Stadt verschluckt. Sie eilt zum Steg, als ihr Bruder in Sicht kommt. Sein Hemd ist schmutzig, seine Hose salzverkrustet und knittrig. Sie fragt sich, weshalb er nicht wie Shuzo seine weiße Landganguniform trägt. Ihr Bruder, stets schlank und drahtig wie ein Hütehund, ist dünner, als sie ihn je gesehen hat, und er hat sich den Hut so tief über die Augen gezogen, dass sein unrasiertes Gesicht vollständig im Schatten der Krempe liegt. Eine tiefe Düsternis breitet sich in Eliza aus, von den Füßen hinauf bis zur Kehle. Sie ruft seinen Namen, bis sich ihre Blicke begegnen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht höhlt sie aus wie eine Kalebasse, fast glaubt sie, das Vibrieren ihrer Nerven in ihrem Innern zu spüren, und die Welt scheint für einen kurzen Moment stillzustehen.

»Wo ist er?« Sie weiß nicht einmal, wie ihre Lippen die Worte formen.

Er blinzelt. Einmal. Graue Augen so hart wie Stein. »Fort.«

Kapitel 2

1886

Sie werden sich hier gewiss sehr wohlfühlen.« Die Worte aus dem Mund des Mannes klangen klebrig-süß und gedehnt. Eliza konnte den Blick nicht von seinen weißen Lederschuhen lösen, die so gründlich poliert worden waren, dass das Leder ganz dünn war und sich die Umrisse seiner Zehen darunter abzeichneten.

Der Dampfer war nur noch eine Rauchwolke am Horizont. Die heiße Luft, die sich von innen an ihre Kehle zu legen schien, machte Eliza gewaltig zu schaffen. Sie dachte an den Qualm aus den heimatlichen Fabrikschloten und spürte, wie sich ihr Brustkasten zusammenzog. Wie sehr sie sich nach der vertrauten grauen Tristheit der Heimat sehnte.

»Nun, ich möchte Sie ja nicht unnötig in Sorge versetzen, aber es kommt gelegentlich zu Unstimmigkeiten zwischen den Leuten hier. Seien Sie also gewarnt.« Septimus Stanson klopfte sich den Staub von der Hose und zog einen Seidenfächer heraus, mit dem er sich vor dem Gesicht herumwedelte. »Wir sind in diesem Landstrich ein ziemlich zusammengewürfelter Haufen, eine außergewöhnliche Mixtur aus Europäern, Malaien, Männern aus Manila und Kupang und natürlich zahllosen Japanern.« Tröpfchen glitzerten in den Falten seines Halses und vibrierten gefährlich bei jeder Bewegung des albernen Fächers. »Natürlich sind wir Europäer gewaltig in der Unterzahl – auf einen von uns kommen während der Liegezeit außerhalb der Saison schätzungsweise hundert von denen –, aber immerhin haben wir in der Kolonie noch das Sagen, und die Pearler’s Association nimmt britische Neuankömmlinge sehr gerne unter ihre Fittiche.« Eliza hatte zu dem dürren Mann und seiner Frau hochgesehen, die so viel jünger aussah als er und von ungewöhnlicher Schönheit in ihrem hellgelben Kleid war.

»Als Präsident besagter Perlenfischervereinigung habe ich das große Vergnügen, alle neuen Mitglieder willkommen zu heißen.« Stanson blickte Elizas Vater und Willem an. »Ich hoffe, die Herren beehren mich heute Abend zu einem Gläschen Squareface und einer schönen Zigarre. Und was Sie betrifft …«, Eliza hatte gespürt, wie ihre Mutter zusammengezuckt war, »… nun, ich werde dafür sorgen, dass Iris Sie dem hiesigen Ladies’ Circle vorstellt. Das ist die beste Methode, die anderen Ehefrauen in der Bucht kennenzulernen.« Eliza vermochte die Miene ihrer Mutter nicht zu deuten, als diese sich an diesem wenig einladenden Ort umsah. Wollten sie allen Ernstes hier den Grundstein für ihr Vermögen legen? Eliza hatte ihren Vater angesehen, der sich jedoch nicht überwinden konnte, ihrem Blick zu begegnen.

