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Tim tötet ungewollt seine Freundin im Streit. Bei der Polizei erhält er von einer Fremden ein Alibi, später wird diese Frau einen hohen Tribut dafür verlangen. Tim verfällt der Frau immer mehr, im Rausch der Obsession droht er immer weiter die Kontrolle zu verlieren und ihrer Forderung nachzukommen: ihren Gatten zu ermorden. Doch warum? Ein Thriller, der die Protagonisten an den Rand der Moral bringt.
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Seitenzahl: 211
Veröffentlichungsjahr: 2021
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An meine Mutter, meinen Vater, meine Schwester und meinen Mann: Ich danke euch.
L.A. Rosenberger
Erotik ist die Überwindung von Hindernissen. Das verlockendste und populärste Hindernis ist die Moral, Karl Kraus, 1906, Die Fackel
1996
Sie blickte ihm hinterher und zog ihre Jacke fester an ihren Oberkörper. Obwohl es ein milder Septembertag war, fröstelte sie heute. Die Entscheidung, ihn nach New York gehen zu lassen, um für diesen berühmten Pop-Art- Künstler zu arbeiten, war ihr natürlich nicht leichtgefallen, aber unter diesen Umständen wog alles noch schwerer. Sie hatte ihm versprochen, ihn zu unterstützen, finanziell und emotional. Und dies hätte sie auch von Herzen gerne getan. Doch unter den jetzigen Umständen blieb sie allein mit ihren Sorgen. Bis zuletzt hatte sie ihm nicht sagen können, welches Geheimnis sie unter ihrem Herzen trug und sie hatte sich dazu entschieden, dass er es nie erfahren würde. Nächstes Jahr, wenn er zurückkehren würde, dachte sie, sei alles vorbei. Dann gäbe es wieder nur ihn und mich. Und sie lächelte, obwohl ihr Herz sich klamm anfühlte.
„Wenn Sie diese Tablette nehmen, werden Sie danach Blutungen und vielleicht auch Schmerzen im Unterleib bekommen. Sollten diese Beschwerden länger als drei Tage andauern und Fieber oder Schüttelfrost dazu kommen, müssen Sie sich noch mal untersuchen lassen. Haben Sie das alles verstanden? Haben Sie Fragen, Frau Charles?“ Elaine schüttelte still mit dem Kopf und nahm das Medikament von dem Arzt entgegen, welches sie zum Abbruch ihrer Schwangerschaft bekommen hatte.
Als Elaine aus der Arztpraxis auf die Straße trat, erschlug sie der plötzliche Lärm fast. Sie fühlte sich wie eine Fremde in einer fremden Stadt. Das Medikament war in ihrer Manteltasche und sie lief mit langsamen Schritten nachhause.
Drei Tage später hatte Elaine ihre Entscheidung getroffen. Sie konnte dieses Wesen in ihrem Körper nicht einfach mit einer Tablette beseitigen. Immer wieder streichelte sie ihren Bauch, der noch nichts von ihrem Geheimnis verriet. Doch behalten konnte sie das Kind auch auf keinen Fall. Dafür hatte Steve zu viel für sie getan. Er war nun dabei, seine Karriere gerade zum Laufen zu bringen und sie musste ihn mit allen Kräften unterstützen. Da war es unmöglich, ein Kind groß zu ziehen. Sobald das Kind also auf der Welt sein würde, würde sie es weggeben. Und dann blieben wieder nur Steve und sie. So wie es sein soll.
