Moonlight wolves - Charly Art - E-Book

Moonlight wolves E-Book

Charly Art

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Beschreibung

Ein trügerischer Frieden wiegt die Wölfe am Fjord in Sicherheit. Doch im Geheimen versammelt das Rudel der Finsternis seine Kräfte, um erneut zuzuschlagen. Auf Tamani warten große Herausforderungen, denn die freien Rudel haben verlernt sich zu verbünden. Und dann ist da auch noch Shira mit ihren Jungen, Tamanis Kindern. Tamani weiß, dass nur er sie retten kann, und begibt sich auf seine wohl größte Mission: Er muss die freien Wölfe vereinigen, damit sie im entscheidenden Kampf gegen das Rudel der Finsternis bestehen!

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MOONLIGHT WOLVES

DIE LETZTE SCHLACHT

CHARLY ART

KOSMOS

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München unter Verwendung von Motiven von Kompaniets Taras/shutterstock, Anna Chelnokova/shutterstock, one AND only/shutterstock, Ant_art/shutterstock, prapann/shutterstock, mrjo/shutterstock

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© 2022, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50539-3

Prolog

Vor langer, langer Zeit, viele Wolfleben vor meinem, als das Bündnis am großen Fjord entstand, herrschte Frieden. Die Wölfe aller Rudel lebten in Harmonie. Sie jagten gelegentlich gemeinsam, hatten Freundschaften über die Rudel hinweg und achteten aufeinander. Wenn es eine Bedrohung gab, stellten sie sich ihr gemeinsam, Schulter an Schulter, wie Wurfgefährten, und traten füreinander ein. Einzig ihre Fellfarben verrieten, dass sie unterschiedlichen Familien angehörten. Der große Fjord war ein Ort des Friedens und darum siedelten sich um ihn herum immer mehr Rudel an. Das Bündnis wurde immer größer. Doch auch die großartigsten Zeiten enden einmal. Der Platz für die einzelnen Wolfsfamilien wurde durch den Andrang immer kleiner.«

»Gab es deshalb Streit?« Ein kleiner weißer Welpe hatte den alten Wolf beim Erzählen seiner Geschichte unterbrochen.

Sofort stürzte sich eines seiner Geschwister auf ihn und rang ihn zu Boden. »Psst! Hör auf, ihn zu unterbrechen! Ich will wissen, wie es weitergeht.« Mit großen Augen sah der Welpe zu dem Alten auf.

Dessen einst schwarzer Pelz war ergraut, doch in seinen dunklen Augen funkelte eine Energie, die von seinem langen Leben ungeschwächt geblieben war. Der Wolf wartete mit geduldiger Miene, bis die drei Welpen vor ihm wieder ihre Plätze eingenommen hatten und still waren. Dann fuhr er fort: »Streitigkeiten brachen zwischen den Wolfsfamilien aus. Sie wurden immer größer, bis sie sich schließlich um jede Pfote Land bekriegten. Wölfe, die früher Freunde gewesen waren, traten sich auf dem Schlachtfeld entgegen. Es wurde viel Blut vergossen. Viele verloren damals in unnötigen Kämpfen ihr Leben.« Der Alte hielt kurz inne. Im letzten Licht des Tages, das in die Wolfshöhle sickerte, sah er, dass sich die Welpen ängstliche Blicke zuwarfen. Er spürte die Jüngste von ihnen zittern, als sie sich schützend an seine Flanke presste. Mit ruhiger Stimme nahm der Wolf seine Erzählung wieder auf: »Schließlich konnte das Rudel der ewigen Jagd all das nicht mehr ertragen. Es schickte Wölfe, die diesem Blutvergießen ein Ende bereiten sollten. Diese Wölfe waren die ersten Wächter. Sie sollten jedem einzelnen Rudel die heiligen Regeln übermitteln. Doch nicht nur das. Fortan sollten die Wächter alljährlich die neuen Welpen bei sich im Wächtergebirge aufnehmen, sie im Jagen und Kämpfen unterrichten, aber ihnen vor allem den Zusammenhalt lehren, der auch über die Familienbande hinweg besteht. So kehrte wieder Ruhe am großen Fjord ein. Es gab keine Kriege mehr, kein unnötiges Blutvergießen, doch es herrschte auch keine Harmonie mehr. Reviergrenzen trennten die Rudel. Es gab keine Freundschaften mehr über diese Grenzen hinweg, kein gemeinsames Jagen oder Kämpfen. Jedes Rudel war von nun an auf sich allein gestellt. Nur ihre Vorfahren und die heiligen Regeln verbanden die Wölfe noch.«

Wieder unterbrach der Alte seine Geschichte. Die drei Welpen hatten sich an seinem Bauch zusammengerollt. Ihre kleinen Augen konnten sie nur noch mit Mühe offen halten, während sie den Worten des Wolfes lauschten. Dieser senkte seine Stimme ein wenig: »Doch all der Streit, die Kämpfe und das Blutvergießen hatten etwas genährt. Etwas, das mit jedem Biss und Pfotenhieb stärker wird. Etwas, das nach Vergeltung trachtet und Chaos und Tod über die Welt bringt. Dieses Etwas ist das Böse. Es existiert noch immer. Es lauert dort draußen in den Wäldern. Wartet auf den Streit, der unvermeidlich ist. Denn zwischen den Rudeln am großen Fjord ist wieder Konkurrenz entstanden. Noch ist das Böse nicht groß genug, noch hat es keine Macht. Doch es droht weiterzuwachsen und sich an Leid und Chaos zu nähren, bis es stark genug ist. Dann wird es Finsternis schicken, um das Gute in der Welt zu vernichten. Die Finsternis wird über das Bündnis hereinbrechen und jeden Wolf töten, bis das Böse herrscht. Nur wenn wieder Friede und Zusammenhalt am großen Fjord einkehren und die Wölfe wieder wie Wurfgefährten füreinander einstehen, haben sie eine Chance, gegen das Böse anzukommen und die ewige Finsternis abzuwenden.«

Der Alte sah zu den Jungen hinunter, deren helles Fell sich deutlich vor seinem dunklen Körper abzeichnete. Alle drei Welpen schliefen tief und fest. Den letzten Teil der Geschichte hatten sie bereits nicht mehr mitbekommen. Nachsicht stand in den Augen des Alten, als er sich zu ihnen hinabbeugte und sie mit der Schnauze näher an seinen Bauch schob, um sie vor der Kälte der Nacht zu schützen. »Schlaft gut, meine kleinen Krieger, und sammelt Kraft für morgen«, murmelte er sanft, damit er sie nicht weckte. »Irgendwann wird auch für euch die Zeit kommen, in der ihr für das Gute in der Welt kämpfen müsst.«

1. Kapitel

Angst schnürte Tamani die Kehle zu, als er in Nekos grüne Augen blickte. »Was ist, wenn er mir nicht glaubt?«, gab er zu bedenken.

Sein Freund schüttelte entschieden den Kopf. »Rex wird dir glauben, schließlich bist du sein Sohn.« Der junge zukünftige Heiler des Rudels knuffte ihn aufmunternd in die Seite. »Außerdem komme ich mit dir, mir als Alasis Schüler wird er nicht ohne Weiteres die Glaubhaftigkeit absprechen können.«

Tamani blinzelte zweifelnd. »Aber nicht du hattest die Träume, sondern ich.« Der Blick des grauen Wolfes wanderte über die zerklüfteten Berghänge hinüber zu der Stelle, an der man ein kleines Stück des Eisrudelreviers sehen konnte, während seine Gedanken unwillkürlich zu seinen Träumen zurückkehrten. Augenblicklich sträubte sich sein Nackenfell. Seine letzten Träume waren düster gewesen. Voll von Dunkelheit, brutalen Schlachten und Tod. Wie gerne hätte er sie als einfache Albträume oder Ergebnis der erst kurze Zeit zurückliegenden Schlachten abgetan. Doch er wusste es besser. Seit seiner Ausbildung im Wächtergebirge wurde er in seinen Träumen von seinen Ahnen, dem Rudel der ewigen Jagd, besucht. Es schickte Tamani Visionen, um ihn auf das hinzuweisen, was ihm und seinem Rudel bevorstand. Doch leider waren diese Botschaften nie ganz eindeutig. Und es gab ein weiteres, entscheidendes Problem: Tamani war nur ein Jungwolf. Er hatte noch nicht einmal seinen Rang im Eisrudel gefunden. Bei einem Heiler oder einem Alphawolf wäre eine so starke Verbindung wie zwischen ihm und dem Rudel der ewigen Jagd nichts Ungewöhnliches gewesen. Aber bei ihm? Warum sollten seine Vorfahren ausgerechnet ihn wählen, um dem Eisrudel wichtige Botschaften zu übermitteln? Wie sollte ihm Rex nur glauben, dass es so war?