* * *

Am schlimmsten war die Hitze, das Gefühl, dieser gnadenlosen Sonne hilflos ausgeliefert zu sein. In jenen ersten Wochen schien Eliza regelrecht im Schweiß zu schwimmen. Jeden Morgen beim Aufwachen war ihr Nachthemd klitschnass, und wenn sie es wusch, klebten orangerote Hautschüppchen in den Fasern. Dann begann alles zu gammeln. Überall blühte der Schimmel in adergeflechtartigen Gebilden, und in sämtlichen dunklen Ecken und Spalten moderte es. Als Nächstes hielten Motten und Silberfischchen Einzug. Innerhalb kurzer Zeit war alles ruiniert, was sie noch an zu Hause erinnerte. Im Freien stachen sie aggressive Bremsen durch den Stoff ihrer Bluse und bescherten ihr Beulen so groß wie Hühnereier. In den Büschen und Sträuchern gifteten sich allerlei Vögel an, und fiese Zecken ließen sich von Grashalmen auf einen fallen, um einem die Köpfe in die Haut zu bohren und sich mit Blut vollzusaugen, bis Thomas ihr zeigte, wie sie die Biester, eins um das andere, abfackeln musste, damit sie von ihr abließen.

Etwas wie Bannin Bay hatte sie noch nie gesehen, vielmehr hatte sie sich den Rest der Welt stets ähnlich wie London vorgestellt. Hier jedoch wirkte alles so ungeniert grell – die Steine, das Wasser, die Luft, alles. Wussten die Bäume denn nicht, dass man auch sanft, grün und weich sein konnte? Offensichtlich nicht, denn sie präsentierten sich als formlose, schorfige Rindengewächse, die wie zerknibbelte Pflaster aussahen. Und auch auf den Regen war sie nicht gefasst gewesen – auf die rohe Gewalt, mit der er gegen die Hauswände prasselte, begleitet von so heftigem Donner, dass einem die Zähne klapperten. In der Küche wimmelte es von fremdartigen Lebewesen: freche Geckos mit starren Glubschaugen, dunkelbraune Panzerhüllen vertrockneter Kakerlaken. In ihrem Schlafzimmer woben Spinnen ihre raffinierten Netze, in denen Eliza morgens Grillen entdeckte, die sich während der Nacht in den hauchzarten Fäden verfangen hatten.

Eines Tages lernte sie unten am Strand ein Mädchen namens Laura-Min kennen. Sie sieht wie ein Spatz aus, der im Abfall herumpickt, hatte Eliza bei sich gedacht.

»Hallo, Vögelchen«, hatte sie leise gerufen, woraufhin das Mädchen aufgesehen und gegrinst hatte.

Min war die Tochter einer schottischen Krankenschwester und eines chinesischen Geschäftsmannes, der für eine Weile auf einem der australischen Goldfelder gearbeitet hatte. Nach dem Tod seiner Frau war Xie Hong Yen mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm nach Bannin gekommen. In jeder Stadt, durch die sie unterwegs gekommen waren, hatte er gesagt: »Nein, die hier ist nicht gut genug. Die nächste wird besser sein.« Und so hatte es sie hierher verschlagen, gewissermaßen ans Ende der Welt. Er hatte Arbeit als Übersetzer für die Perlenfischervereinigung gefunden, doch mit seinem Tod sechs Jahre später hatte Min auf einen Schlag ihre sichere Existenz verloren. Als Tochter eines Goldgräbers war Min klug, stolz und unerschrocken, doch ihre gemischtrassige Herkunft zwang sie zu einem Leben in den Arbeiterhütten am Rand der Stadt.