Sieben Tage über dem errechneten Termin ging Elaine abermals zur Frauenärztin, da ihr die Zeit des Wartens endlos erschien. Ihre Gefühle waren ständig wie in einer Achterbahn. Mal konnte sie den Tag der Geburt kaum herbeisehnen, weil ihr Rücken schmerzte, ihre Füße dick waren. Dann wieder wollte sie nicht, dass die Zeit der Schwangerschaft endete. Denn dann hieß es Abschied nehmen. Die Frauenärztin hatte eine ernste Miene aufgesetzt und sagte: „Mit dem Mädchen ist alles in Ordnung. Allerdings sollten Sie sich dafür entscheiden, die Geburt einzuleiten“. Elaine überlegte kurz, entschied sich dann aber dagegen. Abends legte sie sich in die kleine Wanne ihrer kleinen Wohnung. Schon nach ein paar Minuten spürte Elaine plötzlich einen heftigen Schmerz in ihrem Bauch, der bis in den Rücken strahlte. Sie versuchte, noch eine Zeitlang in der Wanne zu bleiben, aber die Wehen kamen immer häufiger und stärker. Als sich Elaine anziehen wollte, bemerkte sie, dass sie leicht blutete. Tränen liefen ihr über das Gesicht und eine große Einsamkeit übermannte sie. Ein paar Augenblicke lang blieb sie wie angewurzelt stehen, bis sie von einer weiteren Wehe erschüttert wurde. Gegen 23 Uhr erreichte Elaine mit einem Taxi das Krankenhaus und wurde mit einem Rollstuhl auf die Entbindungsstation gefahren. Dort wartetet sie in einem Bett, während immer wieder Wehen ihren Körper durchfuhren. Bis um 2 Uhr nachts konnte Elaine die Wehen mit Atmen im Gehen, Stehen und Liegen unter Kontrolle behalten. Über einen Tropf bekam sie dann Schmerzmittel. Die Wehen wurden noch stärker, aber durch die Schmerzmittel wurden die Wehen erträglich. Elaine fiel in einen Halbschlaf. Um 5 Uhr morgens wurde sie durch die Ärztin geweckt und sie fühlte eine große Enttäuschung. „Sie sind noch nicht so weit leider, Frau Charles“. Nach fast sieben Stunden Schmerzen, Kämpfen, Atmen und Aushalten wollte dieses kleine Mädchen noch nicht in diese Welt. Spürte es, dass seine Mutter es gleich nach der Geburt wegegeben würde? Wollte das kleine Ding genau das verhindern? Die Schmerzmittel schienen nicht mehr zu helfen und Elaine hing schließlich nur noch schreiend an der Bettkante. Die Ärztin gab ihr daraufhin die PDA. Elaine fühlte sich, als würde sie jegliche Kontrolle über ihren Körper verlieren. Ihr Herz begann zu rasen und um sie herum dröhnte es laut. Dann spürte sie die Erleichterung durch die PDA und die Schmerzen wurden schnell weniger. Trotzdem kämpfte Elaine die ganze Zeit, denn sie wusste, wenn ihre Tochter nur halb so stark werden würde wie sie, dann würde aus ihr eine selbstbewusste Frau werden, die alle kommenden Hindernisse in ihrem Leben überwinden könnte. Plötzlich wurde die anwesende Hebamme nervös und auch die Ärztin starrte immer wieder mit ernster Miene auf den Monitor, der die Werte von Kind und Mutter anzeigten. „Was ist los?? Was soll das? Geht es dem Baby gut?“. Nur die Ruhe, Frau Charles. Wir müssen nur eine Mikroblutuntersuchung bei Ihrer Tochter vornehmen. Elaine stotterte nur schockiert: “Bitte was?“. Bald darauf wurde Elaine ein Röhrchen vaginal eingeführt, welches eine Nadel bis in die Gebärmutter steuerte. Die benötigten Proben konnten entnommen werden. Der Test ergab, dass es dem kleinen Mädchen immer schlechter ging. Während Elaine die Tränen über die Wangen liefen, wurde klar, dass es zu einem Kaiserschnitt kommen würde. Frühmorgens musste dann alles schnell gehen. Elaine fühlte sich wie ein Schwein auf dem Schlachttisch. Alle Gliedmaßen weit auseinander gestreckt, wurde überall an ihrem Körper gezerrt, gestochen, geklebt und getupft. Der erste Schnitt wurde sofort gesetzt. Und Elaine spürte wie ihre Muskeln durchgerissen wurden. Sie heulte auf vor Schmerzen! Dann wurde es dunkel und immer wieder sah sie Gesichter mit Mundschutz. Schließlich vernahm sie einen Schrei. Da war sie! Elaine wusste nicht, wie es ihr erging. Eben war sie noch so erschöpft und im nächsten Moment hatte sie dieses kleine Wesen auf ihrer Brust. Jemand hatte die Kleine gesäubert, in ein frisches Handtuch gewickelt und sie zu Elaine gelegt. Ein bisschen Sabber lief dem Baby aus dem Mund und Elaine lächelte. Als die Kleine schließlich die Augen öffnete, blickte Elaine in blau-graue Augen. Das Mädchen schien ihre Augen bekommen zu haben. „Wie soll die kleine Maus denn heißen?