»Das stimmt nicht ganz«, unterbrach Neko Tamanis Gedanken. »Wir hatten einmal denselben Traum.« Damit hatte er recht, auch wenn das schon einige Zeit her war. Doch Tamani war noch immer nicht überzeugt.

»Du bist dir also sicher, dass ich es ihm sagen soll?«

Der Schüler der Heilerin sah schockiert aus. »Tamani, du musst! Glaubst du, das Rudel der ewigen Jagd schickt dir diese Träume nur zum Spaß? Es hat dich auserwählt, um seine Worte dem Eisrudel mitzuteilen. Du bist der Auserwählte!« Kurz zögerte der junge schwarze Wolf, ehe er mit einem vorsichtigen Lächeln hinzufügte: »Und nicht nur, um das Eisrudel zu warnen.«

Ein unangenehmes Gefühl machte sich in Tamanis Magengrube breit. Er wusste genau, worauf Neko anspielte. In seinen Ohren hallten die Worte seiner letzten Vision wider: Verderben und Tod wird die Rudel ereilen und niemanden verschonen. Nur der Wolf, der einst die Schatten besiegte, kann das Bündnis am großen Fjord retten. Nur er kann die Vereinigung herbeiführen.

Tamani schauderte, denn damit war er gemeint. Er hatte damals im Wächtergebirge den Anführer der Schattenwölfe besiegt und nun übertrug ihm das Rudel der ewigen Jagd eine neue Aufgabe: Er musste unbedingt dafür sorgen, dass sich die Rudel am großen Fjord vereinigten, um dem Rudel der Finsternis gemeinsam entgegenzutreten. Aber dafür brauchte er die Unterstützung von Rex und den anderen Wölfen seines Geburtsrudels. Immerhin hatte er seinen Freund Neko bereits auf seiner Seite. Der zukünftige Heiler hatte ihm aufmerksam zugehört, als er ihm von seinen Träumen berichtet hatte. Und wegen seiner eigenen tiefen Verbindung mit dem Rudel der ewigen Jagd hatte er Tamani sofort seine Unterstützung zugesichert. Der Graue war bei dieser Aufgabe nicht auf sich allein gestellt. Diese Erkenntnis nahm ein wenig Last von seinen Schultern.

»Jetzt komm schon! Wenn du weiter darüber nachdenkst, machst du dir am Ende nur noch mehr Sorgen, und außerdem friere ich hier oben langsam fest.«

Tamani musste seinem Freund zustimmen, vor allem, was die Kälte anging. Es war Kältezeit und die beiden Jungwölfe standen in bauchhohem Schnee. Um sich zu besprechen, waren sie einer schmalen Schlucht hinauf ins Eisgebirge gefolgt. Hier waren sie vollkommen ungestört, doch der eisige Wind, der Tamani unter den Pelz fuhr, und der viele Schnee machten den Platz unbequem.

Vermutlich hat Neko recht, dachte Tamani. Es ist besser, wenn ich gleich mit Rex rede und es hinter mich bringe. »Okay«, er nickte dem Schwarzen zu. »Lass uns zurückgehen.«

»Na endlich!« Neko seufzte erleichtert. Er schüttelte sich, um die Schneeflocken loszuwerden, die der Wind in seinen dunklen Pelz geweht hatte, und stapfte dann los.

Tamani folgte ihm. Behutsam setzte er eine Pfote vor die andere. Unter der dicken Schneedecke war der Boden gefroren und erschwerte den Abstieg, sodass er bei jedem Schritt aufpassen musste, um nicht abzurutschen.

Trotz der Schwierigkeiten erreichten sie den Platz vor der Eishöhle schneller, als es Tamani lieb war. Gern hätte er sich noch länger vor dem Gespräch mit Rex gedrückt, doch nun waren sie schon fast da. Der Jungwolf ignorierte die Nervosität, die in seinem Bauch rumorte, und schob sich hinter Neko durch die Felsöffnung in die Höhle. Der vertraute Geruch seines Geburtsrudels strömte ihm entgegen. Entfernt war das leise Brausen eines Wasserfalles zu hören. Tamani schaute sich um. Im unteren Teil der Höhle sah er die Wölfe des Rudels versammelt, die darauf warteten, dass das Betapaar Akai und Alea ihnen die Aufgaben für den Tag zuwies.

Tamani wandte den Blick von seinen Rudelgefährten ab. Mit den Augen suchte er im Zwielicht nach seinem Vater. Wo befand Rex sich? War er etwa bereits mit einem Grenz- oder Jagdtrupp im Revier unterwegs? Dann entdeckte er ihn. Der Alphawolf des Eisrudels saß neben einer tiefdunklen Öffnung in der Felswand. Seit einigen Sonnenwechseln bewachte er diesen Höhleneingang in jedem freien Augenblick, denn in dem kleinen Raum dahinter befanden sich seine Ranggefährtin Tara und seine neugeborenen Jungen. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis Tara die Welpen zum ersten Mal dem Eisrudel vorstellen würde, und bis dahin durften nur die Alphawölfin selbst und Alasi, die Heilerin, die Geburtshöhle betreten.

Auch Neko hatte Rex entdeckt und nickte zu ihm hinüber. »Los, geh du vor.«

Etwas zögerlich setzte sich Tamani in Bewegung. Er hatte Angst vor der Reaktion seines Vaters. Angst davor, dass er ihm keinen Glauben schenken würde oder schlicht gegen sein Vorhaben wäre. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Mit zuckenden Ohren blieb der Jungwolf vor Rex stehen und senkte seinen Kopf zu einer respektvollen Begrüßung. Seine Pfoten kratzten nervös über den Steinboden. »Hallo, Rex. Ich … das heißt, wir …«, mit der Schnauze deutete Tamani auf Neko, der sich neben ihn gestellt hatte, »… würden gerne mit dir reden.«

Der Alphawolf erwiderte den Gruß mit einem Nicken. »In Ordnung. Erzählt mir, was euch beschäftigt.«

Tamani wechselte einen Blick mit Neko, bevor er wieder zu seinem Vater aufsah. »Ehrlich gesagt würden wir das lieber an einem geschützteren Ort besprechen.«

Rex’ Augen, die eben noch freundlich in der Dunkelheit geschimmert hatten, verengten sich. »Ich verstehe«, erwiderte er nach einigen Augenblicken, die sich für Tamani wie eine Ewigkeit anfühlten. »Dann folgt mir.« Der Alphawolf erhob sich und schritt mit stolzer Haltung auf einen hellen Felsspalt zu, der sich nicht weit von ihnen entfernt befand. Der schmale Eingang führte zur Lichthöhle. Dem Ort, an dem Alasi und ihr Schüler Neko schliefen und sich um die Verletzten des Eisrudels kümmerten.

Die beiden Jungwölfe folgten ihrem Anführer. Tamanis Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, als er in die Lichthöhle eintrat. Durch eine helle Öffnung gegenüber vom Eingang fiel Licht herein. Unwillkürlich legte Tamani die Ohren an. Das Brausen des Wasserfalles, der vor der Öffnung herabstürzte, erfüllte den gesamten Felsraum. Der Graue verstand nach wie vor nicht, wie die Heiler es schafften, bei diesem Lärm zu schlafen.

Vor ihm nickte Rex einer jungen Wölfin zu, die auf einem Moospolster saß und ihnen entgegensah. »Makui, würde es dir etwas ausmachen, vor der Geburtshöhle Wache zu halten?«

»Nein! Natürlich nicht!« Die hellgrau-weiße Wölfin erhob sich sofort und machte sich hinkend auf den Weg in die Haupthöhle. Tamani sah ihr nach, bis sie verschwunden war, dann wandte er sich wieder Rex zu. Der Alphawolf hatte sich in der Nähe der tosenden Wasserwand niedergelassen und wechselte gerade einige Worte mit Alasi. Tamani folgte Neko, der gerade dabei war, sich neben den Anführer zu setzen. Er erreichte die anderen, als die Heilerin den Kopf senkte und sich dann von ihnen abwandte, um die Lichthöhle zu verlassen.

