Morast - Brylla Thomas - E-Book

Morast E-Book

Brylla Thomas

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Beschreibung

Früher war alles so selbstverständlich. Eva-Maria hatte sich nie Gedanken machen müssen. Die Kinder, Svante, die Familie, all dies stellte ihre Geborgenheit dar. Dann fing alles an, sich zu verändern. Terror und Sachschäden. Anfangs nervenaufreibend, aber immer noch akzeptabel. Dann immer wieder ernsthaftere Ereignisse. Und jetzt ganz etwas Anderes, was nicht zu verstehen war. Gewalttaten. Wer steckte dahinter? Und warum? Und warum passierte dies gerade jetzt? Was würde demnächst kommen? Ihre Familie fiel langsam auseinander. Der zusammenhaltende Kitt löste sich auf. Alle waren verunsichert. Keiner konnte sich länger auf den anderen verlassen. Zutrauen wurde gegen Skepsis eingetauscht. Alles war chaotisch. Ein Morast.

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Seitenzahl: 290

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Thomas Brylla wurde 1944 in Örebro (Schweden) geboren und starb im November 2009 in Uppsala, wo er seit 1963 wohnte und als Bibliothekar, Rezensent und Kulturjournalist arbeitete. Er schrieb Bücher sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche. Seine Kriminalromane und Thriller umfassen u. a. auch fünf Kriminalromane über den Rechtsanwalt und Privatermittler Peter Bromander, der Verbrechen und Morde in Uppsala aufklärt. Der erste Roman erschien 1997 und der letzte im Frühjahr 2009. Er hinterließ außerdem noch ein unvollendetes Manuskript zu einem Peter Bromander-Roman.

Thomas Brylla

Morast

Thriller

© 2016 Thomas Brylla

Übersetzung: Catharina Hanig

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

978-3-7345-5572-5 (Paperback)

978-3-7345-7633-1 (Hardcover)

978-3-7345-7634-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

In der Stunde der vollen Blüte beginnt der Verfall. (Japanisches Sprichwort)

1

Direkt als sie die Tür aufmachte, sah sie es. Sah, dass es noch einmal passiert war. Ihre Reaktion war dieselbe wie bei den früheren Gelegenheiten. Eine Mischung von Wut, Trauer und Angst.

Eva-Maria Törnheden zog ihren Morgenrock fester um sich und schlich über die Platten zum Briefkasten und der Morgenzeitung. Auf beiden Seiten der Platten war das Gras nass vom Morgentau. Leichte Nebelvorhänge hingen noch wie dünne Schleier über Wald und Felder aber würden vermutlich gleich verschwinden und einem schönen Herbsttag den Weg bereiten.

Der Garten war dabei, sich auf den kommenden Winter vorzubereiten. Noch hingen die Blätter an Bäumen und Büschen, aber das Grüne nahm allmählich einen rostbraunen Farbton an. Im Kirschbaum verfolgte ein Spatzenpärchen gespannt ihren Weg. Die ganze Zeit bereit abzuheben, falls etwas Bedrohliches eintreffen würde.

Am Briefkasten angekommen steckte Eva-Maria vorsichtig die Hand hinein und fischte die Zeitung heraus. Zaudernd warf sie einen Blick in den Briefkasten. Leer. Sie seufzte erleichtert. In diesem Briefkasten hatte sie in letzter Zeit allerhand gefunden. Sachen, die absolut nicht in einen normalen Briefkasten hineingehörten. Und die anscheinend von irgendjemandem dort hineingesteckt worden waren. Alte Zigarettenstummel. Tote Vögel. Hundekacke.

Eva-Maria schüttelte ihre hellrote Mähne und machte sich auf den Rückweg ins Haus. Müde, verwirrt. Normalerweise sah sie aus wie das blühende Leben. Die Unruhe und das Chaos der letzten Zeit hatten ihren sonst so gesunden Teint verändert. Jetzt war er ganz grau vor Müdigkeit und Unruhe, und die braunen Sommersprossen, die normalerweise ihrem Gesicht ein pikantes Aussehen verliehen, sahen jetzt eher wie Pickel aus in dem blassen, ungeschminkten Gesicht.

Auf dem Weg zurück ins Haus und in die Wärme blieb sie stehen und betrachtete die Verwüstung. Alle Töpfe, die auf der niedrigen, langen Bank gestanden hatten, lagen jetzt auf dem Boden. Sie hatten dagestanden um für den Winter geleert und weggestellt zu werden. Die Bank war umgeworfen und die Erde aus den Töpfen bedeckte beinahe ganz und gar die Platten. Mehrere Töpfe waren kaputtgegangen.

Eva-Maria schüttelte sich. Seufzte. Sie hatte jetzt nicht Zeit aufzuräumen. Die Kinder mussten in die Schule, und selbst musste sie zur Arbeit. Es musste bis heute Abend warten. Das heißt, wenn nicht etwas anderes bis dahin geschehen war. Eine neue Verwüstung.

Wer steckte dahinter? Wer es auch war, er hatte sein Ziel erreicht. Eva-Maria war ins Schwanken geraten. Sie war dabei den Boden unter ihren Füßen zu verlieren. Sie konnte sich an ihrer Arbeitsstelle schwer konzentrieren. Sie dachte zu sehr an alles, was passiert war.

Was würde demnächst geschehen? Würde es weiter eskalieren? Und warum geschah dies alles gerade jetzt?

Eva-Maria machte die Tür auf und ging ins Haus. Zog die Stiefel aus und ging in die Küche. Schmiss die Zeitung auf den Küchentisch uns sah ihren Mann an.