“ Elaine kam wieder in der Realität an und starrte auf die Krankenschwester: „Nun, sie wird nicht bei mir bleiben. Ich weiß nicht, ob ich ihr einen Namen geben kann“. Die Krankenschwester kam auf Elaine zu und streichelte ihr über den Kopf: „Mein Mädchen, du hast etwas Wundervolles geschaffen und nun gib ihr einen Namen. Ich regele das mit den Adoptiveltern“. Ohne zu zögern, flüsterte Elaine den Namen, der ihr sofort in den Sinn gekommen war, als sie das Mädchen zum ersten Mal erblickt hatte. Die Krankenschwester nickte und kam nach ein paar Minuten mit einem winzigen Perlenband zurück, auf den der Name stand, den Elaine eben genannt hatte. Vorsichtig zog die dem schlafenden Baby das Bändchen an. „Das ist jetzt ein Teil von Ihnen. So hat man für immer eine Verbindung“. Elaine rannen die Tränen über die Wangen und sie blickte noch einmal in das winzige Gesicht dieses jungen Menschen. „Ich nehme die Kleine jetzt, damit Sie sich ausruhen können“. An der Tür blieb die Krankenschwester noch einmal stehen: „Sie machen eine Familie sehr glücklich. Sie sind ein Engel und auch Engel dürfen Hilfe bei Gott suchen. Soll ich Ihnen später den Pastor vorbeischicken? Oder jemand anderen? Haben Sie noch Familie? Geschwister?“. Elaine schüttelte nur langsam den Kopf und bat um ein starkes Schlafmittel.
Als sie nach mehreren Stunden wiedererwachte, beschloss sie, die mentalen und Körperlichen Schmerzen hinter sich zu lassen und nicht mehr in der Vergangenheit zu leben.
Wenige Monate später kehrte Steve zurück und Elaine hielt ihr Versprechen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Steve war erfolgreich gewesen, konnte Kontakte knüpfen und wurde schon bald ein gefragter Künstler. Nur ab und zu streichelte Steve über die Narbe, die auf Elaines Bauchs prangte. Es wäre ein Eingriff wegen heftigen Bauchschmerzen gewesen und es täte gar nicht mehr weh, sagte Elaine dann. Und so wie Steve seinen Job immer besser beherrschte, war Elaine ebenso erfolgreich darin, ihr Geheimnis zu bewahren. Für lange Zeit.
2020
„Ich habe schon nicht mehr mit einem Ergebnis gerechnet“. Der Privatdetektiv, ein untersetzter Mittvierziger mit Schnauzer, Ohrringen und Zopf, hatte Elaine eine dicke Mappe auf den Schreibtisch in ihrem Büro gelegt. „War auch nicht einfach“, Frau Charles- Rox, „aber Sie wollten einen kompletten Hintergrund- Check zu dieser Person. „Diese Person“, murmelte Elaine. Dann griff sie in eine Schublade an ihrem Schreibtisch und zog einen dicken Papierumschlag hervor: „Hier, das ist dann wie vereinbart für Sie“. „Möchten Sie sich nicht erst ansehen, was ich alles herausgefunden habe?“. „Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich glaube Ihnen. Nehmen Sie das Geld. Falls es noch etwas gibt, melde ich mich bei Ihnen und nun lassen Sie mich bitte allein“. Der Privatdetektiv nickte stumm und griff sich den Umschlag: „Dann hoffe ich, Sie finden, dass was Sie suchen“.
Elaine steckte die Mappe in ihre Handtasche, um sie zuhause wieder zu öffnen.
Als sie zuhause angekommen war, überlegte sie lange, ob sie mehr über die Frau rausfinden wollte, die mit ihrem Mann schlief. Sie war eine dritte Person, die sich in das Leben zweier einmischte. Elaine spürte einen tiefen Schmerz. Was hatte diese Frau, um ihrem Steve so nah kommen zu dürfen. Solange sie zusammen waren, war Elaine der Auffassung gewesen, dass niemand Steve näherkommen könnte als sie. Dafür verbanden sie zu viele gemeinsame Zeiten. Nun zu erfahren, dass es doch jemanden gibt, der sich zwischen sie beide drängte, schmerze Elaine in der Seele.
