Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2 - Inger Gammelgaard Madsen - E-Book + Hörbuch

Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2 E-Book und Hörbuch

Inger Gammelgaard Madsen

3,9

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Kriminalkommissar Roland Benito wird auf einen schwierigen Fall angesetzt. Ein fünfundzwanzig Jahre alter Mord soll aufgeklärt werden. Zwei Jungen finden die Leiche einer Frau in einem Moor bei Mundelstrup. Die Spuren führen nach Afrika und Rolands Vorstellungen über die neue globale Welt mit offenen Grenzen werden auf die Probe gestellt.Die Journalistin Anne Larsen vom Tageblatt erhält einen anonymen Anruf. Als weitere Leichen entdeckt werden, beginnt für den Kommissar und sein Team ein Wettlauf gegen die Zeit, den Mörder ausfindig zu machen.MORD auf Antrag ist eine unabhängige Fortsetzung des Debüt-Krimis Puppenkind. AUTORENPORTRÄTInger Gammelgaard Madsen arbeitete lange Zeit als Grafikdesignerin in verschiedenen Werbeagenturen. 2008 debütierte sie mit ihrem Kriminalroman Dukkebarnet, der jetzt bei Osburg unter dem Titel "Der Schrei der Kröte" erscheint. Sowohl der erste als auch der zweite Band ihrer Krimireihe um den Ermittler Roland Benito wurden von Kritik und Publikum begeistert aufgenommen. 2010 gründete Madsen ihren eigenen Verlag Farfalla und seit 2014 konzentriert sie sich ganz auf das Schreiben. Die Roland Benito-Reihe umfasst inzwischen acht Bände, im Februar 2016 erscheint der neunte. Inger Madsen lebt in Aarhus. -

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 543

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:12 Std. 23 min

Sprecher:Claudia Drews

Bewertungen
3,9 (17 Bewertungen)
4
10
0
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inger Gammelgaard Madsen

Mord auf Antrag

Kriminalroman

Aus dem Dänischen vonKirsten Krause

Saga

Mord auf Antrag

Aus dem Dänischen von Kirsten Krause

Originaltitel: Drab efter begæring © 2009 Inger Gammelgaard Madsen

Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: www.buerosued.de

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711572955

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Meiner Großmutter väterlicherseits gewidmet

Kila lenye mwanzo halikosikuwa na mwisho.

Alles, was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben.

Altes Suaheli-Sprichwort

1

Von den frisch gepflügten Feldern roch es nach Herbst und Humus. Noch nicht alle Bauern waren fertig. Auf einem Feld in der Ferne fuhr ein staubiger Traktor, umgeben von einer Horde schreiender, hungriger Möwen. Der warme Sommer, der erst Mitte August begonnen hatte, setzte sich den ganzen September bis Anfang Oktober fort und machte Mäntel trotz der Jahreszeit überflüssig.

Nach einem lauten Streit über ein Nintendo Wii-Spiel, von dem Mikkel meinte, dass Lukas dafür zu klein sei, hatte ihre Mutter sie bei dem schönen Wetter zum Spielen nach draußen geschickt. Sie traten in die Pedale, brachten die Räder zum Schnurren und die Fahrräder auf Tempo. Aber für sie waren das keine Fahrräder. In ihrer Fantasie waren es Pferde, die sie in wildem Galopp vorwärtstrieben.

»Peng, du bist tot!«, rief Lukas hinter seinem Bruder her, der sich wütend im Sattel zu ihm umdrehte.

»Du sollst mich doch nicht erschießen. Du wolltest doch ein Indianer sein!«

»Na und? Dürfen Indianer keine Soldaten erschießen?«, schmollte Lukas.

»So einen wie mich nicht, ich bin ein Soldat wie die im Fernsehen.« Der neunjährige Mikkel verfolgte ein wenig die Nachrichten und fand die Soldaten mit ihren Waffen und Helmen ziemlich cool, aber für einen Sechsjährigen wie Lukas waren die Indianer aus den Cowboyfilmen sehr viel spannender.