„Jetzt muss es genug sein. Ich schaffe es nicht mehr.“

*

Svante Törnheden lenkte seinen Audi auf den Parkplatz der Hochschule in die Lücke mit seiner Autonummer. Er blieb eine Weile im Auto sitzen und hörte dem Ausschnitt eines Rundfunkprogramms zu. Ein Nachrichtenreporter setzte der Schulministerin hart zu, aber diese geriet nicht für eine Sekunde ins Wanken.

„Wir haben eine stabile und gesunde Schule, die allen Schülern dieselben Möglichkeiten bietet. Die Verantwortung ruht auf dem Schüler selbst, und unsere schwedische Schule schafft sozial orientierte Schüler mit guten Grundkenntnissen.“

Svante hatte Lust laut aufzulachen, aber das Thema war viel zu ernst als dass man darüber lachen könnte. Wusste die Ministerin nicht oder ließ sie sich nichts anmerken? Und wenn sie wusste. Wie war ihr dabei zumute, als sie bewusst die richtigen Tatsachen vorenthielt? Einfach die Zuhörer direkt zu belügen. Es konnte ihr kaum entgangen sein, dass es vielen Schülern, die für die Hochschule angenommen wurden, an grundlegenden Kenntnissen fehlte. Die Sprachlehrer mussten in der Regel damit anfangen, die Studenten in schwedischer Grammatik zu unterrichten, bevor diese anfangen konnten ihre jeweiligen Sprachen zu studieren.

Er stieg aus dem Auto und schloss es mit einem Klick ab. Er glättete die Krawatte, den braunen Cordanzug und die dichten braunen Haare und ging auf den Eingang zu. Seine Schritte waren sportlich, und er wusste, dass sein Kampf gegen Gewichtszunahme und körperlichen Verfall bis jetzt erfolgreich gewesen war. Er hatte einige Kollegen, die auseinander gingen wie die Pfannkuchen und viel älter aussahen als sie in Wirklichkeit waren. Mit der Zeit würde er nicht gegen den unerbittlichen Verlauf der Zeit ankämpfen können, aber kam Zeit kam Rat.

Auf dem Weg vom Parkplatz zum Eingang betrachtete er die wohlbekannten Gebäude. Die Hochschule hatte die Räume einer ehemaligen Volksschule, die in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut worden war, übernommen. Das rostbraune Backsteingebäude war schnell zu klein geworden und war seit einigen Jahren mit einem neuen imposanten Haus ergänzt worden. Dieses sah genauso aus wie alle öffentlichen Gebäude, die um die letzte Jahrhundertwende gebaut worden waren. Unmengen von Glas und grelle Farben.

Die Nachrichtensendung mit der Schulministerin hatte sein ungeteiltes Interesse beansprucht. Die Gedanken, die in seinem Kopf herumgeschwirrt waren, waren für einen Moment in den Hintergrund geraten. Das war ein gutes Gefühl gewesen, doch jetzt waren sie mit voller Kraft wieder da.

Eva-Marias Wut und Unruhe am Morgen. Ihre Fragen, die unmöglich zu beantworten waren. Er wusste genauso wenig wie sie, worum es sich handelte. Wenn er es nur gewusst hätte, hätte er es angepackt. Sofort. Oder genauer gesagt, er hätte sich denjenigen vorgeknöpft, der hinter dem Terror steckte.

Wie üblich hatte er versucht Eva-Maria zu beruhigen. Dass alles nur ein reiner Zufall gewesen sei. Gewiss ein unangenehmer solcher, aber trotz allem nur ein Zufall. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass dies nicht der Fall war. Viel zu viel war passiert. Und es schien auch nicht aufzuhören. Das hatten sie spätestens heute Morgen zu spüren bekommen.

Er wurde nicht schlau aus Eva-Marias Reaktion. Irgendwie schien sie ihn für das Geschehene verantwortlich zu machen. Nicht direkt mit Worten. Aber ihre Blicke sagten umso mehr. Sie deuteten an, dass es seine Schuld war.

So war es heute Morgen. Sie war aufgeregt gewesen. Hatte ihn immerzu gefragt.

„Was passiert eigentlich, Svante? Worum geht es denn?“

„Ich weiß nicht. Ich weiß nicht mehr als du.“

„Ach nein ...“

Dies war ein solcher Morgen gewesen, an dem er beinahe von zu Hause ausgerissen war. Ab und zu fuhren sie zusammen nach Örtuna, teils um Geld zu sparen, teils der Umwelt wegen. Aber heute schaffte er es nicht, in ihrer Nähe zu sein. Ihre ständigen Fragen. Warum? Wer? Und dazu noch ihre vorwurfsvollen Blicke.

Svante nickte ein paar Studenten zu. Als er das Haupttor zur Hochschule aufmachte, wusste er, dass er sich auf die bevorstehenden Arbeitsaufgaben konzentrieren musste. In seiner Eigenschaft als Betreuer hatte er in einer guten Stunde ein Treffen mit den Doktoranden. Dies verlangte seine ganze Kraft.

Aber so sehr ihn seine Arbeit heute beanspruchen würde, er würde nicht die Gedanken an die Geschehnisse von heute morgen loswerden können. Er sah die umgestoßenen und kaputten Blumentöpfe vor sich. Ihm war dabei nicht wohl zumute. Er konnte nicht nur verächtlich schnauben und „Dummjungenstreich“ murmeln.

Zwar hoffte er, dass es sich gerade um Dummjungenstreiche handelte. Aber in seinem Inneren verspürte er etwas anderes. Dass dies das Werk eines Menschen war, der keinen festen Fuß mehr in seinem Dasein fand. Jemand der betrogen oder im Stich gelassen worden war. Und der jetzt keine andere Möglichkeit sah, als auf diese Art und Weise heimzuzahlen.