Langsam klappte Elaine die Mappe vor ihr auf und betrachtete die darin liegenden Fotos als Erstes. Darauf zusehen war eine junge, schlanke Frau mit dunklen Haaren. Ihre Haut war blass und ihr Gesicht hatte etwas Puppenhaftes. Auf den ersten Blick schien die junge Frau nichts mit Elaine gemeinsam zu haben. Doch dann sah sie der Fremden in die Augen. Sie waren Blau-grau und trugen einen leicht melancholischen Blick. Elaine legte das Bild zurück und blickte in einen Spiegel hinter sich. Es schienen fast dieselben Augen zu sein. Hatte Steve diese Frau gewählt, weil ihre Augen der von Elaine glichen? Elaine blätterte weiter in der Akte und fand noch mehr Fotos. Aufnahmen, auf denen die Frau jünger war. Aufnahmen, wo sie neben Kunstwerken posierte, auch in Steves Galerie. Aufnahmen, wo Steve sie umarmte. Elaine konnte das nicht mehr sehen und legte die Mappe mit samt ihrem Inhalt in eine Schublade. Sie schnappte sich ihren Mantel und machte sich auf den Weg zu dem Mann, der unwissentlich Teil in dieser unglücklichen Dreiergeschichte war. Tim Mehring. Der Lebensgefährte der Frau, die mit ihrem Mann schlief. Elaine glaubte, er hatte auch ein Recht, von der Affäre zu erfahren. Erst später würde sie erfahren, welches Geheimnis sich tatsächlich zwischen den Blättern verbarg.
2020 – Nur Tage später
Er starrte auf das rote, glänzende Blut, das ihre Schläfe wie Öl hinunter rann. Das hatte er nicht gewollt! Wie konnte so etwas passieren? Sein Puls raste und er spürte seinen Herzschlag an seiner Kehle. Langsam trat er näher an sie heran. Wie sie da lag. In sich zusammengesackt, die Beine unnatürlich übereinander gekreuzt, die Arme schlaff vor ihrer Brust verschränkt. Erst hatte sie ihn weggeschubst, nein, gestoßen und dann ihre Arme schützend vor ihren Oberkörper genommen. Und er. Ja, was hatte er getan? Lediglich gewehrt hatte er sich, ein bisschen gestoßen hatte er sie. Er war wütend gewesen. Ja, aber das hatte er doch nicht gewollt. Er bückte sich zu ihr herunter, sah ihr ins Gesicht, fühlte ihren Puls an ihrem Hals und ihrem Handgelenk. Doch schon an der Art, wie ihr Handgelenk, so dünn und blass, in seiner Hand lag, wusste er, dass sie den Schlag nicht überlebt hatte. Sein Herz schien mittlerweile zu versuchen, über seinen Hals nach oben seinen Körper durch seinen Mund zu verlassen. Plötzlich merkte er, wie schlecht ihm war. Der metallische Geruch ihres Blutes stach ihm mit einem Mal in die Nase und schien sich in Sekundenschnelle im Wohnzimmer auszubreiten. Panik kam in ihm hoch. Er sah die roten Flecken hinter ihrem Kopf auf der hellen Wand. Er würgte, stolperte, rammte einen Glastisch beim Aufstehen und schaffte es gerade noch ins Bad, bevor er sich übergeben musste. Vom Würgen schmerzte sein Magen und sein Rachen brannte. Dieser Geruch, die schlaffen Arme, das ölige Blut. Sämtliche Muskelkraft schien für eine gewisse Zeit gänzlich seinen Körper verlassen zu haben. Als er sich zitternd aufrichtete, mit beiden Händen erst am Toilettensitz festhaltend, dann an der Badewanne, fiel ihm auf, wie still es war. Noch vor einer halben Stunde hallten wütendes und aufgewühltes Geschrei durch die ganze Wohnung, bis dieser dumpfe Schlag und ein metallisches Klirren die Stille verkündeten. Sie wird nie wieder schreien. Nie wieder wütend sein.