Plötzlich bremsten die beiden so heftig, dass der Kies sie wie eine Wolke umgab. Lukas’ Fahrrad kam ins Schleudern, und er konnte einen Sturz gerade so verhindern, indem er einen Fuß fest auf die Erde stellte, bevor er umkippte. Vor ihnen waren die Bäume ums Moor zu sehen. Ihre Blätter schillerten in den goldenen, braunen und violetten Nuancen des Herbstes.

»Lass uns lieber umdrehen, Mikkel. Ohne Mama und Papa dürfen wir nicht zum Moor gehen.«

»Boa, hör auf! Das war doch nur, als wir noch Babys waren. Du bist doch kein Baby mehr, oder?«

Lukas schmollte noch mehr und sah nicht länger wie ein wilder und blutrünstiger Indianer aus, trotz des Stirnbands mit Krähenfedern und des Kriegsbeils, das in den Gürtel gesteckt war, der sonst nur dem Zweck diente, die allzu große Hose, die mal Mikkels gewesen war, um seinen dünnen Körper zu halten.

»Aber Mama sagt, das ist gefährlich! Die Moorfrau kann uns unter Wasser ziehen und ertränken!« Nervös rieb sich Lukas mit einem Finger die sommersprossige Nase, die von Sonne und Wind gerötet war. Seine blauen Augen suchten Mikkels in der Hoffnung, darin den gleichen Schrecken zu sehen, den er selbst fühlte.

Mikkel lachte unsicher. »So ein Quatsch, es gibt doch gar keine Moorfrauen. Komm!« Er warf das Fahrrad ins Gras.

Zögernd tat Lukas es ihm gleich. Er konnte das Moorwasser riechen. Der Wind ließ einige welke Blätter in einem Kriegstanz um seine Füße wirbeln. Sein aufgeregtes Schnaufen wurde vom Rascheln der Blätter übertönt, aber Mikkel hörte es trotzdem. Er lächelte erwachsen.

»Hör jetzt auf, es passiert schon nichts. Das ist doch nur ein Moor!« Er war bereits zwischen den Bäumen.

»Ja, aber, es gibt doch ’ne Moorfrau, Mikkel! Wenn sie irgendwas braut, ist doch weißer Nebel bei den Bäumen«, murmelte Lukas, ging aber trotzdem hinterher, während er wachsam Ausschau hielt, ob die Moorfrau hinter dem nächsten Baum stand. Sein Herz hämmerte im Brustkorb und seine Atemlosigkeit war nicht nur die Folge der schnellen Radtour. Er näherte sich Mikkel, der am Ufer stand und in das trübe, braune Wasser schaute, das mit grüner Entengrütze bedeckt war.

»Komm. Das ist überhaupt nicht gefährlich. Guck, da ist ein Fisch. Vielleicht ist das ein großer Hecht!«

Lukas war im August gerade in die Vorschulklasse gekommen. Die Lehrerin hatte da etwas von einem Hecht erzählt. Die können sehr groß und sehr alt werden, hatte sie gesagt. Die Neugier war stärker als die Angst. Er wagte sich neben Mikkel, aber seine Augen glänzten vor Furcht. Da war kein Fisch.

»Jetzt ist er wieder weg. Kann natürlich auch die Moorfrau gewesen sein«, zog Mikkel ihn auf und grinste.

Lukas erkannte plötzlich das Lustige daran und lachte mit. Das Moor war ja überhaupt nicht so unheimlich, wie er es sich vorgestellt hatte. Er war nur einmal hier gewesen, zusammen mit seinem Vater, aber das war viele Jahre her – da war er noch ein Baby.

Die Vögel sangen in den Baumwipfeln, und ab und zu hörten sie ein leises Plumpsen im Wasser von springenden Fischen oder Fröschen. Lukas begann sich zu entspannen und wagte es, die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Am Ufer gab es viel zu sehen und es sah überhaupt nicht wie ein Ort aus, an dem eine Frau wohnen könnte. Sie würde doch in dem dunklen Wasser ertrinken. Beinahe hatte ihn seine Logik überzeugt, als er etwas am Uferrand entdeckte. Es sah irgendwie aus wie ein Fuß. War das vielleicht doch sie – die Moorfrau?