In jenen Anfangstagen der Perlenfischerei präsentierte Bannin sich als stolze, aufstrebende Gemeinde, die eine geradezu magische Anziehungskraft auf Menschen unterschiedlicher Herkunft ausübte – Briten, Deutsche, Amerikaner und Holländer; Siedler aus den Grenzgebieten, Kolonisten und in die Verbannung gesandte Sträflinge, allesamt angezogen wie Maden von einem vergammelnden Stück Fleisch. Viele waren gekommen, um ihr Glück in der Perlmuschelfischerei zu suchen. Andere wiederum hatte es mehr zufällig auf dem Weg nach Sydney oder zu der Swan-River-Kolonie hierher verschlagen. Wieder andere hatten zuvor auf Viehfarmen oder Opalfeldern gearbeitet, in Teilen des Kontinents so weitläufig wie ein Meer, nur dass sie auf keiner englischen Karte verzeichnet waren. Wie viele von ihnen waren schlicht und ergreifend gezwungen gewesen, ihre Heimat zu verlassen, so wie wir?, hatte Eliza sich stets gefragt.

Unten am Ufer bauten die Männer behelfsmäßige Behausungen aus Blech und Sackleinen, windschief und fliegenverseucht, errichtet von sehnigen, salzverkrusteten Händen. Innerhalb kurzer Zeit hatten ihr Vater und ihr Onkel eine kleine Flotte aus Schiffen zusammengestellt, mit denen sie nach Perlenbänken und Wasserbecken auf abgelegenen Inseln suchten. Es war merkwürdig und manchmal auch beängstigend, doch am meisten erstaunte Eliza in jenen frühen Jahren, welche Besessenheit die Männer an den Tag legten und was sie für eine kostbare Perle zu riskieren bereit waren. Eine Perle besitzt einen ganz eigenen Schimmer, wie ein Feuer oder der Schein einer Lampe, das hatte sie schon sehr früh gelernt. Sie ist eine Art Sirenengesang in Gestalt eines Steines, der Männer Dinge tun lässt, die sie sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hätten.

Wann immer die Schiffe zurückkehrten, bombardierte Eliza die Mannschaft mit Fragen.

»Woher bekommt ein Rotwangenpapagei seine roten Wangen?«

»Wenn man eine portugiesische Galeere mit einem Stock anstupst, tut ihr das dann weh?«

Willem quittierte ihre Fragen nur mit einem abfälligen Schnauben, ihr Vater jedoch beantwortete sie in allen Einzelheiten, manchmal zeichnete er sogar Diagramme für sie in den Sand. Oder er gab ihr Aufgaben – Rätsel, die sie während seiner Abwesenheit lösen sollte. Beispielsweise legte er ihr einen Schlüssel unters Kopfkissen, mit einer Anweisung, eine Truhe mit einem Schatz darin zu finden. Oder er stellte ihr eine Frage – Wo schlafen Libellen? –, und sie brachte ganze Tage damit zu, die Tiere aufzustöbern, den Kopf in die Geraniensträucher zu stecken, um festzustellen, dass sie sich dort wie alte vertrocknete Blätter an die Zweige klammerten. Sie konnte sich nur zu gut erinnern, wie sie eines Tages beim Aufwachen eine handgezeichnete Karte am Fußende ihres Bettes vorgefunden hatte. Eine ganze Woche lang hatte sie die Anweisungen befolgt, hatte den Garten in exakten Schrittlängen durchmessen und in der Küche unter den Augen ihrer Mutter nach Gewürzen gesucht. Am Ende hatte sie alle Hinweise zusammengesetzt und es gefunden: ein winziges Amulett in der Gestalt einer Meerjungfrau, das ihr Vater in der Geheimschublade seines Sekretärs für sie versteckt hatte. Sie hatte es zwischen den Fingern gerieben und in den Mund gesteckt. Am liebsten hätte sie es hinuntergeschluckt, um ihre Liebe zu dem Schmuckstück für immer in sich zu tragen, und mit ihr die Erinnerung an ihren Vater.