Als er zurück ins Wohnzimmer ging, fiel sein Blick auf die Metallstatue, die etwa einen Meter von ihr weg lag. Es war eine Miniaturversion des Eiffelturms, aber immer noch groß genug, um höllischen Lärm zu machen, wenn sie zu Boden fiel. Nahm man den oberen Teil der Statue ab, konnte man im unteren Drittel eine kleine Kerze hineinstellen.
Sie schwärmte immer schon für so einen Kitsch. In all den Jahren, in denen sie zusammenlebten, füllte sie die Wohnung immer mehr mit solchen Staubfängern. Er fand es schrecklich. Nicht modern und puristisch, wie er es am liebsten hatte, aber er war selten zuhause. Sollte sie halt machen. Nur diese Figur, den Eiffelturm, hatte er ihr geschenkt. Weil sie gequengelt hatte. Die ganzen vier Tage, die sie vor vier Jahren in Paris gewesen waren. Weil er selten zuhause war, war sie ständig wütend. Immer diese Vorwürfe, wenn er dann nachhause kam. Dabei tat er nichts. Es war sein Job, ständig in Hotels zu schlafen in stärkedurchtränkter Bettwäsche und mit einem Minzbonbon auf dem Kissen. Es war nicht seine Schuld, dass er tausende von Kilometer im Jahr fuhr, während sie gemütlich zuhause hockte und sich langweilte. Ja, er war sich sicher: Sie langweilte sich einfach und deshalb ging sie ihm ab dem Zeitpunkt, wo sein Fuß über die Schwelle trat, auf die Nerven. Als Ausgleich für seine Abwesenheit machte er so oft wie mögliche Kurzurlaube mit ihr. So wie der Vier-Tages-Trip nach Paris – die Stadt der Liebe. Und selbst da nervte sie ihn ständig. Mit dieser Miniaturversion des Eiffelturms, die sie unbedingt haben musste. Das blöde Ding war nicht mal teuer, aber sie ging ihm auf die Nerven. Er hätte niemals so einen Kitsch als Geschenk ausgesucht. An sich machte es ihm nichts aus, ihr etwas zu schenken. Auch Geld spielte da keine Rolle, aber eben nicht so einen kitschigen Scheiß. Und nicht, wenn sie ihn drängte. Damals wusste er nicht, warum er sich letztlich hatte erweichen lassen. Vielleicht wegen diesem einen Moment am zweiten Abend, als sie essen waren in der Rue de Rivoli, in einem herrlichen Restaurant. Er freute sich innerlich darauf, den bestellten Fisch zu genießen, die Spezialität des Restaurants und sie hatte sich dem Fenster zugewandt und schwieg. Dabei lächelte sie, blickte neugierig nach draußen und auf ihrer kleinen Nasenspitze schimmerte das Licht der untergehenden Sonne. Da hatte er sie angeschaut, ganz bewusst und sich erneut in ihr zartes Profil verliebt. Ihre vollen Lippen zuckten leicht, als könne sie ein Lachen nicht zurückhalten. Ihre hohen Wangen wirkten rosig und ihre langen, dunklen Wimpern schlugen zart aufeinander. Ihr Profil hatte einfach etwas Verführerisches. „Ich liebe dich“, flüsterte er damals und sie zog schüchtern die Schultern hoch. Sie konnte ihn verrückt machen. Später schafften sie es nicht einmal ins Hotel, sondern fielen in einer schmalen Seitengasse nahe dem Louvre übereinander her. An ihre lustvollen Seufzer dachte er bis heute noch gerne zurück. Sie schienen von den hohen Wänden zu hallen und ihren Weg in die Welt zu suchen. Am Morgen danach lenkte er sie mit einer Ausrede ab. Er müsse ein wichtiges Telefonat führen. Beruflich. Und sie nörgelte wieder. Bis er zurückkehrte mit einem roten, glänzenden Paket hinter seinem Rücken. Als sie erkannte, war er ihr geschenkt hatte, verstummte ihre Nörgelei.
Was für eine beschissene Ironie, jetzt wo sie neben seinem Geschenk lag, schweigend und tot. Er blickte auf die dunklen Blutspritzer, die das Metall der Statue bedeckten. Überall schien Blut verspritzt zu sein. Er hätte sie in diesem Moment am liebsten abgewaschen und den Eiffelturm wieder auf das Regal gestellt, von dem dieser heruntergekracht war. Aber wie würde dies wirken? Die Situation war schon schwierig genug.