»Mikkel ...! Mikkel ...!«, rief er vorsichtig. »Ich hab die Moorfrau gefunden.«

»Ach, hör auf!«

Mikkel kam vorsichtig näher, als ob er trotz allem Zweifel hätte. Er hatte das, was einem braunen Fuß ein bisschen ähnlichsah, auch gesehen. Es ragte halb aus dem Wasser unter den Zweigen eines Busches hervor, der nur noch wenige Blätter hatte. Die meisten lagen im Wasser, und einige davon hatten die gleiche Farbe wie der Fuß – oder was auch immer das nun war. Vielleicht ein Tier? Ein toter Fisch? Er riss sich zusammen. Schließlich war er der Ältere und Klügere. »Das ist nicht die Moorfrau. Das ist – was anderes.« Er fand einen Stein und warf ihn in den Busch. Und traf. Er suchte einen zweiten und zielte erneut. Plötzlich sah es so aus, als ob sich der Fuß im Wasser bewegen würde. Erschrocken zogen sie sich zurück.

Der Stein hatte ein Loch in die braune, lederartige Oberfläche geschlagen, und etwas Gelbliches war zum Vorschein gekommen. Der Schlag hatte das Etwas im Wasser gedreht, sodass es noch weiter herausragte. Jetzt konnten die beiden sehen, was es war. Es war ein menschlicher Fuß. Mikkel schmiss den Stein weg, als ob er seine Hand verbrannt hätte, und zog seinen Bruder schnell mit sich aus dem Schatten der Bäume in die Sonne.

»Komm!« Seine Stimme zitterte.

»Was ist das, Mikkel? Ist das die Moorfrau?« Lukas hatte angefangen zu weinen.

»Du sagst Mama und Papa nichts hiervon«, drohte Mikkel, als sie wieder auf ihren Fahrrädern saßen und in hohem Tempo von den Bäumen der Moorfrau wegfuhren.

Lukas weinte noch lauter.

2

Die Pathologie im Rechtsmedizinischen Institut war nicht der Ort, den er in seinem Job am meisten liebte. Der Anblick des misshandelten kleinen Mädchens, das vor ein paar Jahren in einem Abfallcontainer gefunden worden war, hatte ihm noch lange Zeit danach schlaflose Nächte bereitet. Wie eine weiße Puppe lag sie auf dem sterilen Stahltisch. Einige Bilder verschwanden nie von der Netzhaut. Sie wurden immer wieder gezeigt wie ein unheimlicher Film, von dem man weder den Blick abwenden noch ihn ausschalten kann.

Das Rechtsmedizinische Institut war letzten Herbst in neuere, größere und bessere Räumlichkeiten in der Skejby Uniklinik gezogen. Dem hatte man sowohl mit Wehmut als auch mit Freude entgegengesehen. Der Rechtsmediziner Henry Leander hatte viele Jahre seines einundsechzigjährigen Lebens in den Räumen des alten Städtischen Krankenhauses, das heute Aarhus Krankenhaus hieß, verbracht, sich aber oft darüber beklagt, den Platz mit dessen Pathologen teilen zu müssen. In seine Arbeit versunken stand er über den Tisch gebeugt, als Roland Benito hereinkam. Er richtete sich auf und schenkte seinem alten Freund das übliche großzügige Lächeln, sodass sich der weiße Fahrradlenkerschnurrbart bis zu den Ohren hob.

»Hereinspaziert, Herr Kriminalkommissar«, begrüßte er ihn fröhlich und konzentrierte sich dann wieder auf seine Arbeit.

Roland kam zu spät. Er war gerade aus einem wohlverdienten Sommerurlaub in seinem Heimatland zurückgekommen und hatte die süditalienische Stimmung noch nicht ganz abgeschüttelt. Schnell grüßte er die anderen bei einer Obduktion obligatorisch Anwesenden, die in einer kleinen Gruppe in angemessenem Abstand vom Stahltisch versammelt waren. Nur ein Fotograf der Kriminaltechnischen Abteilung wagte sich mit seiner Kamera näher. Seine Augen funkelten vor Abscheu über der Nasenmaske.