Rex wartete, bis Alasi außer Hörweite war, bevor er die beiden Jungwölfe ansah. »Nun? Worüber wollt ihr mit mir sprechen?«

Einen Moment lang erwiderte Tamani den forschenden Blick seines Vaters, dann sah er sich kurz um, versicherte sich, dass kein anderer Wolf in ihrer Nähe war. In der Lichthöhle befand sich nur noch sein Bruder Ravi, doch der schlief am anderen Ende der Höhle. Der Lärm des Wasserfalles würde dafür sorgen, dass Ravi nicht mitbekam, was sie hier besprachen. Tamani blickte wieder zurück zu Rex. Er versuchte, das Gedankenwirrwarr zu ordnen, das in seinem Kopf herrschte. Womit sollte er bloß beginnen? »Es geht um meine Träume«, setzte der Graue an und hielt dann inne. Wie sollte er Rex das alles erklären?

»Es geht nicht nur um irgendwelche Träume«, sprang Neko für ihn ein. »Ich bin mir sicher, dass Tamani in seinen Träumen Botschaften vom Rudel der ewigen Jagd erhält.« Auf Rex’ Gesicht zeichnete sich Verwunderung ab. Neko jedoch schien das nicht zu beachten. Er stieß Tamani leicht mit der Schnauze an. »Erzähl es einfach so, wie du es mir erzählt hast.«

Tamani nickte zögerlich. Er atmete tief ein und aus, um die in ihm aufkeimende Panik zu vertreiben, dann begann er zu erzählen. Er berichtete von den vielen Schlachten, die er im Schlaf miterlebt hatte, von dem drohenden Unheil, das ihnen bevorstand, und von der einzigen Möglichkeit, die es noch gab, um das Rudel der Finsternis abzuwenden: Die vielen Rudel am großen Fjord mussten sich vereinen.

Nachdem Tamani geendet hatte, herrschte eine ganze Weile lang Schweigen. Einzig das Brausen des Wasserfalles war noch zu vernehmen. Rex’ Miene hatte sich während des Berichtes verfinstert und nun starrte er durch den Wasservorhang nach draußen. Der Jungwolf folgte dem Blick seines Vaters. Während er durch das Wasser die verschwommenen Umrisse der Landschaft dahinter betrachtete, fragte er sich, was der Alphawolf gerade dachte. Tamanis Aufregung vom Anfang hatte nachgelassen. Nun, da er alles losgeworden war, was er seinem Vater hatte erzählen wollen, fühlte er sich leichter. Trotzdem wartete der Graue angespannt darauf, dass Rex das Wort ergriff.

Schließlich wandte der Alphawolf ihm den Kopf zu und erhob die Stimme: »Wenn all das, was du mir erzählt hast, stimmt – wie sollen wir damit umgehen? Was trägt uns das Rudel der ewigen Jagd auf zu tun?«

Tamani schluckte schwer. Er war sich sicher, dass Rex von seinen nächsten Worten nicht begeistert sein würde: »Ich glaube, das Rudel der ewigen Jagd möchte, dass wir losziehen und den anderen Rudeln des Bündnisses davon berichten. Wir sollen sie davon überzeugen, dass wir uns vereinen müssen, um gemeinsam gegen das Rudel der Finsternis anzutreten.«

Rex betrachtete ihn skeptisch. »Du stellst dir das alles leichter vor, als es ist«, sagte der Alphawolf dann. »Seit ich denken kann, leben die Rudel für sich. Wir mögen dieselben Ahnen haben und nach denselben Regeln leben, aber dennoch ist jedes Rudel auf sich gestellt. Mit einer so alten Tradition können wir nicht brechen, nur weil du Träume hattest, von denen du glaubst, dass sie vom Rudel der ewigen Jagd stammen.«

Rex’ Worte versetzten Tamani einen Stich und unwillkürlich sank er ein wenig in sich zusammen. Es war genau das eingetreten, was er befürchtet hatte: Sein Vater zweifelte an seinem Vorhaben und er würde ihm nicht erlauben, die Rudel zu vereinen, geschweige denn ihn dabei unterstützen. Hoffnungslosigkeit schwappte über den Jungwolf hinweg und für einen Augenblick war er versucht aufzugeben.

Da mischte sich Neko ein: »Es tut mir leid, Rex, aber ich muss dir widersprechen.« Die Stimme des schwarzen Jungwolfes war ruhig und bestimmt zugleich, als er fortfuhr: »Ich weiß, dass diese Tradition so alt ist wie die heiligen Regeln selbst, aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl, als mit ihr zu brechen. Das Rudel der ewigen Jagd hat Tamani auserwählt, dir und dem Eisrudel diese Botschaft zu überbringen, und es hat ihm aufgetragen, die Rudel zu vereinen. Ich sehe keine andere Deutungsmöglichkeit, als die, die auch Tamani gefunden hat. Wenn du seine Visionen ignorierst, machst du einen Fehler.«

Nekos Entschlossenheit flößte Tamani neuen Mut ein. Er wartete nicht, bis Rex etwas sagte, sondern fügte sofort hinzu: »Ich weiß, ich verlange viel. Vor allem, da ich dir nur mein Wort geben kann, dass ich mir sicher bin. Aber du weißt selbst, was die Wölfe vom Rudel der Finsternis gesagt haben: dass sie in noch größerer Zahl wiederkommen werden und dass sie uns bereits beim letzten Kampf hätten vernichten können, wenn sie das gewollt hätten.«

Ein kalter Schauder durchlief den Jungwolf, als er an die zurückliegende Schlacht gegen das Rudel der Finsternis dachte. Das Eisrudel hatte die Angreifer nur mit großer Not vertreiben können, aber das Rudel der Finsternis hatte Rache geschworen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wölfe ihr Versprechen wahrmachten und mit Verstärkung zurückkehrten. »Allein kommen wir nicht noch einmal gegen sie an. Wir sind ihnen zahlenmäßig unterlegen. Aber vielleicht haben wir eine Chance, wenn wir uns mit den anderen Rudeln vereinen und gemeinsam mit ihnen kämpfen«, drängte Tamani. Er sah seinem Vater in die blaugrauen Augen. Er war sich bewusst, dass er verzweifelt wirken musste, aber das war er schließlich auch. »Bitte, du musst uns helfen! Wir dürfen die Worte des Rudels der ewigen Jagd nicht ignorieren!« Er wusste nicht, ob es richtig war, das zu sagen. Er glaubte zwar von ganzem Herzen an seine Worte, aber was, wenn er sich doch irrte?

Rex musterte ihn prüfend, dann wanderte sein Blick zu Neko. »Ihr zwei seid euch ganz sicher, dass sich das Rudel der ewigen Jagd eine Vereinigung des Bündnisses wünscht?« Tamanis Nackenfell stellte sich auf und ein Funken Hoffnung erglomm in ihm. Neben ihm nickte Neko und auch der Graue gab sein Wort. Rudel der ewigen Jagd, betete er stumm. Lass mich richtig gehandelt haben.