Sie hatte ihn geschubst, hatte ihn angeschrien. Sie war so wütend gewesen. Er sei immer nur weg. Immer nur abwesend. Ihm sei alles andere wichtiger als sie. Sie habe so viel für ihn geopfert. Sie hätte nach Nizza gehen können, um im Chargall-Museum zu arbeiten. Sie hatte dieses Angebot, aber sie sei hiergeblieben und sie sei so dumm gewesen. Sie sei so dumm gewesen, zu denken, er würde sie lieben, aber er liebe nur sich selbst und seinen Job. Das hörte er oft und mit einigen Dingen hatte sie sogar Recht. Wäre sie mal nach Nizza gegangen. Aber heute war es irgendwie zu viel gewesen. Er war gestresst gewesen. Kurz vor Jahresabschluss war es immer wie kurz vor der Apokalypse. Und er hatte sie einfach nicht mehr ertragen.
Das Blut von ihr war inzwischen an vielen Stellen geronnen, krustig und braun. Es durchzog ihr schönes Gesicht wie eine abartige, wulstige Narbe. Es entstellte sie und er hätte auch sie gerne sauber gemacht. Aber das ging nicht. Er musste den Notruf verständigen. Schließlich war es ein Unfall! Doch er konnte sein Handy nirgends finden. Sie besaßen kein Festnetz und er durchsuchte sämtliche Sachen von sich. Es war weder im Mantel noch im Jackett. Es lag auch nicht auf dem Tisch. Überhaupt war er sich nicht sicher, wo er es das letzte Mal in der Hand gehabt hatte.
Was würden sie sagen? Er wurde kreidebleich und sank in einer Hocke vor ihr auf den Boden. Der Eiffelturm lag blutbespritzt neben ihr. Es war ein Unfall. Sowas passiert. Unglücklich. Schicksalshaft. Ihm war es einfach zu viel, als sie ihn wieder anschrie. Und sie schubste ihn, schlug so hart auf seine Brust, dass er schwer atmen konnte. Er hatte sich nur wehren wollen, wollte sie nur wegstoßen, damit er wieder atmen konnte. Dass da das Regal hing, dass da der Eiffelturm stand, dass sie mit voller Wucht dagegen krachte, der Eiffelturm herunterfiel und ihr den Schädel einschlug - das wollte er doch alles nicht. Sie lag nur da und zum ersten Mal seit langer Zeit wünschte er, sie würde etwas sagen. Aber das tat sie nicht.
Da dämmerte ihm, wo er sein Handy vergessen hatte. Natürlich! Im Büro! Er war nach seiner Ankunft in der Stadt direkt noch einmal ins Büro gefahren. Dort hatte er es liegen gelassen. Ihr Handy lag auf der Küchentheke. Als er es in die Hand nahm und wählen wollte, war ihr Passwort mal wieder geändert worden. Häufig in letzter Zeit. Dennoch konnte er die Nummer des Notrufs wählen, doch schon nach dem ersten Klingeln legte er wieder auf. Es hatte keinen Sinn. Sie war tot und hier konnte er nicht bleiben. Vorerst. Sollte die Polizei glauben, sie habe ihren Mörder hereingelassen. Vielleicht hat sie die Tür geöffnet, der Mörder hatte sich Zutritt gewährt. Oder sie habe den Mörder überrascht. Sowas passiert.
Er warf noch einen letzten Blick auf sie. Dann verließ er die Wohnung.
Eine Zeitlang fuhr er planlos umher, erst mal weit weg aus der Stadt, dann zum Flughafen und an den Hotels vorbei. Als es begann, hell zu werden, kehrte er um. Im Büro holte er sein Handy und fuhr dann nachhause.