2

„Ja, ich habe verstanden, dass es wichtig ist! Ich werde es schon schaffen. Kein Problem!“

Doch Probleme würde es jetzt geben. Eva-Maria fluchte laut vor sich hin, als sie den Hörer aufgelegt hatte. Typisch, dass sie ausgerechnet heute einen wichtigen Mandanten übernehmen musste. Und erst um drei! Sie hatte Emma versprochen früh zu Hause zu sein. Das würde jetzt unmöglich sein.

Svante müsste etwas früher nach Hause kommen. Sie schüttelte sich, als sie sich erinnerte, dass Svante vermutlich erst spät heute Abend zu Hause sein würde. Einen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie ihn anrufen sollte aber ließ den Gedanken fallen. Vermutlich würde er auch heute nicht zu erreichen sein. Dies war oft der Fall nach solchen Morgen, an denen er Hals über Kopf geflüchtet war.

Es war immer dasselbe gewesen, nachdem sie Verwüstungen ausgesetzt worden waren. Er war genauso aufgeregt wie sie. Genauso wütend. Aber sie hatte noch etwas wahrgenommen, etwas Ausweichendes. Als ob er Angst hätte, das Problem anzupacken.

Normalerweise scheute er nie Auseinandersetzungen. Er war absolut nicht ängstlich sondern geradlinig und aufrichtig. Aber nach diesen Verwüstungen war er ausweichend. Verdächtig ausweichend. Wollte sich nicht damit befassen. Wusste er etwas darüber? Etwas, was er ihr nicht erzählen wollte?

Viveka. Sie musste ihr aus der Patsche helfen. Zum wievielten Mal wusste Eva-Maria nicht mehr. Mehrmals war Viveka, ihre Nachbarin, ihr rettender Engel gewesen, wenn plötzliche Änderungen im Stundenplan oder unerwartete Termine den genauen Plan der Familie Törnheden über Bord geworfen hatten.

Viveka hatte nichts dagegen. Das sagte sie wenigstens. Sie mochte Kinder gerne und hatte verhältnismäßig viel Zeit übrig. Sie saß keineswegs in ihrem Haus und drehte Däumchen. Sie war Übersetzerin und arbeitete so gut wie immer zu Hause.

Eva-Maria wusste nicht viel über Viveka. Diese war ziemlich verschwiegen, was ihr Leben betraf, aber so viel hatten sie erfahren, dass sie Witwe und kinderlos war. Sie wohnte schon im Nachbarhaus, als Eva-Maria und Svante einzogen, und schon von Anfang an war Viveka freundlich und hilfsbereit gewesen. Allmählich war eine freundschaftliche Beziehung zwischen Eva-Maria und Viveka entstanden. Eva-Maria spürte, dass sie sich auf Viveka verlassen konnte und vertraute sich nunmehr ihr ziemlich oft an. Viveka konnte gut zuhören aber vertraute sich selbst nicht oft an. Vielleicht fing dies jetzt an sich zu ändern.

In letzter Zeit hatte Viveka etwas mehr über sich selbst und ihr Leben erzählt. Nichts direkt Aufsehenerregendes oder keine ernsthaften Geheimnisse. Aber trotzdem.

Ihr Mann war bei irgendeinem Unfall ums Leben gekommen, so viel wusste Eva-Maria, aber nicht mehr. Die Bande zwischen den Eheleuten waren so stark gewesen, dass sie sich nie mehr habe verlieben können. Zumindest gab sie das vor. Sie vermisste ihn immer noch, und manchmal überkam sie die Verbitterung. Allein zu sein und keine Kinder zu haben.

Emma und Viveka hatten recht schnell zueinander gefunden, und es war niemals mit Schwierigkeiten verbunden, Emma zu bitten zu Viveka zu gehen, wenn Eva-Maria sich verspätete. Manchmal war Emma alleine zu Hause, aber sie wusste immer, dass Viveka sich im Haus nebenan befand.

Viveka machte niemals aus ihren feministischen Ansichten einen Hehl. Sie kamen bei Gesprächen und Diskussionen an den Tag. Diskussionen die Svante nunmehr am liebsten mied. Er versuchte sich immer herauszuhalten, wenn die feministischen Dogmen gelüftet wurden. Nachher pflegte er zu Eva-Maria zu sagen:

„Am besten verhalte ich mich still. Ich könnte ihre Floskeln mit ein paar gut gewählten Worten kaputt machen.“

Eva-Maria antwortete nicht. Sie war nur zufrieden, dass es nicht zu offener Feindschaft zwischen Viveka und Svante kam. Ein bisschen kühle bewaffnete Neutralität konnte angehen. Sie mochte Viveka und brauchte außerdem ihre Hilfe.

Viveka kümmerte sich nicht viel um Svante. Sie stellte fest, dass er existierte, und dass man genauso gern alleine leben könnte, wenn alle Männer so wie er waren.

„Du hast viel zu tun, Eva-Maria. Ein großes Haus, eine Arbeit, die hohe Anforderungen an dich stellt und drei Kinder zu versorgen“, konnte Viveka sagen. Um im nächsten Augenblick laut aufzulachen.

Doch da täuschte sich Viveka. Svante war kein Kind. Er übernahm meistens seinen Teil der Haushaltsarbeit. Er kaufte ein, putzte und vor allem beschäftigte er sich viel mit den Kindern. In der Hinsicht hatte Eva-Maria keinen Grund zu klagen. Zwar existierten die Freunde aus seiner alten Clique immer noch. Es gab schon noch Fußballspiele, Reisen und feuchtfröhliche Abende, aber meistens war Svante da, wenn sie ihn brauchte.