Dann wiederum hatte sie ihm geholfen, Muster und Proben für seine Dokumentationen zu sammeln. Er war fasziniert von der Flora und Fauna ihrer neuen Heimat, und sie scheute keinen Weg und keine Mühe, um Dinge zu finden, die er noch nicht katalogisiert hatte: Sie schlüpfte in die Spalten der roten Klippen, um frische, gesprenkelte Eier herauszuklauben, marschierte zu verborgenen Buchten in der Hoffnung, schiffsgroße, vom Sturm ans Ufer gespülte Tintenfische zu finden. Vielleicht würde sie ja eines Tages selbst eine seltene Entdeckung machen und Ruhm dafür ernten, wie er sonst nur Männern zuteilwurde. Sie hatte den Überblick verloren, wie viele ihrer Schatzsuchen mit blauen Flecken oder blutigen Kratzern geendet hatten, doch diese Narben waren lediglich das sichtbare Zeichen dafür, was sie für ihren Vater zu tun bereit war.

Kapitel 3

1896

Nein, da war kein Blut. Wir haben das ganze Boot abgesucht.« Thomas’ Blick ist auf den Boden geheftet.

Die Kleidung der Männer ist von den Eingeweiden der Austern verkrustet, ihre Haut von der sengenden Sonne ausgetrocknet und ledrig, als sie von Bord gehen und sich auf den Weg in die Stadt machen.

Eliza fühlt sich, als sei ihr Herz von ihrer Brust nach oben in die Kehle gerutscht.

»Wie konntest du nicht mitbekommen, was passiert ist? Seit wann wird er vermisst?« Sie zerrt ihren Bruder am Arm, doch er schüttelt sie ab und schnippt mit einer unwirschen Geste seine Hutkrempe hoch.

»Keiner hat gesehen, was passiert ist, Eliza«, zischt er. »Genau darum geht’s ja. Er ist gestern einfach … verschwunden.« Eine Möwe fliegt heran und beginnt, direkt vor ihnen an einem toten Fisch zu picken. Thomas verpasst ihr einen Tritt, während er mit gesenktem Kopf weitergeht.

»Und hast du die Mannschaft befragt?« Sie folgt ihm. Ihre Stimme ist schrill. »Jemand muss doch etwas gesehen haben. Er kann unmöglich aus heiterem Himmel verschwunden sein. Du glaubst doch nicht, dass es einer von ihnen …«

Er stöhnt auf. »Natürlich habe ich mit ihnen geredet, Eliza. Für wie unfähig hältst du mich eigentlich? Ich habe sie alle nacheinander befragt, habe das gesamte Deck abgesucht und sogar ein verdammtes Beiboot zu Wasser gelassen. Wir haben stundenlang nach ihm gesucht und sind sogar noch um die nächstgelegene Insel herumgefahren, bevor wir auf direktem Weg nach Bannin zurückgesegelt sind. Das ist jetzt Sache der Polizei.«

Es ist, als könne ihre Lunge sich nicht mehr mit ausreichend Luft füllen. Sie fühlt sich wie im freien Fall. »W-wir müssen noch mal mit ihnen reden«, stammelt sie. »Aber so etwas würden sie doch nicht tun. Etwas anderes muss passiert sein. Thomas. Vielleicht haben sie ja irgendetwas gesehen.« Hektisch sieht sie sich um. »Wo ist Balarri?«

»Vater hat ihn früher mit dem Schoner zurückgeschickt. Er ist nicht da.« Thomas beschleunigt seine Schritte.

»Dann eben die anderen. Holen wir sie her, alle miteinander.« Der Drang, etwas zu unternehmen, ist beinahe so übermächtig wie die Hitze. Ihre Zunge fühlt sich unangenehm dick und klebrig im Mund an. »Thomas!«

Inzwischen stehen sie vor dem Kingfish, wo sich die Männer auf die bevorstehende Zeit an Land einstimmen. Die Luft ist erfüllt von Stimmengewirr, überall liegen zerborstene Gläser im Staub, Matrosen lümmeln mit glasig trüben Augen auf der Veranda herum. Bestimmt sind die Seemänner schon drinnen und versuchen, ihre Nerven zu beruhigen, indem sie möglichst häufig den Boden ihrer Blechtassen zu sehen bekommen. Sie könnten ohne Weiteres hineingehen und noch einmal mit ihnen reden, sie neuerlich fragen, was sie gesehen haben.