Rex senkte nachdenklich den Kopf. Einige Momente lang schien er zu überlegen, bevor er schließlich sagte: »Also gut.«

Tamani richtete sich ruckartig auf. Erleichterung löste die Anspannung ab, die seine Lunge zusammengeschnürt hatte, doch das Gefühl wurde sofort von Rex’ nächsten Worten gedämpft. »Ich werde euer Anliegen dem Ältestenrat vortragen und wir werden gemeinsam darüber beraten, was es zu tun gilt beziehungsweise ob wir überhaupt etwas unternehmen sollen.« Der Alphawolf nickte Tamani und Neko zu. »Danke für eure Offenheit und euer Vertrauen. Ich bin mir sicher, dass wir eine gute Lösung finden werden.« Rex sah an ihnen vorbei zum Höhleneingang. »Ihr könnt nun gehen und wieder euren eigentlichen Pflichten nachkommen. Ich werde sofort eine Versammlung des Ältestenrates einberufen.«

Tamani verneigte sich tief vor seinem Vater, dann wandte er sich von ihm ab und steuerte auf den Felsspalt zu, der zurück in die Haupthöhle führte. Neko folgte ihm durch die Öffnung. In Tamani machte sich freudige Aufregung breit. Dass Rex seine Visionen ernst nahm und sich mit dem Ältestenrat über das weitere Vorgehen beraten wollte, war viel mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Vielleicht würde es doch einfacher werden, das Eisrudel von seinem Vorhaben zu überzeugen, als gedacht. Tamani nickte seinem Gefährten zu. »Vielen Dank für deine Unterstützung.«

Neko tat das mit einem Zucken der Ohren ab. »Keine Ursache. Du bist schließlich mein Freund. Außerdem denke ich, dass das Rudel der ewigen Jagd gute Gründe hat, warum es dir diese Botschaften schickt.«

Tamani sah verlegen zu Boden. Es war merkwürdig für ihn, seine Träume mit anderen Wölfen zu teilen, und er mochte es nicht, als besonders dargestellt zu werden. Schon nach der Schlacht gegen die Schattenwölfe im Wächtergebirge hatten einige seiner damaligen Gefährten großes Aufheben um ihn gemacht. Er war froh gewesen, dass sich das bei seinem Geburtsrudel nicht fortgesetzt hatte. Hier wurde er einfach wieder wie jeder andere Wolf behandelt.

Noch ehe Tamani Neko widersprechen konnte, ertönten hektische Pfotenschritte hinter ihm. Alarmiert wirbelte der Jungwolf herum. Die letzten Mondwechsel hatten ihn so vorsichtig werden lassen, dass er hinter jeder unerwarteten Bewegung einen Angriff vermutete. Doch es war nur seine Schwester Kora, die auf ihn zugeeilt kam. »Da bist du ja!«, rief sie und blieb atemlos vor ihm stehen. »Ich habe die ganze Höhle nach dir abgesucht! Wo warst du?«

Tamanis Blick huschte zu Neko. Sollte er seiner Schwester von dem Gespräch erzählen? Oder lieber darauf warten, dass sie es, wie der Rest des Rudels, von Rex erfuhr?

Der junge Heiler nahm ihm die Entscheidung ab: »Wir mussten etwas mit Rex besprechen.«

Koras Ohren richteten sich nach vorn und in ihren Augen leuchtete Neugierde auf. »Mit Rex?«, fragte sie verwundert. »Was habt ihr mit ihm besprochen? Ist alles in Ordnung?«

Bevor Neko weiterreden konnte, übernahm Tamani: »Ja, alles ist gut. Du wirst später erfahren, worum es ging. Warum hast du mich gesucht?« Er war froh, etwas gefunden zu haben, womit er Kora ablenken konnte, und die weiße Jungwölfin sprang sofort darauf an: »Wir wurden Kamos’ Jagdtrupp zugeteilt. Die anderen sind schon vor einer Weile zum Donnerbecken aufgebrochen. Bestimmt warten sie schon auf uns.«

»Oh nein!« Tamani biss schuldbewusst die Zähne zusammen. »Dann sollten wir sofort los!«

»Darauf wollte ich ja hinaus.« Gespielt beleidigt knuffte Kora ihm in die Schulter. »Beim nächsten Mal bin ich nicht so lieb und suche dich. Dann kannst du das schön allein ausbaden, du Quallenhirn.«

»Ich werde mir Mühe geben, dass es kein nächstes Mal gibt«, versprach Tamani und berührte Kora dankbar mit der Nase am Ohr. Er war wirklich froh, dass sie nach ihm gesucht hatte. Obwohl sie keine Jungen mehr waren, beschützten sie einander noch so, wie sie es als Welpen im Wächtergebirge getan hatten. Bei diesem Gedanken schlich sich ein Lächeln auf Tamanis Gesicht. Er verabschiedete sich mit einem Nicken von Neko, wirbelte dann herum und hielt auf den Ausgang der Höhle zu. Mit Kora an seiner Seite setzte er durch den inzwischen leerer gewordenen Felsraum und hinaus ins Freie, um sich dem Jagdtrupp anzuschließen.

Lautlos schlüpfte Tamani aus der Eishöhle in die Nachtluft. Dampfwolken stiegen bei jedem Atemstoß von seiner Schnauze auf. Schon bei Tag war es unangenehm kalt, doch die Nächte der Kältezeit waren noch eisiger. Der Jungwolf ignorierte dies jedoch. Sein dichter Pelz bot ihm Schutz und zudem musste er sich auf etwas anderes konzentrieren. Der Graue verharrte reglos, während er mit den Augen die Umgebung absuchte. Nach einigen Herzschlägen entspannte er seine verkrampften Muskeln. Kein Wolf seines Rudels schien seinen Aufbruch bemerkt zu haben. Noch ein letzter Blick rundum, dann machte er sich auf den Weg hinab ins Tal.

Tamani gab sich große Mühe, so wenig Geräusche wie möglich zu erzeugen, während er dem Verlauf der einsamen Schlucht bergab folgte. Es war nur das Knarzen seiner Schritte im Schnee zu hören. Der Jungwolf war wachsam. Besonders weil er noch immer fürchtete, dass das Rudel der Finsternis zurückkehren und sie plötzlich überraschen könnte. In dieser eisigen Nacht musste er sich aber nicht nur vor den Augen seiner Feinde fürchten, sondern auch vor denen seines eigenen Rudels. Denn er hatte sich heimlich fortgeschlichen, um sich den heiligen Regeln zu widersetzen. Ihm wurde glühend heiß vor Schuldbewusstsein, wenn er über diese Tatsache nachdachte. Und doch machte sein Herz Freudensprünge bei der Aussicht darauf, was ihn an seinem Ziel erwarten würde: An der Grenzmarkierung zwischen dem Revier des Eisrudels und dem des Blutrudels wartete Shira, seine Gefährtin, auf ihn. Und auch diesmal würde sie nicht allein sein. Tamani spürte, wie Aufregung in ihm aufwallte. Es würde das zweite Mal sein, dass er seine Jungen sah. Vor wenigen Sonnenwechseln erst hatte der Jungwolf erfahren, dass er und Shira Welpen hatten. Endlich hatten seine Träume einen Sinn ergeben – der Teil der Vision, den er Rex und auch Neko verschwiegen hatte, war plötzlich verständlich geworden: Die Verbindung aus Blut und Eis ist der erste Schritt.

Tamanis und Shiras Junge waren der erste Schritt zur Vereinigung aller Rudel am großen Fjord, denn sie verbanden zwei Familiengruppen miteinander. Doch diese Verbindung brachte auch einige Probleme mit sich, dessen war sich Tamani bewusst. Nicht nur, dass es ausschließlich dem Alphapaar eines Rudels vorbehalten war, Junge zu haben. Mit dem Wolf eines anderen Rudels befreundet zu sein oder ihn gar heimlich zu treffen, war Verrat. Nachwuchs von einem Elternpaar aus zwei unterschiedlichen Rudeln war unvorstellbar. Und doch existierten die Welpen nun.

Tamani wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn die beiden Rudel von der Herkunft der Jungen erfuhren. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als ihm ein neuer Duft in die Nase stieg. Es roch nach Blutrudel, er war der Grenze ganz nah. Inzwischen hatte der Jungwolf den Großteil der Strecke durch das Revier des Eisrudels zurückgelegt. Er duckte sich tiefer in die Schatten des Waldes, der sich unmittelbar vor der Grenze befand, und schlich auf die Baumgrenze zu. Nur wenige Wolfslängen von ihm entfernt wichen Unterholz und Bäume einer kleinen Lichtung.

Tamani spähte aus dem Dickicht heraus. Mitten auf der offenen Fläche ragte ein kleiner Felsen aus der Schneedecke hervor. Der Jungwolf suchte nochmals die Umgebung ab, dann trat er ins Mondlicht hinaus und trabte hinüber zu dem Felsen. Der Stein bildete einen leichten Überhang, unter dem die Erde frei von Schnee geblieben war, und Tamani schlüpfte darunter. Ein Blick zum Mond, der noch tief am Himmel stand, verriet ihm, dass es noch früh war. Vermutlich würde er noch ein wenig auf Shira und die Jungen warten müssen. Um sich warm zu halten und die Wartezeit zu überbrücken, begann er, eine etwas größere Fläche unter dem Felsen freizuräumen, damit sie alle darunter Platz hätten.