Die Leiche ließ Roland sofort an einen Moorfund denken, was es natürlich auch war. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und hielt es vor die Nase, bis Leander ihm eine Nasenmaske reichte. Die Lüftung, die ein ganzes Stück besser als die im alten Institut war, konnte den süßlichen Todesgeruch nicht bekämpfen, der ihn an die Straßen Neapels voll stinkendem Abfall erinnerte. Trotz allem war der Geruch im Sezierraum nicht so schlimm, wie er hätte sein können, weil von der Leiche fast nur noch Haut und Knochen übrig waren. Die Fäulnisgase, die unerträglich stanken, waren schon längst verflogen.

»Gibt’s schon neue Erkenntnisse bezüglich Todesursache und -zeitpunkt? Haben wir hier einen neuen Grauballe-Mann?«, fragte er.

Sie waren früh am Morgen zusammen an der Fundstelle im Moor gewesen und hatten gemeinsam mit den Kriminaltechnikern und einem Bagger die braune Leiche aus dem Wasser gezogen und sie auf eine Bahre gelegt, sodass Leander die Leichenschau vornehmen und seine Beobachtungen ins Diktiergerät sprechen konnte.

Leander schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. »So lang liegt das wohl nicht zurück. Es sieht auch gar nicht wie ein Opfer für die Götter aus. Die Todesursache scheint ein harter Schlag gegen den Hinterkopf zu sein. Vielleicht mehrere.« Vorsichtig drehte er den braunen Schädel mit Überresten von Haaren, deren ursprüngliche Farbe man nur erahnen konnte, sodass der Hinterkopf Roland und den anderen Anwesenden zugewandt war. Mit der weißen, behandschuhten Hand zeigte er auf ein Loch im Schädel. »Es sieht nach einem schweren, harten Gegenstand aus, der mit einer gewaltigen Kraft durch den Hinterkopf ging. Das Gewicht beträgt ungefähr drei Kilo, schätze ich.«

Er rückte ein Stück zur Seite, damit Roland näher kommen konnte.

»Mord?«

»Das nehme ich an.«

Roland beugte sich herunter und betrachtete das Loch im Schädel genauer. Er richtete sich auf und studierte den Rest des eingefallenen Körpers. Die braune Lederhaut war um die Knochen, die an einigen Stellen gelblich hervorstachen, eingesunken. Es war schwer, die Farbe der spärlichen Kleidung zu erkennen, die noch übrig war. Der Rest war sicher weggespült worden oder hatte sich im Moorwasser aufgelöst. Das Gesicht bestand nur aus leeren Augenhöhlen, einem dreieckigen Loch, wo die Nase gewesen war, und einer Reihe gelblicher Zähne mit sehr langen Zahnhälsen, die im Kiefer entblößt waren. Er bekam den Eindruck, dass der Schädel lachte, und sah stattdessen die Rechtsmediziner an.

»Eine Frau?«

Leander nickte und drehte behutsam den Kopf der Leiche zurück, wobei er sie nur mit den Fingerspitzen berührte, als ob er die Tote nicht wecken wollte. Zu Toten hatte er ein spezielles Verhältnis. Wenn er allein war, sprach er mit ihnen, als ob sie noch lebendig wären, beklagte ihr Schicksal und tröstete sie damit, dass der Täter bestimmt gefunden werden würde, wenn die Leiche ihm die Auskünfte gegeben habe, die sie bis dahin verborgen hatte.

»Das Becken lässt auf eine Frau schließen. Eine, die geboren hat. Ich schätze, sie ist um die dreißig. Ich habe ein paar Zähne an den Gerichtsodontologen geschickt, um die Bestätigung zu bekommen. Die Zähne können auch bei der Identifikation helfen. Fingerabdrücke können wir getrost vergessen.«

Alle sahen auf die Finger des Opfers. Von den Fingerspitzen waren nur noch Knochen übrig.

»Sie hat nichts bei sich, was Auskunft darüber gibt, wer sie ist, und sie hat lange im Moor gelegen«, fuhr Leander unbeirrt fort.

»Wie lange?«

Leander schaute Roland über den Brillenrand hinweg an. »Auf jeden Fall zwanzig Jahre.«

Einen Augenblick lang starrte er auf die Leiche, ohne etwas zu sehen, während die Worte eindrangen. »Du sagst also, wir haben es mit einem Mord zu tun, der in den Achtzigern begangen wurde?« Er sah in Leanders stahlgraue Augen.