Deshalb war es schon etwas erstaunlich, dass er sich zurückzog, wenn seine Familie diesem Terror ausgesetzt wurde. Sie wollte mit ihm reden, alles besprechen, aber Svante hatte nichts zu sagen. Er flüchtete sich in seine Arbeit und hinterließ sie in einem Chaos. Es war auch schwierig, ihn in der Tiefe zu erreichen. Über das Leben, die Zukunft, ihre Gefühle zu reden. Er konnte stundenlang darüber reden, was an der Hochschule passierte. Wer intrigierte. Auf wen er sich verlassen konnte. Wer mit wem fremdging. Niemals über seine Gefühle. Und natürlich niemals über ihre Gefühle.

Der Alltag nahm immer überhand. Er stellte ihr Gesprächsthema dar. Niemals redeten sie über sich selbst. Wie alles werden sollte. Trotz allem bestand das Leben nicht nur aus praktischen Dingen. Es musste noch eine Dimension geben. Und sie sehnte sich danach. Immer mehr.

Eva-Maria warf einen Blick auf die Uhr. Nein, jetzt musste sie sich beeilen. Es war schon spät. Sie zog einen hellen Popelinemantel über das schlichte graue Kostüm. Sie schaute kritisch ihr Spiegelbild an. Waren schon Spuren des Alterns zu sehen? Nicht direkt. Die kleinen Anzeichen ihrer zweiundvierzig Jahre hatte sie geschickt weggezaubert. Das richtige Maß an Rouge und diskret rosa Lipgloss. Die hellroten, wuscheligen Haare hatte sie über die hohe glatte Stirn aufgesteckt, so dass sie wie die korrekte Anwältin, die sie schließlich war, aussah. All dies betrachtete sie kritisch mit intensiven, blauen Augen.

Sie warf einen Blick in ihre Tasche. Alles war da. Der Terminplaner, die Brille, die Notizen, die sie gestern Abend durchgearbeitet hatte. Die Schminktasche aus weißem Leder und das kleine Päckchen mit Tampons. Ihre Periode konnte jetzt jeden Moment da sein. Die Anzeichen waren wie immer sehr offensichtlich.

Mit raschen Schritten rannte sie die hundert Meter zum Nachbarhaus. In Vivekas Garten herrschte eine fast penible Ordnung. Das Meiste war in Vorratsräume eingestellt worden, aber sofern Geräte draußen standen, waren sie fein säuberlich geordnet. Die Gartenstühle standen an den rechteckigen Tisch gelehnt.

Auf dem Weg zum Haus genoss Eva-Maria die Farbenpracht unter Vivekas Herbstblumen. Frühling, Sommer, Herbst, es war egal. Immer blühte in Vivekas Garten etwas, was das Auge erfreute.

Mit ein paar schnellen Schritten rannte sie die Treppe hinauf und klingelte an der Tür. Es dauerte eine Weile bis das Schloss klapperte.

Die Tür ging auf.

„Hallo, du bist es? Entschuldigung, es dauerte ein bisschen, aber ich schließe immer gut ab, während ich arbeite. Ich bin tief in meiner Aufgabe versunken und ich lasse die Musik laut laufen. Man könnte das ganze Haus ausräumen, ohne dass ich etwas merke. Aber komm doch herein!“

„Ich weiß nicht... ich bin auf dem Weg zur Arbeit.“

Trotz ihrer vagen Proteste folgte sie Viveka ins Haus und in die Diele mit den dunklen Möbeln. Weiche, anschmiegsame Töne drangen aus dem ersten Stock.

„Oh, was für eine wunderschöne Musik. Was ist es? Mozart?“

„Beinahe richtig. Haydn. Cellokonzert. Ja, es ist ein wunderbares Stück als Arbeitsbegleitung.“

„Ich will dich nicht stören, aber ich habe heute ein Problem bekommen. Ein Termin mit einem ganz neuen Mandanten ist hinzugekommen. Ich konnte nicht nein sagen, und Svante erreiche ich nicht.“

„Emma also. Kein Problem.“

„Ist das auch sicher? Sie kommt aus der Schule kurz vor drei.“

„Natürlich helfe ich dir. Sie kann doch hierher kommen. Dann gebe ich ihr eine kleine Zwischenmalzeit und dann kann sie selbst entscheiden, ob sie hier bleiben oder lieber nach Hause gehen will.“

„Du bist eine Perle.“

Sie umarmte Viveka leicht und nahm dann einen Schritt zurück. Viveka trug ihre spezielle Schreiberkluft. Dunkelbraune Nickihosen und ein weißes T-Shirt ohne Text. Darüber trug sie eine lange selbstgestrickte Jacke in graublauen Farbtönen. In der einen Hand eine Lesebrille. Die langen dunklen Haare, die sie meistens aufgesteckt trug, hingen heute gerade herunter. Eva-Maria stellte fest, dass die grauen Haare sich weiterverbreiteten. Die braunen Augen mit den kleinen gelben Einsprengseln waren wach und erforschend. Die Nase wirkte außergewöhnlich kräftig unter den sonst so zierlichen und wohlproportionierten Gesichtszügen.

Viveka betrachtete Eva-Maria eingehend.

„Wie steht es eigentlich? Emma ist doch nicht das Einzige, was dir Sorgen macht, oder?“

Eva-Maria blinzelte schnell um einige Tränen wegzubekommen.