Der Graue war gerade mit seiner Arbeit fertig geworden, als Pfotenschritte vernehmbar wurden. Instinktiv glitt Tamani in den Schutz des Überhanges und kauerte sich zu Boden. Waren es Shiras Schritte oder vielleicht doch die eines anderen Wolfes? Sein Herz raste, während er stumm an Ort und Stelle verharrte und wartete, was als Nächstes geschehen würde. Auf der anderen Seite der Lichtung, dort wo die Grenzmarkierungen verliefen, wurde das Gestrüpp auseinandergedrückt und ein helles Gesicht schob sich hindurch.

Erleichtert atmete Tamani aus und entspannte sich wieder. Es war Shira. Ihm drohte keine Gefahr. Der Graue kam aus seinem Versteck, als auch Shira aus dem Unterholz trat. »Da bist du ja!« Tamani konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er setzte über den Schnee hinweg und schmiegte sich an Shiras Seite.

»Hallo, Tamani.« Shira leckte ihm sanft übers Ohr und in ihrer Stimme lag so viel Liebe, dass ihm augenblicklich warm unter seinem Pelz wurde. »Es tut mir leid, dass wir so lange gebraucht haben«, entschuldigte sich die Silberweiße und schaute zurück zu dem Gestrüpp, aus dem sie eben getreten war. »Der Schnee war an manchen Stellen zu hoch für die Kleinen, deshalb sind wir nur langsam vorangekommen.«

Tamani folgte ihrem Blick. Zwischen den Zweigen spähten drei kleine Gesichter hervor. Sofort loderte die Aufregung wieder in Tamani auf. Dies waren seine Jungen!

»Kommt schon her«, rief Shira den Welpen zu. »Ihr wolltet euren Papa doch wiedersehen, oder? Dann seid nicht so schüchtern und kommt!«

Einer nach dem anderen trauten sich die Welpen hervor und steuerten mit tapsigen Schritten auf ihre Eltern zu. »Hallo, ihr drei«, begrüßte Tamani sie und war sich bewusst, wie unsicher seine Stimme klang. Er hatte keine Ahnung, wie er mit diesen kleinen Geschöpfen umgehen sollte. Sie waren so winzig und wirkten, als könnte ihnen jeder noch so kleine Fehler seinerseits schaden. Vorsichtig beugte sich der Graue zu den Welpen hinab. »Wie geht es euch?«, brachte er zögerlich hervor, weil ihm keine andere Frage einfiel.

Ein silbergrauer Welpe flüchtete sich sofort hinter Shiras Bein in Sicherheit. Die Erste der drei jedoch, eine kleine hellgraue Wölfin, erwiderte den Blick ihres Vaters mutig. »Uns geht es gut«, fiepste sie mit ihrer hohen Welpenstimme.

Ein Lächeln schlich sich auf Tamanis Gesicht. »Das freut mich.« Er streckte sich ein wenig vor und berührte den Welpen leicht mit der Nase an der Stirn. Zu seiner Freude wich seine Tochter nicht vor ihm zurück. Ganz im Gegenteil, als er sie berührte, reckte sie ihm ihren Kopf entgegen. Ein kribbeliges Gefühl durchfuhr Tamani, neu und doch angenehm. Es fühlte sich fast an wie Stolz, nur viel lebendiger und inniger, als er es kannte. Der Graue richtete sich wieder auf und wandte sich an Shira. »Wollen wir unter den Überhang gehen? Ich habe dort den Schnee weggeräumt, also sollte es dort wärmer sein als hier.«

Die Wölfin nickte lächelnd. »Das ist eine gute Idee.« Langsam setzte sie sich in Bewegung, während sich die drei Welpen hinter ihr durch die Schneewehen kämpften.

Tamani folgte mit einem Pfotenschritt Abstand. Obwohl er nicht wusste, wie er richtig mit den Jungen umgehen sollte, verspürte er bei ihrem Anblick Freude. Sie glühte wärmer in seinem Inneren als die Mittagssonne und vertrieb die Gedanken an all die Probleme, die die Existenz dieser Welpen mit sich brachte.

Shira hatte sich bereits unter den Felsen gelegt und Tamani schob sich vorsichtig an seinen Jungen vorbei zu ihr. Er drückte sich an ihre warme Flanke und sog ihren süßen Duft ein, den er so lange vermisst hatte. Für eine Weile lagen sie einfach nur da und Tamani war glücklich, dass er bei seiner eigenen kleinen Familie war.

Schließlich brach Shira das Schweigen: »Wolltet ihr Tamani nicht zeigen, was ihr gelernt habt?«

Die Mutigste unter den Welpen, die kleine Hellgraue, nickte sofort eifrig. Sie stieß ihren Bruder an und machte dann ein paar Schritte von ihren Geschwistern weg. Tamani beobachtete amüsiert, wie sie sich duckte, etwas von sich gab, das einem Knurren ähnelte, und sich dann auf die beiden anderen Welpen stürzte. Gemeinsam kugelten die Kleinen durch den Schnee, spielerisch um die Oberhand kämpfend. Nach einer kurzen Weile drückte die Hellgraue eines ihrer Geschwister in den Schnee. Sie reckte den Kopf in die Höhe und verkündete stolz: »Gewonnen!«

»Gut gemacht«, lobte Tamani und erwiderte lächelnd den Blick seiner Tochter. Im nächsten Moment wurde diese von ihrem Bruder angesprungen und schon ging der Kampf wieder von vorn los. Tamani sah mit großen Augen zu, wie wild die Welpen miteinander rauften. »Ist das nicht gefährlich?«, fragte er Shira. »Was ist, wenn sie sich verletzen?«

»Keine Sorge.« Die Wölfin leckte ihm liebevoll über die Wange. »Welpen sind wesentlich robuster, als sie aussehen. Spielen gehört dazu. Nur so entwickeln sie ein Gefühl für ihren Körper und werden später gute Kämpfer.«

Der Graue nickte. »Ich weiß, aber sie sind so klein.« Noch immer beobachtete er die Jungen.

Shira lachte leise auf. »Das werden sie bald nicht mehr sein. Sie wachsen mit jedem Sonnenwechsel und sind schon viel größer als Shanias Welpen.« Tamani hatte den Blick von seinen Kindern abgewandt und sah Shira an. Er bemerkte, wie bei diesen Worten Schmerz in ihren Augen aufflackerte und sie schnell den Kopf senkte, als wollte sie ihre Gefühle verbergen. Kurz war er verwirrt. Was hatte es mit dieser Reaktion von ihr auf sich? Doch dann verstand er: Shania war die Alphawölfin des Blutrudels und Shiras Mutter. Im Eisrudel wusste niemand von den Jungen, aber natürlich waren sie für Shiras Rudel kein Geheimnis. Wie hatte das Blutrudel auf den Regelbruch der Jungwölfin reagiert? Bei ihrem letzten Treffen hatten er und Shira keine Zeit gehabt, sich darüber auszutauschen, wie es ihr momentan ging. Die Welpen waren zu klein gewesen, um nachts lange draußen bleiben zu können. Aber nun hatte Tamani endlich die Möglichkeit, seine Gefährtin danach zu fragen: »Wie geht es dir –«, er unterbrach sich. »Ich meine, wie geht es euch im Blutrudel?«

Shira sah zu ihm auf. Ein Schatten lag über ihrem Gesicht. Das lebendige Leuchten, das ihre Augen eben noch hatte erstrahlen lassen, war erloschen. Dieser Anblick versetzte Tamani einen Stich. »Wie du dir sicherlich vorstellen kannst, waren meine Rudelgefährten nicht gerade begeistert, als sie von den Jungen erfuhren. Ich wurde mit unendlich vielen Fragen gelöchert, aber ich habe sie ihnen nicht beantwortet, auch wenn sie noch so sehr darauf beharrt haben.« Shira sah an ihm vorbei; den Blick in die Ferne gerichtet, sprach sie weiter: »Das Blutrudel versucht, seine Wut nicht an den Welpen auszulassen, aber die meisten von ihnen wollen nichts mehr mit mir zu tun haben. Sie ignorieren mich und unsere Welpen. Die Mitglieder des Ältestenrates vertreiben die Kleinen noch immer, wenn sie in ihre Nähe kommen.«

Tamani war entsetzt. »Wie können sie euch so behandeln?«, entfuhr es ihm.