»Aber ich habe sie schon befragt.« Thomas sieht noch nicht einmal zum Hotel hin. »Es wäre reine Zeitverschwendung und noch dazu respektlos nach allem, was sie durchgemacht haben. Viel klüger ist es, die Perlen für den Verkauf vorzubereiten. Ich muss gleich morgen bei Tagesanbruch mit der Starling weiter nach Cossack.« Er blickt zu den tief hängenden Wolken hinauf. »Oder sogar noch früher, wenn ich dem Unwetter entgehen will.«

Seine Worte lassen sie zurückprallen, als hätte er ihr einen Schlag vor die Brust verpasst. »Aber du bist doch gerade erst zurückgekommen. Du kannst nicht wieder weg, solange Vater …«

Seine Augen blitzen auf. »Wenn ich nicht gehe, haben wir bald überhaupt keine Flotte mehr, und wir – du und ich – stehen endgültig mit leeren Händen da.« Er senkt die Stimme. »Wir müssen unsere Schulden begleichen. Ich muss fahren. Hier kann ich niemandem mehr trauen.«

»Was meinst du mit Schulden?« Eine Art gedämpftes Klingeln macht sich in ihren Ohren bemerkbar.

»Ich muss mit den Käufern reden, damit sie uns weiterhin gewogen bleiben«, antwortet Thomas. »Wenn sie uns wegbrechen, bricht alles weg.« Seine aufgebrachte Stimme zieht träge Blicke der betrunkenen Seeleute auf sich. »Wenn wir die Flotte nicht erhalten, werden sich die anderen Perlenunternehmer wie die Geier auf uns stürzen. So was wie Erbarmen gibt es in diesem Metier nicht. Außerdem weißt du ja selbst, wie schnell sich hier alles herumspricht.« Er schlägt die Fliegen weg und beugt sich näher zu ihr heran. »Vielleicht ist jemandem in Cossack etwas über die Mannschaft zu Ohren gekommen.« Er sieht sich prüfend um, ob ihnen jemand zuhört. »Viele von ihnen quartieren sich dort über die Regenzeit ein. Vielleicht hatten sie ja irgendetwas … geplant. Es gibt mehrere Camps unterwegs, wo ich mich umhören will. Das ist das Klügste, was ich gerade tun kann.«

»Aber du kannst jetzt nicht weg. Mach dich nicht lächerlich, Thomas. Bitte.« Panik droht in ihrer Kehle aufzusteigen.

»Reiß dich zusammen, Eliza!«, schnauzt er sie an. »Es ist genau das, was Vater von mir erwarten würde, und es ist das Beste, was ich in dieser Situation tun kann, das weißt du selbst.« Trotz aller Schärfe registriert sie, dass seine Stimme ein wenig schrill klingt. Auch er kämpft offensichtlich gegen die lähmende Angst an. »Es gibt sehr viel fähigere Leute in Bannin, die herausfinden können, was vorgefallen ist. Ich habe schon jemanden nach Parker geschickt. In der Zwischenzeit ist es meine Aufgabe, die Flotte zu retten. Ich werde nicht zulassen, dass meine Familie noch mehr verliert.« Er richtet den Blick auf sie. »Komm jetzt mit nach Hause, damit wir meine Vorräte packen. Du kannst morgen noch mal mit der Crew reden, falls du das immer noch willst. Nach einer Mütze voll Schlaf erinnern sie sich vielleicht wieder an Einzelheiten, die ihnen zuvor entfallen waren.«

Die Vorstellung, so lange warten zu müssen, ist unerträglich und an Schlaf nicht einmal zu denken – vor allem, solange ihr Vater irgendwo dort draußen sein könnte. All die Männer, die auf See ihr Grab gefunden haben, kommen ihr in den Sinn: Männer, die der Taucherkrankheit anheimgefallen sind oder denen im Zuge nächtlicher Raufereien die Kehle aufgeschlitzt wurde. Am liebsten würde sie loslaufen und an jede Tür in der Stadt klopfen, doch sie beherrscht sich und folgt ihrem Bruder durch die staubigen Straßen.