„Nein... es ist schon wieder passiert.“

„Wann? Heute Nacht?“

„Vermutlich.“

„Was ist denn diesmal passiert?“

„Alle meine Töpfe, du weißt schon. Ich hatte sie auf die Bank gestellt um ein bisschen für den Winter vorzubereiten. Jetzt war alles umgeschmissen.“

„War etwas auch noch kaputtgegangen?“

„Ja, mehrere von den schönsten.“

„Aber, du musst etwas tun, Eva-Maria. So geht es doch nicht weiter. Es eskaliert ja immer mehr.“

„Was soll ich denn tun?“

„Anzeige erstatten. Bei der Polizei eine Anzeige erstatten. Es muss ja schließlich ein Ende nehmen.“

„Ja, aber eine Anzeige bei der Polizei. Dort kümmern sie sich doch nicht um solche Kleinigkeiten.“

„Kleinigkeiten. Mag schon sein. Andererseits handelt es sich nicht nur um Kleinigkeiten. Denk doch daran, was alles passiert ist. Verschiedene ekelige Sachen im Briefkasten. Demolierte Gartenmöbel. Sabotierte Fahrräder. Kratzer an den Autos. Kleinigkeiten und Gravierendes im Wechsel. Und denk doch daran, als jemand Feuer unter dem Holz im Garten gelegt hatte. Das hätte mit einer Katastrophe enden können, wenn Svante es nicht entdeckt hätte.“

Eva-Maria nickte und Viveka fuhr fort:

„Versprich mir, dass du jetzt etwas unternimmst! Nimm Kontakt mit der Polizei auf, bevor es zu spät ist. Es könnte etwas wirklich Ernstes passieren, nicht nur Sachbeschädigung, sondern auch etwas was Menschen verletzen könnte. Schieb es nicht auf die lange Bank! Du wirst es sonst bereuen. Zeig es bei der Polizei an! Versprich mir das!“

„Ja, ich verspreche es.“

3

Jonas überblickte den Schrankinhalt ein letztes Mal. Die Bücher, die er brauchen würde waren da genau wie die Sportsachen. Er warf einen Blick über die Schulter. Niemand da. Alles leer. Schnell wühlte er unter den Sportsachen und erwischte das kleine Bärchen. Es war nicht viel größer als seine Finger, hellbraun und sehr weich. Aber er wagte nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn jemand ihn damit sah.

Nie, nie würde er den Tag vergessen, als er es bekam. Sara und er hatten sich das ganze Frühjahr gegenseitig angeschaut. Neugierige, prüfende Blicke. Doch sie ging mit Jakob und sie schienen fast immer zusammen zu sein. Doch dann passierte etwas. Man sah Sara und Jakob immer weniger zusammen, und plötzlich ging Jakob mit Linda.

Sara war frei, und während Jonas darüber nachgrübelte, wie er sich ihr nähern sollte, sorgte sie dafür, dass aus ihnen ein Paar wurde. Ohne dass Jonas weder etwas wahrnahm noch etwas verstand sah Sara zu, dass sie sich oft sahen. Manchmal mit anderen Freunden, aber ab und zu auch zu zweit.

Sara wurde seine Freundin, und er war glücklich. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass sie nicht für immer zusammenbleiben würden. Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart und versuchte so oft er nur konnte mit ihr zusammenzusein. Aber dann waren ja die alten Freunde auch noch da. Und die konnte er natürlich nicht einfach im Stich lassen.

An einem warmen und fast verzauberten Abend in Örtuna hatten Saras und Jonas Gefühle sich vertieft. Er hatte gespürt, dass es ernst war. Es war ein Abend voller Ernst aber auch voller Gekicher gewesen. Ernst, als sie über ihre Gefühle redeten. Und Gekicher als Sara zwei kleine Bärchen an der Tombola gewonnen hatte. Selbst behielt sie das türkise, während er dasbraune bekam. Und dann versprachen sie einander, immer ihre Bärchen in die Schule mitzunehmen. Nicht sichtbar für die anderen, aber sie beide sollten immer wissen.

Sara. Ihm wurde ganz warm zumute, als er an sie dachte. Ihr weicher Teint, ihre blonden Haare und blauen Augen. Augen, die sich zu kleinen Schlitzen zusammenzogen, wenn sie lachte. Aber die auch ernst und nachforschend hinter der kleinen Brille sein konnten.

Sie hatten Spaß zusammen. Lachten und kicherten manchmal ohne Ende. Aber nicht immer spielten und lachten sie. Nein, Sara konnte sehr ernst sein. Sie wollte etwas aus ihrem Leben machen. Mit der Schule und der Ausbildung danach. Wollte einen guten Beruf haben in dem sie sich wohl fühlte und der auch viel Geld einbrachte. Zurzeit war Tierärztin ihr Traumberuf, was nicht überraschend war, wenn man ihr starkes Tierinteresse in Betracht zog.

Sara war meistens ernst in allem, was sie unternahm. Sie wollte, dass alles so funktionieren sollte, wie sie es sich vorgestellt hatte. Im Großen wie im Kleinen. Vor allem wollte sie nicht, dass ihr Leben so werden würde wie das ihrer Mutter. Zuerst wurde sie jahrelang hintergangen, und als es endlich zur Scheidung kam, lernte sie schnell einen neuen Mann kennen. Und nach kurzer Zeit war sie wieder die betrogene Frau.

Sara redete viel mit Jonas darüber. Über Treue und Untreue. Darüber wie wichtig es ist, dass man sich auf einander verlassen kann. Über Ehrlichkeit.