Shira lächelte gezwungen. »Wie sollten sie sonst reagieren? Sie freundlich aufnehmen?«

Der Jungwolf spürte, wie sich Wut in ihm breitmachte. »Ja! Genau das sollten sie tun!«

Seine Gefährtin schien Tamani die Verärgerung anzumerken und berührte ihn beschwichtigend mit der Nase an der Schulter. »Wir haben die heiligen Regeln gebrochen, Tamani. Natürlich haben sie schlecht auf die Jungen reagiert. Wenn sie wüssten, wer ihr Vater ist, gäbe es noch mehr Schwierigkeiten.«

»Aber … aber …«, wollte der Graue widersprechen, doch er konnte nicht. Er wusste, dass sie recht hatte. Sein Blick glitt zu den drei Jungen, die sich noch immer im Schnee wälzten und miteinander kämpften. Er verstand das Blutrudel einfach nicht. Wie konnte es sich nicht über diese wundervollen Welpen freuen? Wut und Verzweiflung in ihm nahmen zu. Er fühlte sich so hilflos wie selten in seinem Leben. »Ihr könntet mit mir zum Eisrudel kommen.« Die Worte hatten seinen Mund verlassen, ehe er richtig darüber nachgedacht hatte.

Einige Herzschläge lang sah Shira ihm tief in die Augen. Es schien, als wöge sie das Angebot ab, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ich gehöre zum Blutrudel, Tamani, und unsere Jungen sind dort ebenso zu Hause, wie ich es bin. Ganz gleich, was die anderen von uns denken, wir sind richtig dort, wo wir sind.« Sie zuckte mit den Schultern. Es sah so aus, als versuchte sie sich an einem Lächeln, doch dieses scheiterte kläglich. »Vielleicht vergessen sie irgendwann die unklare Herkunft meiner Jungen. Mit der Zeit wird es bestimmt besser.«

Tamani war sich da nicht so sicher und auch Shira wirkte keineswegs überzeugt. Er wollte ihr gerade widersprechen, als die Jungwölfin fragte: »Weißt du noch, wie sie heißen?«

Der Graue blinzelte Shira an. Er wusste, dass sie vom Thema ablenkte, doch er wollte sie auch nicht drängen weiterzureden, wenn sie nicht dazu bereit war. Also gab er sich geschlagen und ging auf ihre Frage ein: »Natürlich weiß ich noch, wie sie heißen! Sie sind meine Jungen, wie könnte ich das je vergessen?« Er ignorierte das unangenehme Gefühl, hilflos zu sein, und rang sich ein Lächeln ab. »Ihr Name ist Lya.« Er deutete auf die Hellgraue, die die Mutigste der drei Welpen war. »Sie ist die Erstgeborene und der Leitwelpe, nicht wahr?«

»Ja, genau«, antwortete Shira und ihre Stimme klang schon weniger bedrückt.

»Unser Sohn heißt Iyagu.« Iyagu hatte weißes Fell und verschmolz während des Spielens förmlich mit dem Schnee, der ihn umgab. Einzig seine grünen Augen und die dunkle Nase stachen aus dem Weiß hervor. »Und die Jüngste heißt Kiana.« Tamani betrachtete seine zweite Tochter. Sie war die Zurückhaltendste der drei und floh in der Rauferei eher, als selbst anzugreifen.

Während er die Welpen bei ihrem Spiel beobachtete, schlich sich ein Lächeln – ein echtes – auf Tamanis Gesicht und vertrieb jedes schlechte Gefühl. Er war der Vater dieser kleinen, ungestümen Geschöpfe und es gab nichts, worauf er im Leben je stolzer gewesen war.

2. Kapitel

Ein Jaulen weckte Tamani. Müde blinzelte er in das morgendliche Zwielicht, das in der Höhle herrschte. Ihm dröhnte vor Erschöpfung der Kopf und sein restlicher Körper fühlte sich schwer wie ein Stein an. Der Schlafmangel, den er nach jedem nächtlichen Treffen mit Shira verspürte, hatte ihn erneut eingeholt. Matt legte der Jungwolf seinen Kopf wieder ab und schloss die Augen. Wer auch immer ihn geweckt hatte, konnte warten.

Ein Pfotenstoß holte ihn zurück ins Bewusstsein. »Aufwachen, du Murmeltier! Rex hat das Rudel zu einem Treffen zusammengerufen.«

Tamani sah auf. Über ihn gebeugt stand Kora, deren Augen vor Aufregung funkelten. Ihr war kein bisschen Müdigkeit anzumerken. Mit einem leisen Murren rappelte sich Tamani auf. Er streckte sich und eilte dann, noch immer ein wenig verschlafen, seiner Schwester nach. Im unteren Teil der Höhle, an dem Platz, an dem normalerweise die Trupps eingeteilt wurden, hatte sich das gesamte Eisrudel versammelt.

Tamani gesellte sich als einer der Letzten dazu und stellte sich weiter hinten in der Menge neben Kora und Aris. Er spürte, wie es unter seinem Pelz zu kribbeln begann, und mit einem Mal war seine Müdigkeit verschwunden. Er ahnte, warum sein Vater die Versammlung einberufen hatte: Rex würde nun verkünden, was er und der Ältestenrat von Tamanis Erzählungen und seiner Bitte hielten, die Rudel am großen Fjord zu vereinen. Unwillkürlich sah sich Tamani nach Neko um. Der junge Heiler hatte einen Platz in der ersten Reihe ergattert, doch er schaute nicht zu ihm herüber. Auch der Graue wandte nun seinen Blick wieder Rex zu, gerade als dieser zu sprechen anhob: »Wölfe des Eisrudels, es gibt Neuigkeiten, von denen ich euch berichten möchte.« Der Alphawolf machte eine kurze Pause, in der er den Blick über sein Rudel schweifen ließ. Nun verstummten auch die letzten Gespräche der Wölfe. »Gestern kamen Tamani und Neko mit einem Anliegen zu mir, das ich nun mit euch teilen will.« Rex’ Blick fand Tamani in der Menge. Der Graue schreckte ein wenig zurück. Sein Herz hatte wieder zu rasen begonnen und er zwang sich mit aller Kraft, still zu stehen, um nicht zu erzittern. Nun fürchtete er nicht nur Rex’ endgültige Antwort, sondern auch die Reaktion des Eisrudels. »Die beiden Jungwölfe erzählten mir von Träumen und Visionen, die das Rudel der ewigen Jagd Tamani geschickt habe, und sie hatten eine Bitte. Tamani und Neko sind der festen Überzeugung, dass unsere Ahnen uns aufgetragen haben, uns mit den anderen Rudeln am großen Fjord zu vereinen. Denn nur so hätten wir die Möglichkeit, das Rudel der Finsternis zu besiegen. Die Jungwölfe baten mich und auch jeden von euch darum, sie dabei zu unterstützen.«

Gemurmel brach unter den Wölfen des Eisrudels aus. Tamani spürte, wie sich die Blicke der anderen in seinen Pelz brannten. Er zwang sich, stehen zu bleiben, nicht zurückzuweichen und die Blicke zu ignorieren. Auch wenn er am liebsten aus der Höhle geflohen wäre, um der Situation zu entkommen. Aber er war kein kleiner Welpe mehr. Er konnte nicht einfach vor einer Herausforderung davonrennen. Er entdeckte Neko, der nun zu ihm herübersah. Der junge Heiler blinzelte ihm aufmunternd zu. In seinen Zügen lag keine Spur von der Anspannung, die Tamani erfasst hatte und die das Einzige war, was ihn noch an Ort und Stelle hielt. Der Graue beneidete seinen Freund um sein unerschütterliches Vertrauen in das Rudel der ewigen Jagd. Er wäre auch gerne so gelassen und ruhig wie er gewesen.

»Die Rudel sollen sich vereinen?«, ertönte eine aufgebrachte Stimme aus der Menge. »Das ist ketzerisch! Wieso sollten unsere Ahnen so etwas von uns verlangen? Es verstößt gegen die heiligen Regeln und gegen all unsere Traditionen!« Amali hatte sich von ihrem Platz erhoben und sah Rex herausfordernd an.