»So sieht’s aus. Es muss einen ungelösten Fall mit einer verschwundenen Frau geben. Wenn ich die Ergebnisse der Analysen bekomme, kriegst du eine etwas genauere Jahreszahl.«

»Warum ist die Leiche nicht vorher an die Oberfläche gekommen – und warum hat niemand sie entdeckt?« Kurt Olsen hatte endlich seine Stimme wiedergefunden. Er war im neuen Polizeibezirk zum Vizepolizeidirektor ernannt worden und hatte seitdem ein bisschen von allem gesehen.

»Die Fäulnisgase bringen eine Leiche tatsächlich dazu, im Wasser an die Oberfläche zu steigen, doch sie sinkt wieder auf den Grund zurück, sobald sich die Gase verflüchtigen. Aber das ist schon vor langer Zeit passiert. Warum sie jetzt an die Oberfläche kommt, ist schwer zu beantworten. Vielleicht liegt es an dem warmen Herbst oder völlig anderen, unbekannten Faktoren«, antwortete Leander.

»Nach so vielen Jahren müsste die Leiche doch aufgelöst sein?« Kurt kratzte sich am Hals, der, wie immer, wenn er gestresst war, von roten Flecken übersät war.

»In all den Jahren im Moor wurde sie ziemlich gut konserviert. Das liegt daran, dass Moorleichen wegen der Säure, die die Pflanzen abgeben, keinen Bakterien ausgesetzt sind. Wenn die Leiche ins Wasser geworfen wurde, bevor sich die Bakterien ausgebreitet haben, sind die Möglichkeiten zur Konservierung am besten. Zum Beispiel, wenn sie gekühlt wird.«

»Du denkst also, sie wurde vielleicht eingefroren ins Moor geworfen?« Roland fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar, das unter der starken süditalienischen Sonne ein bisschen aufgehellt worden war, und sah wieder zu Leander.

Er nickte. »Vielleicht wurde sie an einem kühlen Ort aufbewahrt, bevor sie ins Moor geworfen wurde. Die Eingeweide sind sehr gut erhalten, was darauf schließen lässt, dass sie nicht verwesen konnten, bevor die Säure im Moor ihre Wirkung entfalten konnte. Das saure, sauerstoffarme Wasser und vielleicht niedrige Temperaturen hatten auch Einfluss darauf. Das Wasser kann sehr kalt gewesen sein – vielleicht ein Wintertag, da gibt’s mehrere Möglichkeiten.«

Das wohlbekannte Rumoren im Darm und der bittere Geschmack im Rachen meldeten sich, und Roland wusste, dass er bald da raus musste. Viele Jahre im Job hatten ihn doch ein bisschen mehr abgehärtet als damals, als er als junger Polizeianwärter seine erste Leiche bei einer Obduktion gesehen hatte. Er hatte versucht sich zusammenzureißen, aber schließlich sein Frühstück dem Fußboden geopfert, über die Schuhe des Rechtsmediziners, vor allen anderen Polizeianwärtern, die ebenfalls blass um die Nase gewesen waren und angestrengte Schluckbewegungen gemacht hatten.

»Wenn ich das richtig verstanden habe, wurde die Leiche im Moor von zwei Jungs gefunden«, unterbrach Kurt Olsen seine Gedanken.

»Ja, vor drei Tagen. Es war natürlich streng verboten, zum Moor zu gehen, deswegen hatten sie nichts davon gesagt. Aber der Jüngere verging fast vor Angst und träumte von der Moorfrau, die kam und ihn holte. Schließlich brach er zusammen und erzählte seiner Mutter von dem schrecklichen Fund.«

Kurt schüttelte den Kopf. »Die Armen. Aber so ist das halt. Das Verbotene ist immer das Spannendste.«

»Kann die Neugier auch unser Opfer gereizt haben? Oder was hat sie im Moor gemacht?«, seufzte Roland.

Leander war wieder beschäftigt. Er war dabei, mit einer langen Pinzette etwas aus der Bruchstelle im Schädel zu holen. Trotz neuer Technologie waren Pinzette, Schere und Messer nach wie vor die wichtigsten Werkzeuge des Rechtsmediziners.