Alles verstand wohl Jonas nicht. Solche Gedanken hatte er früher nicht gehabt. Er dachte an seine Eltern. Wie gestaltete sich eigentlich ihr gemeinsames Leben? Hatte einer von ihnen einen Freund oder eine Freundin? Natürlich stritten sie sich manchmal aber niemals über jemand anders, so wie er es verstanden hatte. Ihm war selbstverständlich, dass sie einander mochten. Und wenn er ab und zu die schrecklichen Geräusche aus ihrem Schlafzimmer hörte, wusste er sehr wohl, was sie taten. Obwohl, am liebsten wollte er nicht daran denken. Und absolut nicht darüber reden. Wie manche seiner Freunde taten. Sie wollten anscheinend immer über Sex reden. Und das war wohl im Prinzip O.K. Aber über die erotischen Spiele der Eltern sollte man lieber nicht reden. Und es störte ihn unheimlich, wenn Alexander ihn angrinste.

„Verflucht noch mal, Jonas, du bist ja ganz von der Rolle! Kapier doch, deine Eltern ficken! Freu dich doch, verdammt noch mal, dass sie es miteinander machen. Und nicht mit anderen.“

Sara war sehr daran gelegen, dass ihre und Jonas Beziehung halten sollte. Sie wollte alles machen, um diese zu halten. Sie starrte Jonas an mit ihren ernsten Augen.

„Ich will nicht, dass du mit Alexander und seiner Clique zusammenbist.“

„Aber es sind doch meine Freunde.“

„Alle wissen, was ihr treibt, und ich will schließlich nicht einen Freund haben, der kriminell ist.“

„Kriminell, das ist doch wohl stark übertrieben.“

„Oh, nein. Sobald etwas Zwielichtiges hier in Hedviken passiert ist, seid ihr involviert gewesen. Und auch in Örtuna kennt man euch.“

Keine Proteste halfen. Jonas musste versprechen, sich nicht mit Alexander und seinen Freunden zu treffen. Im Moment verstand Jonas nicht ganz, wie das zugehen sollte. Er brauchte sowohl Sara als auch seine Freunde.

Noch hatte er Alexander nichts gesagt. Er schob es vor sich hin. Eigentlich wollte er nichts sagen. Aber Sara verlangte es. Und er wollte sie nicht verlieren. Vielleicht konnte er sich vorsichtig zurückziehen. Ohne etwas zu sagen. Aber das würde sicher nicht funktionieren. Er musste es Alexander sagen.

Er machte den Schrank zu und ging weg um Sara zu suchen. Als er die Schrankreihe umrundet hatte, stand er plötzlich Alexander, Oskar und Dimitri gegenüber.

*

Eva-Maria fuhr ihren moosgrünen Renault Clio die sieben Kilometer von Hedviken nach Örtuna. Sie fuhr ruhig und beherrscht. Denselben Weg wie immer und sie sah die wohlbekannte Gegend ohne sie richtig zu registrieren. Diesen Abschnitt des Tages schätzte sie immer. Mozarts Flötenmusik aus dem CD-Spieler verlieh ihr einen entspannten Hintergrund.

Die Blätter hatten ihre grüne Farbe in feuersprühende gelbrote Farbtöne gewechselt. Sehr schön, aber trotzdem konnte Eva-Maria die Farbenpracht nicht richtig genießen. Sie liebte den Frühling und den Sommer und trotz der frischen und klaren Herbstluft konnte sie diese Jahreszeit schwer ertragen, da sie zu sehr daran erinnerte, dass alles ein Ende hat.

Während der Fahrt ging sie meistens die verschiedenen Termine und Arbeitsaufgaben des Tages durch, und gerade angekommen hatte sie das Meiste unter Kontrolle. Zwar konnte die eine oder andere Unterredung mit einem Mandanten eine unerwartete Wendung nehmen, aber das war schließlich eine andere Sache. Ganz und gar außerhalb der Kontrolle.

Heute aber hatte sie Schwierigkeiten sich auf ihre Arbeit und die bevorstehenden Aufgaben zu konzentrieren. Stattdessen war ihr Kopf voller Gedanken über die morgendlichen Geschehnisse. Wer versuchte ihr häusliches Leben zu sabotieren? Und warum? Handelte es sich um Rache und wer in der Familie hatte etwas so Furchtbares getan um dies zu veranlassen?

Von Emma konnte man absehen. Ein achtjähriges Kind konnte in Konflikte geraten und ein bester Freund oder eine beste Freundin konnte schlimmstenfalls zum Feind werden. Aber das, was der Familie Törnheden passiert war, konnte unmöglich von Achtjährigen ausgeheckt worden sein. Manche Streiche wie Hundekacke im Briefkasten natürlich, aber alles in allem wurden hier mehr Erfindungsreichtum und Stärke als ein Achtjähriger aufbringen konnte gebraucht.

Und Jonas? Da war Eva-Maria unsicherer. Im vorigen Schulhalbjahr war er schier unmöglich gewesen. Niemals zu Hause und selten wusste sie, wo er sich befand.

„Draußen. Mit Freunden natürlich. Nein, niemand den du kennst.“

Diese Antwort bekam Eva-Maria immer und die Lust, ihn zu fragen nahm stetig ab. Von Svante bekam sie keine große Hilfe. Er zuckte die Schultern und stellte fest:

„Es ist das Alter. Das gehört dazu. Hast du vergessen, wie es war?“

Zum Teil hatte sie wohl vergessen. Aber so viel wusste sie noch, dass Vierzehnjährige sich nicht die halbe Nacht herumtreiben sollten. Und auch nicht nach Bier riechen. Was hatte er getrieben? Ihr kleiner Junge.

Dann war etwas passiert. Plötzlich und unerwartet. Wie eine Hilfe von oben gerade als Eva-Maria sich entschlossen hatte, mit der Schule Kontakt aufzunehmen um ein bisschen Hilfe zu bekommen.