»Sie hat recht!«, meldete sich ihr Wurfgefährte Milan neben ihr zu Wort. »Und überhaupt, warum sollte das Rudel der ewigen Jagd so eine wichtige Botschaft einem Jungwolf schicken?« Sein verächtlicher Blick huschte kurz zu Tamani.

»Vielleicht lügen sie einfach nur, um sich wichtig zu machen!«, ergänzte Makui die Rede ihres Bruders.

Tamani sah, wie sich ein grimmiger Ausdruck auf Nekos Gesicht legte, und auch er biss unwillkürlich die Zähne aufeinander. Seine Muskeln spannten sich kampfbereit an, obwohl er wusste, dass ihm ein Angriff nicht weiterhelfen würde. Seine Wut schlug um in Angst und Verzweiflung. Er hatte es von Anfang an gewusst. Die Wölfe des Eisrudels würden ihm nicht glauben. Warum sollten sie auch? Milan hatte recht. Er war nur ein Jungwolf, nicht wichtig genug, als dass ihm jemand eine so gewaltige Aufgabe anvertrauen würde.

»Und was ist, wenn sie nicht lügen?« Lakota, der sich am anderen Ende des Rudels erhoben hatte, hielt den Blicken der beiden älteren Wölfe ungerührt stand. Um sie herum redeten die übrigen Wölfe des Eisrudels, die sich nicht laut zu Wort melden wollten, mit ihrem Nachbarn.

Mit einem lauten Jaulen verlangte Rex erneut Ruhe und augenblicklich verstummten alle Gespräche. »Ich verstehe euren Zwiespalt«, versicherte der Alphawolf. »Ich habe mich mit dem Ältestenrat über die Angelegenheit beraten und auch wir brauchten lange, bis wir uns einig waren.«

»Es gibt also bereits eine Entscheidung?« Okupa, einer der älteren Wölfe des Rudels, hatte gesprochen. Der Graugescheckte saß in der vordersten Reihe und sah ruhig zu seinem Anführer auf.

»Ja«, bestätigte Rex. Tamani stockte der Atem, als der Alphawolf fortfuhr: »Wir glauben Neko und Tamani und wir wollen den Ratschlägen unserer Ahnen folgen.« Proteststimmen erhoben sich aus der Menge, doch Rex sprach einfach weiter und brachte sie so zum Schweigen. »Ihr habt recht, wir handeln damit gegen die Tradition. Dessen sind auch wir uns bewusst. Doch die Bedrohung durch das Rudel der Finsternis ist zu gewaltig, als dass wir ihr allein entgegentreten könnten. Darum haben wir einen Mittelweg beschlossen, um uns vor dem Rudel der Finsternis zu schützen und unsere Traditionen aufrechtzuerhalten: Wir werden uns einmalig für die Schlacht gegen unsere Feinde mit unseren Nachbarrudeln – und ausschließlich mit ihnen – verbünden. Zusammen werden wir dem Rudel der Finsternis ebenbürtig sein.«

Als Rex diesmal mit seiner Rede endete, war kein Gemurmel zu vernehmen. In der Höhle war es still. Nur das entfernte Brausen des Wasserfalles hallte herüber.

»Ich erwarte nicht, dass ihr unsere Entscheidung gutheißt, aber ich erwarte, dass ihr sie toleriert und respektiert«, fügte der Alphawolf hinzu, doch es gab keinen weiteren Protest. Leise sprachen einige Wölfe miteinander und hier und da glaubte Tamani, Missbilligung herauszuhören. Aber niemand wagte es mehr, sich vor dem gesamten Rudel gegen die Entscheidung des Ältestenrates auszusprechen.

Erleichterung vertrieb die Anspannung in Tamanis Innerem. Rex und der Ältestenrat würden seiner Bitte nachkommen, wenn auch nicht in vollem Umfang. Doch allein, dass sie eingewilligt hatten, sich mit ihren benachbarten Rudeln zu verbünden, war schon mehr, als der Jungwolf zu hoffen gewagt hatte. Er war dem Willen des Rudels der ewigen Jagd – die Rudel am großen Fjord zur Schlacht zu vereinen – einen großen Schritt näher gekommen. Obwohl sein Rudel geteilter Meinung war, herrschte in Tamani helle Aufregung und diesmal rührte sie nicht von Angst her. Nein, diese Aufregung war freudig und energiegeladen.

»Um die anderen Rudel von unserem Vorhaben zu unterrichten, werden wir noch heute einen Trupp losschicken, der bis zum Wächtergebirge zieht.« Der Alphawolf hielt kurz inne, um einem seiner Rudelmitglieder zuzunicken. Dann fuhr er fort: »Alea hat sich freiwillig gemeldet, den Trupp anzuführen.« Elegant erhob sich die Betawölfin beim Klang ihres Namens. Sie trat aus der Menge hervor und stellte sich dann dem Rudel zugewandt neben Rex. »Und aufgrund seiner Visionen soll Tamani den Trupp begleiten.«

Rex’ blaugrauer Blick hielt den Jungwolf gefangen, während dieser die Bedeutung der Worte seines Vaters begriff. Dankbar senkte Tamani den Kopf. Seine Gedanken überschlugen sich. Er war froh, dass der Alphawolf den Wortlaut der Prophezeiung nicht wiederholt oder dem Eisrudel erklärt hatte, welche besondere Rolle Tamani bei dieser Aufgabe zukam. Vielleicht wusste der Ältestenrat davon, aber offensichtlich wollte er es nicht mit den anderen Wölfen teilen. Vielleicht, weil diese dann noch eher versucht wären, den Worten des Jungwolfes keinen Glauben zu schenken? Doch all das trat nun in den Hintergrund. Er durfte bei der Reise zu den Nachbarrudeln dabei sein!

Tamani spürte, wie sich eine neue Last auf seine Schultern legte. Würden sie es überhaupt schaffen, die anderen Rudel von der Notwendigkeit der Vereinigung zu überzeugen? Aber der Zweifel verweilte nur einen Herzschlag lang in seinem Kopf, sofort wurde er von neuen Gedanken und Gefühlen abgelöst. Er würde seine Freunde aus dem Wächtergebirge wiedersehen! Tamani überlief ein wohliger Schauer, als er darüber nachdachte.

Dann holte ihn Rex mit seinen Worten wieder zurück in die Gegenwart: »Wir halten einen Trupp mit vier Wölfen für eine angemessene Größe, um diese Mission zu bewältigen. Wer von euch meldet sich freiwillig, um Alea und Tamani zu begleiten?«

Einige Augenblicke lang sagte niemand etwas und Tamani befiel schon die Sorge, dass außer dem Ältestenrat keiner für die Vereinigung war und sich ihnen niemand anschließen würde. Doch dann ertönte Lakotas Stimme: »Ich möchte mitgehen!« Der junge Wolf hatte sich erhoben und sah mit hell leuchtenden Augen zu Rex.

Der Alphawolf gab nickend sein Einverständnis.

Tamani spürte ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er freute sich darüber, dass Lakota ihn auf der Reise begleiten würde. Während der letzten Monde im Eisrudel hatten Tamani und er sich angefreundet. Lakota setzte sich in Bewegung und die Wölfe vor ihm machten den Weg frei, damit er in die Mitte des Versammlungsplatzes gelangen konnte. Stumm reihte er sich hinter Alea ein.

Erst jetzt wurde Tamani bewusst, dass auch er eigentlich dort stehen sollte. Beschämt legte er die Ohren an. Sollte er nun überhaupt noch nach vorn gehen? Oder war es besser, unauffällig einfach dort zu bleiben, wo er war? Nach einem Augenblick des Abwägens entschied er sich für Ersteres und schlängelte sich vorsichtig an seinen Rudelgefährten vorbei auf Rex zu. Sie machten ihm wortlos Platz, während sie weiter zu ihrem Anführer blickten.

Tamani stellte sich neben Lakota und sah hinüber zum versammelten Eisrudel. Einige der Wölfe tuschelten noch immer miteinander oder warfen dem Trupp missbilligende Blicke zu. Der Jungwolf entdeckte Milan und Amali, die mit grimmigen Mienen an ihm vorbeisahen. Tamani wurde siedend heiß unter seinem Pelz. Er mochte den Alphawolf und den Ältestenrat auf seiner Seit haben, doch viele Rudelmitglieder waren von der Vorstellung, gegen die Traditionen zu handeln, nicht begeistert, das war deutlich zu spüren.