»Ich hoffe, sie wird schnell identifiziert«, murmelte er abwesend, während er langsam den Gegenstand hervorzog und die Pinzette ins scharfe, kalte Licht hielt. Alle rückten ein bisschen näher und kniffen die Augen über den Nasenmasken zusammen, um besser sehen zu können. »Was ist das?«, fragte sein Assistent ungeduldig; auch er hatte es aufgegeben zu raten.

Roland beugte sich über Leanders Schulter und kam dichter heran. »Ist das Holz?«

»Ein spitzes, geschliffenes Stück Holz. Sehr hartes Holz. Es steckte gut verborgen im Schädel. Vielleicht ein Stück der Mordwaffe«, antwortete Leander. Steen Dahls Blitzlicht blendete sie für einen kurzen Moment. Henry Leander legte das Holzstück in ein Tütchen und reichte es Gert Schmidt, dem Leiter der Kriminaltechnischen Abteilung, der ungewöhnlich still war, sich aber nun mit seiner lauten Stimme bedankte und versprach, sich der Sache so schnell wie möglich anzunehmen.

Sobald er das Rechtsmedizinische Gebäude verlassen hatte, suchte Roland eine Zigarettenschachtel in der Tasche. Seit über einem Jahr war es wegen des Nichtraucherschutzgesetzes verboten, im Polizeipräsidium zu rauchen. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, wenn er wie jetzt eine Zigarette dringend nötig hatte. Aber seine Hand stieß nur auf ein Päckchen Nikotinkaugummi.

3

Nicolaj, der neue Praktikant, der gerade eingestellt worden war, klickte mit einem Kugelschreiber, Britt machte Blasen mit ihrem Kaugummi und ließ sie mit einem provokanten Knall zerplatzen, gleichzeitig spielte ihr Transistorradio lauter als normal. Mads Dams Stuhl war leer, er war irgendwo draußen – wo, wusste niemand. Höchstwahrscheinlich saß er in einer Kneipe ohne Rauchverbot mitten in der Stadt. Die Redaktion war spürbar davon geprägt, dass der Redakteur Ivan Thygesen sich krankgemeldet hatte und alle »Ist die Katze aus dem Haus ...« spielten.

Obwohl Anne auch das befreiende Gefühl im Körper spürte, Thygesens stechende Schweinsäuglein in dem rotwangigen Gesicht auf der anderen Seite der Glasscheibe, die die Redaktion von ihrem kleinen, stickigen Büro abtrennte, nicht sehen zu müssen, drangen alle Geräusche in ihr Nervensystem und hinderten sie am Denken. Sie hatte mehrfach ihren Kontakt im Präsidium angerufen, um etwas über die Moorleiche zu erfahren. Aber niemand wollte ihr etwas mitteilen, daher musste sie schön auf die Pressekonferenz warten. Ihr Ärger wuchs stetig. Dieses Mal hatte sie die Auskünfte über den Fund im Moor nicht vor allen anderen Journalisten bekommen. Ihr Informant, der über eine illegale Ausrüstung zum Abhören des Polizeifunks verfügte, war im Frühjahr verhaftet und wegen Haschbesitz verurteilt worden. Glücklicherweise hatte weder er noch sie ihre Zusammenarbeit erwähnt. Mit Hasch hatte sie nichts mehr zu tun. Alle Verbindungen zu ihrer Nørrebro-Clique waren gekappt. In den zwei Jahren, die sie in Aarhus wohnte, hatte sie mit keinem von ihnen gesprochen. Interessierte sich auch überhaupt nicht mehr für ihre Aktionen, die meist pöbelhafter Vandalismus waren. Aber alles hatte sie noch nicht abgelegt; der Nørrebro-Dialekt schien deutlich durch, als sie knurrend um etwas Ruhe bat und sich erhob, um Kaffee zu holen. Britt ließ noch eine Kaugummiblase platzen und sah sie verärgert an.