Sara trat in Jonas Leben. Er wurde ruhiger. Weniger rastlos. Leichter zu handhaben schlicht und einfach. Zwar war er auch jetzt nicht so viel zu Hause, aber die späten Nächte hatten aufgehört. Sara und Jonas konnten zu Hause bleiben und fernsehen wie jedes x-beliebige alte etablierte Paar. Meistens hielten sie sich aber in Jonas Zimmer hinter geschlossener Tür auf. Was innerhalb der Tür vorging begriff Eva-Maria natürlich, und sie hoffte nur, dass sie vorsichtig waren. Aber Sara konnte nicht beliebig von zu Hause wegbleiben. Sie musste immer zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein. Verspätete sie sich aus irgendeinem Grund, rief sie immer gewissenhaft ihre Mutter an. Ihre Pünktlichkeit und ihr eingezäuntes Leben steckten irgendwie Jonas an. Er wurde ordentlicher und strukturierter, wie man es heutzutage ausdrückte. Er wurde ganz einfach ruhiger. Über seine alte Clique wollte er nicht reden.

Eva-Maria ging gesetzestreu mit der Geschwindigkeit herunter, als sie sich der Ortschaft näherte. Noch blieben einige Minuten Autofahrt, in denen Gewohnheit und Routine herrschen konnten. Dann würde der dichte und schnelle Morgenverkehr überhand nehmen und ihre ganze Konzentration verlangen. Doch noch ein paar Minuten konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen. Hin und her.

War dies alles? War dies das Leben? Eine Menge praktische Besorgungen und ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit. Man hetzte hin und her ohne Ruhe zu finden. Manchmal hatte sie überlegt, ob sie sich noch ein Kind anschaffen sollten. Aber das war ein egoistischer Gedanke und außerdem bedeutete es nur, dass man das Gefühl der Leere noch eine Weile vor sich hinschob. Alles wurde somit nur hinausgezögert.

Es kam darauf an, den Kindern Geborgenheit und Stärke zu vermitteln, damit sie allem widerstehen konnten. Ihnen eine Grundlage bieten, aus der sie immer Kraft und Mut schöpfen konnten. Es ließ sich leicht so denken, aber es war nicht ganz einfach durchzuführen. In der heutigen Gesellschaft gab es einflussreiche Kräfte, denen es den Kindern schwer fiel zu widerstehen. „Die anderen haben alle ...“

„Die andern dürfen alle ...“ waren Argumente, die Eltern immer zu hören bekamen. Kleidung, Sachen und das Lebensnotwendigste von allem. Das Handy natürlich. Mit allen nur möglichen Funktionen.

Die heutige Gesellschaft erlaubte den Kindern kaum Kinder zu sein. Das Wichtigste war so schnell wie möglich erwachsen zu werden und alles zu tun dürfen, was die Erwachsenen taten. Vor allem Verbraucher zu werden.

Sie hatte versucht, mit Svante über diese ihre Gedanken zu reden. Aber entweder wollte er nicht verstehen oder er verstand tatsächlich nicht.

„Es ist doch schön, dass die Kinder groß werden. Dann haben wir ja mehr Zeit füreinander, Mutti.“

Übrigens hasste Eva-Maria es mit „Mutti“ angeredet zu werden. Das hatte sie auch Svante gesagt, aber trotzdem rutschte es ab und zu aus ihm heraus. Vielleicht war auch Svantes Einstellung zu den Kindern die richtige. Sie war vielleicht im Unrecht. Möglicherweise war es gut, die Kindheit so schnell wie möglich hinter sich zu lassen und nicht von den Erwachsenen abhängig zu sein. Und jedenfalls die Kinder schienen dieser Meinung zu sein.

Svante kam ja auch gut mit den Kindern zurecht. Begleitete sie zu Spielen und anderen Veranstaltungen. Er packte alles an, von Völkerballspielen bis Ausflügen, und schien sich immer dafür Zeit zu nehmen, egal wie gestresst er sonst war.

Ach ja, die Zeit. Sie müsste froh sein, dass Svante sich mit den Kindern Zeit ließ. Und das war sie natürlich auch. Der Fehler war, dass er niemals für sie und ihre Bedürfnisse Zeit hatte, abgesehen von den körperlichen. Denn in der Hinsicht hatte sie keinen Grund zu klagen. Sooft sich Gelegenheit bot rollte er herüber auf ihre Seite des Bettes zu beiderseitiger Freude.

Nein, die körperliche Gemeinschaft vermisste sie nicht. Etwas anderes fehlte ihr. Ein vollkommener Zustand, in dem Körper und Seele zusammenschmolzen. Ein Zustand in dem alles Praktische sich einstmalig unterordnete und in dem sie sich stattdessen einander in der Tiefe widmen konnten.

Als Eva-Maria ins Zentrum von Örtuna einbog lächelte sie ein wenig bitter. Sie war noch nicht lange wach und schon zweimal hatte sie gedacht, dass sie und Svante sich in verschiedene Richtungen entwickelt hatten.

4

Sie meinen also, dass Ihr Mandant ganz unschuldig ist? Die Moderatorin Katja Bergström rückte ihre Brille zurecht und betrachtete unentwegt den lächelnden Mann neben ihr. Er rückte seine Krawatte und seinen Sakko zurecht und lächelte direkt in die Kamera.

„Ja, wir leben ja bekanntlich in einem Rechtsstaat, in dem niemand im Voraus verurteilt werden kann. Und die Journalisten sollen sich definitiv nicht als Richter aufspielen.“

Katjas Lippen wurden zu einem Strich als sie antwortete:

„Aber Sie müssen doch trotzdem zugeben, dass es finster aussieht für Ihren Mandanten. Er ist offensichtlich am Tatort gewesen und er hat früher ...“

„Entschuldigen Sie, dass ich unterbreche, aber es steht uns absolut nicht zu, Urteile zu fällen, glücklicherweise. Weder Sie noch ich stellen irgendwelche Urteile aus. In einem Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, müssen Staatsanwalt und Polizei beweisen, was sich zugetragen hat und wie es sich zutrug.“

Reinhold Karlsson machte fluchend den Fernseher aus.