»Wir brauchen noch einen Wolf, der sich dem Trupp anschließt«, erinnerte Rex unbeeindruckt vom allgemeinen Missfallen.

»Ich will auch mit!« Ein warmes Gefühl breitete sich in Tamanis Brust aus, als er die Stimme seiner Schwester Kora vernahm. Kora hatte sich eifrig erhoben, doch nun legte sie die Ohren an, als wäre sie plötzlich verlegen. »Das heißt, wenn ich darf«, fügte sie kleinlaut hinzu.

Rex wandte sich an Akai, der in der ersten Reihe der Menge saß und das Geschehen aufmerksam verfolgte. »Akai, was meinst du dazu? Du bist ihr Ausbilder.«

Der Wolf mit dem hellgrauen Pelz schien abzuwägen, was am sinnvollsten war. Tamani hoffte, dass er sie mitgehen lassen würde. Kora war eine gute Jägerin und auch ihre Kampftechniken konnten sich sehen lassen. Sie würde sicher ein Gewinn für ihr Unternehmen sein und er wünschte sich, sie an seiner Seite zu haben. Seit ihrer Welpenzeit hatten sie eine starke Verbindung zueinander und er fühlte sich in Koras Gegenwart stets wohl.

Tatsächlich nickte Akai nach kurzem Zögern. »Eine Reise ist eine gute Gelegenheit für einen Jungwolf, mehr Erfahrungen zu sammeln, als ihm das Rudelleben bieten kann. Die beiden werden unterwegs mehr lernen, als Kamos und ich ihnen hier beibringen könnten.« Der Betawolf meinte nicht nur Kora, sondern auch Tamani, der ebenfalls von ihm ausgebildet wurde.

Rex nahm die Entscheidung seines Stellvertreters mit einem Nicken zur Kenntnis. »Gut, dann ist der Trupp nun vollzählig. Die Versammlung ist beendet.«

Flüsternd zerstreuten sich die Wölfe des Eisrudels wieder in der Höhle. Tamani sah ihnen nach. Er konnte nur hoffen, dass er richtig gehandelt hatte und sie noch einsehen würden, dass nur die Vereinigung ihnen zum Sieg gegen das Rudel der Finsternis verhelfen konnte. Kora stand vor ihm.

»Wie kannst du es wagen, so was für dich zu behalten?«, fragte sie vorwurfsvoll. Trotz ihres Tonfalles leuchteten ihre blauen Augen vor Aufregung. Tamani wusste, dass sie ihm eigentlich nicht böse war.

»Es tut mir leid. Ab sofort erzähle ich dir von jedem meiner Träume, auch wenn ich darin nur Kaninchen jage«, scherzte er.

»Das will ich dir auch geraten haben«, entgegnete Kora und fletschte spielerisch die Zähne.

Tamani war unendlich erleichtert, dass seine Schwester ihm glaubte und ihn auf dieser Mission begleiten würde.

»Kommt her!« Alea und Lakota standen bereits bei Heilerin Alasi und Rex. Offenbar waren nur sie, die beiden Jungwölfe, schon wieder zu spät dran. Sofort eilte Tamani zu seinen älteren Rudelgefährten. Mit einem tiefen Nicken grüßte er seinen Anführer sowie die Heilerin und entschuldigte sich gleichzeitig für seine Unaufmerksamkeit. Neben sich spürte er, wie Kora die Geste nachahmte.

Rex und Alasi gingen jedoch nicht auf den Gruß ein. Stattdessen erhob Rex die Stimme: »Ich möchte, dass ihr die Rudel, deren Reviere zwischen unserem und dem Wächtergebirge liegen, aufsucht und dass du, Tamani, ihnen erzählst, was du auch mir erzählt hast.« Der Alphawolf sah seinen Sohn eindringlich an.

Tamani nickte und mit einem Mal war die Last auf seinen Schultern wieder da.

»Macht von Anfang an deutlich, dass ihr keine Bedrohung für die anderen Rudel seid und in Frieden kommt. Ihr seid nur zu viert und noch dazu ohne Heiler unterwegs. Einen Kampf könnt ihr euch nicht leisten.«

Tamani zeigte nickend seine Zustimmung und sah, dass die anderen Wölfe des Trupps es ihm gleichtaten.

»Alea wird den Trupp leiten.« Rex ließ seinen Blick kurz über Lakota, Tamani und Kora wandern, bevor er fortfuhr: »Ihr drei seid noch jung, aber ihr tragt eine große Verantwortung. Ich erwarte, dass ihr euch den Wölfen des Eisrudels als würdig erweist. Keine Alleingänge!«

Tamani musste an die vielen Male denken, als er im Wächtergebirge ohne das Einverständnis der Wächter gehandelt hatte. Inzwischen war er erwachsener geworden. Er hielt sich an die heiligen Regeln – es sei denn, es gab gute Gründe, sie zu brechen. Auf der Reise würde er seine uneingeschränkte Treue zum Eisrudel beweisen und er würde nur in Rex’ Sinne handeln, das nahm sich der Jungwolf fest vor.

»Diese vier Wölfe werden ihre Sache gut machen, Rex, da bin ich mir sicher.« Alasi betrachtete den Trupp wohlwollend. »Sie sind alle gute Kämpfer und Jäger. Und sie sind klug genug, um sich keinen unnötigen Gefahren auszusetzen.«

Rex nickte zustimmend. »Nun denn, mir bleibt nicht mehr viel zu sagen. Ich wünsche euch viel Erfolg auf eurer Mission. Möge das Rudel der ewigen Jagd mit euch sein und euch sicher wieder zurück nach Hause führen.«

3. Kapitel

Eis knackte verräterisch unter ihren Pfoten, als sie den Waldfluss überquerten und ins Revier des Wüstenrudels eindrangen. Tamani fühlte sich unwohl. Das letzte Mal, als er eine Pfote auf fremden Boden gesetzt hatte, war es böse ausgegangen. Er und die anderen Eisrudelwölfe waren bei der Jagd erwischt und angegriffen worden. Nur knapp hatten sie einen Krieg mit dem Wüstenrudel verhindern können. Nun betraten sie dessen Revier erneut. Zwar kamen sie diesmal in friedlicher Absicht, doch wer konnte wissen, wie das Rudel ihre Anwesenheit auffassen würde? Ein jedes Rudel verteidigte sein Gebiet mit Zähnen und Klauen. Tamani hoffte, dass sie eine Möglichkeit haben würden, sich zu erklären, doch er war auf das Schlimmste gefasst. Seine Muskeln waren zum Zerreißen angespannt, als er hinter den anderen Wölfen den Schutz des Waldes verließ.

Alea bedeutete ihnen mit einem Zucken der Ohren, stehen zu bleiben, und der Trupp sammelte sich um sie. Tamani folgte dem Blick der Betawölfin auf die offene Fläche vor ihnen. Während das Revier des Eisrudels aus Wäldern und Wiesen bestand, bewohnte das Wüstenrudel eine karge Felswüste. Doch die Landschaft sah ganz anders als noch vor einigen Mondwechseln aus. Auch hier war alles von Schnee bedeckt. Nur hier und da brachen sandbraune Felsen aus dem Weiß hervor und erhoben sich über die flache Ebene.

»Wir werden uns nicht verstecken oder uns an das Wüstenrudel anschleichen. Wir gehen einfach offen auf das Lager zu. Mit Sicherheit wird man uns bald entdecken«, sagte Alea, ohne sich dem Trupp zuzuwenden.

»Wissen wir, wo sich ihr Lager befindet?« Lakota hatte gesprochen. Tamani betrachtete seinen Freund interessiert. Auf den ersten Blick hatte er entspannt gewirkt, aber die weit geöffneten Augen und zuckenden Ohren verrieten etwas anderes.

»Ich weiß, wo es sich befindet«, bestätigte Alea. Sie wandte sich zu den Jüngeren um. »Folgt mir! Und vergesst nicht: Wir sind nicht zum Kämpfen hier. Lasst euch auf keine Provokationen ein.«