Als er bei ihrer gemeinsamen Wohnung angekommen war, stellte er den Motor aus, atmete tief durch und stieg aus dem Wagen. Wie betritt man eine Wohnung, in der die Leiche der eigenen Freundin seit Stunden am Boden im Wohnzimmer liegt? Mit zitternden Händen schloss er die Tür auf und bildete sich ein, sofort wieder den metallischen, beißenden Blutgeruch in der Nase zu haben. Er trat ein, schaltete das Licht im Flur an, zog seinen Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. So normal wie möglich. Dann drehte er sich in Richtung Wohnzimmer, ging Richtung Tür, schaltete das Licht an und sah sie. Immer noch unnatürlich verkrümmt und in sich zusammen gesackt in einer Ecke des Raumes. Er wählte die Nummer des Notrufs und wartete auf das Blaulicht vorm Hauseingang.
Der Tod sei seit mehreren Stunden eingetreten, sagte die Polizei und meinte, er müsse mit auf die Wache kommen. Man bräuchte seine Aussage.
Der Raum war dunkel trotz Deckenbeleuchtung. Es waren diese weißen, langen Leuchten, die man früher in jedem Büro und jede Arztpraxis an den Decken angebracht hatte. Und anscheinend auch in jedes Polizeirevier. Obwohl er das schwer beurteilen konnte, denn bisher war er nur einmal auf einem Polizeirevier gewesen und das war mit 17, weil ihm sein Moped gestohlen worden war. Er war nicht der Typ, der mit dem Gesetz in Konflikt kam. Natürlich hatte er sich früher mal in Filme geschlichen, die nicht für sein damaliges Alter bestimmt waren, er fuhr ab und zu ohne Ticket zwei Stationen mit der Bahn und ja, er war auch schon nach drei Drinks noch ins Auto gestiegen. Aber mehr als ein paar Kilometer wäre er nie gefahren. Und es war auch nicht so, dass es ihn störte, die allermeiste Zeit nach dem Gesetz zu leben. Er war nicht derjenige, der irgendeinen Kick brauchte, der den Reiz des Verbotenen suchte. Und dennoch saß er jetzt in einem unnatürlich und schlecht beleuchteten Raum, um eine Aussage darüber zu machen, wo er gewesen sei, bevor er seine tote Freundin fand.
Die Luft erschien ihm stickig und es roch merkwürdig. Wie eine Mischung aus alten Papierstapeln und Reinigungsmittel. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißtropfen, doch innerlich fröstelte er. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Es war ein Unfall. Das hatte er doch alles so nicht gewollt. Er war doch nur einmal wütender geworden als normal, hatte sie einmal gestoßen. Das macht doch noch keinen Mörder. Und wenn doch? Brauchte er einen Anwalt? Mit zitternden Fingern griff er das Glas mit Wasser vor sich und versuchte verzweifelt, nicht alles zu verschütten. Er durfte sich nicht verdächtig machen. Aber verdächtig für was?
„Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, Herr— „, sagte der Polizist laut, nachdem er mit Schwung und einer Akte in der Hand ins Zimmer trat, „—Herr“. „Mehring“, half Mehring, so heißt er, dem Beamten nun aus, „mein Name ist Tim Mehring“. „Ah ja, da habe ich es ja! Ist immer ein bisschen Durcheinander beim Schichtwechsel. Herr Mehring, Sie sind also der Lebensgefährte des Opfers“. Der Polizist schob den Stuhl gegenüber Mehring zurück und es gab ein schrilles Quietschen im Raum. Für einen Moment bekam Mehring Gänsehaut. „Ja genau“, erwiderte Mehring schnell und knetete dabei seine Hände unter dem Tisch. Als ihm klar wurde, wie verdächtig das wirken musste, nahm er beide Hände schnell nach oben und legte sie vor sich auf den Tisch: „Ich habe die Polizei gerufen, als ich sie so fand“, fuhr Mehring dann schnell fort. „Jaja, dazu kommen wir noch“, erwiderte der Polizist und machte dabei eine abwehrende Handbewegung: „Also Herr Tim Mehring, geboren am 17.2.1986, wohnhaft in-“. Während der Beamte die Personalien abglich und in der Akte ein, zwei Kreuze und Notizen irgendwo machte, blickte Mehring auf seine Hände