„Scheiße. Diese verfluchten Anwälte. Auf alles wissen sie eine Antwort und immer wollen sie alles, was man sagt, verdrehen. Und es gelingt ihnen immer die Verbrecher, die wirklich Schuldigen, freizubekommen.“

Der Druck über der Stirn wurde noch stärker, während er vor sich hinmurmelte. Dies war eine seiner Gewohnheiten, wohl eher eine schlechte solche. Laut vor sich hinzureden. Es war eine Art, die Stille in der Zweizimmerwohnung zu unterbrechen. Die einzigen sonstigen menschlichen Laute in der Wohnung kamen aus dem Rundfunk und aus dem Fernseher.

Er blieb auf der Couch sitzen und versuchte den Druck im Kopf zu dämpfen. Es war schwierig. Er war zu aufgeregt. Wie immer, wenn er Ungerechtigkeiten im Fernsehen sah. Und das, was ihn am meisten ärgerte, war, wenn irgendein gottverdammter Paragraphenverdreher Recht und Ordnung zum Scheitern brachte. Wenn unschuldige Menschen betroffen wurden, während die Schuldigen ohne größere Folgen davonkamen. Das Leben einzelner Menschen wurde zerstört, während diejenigen, die die Misere verursacht hatten dank der Frechheit und der List der Anwälte freigesprochen wurden.

*

„Hallo.“

„Hallo.“

Die kurzen Begrüßungen hörten sich wie Peitschenhiebe an. Ohne Wärme und Gefühl. Jonas suchte Alexanders Blick. Alexander, Oskar und Dimitri hatten sich so hingestellt, dass Jonas unmöglich vorbeikommen konnte. Alexander sah die Bücher an, die Jonas in der Hand hielt.

„Wo willst du denn hin?“

„In die Mathestunde, natürlich. Du müsstest wohl auch zu irgendeiner Stunde unterwegs sein.“

„Ach nein, hört euch unseren kleinen Musterschüler an. Hast du niemals geschwänzt oder bist du nie zu spät gekommen?“

Jonas sagte nichts.

„Antworte doch, verflucht noch mal! Hast du nicht gehört, was ich dich fragte? Bist du so verdammt aufgeblasen, dass du nicht mal eine einfache Frage beantwortest?“

„Ich glaubte nicht, dass es eine Frage war. Aber O.K. ... natürlich habe ich.“

„Aber jetzt nicht mehr.“

„Wenigstens heute nicht.“

Jonas drehte den Kopf und sah sich um.

„Suchst du jemanden?“

„Nein.“

„Sicher? Was willst du jetzt machen, wenn die liebe Sara nicht hier ist und dir sagt, was du zu tun hast?“

„Hör auf! Sie bestimmt wohl nicht über mich ...“

„Ach nein. Du machst genau das, was du willst. Und du suchst dir deinen Umgang selbst aus.“

„Ja, klar.“

„Sei doch nicht so. Sie will nicht, dass du mit uns zusammenbist. Stimmt ´s oder habe ich recht?“

„Nein, das ist es nicht ... es hat ... hat sich nur so ergeben. Wir ... wir wollen so viel wie möglich zusammensein. Das ist wohl nicht seltsam.“

„Man lässt seine Freunde nicht im Stich.“

„Das habe ich wohl auch nicht getan.“

„Gut. Kommst du also mit nach Örtuna heute Abend?“

Jonas Blick wich aus.

„Heute Abend habe ich nicht so viel Zeit. Ich habe meiner Alten versprochen auf die Emma aufzupassen.“

Alexander lachte frech auf. Drehte sich um an Dimitri und Oskar.

„Da hört ihr. Sara kommt wohl auch?“

„Es ist nichts ausgemacht. Vielleicht kommt sie mal rüber. Was weiß ich?“

„Nein, was weißt du. Aber eins wirst du noch zu spüren bekommen. Wie es Leuten ergeht, die ihre Freunde im Stich lassen. Schön wird es nicht.“

„Ich habe schon gesehen, was ihr alles treibt. Hört damit auf! Hört mit dem Terror auf! Meine Eltern haben wohl euch nichts getan.“

Alexander blinzelte hastig. Zuerst erstaunt. Dann veränderte sich sein Blick.

„Sie haben doch dich in die Welt gesetzt. Das ist schlimm genug. Aber eins sollst du wissen, mein lieber Jonas. Dies ist nur der Anfang. Merk dir das! Nur der Anfang. Es wird viel schlimmer werden. Viel schlimmer.“

5

Als Eva-Maria sanft in die Garageneinfahrt einbog, brodelte es unruhig in ihrem Bauch. Die tiefe Falte auf ihrer Stirn zeigte auch, dass etwas sie störte. Zwar hatte sie ein paar Besprechungen, die schwierig werden konnten, vor sich, aber normalerweise war das kein Grund zu größerer Beunruhigung. Sie sah immer zu, dass sie gut vorbereitet war und dann funktionierte alles meistens gut.

Nein, ihre Unruhe hatte eine andere Erklärung. Für gewöhnlich nutzte sie die Autofahrt von Hedviken nach Örtuna um die Gedanken vor der Arbeit des Tages zu sammeln. Außerdem pflegte sie die alltäglichen Aufgaben durchzudenken, damit alles gut klappte. Einkäufe, Fahrten zum Training und zum Reiten und auch zu Spielen. Vieles musste gut funktionieren, und ohne Organisation würde alles zusammenbrechen.