* * *

In dieser Nacht sucht sie den Bungalow nach jedem Tropfen Whisky ab, den sie finden kann, um ihren Körper in eine schlafähnliche Besinnungslosigkeit zu versetzen. Als sie endlich in eine Art Dämmerschlaf fällt, ist er fiebrig, ruhelos, nicht erholsam. Sie träumt von ihrem Vater. »So, Eliza«, ruft er ihr zu, und seine Gestalt ist weichgezeichnet an den Rändern, wie von Zigarrenrauch umwölkt. »Bring mir drei verschiedene Käferarten aus diesem Strauch.« Selbst im Schlaf spürt sie ihre kindliche Erregung, stellt sich vor, wie sie die wächsernen Blätter zwischen den Fingern zerreibt. »Such mir einen Prachtkäfer, den wir dann mit nach Hause nehmen und dort mit der Lupe die schillernden Farben seines Panzers ansehen werden.« Auch vom Dampfschiff träumt sie. Ihr Großes Abenteuer, so hatte Vater die Überfahrt von England nach Australien bezeichnet. Noch nie hatte Eliza etwas wie dieses Schiff gesehen, den Speisesaal mit den opulent verzierten Säulen und dem Porzellan mit einem Dekor aus weißen und goldfarbenen Vögeln. Sie sieht vor sich, wie sie jeden Abend am Fuß der breiten Haupttreppe stand und zusah, wie die Herrschaften in Abendkleidung herabgeschritten kamen. Ihr Vater und Willem hatten die Tage damit zugebracht, ihr künftiges Leben in Bannin Bay zu planen, und abends war sie mit ihnen aufs Oberdeck gegangen, um das Kreuz des Südens und Argo am sternenglitzernden Nachthimmel zu bestaunen.

»Wenn ich auf dem Ozean verloren ginge, würdest du dann nach mir suchen?«, hatte sie ihren Vater gefragt.

»Ich würde mich durch nichts und niemanden davon abhalten lassen«, hatte er erwidert und ihr, auf einen Ellbogen gestützt, tief in die Augen geblickt. »Aber vorher müsstest du mir eine Flasche schicken.«

»Eine Flasche?«

»Eine Flaschenpost.« Er hatte die Wangen aufgeblasen und das Dümpeln einer zugekorkten Flasche nachgemacht, um sie zum Lachen zu bringen. »Vor vielen Jahren hat Königin Elizabeth eine wichtige Stellung an ihrem Hof ins Leben gerufen … die des Königlichen Flaschenpostöffners.« Eliza hatte in die Dunkelheit gegrinst. »Seeleute und Spione steckten Nachrichten in Flaschen und warfen sie ins Meer, wo sie dann von vorbeifahrenden Schiffen herausgezogen oder ans Ufer gespült wurden. Nur ein einziger Mann im Lande durfte diese Flaschen öffnen und die dunklen Geheimnisse ans Licht bringen, die darin versteckt waren – der Königliche Flaschenpostöffner.«

»Und was passierte, wenn jemand anders die Flasche geöffnet hat?«

Vater fuhr sich langsam mit dem Zeigefinger über die Kehle und ließ die Zunge seitlich heraushängen.

Mit einem Ruck schreckt Eliza hoch und spürt, wie ihre Glieder sofort vor Ungeduld zucken. Ihr dröhnt der Schädel vom Whisky. Sie blickt zu den Fensterläden – die Sonne linst bereits mit einem Auge über den Horizont. Eilig schwingt sie die Beine über die Bettkante. Höchste Zeit, mit der Mannschaft zu reden.