und war bei dem Wort „wohnhaft“ hängen geblieben. Wohnhaft. Das klang so einengend und fixiert. Wohnhaft. Es war der Ort, an dem man haften blieb, der einen fest hielt. Ein Ort hatte Mehring nie festgehalten. Er lebte mehr in Hotels als in irgendeinem Haus oder irgendeiner Wohnung. Sie war es, die ihn damals festgehalten hatte. Sie hatte ihn fixiert und er blieb an ihr haften. Als er sie damals zum ersten Mal gesehen hatte, war das Wahnsinn. Sie fiel ihm mitten auf der Straße auf, als sie diese nach einem hektischen Blick nach rechts und links in hohen Stiefeln und wallendem Mantel überquerte. Ihre dunklen Haare umwehten ihr schmales Gesicht und betonten ihre hellblauen Augen. Mit denen blickte sie jetzt wieder leicht gehetzt auf ihre dünne Armbanduhr. Mehring konnte nicht anders, als sie anzustarren und dies schien sie zu bemerken. Ihre Augen suchten die Terrasse des Cafés ab, in dem er saß und dann blickte sie ihn direkt an. Es durchfuhr ihn wie ein Schock und obwohl er nicht der Typ war, der vor Frauen zurückschreckte, konnte er ihrem Blick kaum standhalten. Diese Augen. In diesem Moment wurde ihr Gesicht weicher und so etwas wie ein Lächeln zuckte über ihre Lippen. Dann hob sie die Hand und winkte. Mehring war schon dabei, ihr zurück winken zu wollen als er hinter sich einen Stuhl rücken hörte. Jemand war aufgestanden und sie kam geradewegs in seine Richtung. Und an ihm vorbei. Wie er später erfuhr, saß hinter ihm ihr damaliger Freund. Sie war spät dran gewesen und er regte sich kurz auf. Als ihr Freund wenig später nach drinnen auf die Toilette verschwand, nutze Mehring seine Chance, drehte sich um und erkläre mit drei Sätzen, warum die beiden sich treffen sollten. Er schob ihr noch die Visitenkarte über den Tisch und verlangte dann nach der Rechnung. 10 Tage später meldetet sie sich. Ihr Freund und sie hätten Streit. Ob man reden könne. Konnte man. Sie trafen sich und je später es wurde, desto weniger wurde geredet. Nach zwei Monaten zog sie bei ihrem alten Freund aus und bei Mehring ein. Es war eine wahnsinnige Zeit. Wenn er weg war, bekam er fast täglich erotische Bilder von ihr auf sein Handy. Wenn er von seinen Reisen zurückkam, empfang sie ihn in zarter Unterwäsche oder nackt. Ihre Haare, so schwarz und glänzend, rochen immer nach Rosen und Pfirsich. Ihre Haut war weich und wenn sie ihn anlächelte, so ein schüchternes, leicht schiefes Lächeln, wenn sie dabei die Schultern hochzog, dann war er überzeugt davon, dass sie die Richtige war. Doch schon bald wurde ihr alles zu klein. Die zwei Zimmer reichten ihr nicht und auch die sporadische Einrichtung war nichts, was sie länger ertragen konnte. Also zogen sie gemeinsam in eine größere Wohnung. Sie hatte ihn fixiert und er war an ihr haften geblieben.
„Nun, Herr Mehring, dann erzählen Sie doch noch einmal genau“, hörte Mehring die durchdringende Stimme des Beamten, „wo Sie herkamen, bevor Sie das Opfer, also Frau Frey, in Ihrer Wohnung vorgefunden haben – ach, noch eins: seit wann wohnen Sie beide zusammen?“. „Wohnten“. „Bitte?“. „Wir wohnten zusammen“, erläuterte Mehring. „Ach. Also Sie waren getrennt lebend?“, fragte der Polizist mit neugierig hochgezogener Augenbraue und erweckte den Eindruck, als sei das genau die spannende Wendung, die er sich erhofft hatte. Mehring blickte ihn leicht schockiert an und widersprach energisch: „Nein! Wir haben zusammengelebt, aber sie ist tot. Ina ist tot, also wohnten wir zusammen, weil sie jetzt weg ist“. Der Polizist schaute Mehring an. „Also, sie ist nicht weg“, redete Mehring weiter, weil er ja bloß nicht verdächtig wirken wollte, „Ina ist tot, deswegen habe ich das gesagt. Also“. „Ja“, nickte der Polizist und studierte wieder kurz die Akte vor ihm, „da haben Sie natürlich vollkommen Recht. Also bei Ihnen war in der Beziehung