Noch während sie sich fertig macht, dringt die Hitze unvermeidlich durch die Jalousien und umspült sie nach kürzester Zeit wie warmes Badewasser. Im Haus herrscht eine eigentümliche Stille – vielleicht ist Thomas ja noch nicht wach. Doch als sie durch die Zimmer geht, dämmert ihr, dass er gar nicht da ist. Offenbar ist er noch im Dunkeln aufgebrochen, aus Angst, dass mit Tagesanbruch ein Sturm aufziehen könnte. Ihre Schultern erschlaffen.

Gerade als sie sich zum Gehen wendet, fällt ihr etwas ins Auge – ein Schimmern, das ihren Blick anzieht und zur Kommode lenkt. Sie geht hinüber. Es ist der goldene Füllfederhalter ihres Vaters. Merkwürdig, denkt sie. Normalerweise trägt er ihn doch stets bei sich. Gerade als sie die Hand danach ausstreckt, ertönt ein lautes Klopfen an der Tür. Sie erstarrt und runzelt die Stirn. Wer könnte das um diese frühe Uhrzeit sein? Eigentlich erwartet sie niemanden. Sie reißt die Tür auf. Die alte Witwe steht vor ihr, eine Hand gegen den Türrahmen gestützt, während sich ihre Brust in raschen Atemzügen hebt und senkt wie bei einem frisch geschlüpften Vögelchen. Die andere Hand hält ihren Gehstock, der das Gewicht ihrer arthritischen Knochen stützen soll.

»Mrs. Riesly«, sagt Eliza. Üblicherweise spricht die Stadt im Flüsterton von ihr – zweifellos als Resultat ihres zuweilen sonderbaren Benehmens. Oft sieht man sie spätabends durch die Straßen wandern, wenn die hellen Stämme der Ghost-Gum-Bäume im silbrigen Mondlicht schimmern und lediglich ihr Stock, dessen Messingknauf in Form eines Pferdekopfs im Halbdunkel glänzt, in der Stille auf den ausgetretenen Holzstufen widerhallt.

»Geht es Ihnen gut?«, erkundigt sich Eliza.

»Dieser Balarri«, presst Mrs. Riesly atemlos hervor. »Ich habe gerade gehört, dass er wegen des Mordes an deinem Vater ins Gefängnis gesteckt wurde.«

Kapitel 4

Draußen vor der Stadt steht ein Affenbrotbaum, eines dieser Exemplare gigantischen Ausmaßes. Eliza hat sein Wachstum im Lauf der Jahre verfolgt, ist mit den Händen über die rissige silbrige Rinde gestrichen und hat die herabfallenden weißen Blüten aufgefangen. Nun blickt sie zu den knorrigen Ästen empor, die sich mit aller Macht der grellen Sonne entgegenzurecken versuchen, und ringt um Atem. Sie hat Gerüchte gehört, früher hätte man Leute an diesem Baum aufgeknüpft – Taucher, die unerlaubt abgeheuert hatten, wenn es ihnen auf einem Logger nicht passte, oder auch Buschvolk, das bei der Jagd auf das Vieh der Siedler erwischt worden war. Allein bei der Vorstellung überkommt sie ein mulmiges Gefühl, und sie weicht zurück. Ein gefiederter Kopf schiebt sich langsam um den Baumstamm herum, gefolgt von einem schuppigen, mit Klauen bewehrten Fuß. Wie in einer grellweißen Wolke schnellt ein Kakadu hinter dem Baum hervor. Mit einem heiseren Schrei, als versuche ihn jemand zu erdrosseln, fliegt der Vogel um Eliza herum und landet auf ihrer Schulter, wobei sich seine langen Krallen durch den Baumwollstoff ihrer Bluse bohren.

»Klatsch reist schnell, dummer noch schneller«, krächzt er ihr ins Ohr und zupft an ihrer Haarschleife. Sie senkt das Kinn, um den Vogel ansehen zu können, obwohl sie längst weiß, wer er ist und wem er gehört.