»Na, hier haben wir vielleicht die weibliche Ausgabe von Ivan dem Schrecklichen«, meinte sie trocken. Der Praktikant lachte. Er spielte mit ein paar Bildern in Photoshop, in dem er nach eigener Aussage Experte war. Sie bemerkte flüchtig, dass er nicht wesentlich weiter damit gekommen war, die schlechten Fotos von einem der Spiele des AGF zu retuschieren, über das Mads Dam, der Sportverantwortliche der Redaktion, gerade schrieb – wenn er nicht gerade in der Kneipe saß. Aber wenn man verträumt aus dem Fenster schauen und mit dem Kugelschreiber klicken musste, war es ja auch nicht so leicht, das Ganze zu schaffen. Säße Kamilla, die Fotografin der Redaktion, an den Bildern, wären sie schon längst fertig retuschiert. Kamilla war seit Anfang des Jahres fest angestellt, nachdem sie viele Jahre als Freelancer gearbeitet hatte. Aber heute hatte sie frei. Das hatte bestimmt etwas damit zu tun, dass ihre Mutter im Krankenhaus lag. Als ob Kamilla nicht schon genug um die Ohren hätte.

»Bist du mit deiner Moorleichen-Sache ins Stocken geraten?«, erkundigte sich Britt mit ein bisschen mehr Anteilnahme, nachdem sie sich mit einem Plastikbecher lauwarmen Kaffees wieder an den Computer gesetzt hatte. Sie drehte die Musik ein bisschen leiser, und Anne genoss es, dass es ihr geglückt war, sich in der Redaktion ein wenig Respekt zu verschaffen. Sie hatten ihr hitziges Temperament oft genug erlebt. Oder vielleicht lag es auch an ihrer Vergangenheit, die mittlerweile alle kannten. Vielleicht war es mehr Angst als Respekt.

»So ’ne Moorleiche ist schon geil. Mein Onkel ist verrückt nach Vögeln und Mitglied des Dänischen Ornithologischen Vereins, wo er Beobachter ist. Verdammt, er zählt die – die Vögel! Bestimmt hat er oft am Ufer vom Moor mit einem Fernglas auf der Lauer gelegen, ohne zu wissen, dass eine alte, verrottete Leiche direkt unter ihm lag«, sagte Nicolaj und grinste, bevor Anne antworten konnte. Sie sah ihn wütend an. Eigentlich war er ein ganz süßer Kerl mit frechen, grünen Augen, rot gelocktem Haar und Sommersprossen auf einer Haut, die genauso hell wie ihre eigene war. Trotzdem störte sie irgendetwas an ihm. Vielleicht nur, dass sie die Betreuung des Praktikanten übernehmen musste, weil Nicolaj sich am meisten für Kriminalthemen interessierte und er deshalb in dem halben Jahr, das er in der Redaktion angestellt war, ihr zugeteilt worden war. Sie sollte ihn coachen, anleiten und ihm einen Überblick über seine Stärken und Schwächen geben. Wenn er vorhatte, sich mit Verbrechen zu beschäftigen, sollte ihm das Geile an einer verrottenden Leiche möglichst schnell ausgetrieben werden.

»Ja, es ist ein bisschen schwer weiterzukommen, wenn keiner irgendetwas verraten will.« Sie trank einen Schluck Kaffee und ignorierte Nicolaj. »Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es um einen Mord geht, der vor vielen Jahren begangen wurde. Wenn ich wüsste, um wie viele Jahre es geht, könnte ich nach alten Vermisstenanzeigen des betreffenden Jahres suchen, aber wie weit muss ich zurückgehen?«

Britt streckte sich, sodass ihre fülligen Brüste beinahe aus der allzu tief ausgeschnittenen Bluse quollen. Nicolaj erfasste das mit einem kurzen Blick, den er schnell und errötend abwandte. Sie lächelte hinter dem Bildschirm. Es war eine Neuerung, dass Thygesen endlich Mitarbeiter des anderen Geschlechts eingestellt hatte. Als sie in der Redaktion angefangen hatte, waren alle Journalisten Frauen gewesen und die reinsten babes – wie Britt –, aber als Bertha fertig ausgebildet war, bekam sie einen Job beim Extrablatt und war nach Kopenhagen gezogen. Tove war in den Mutterschaftsurlaub gegangen und nie mehr in die unsichere Zeitungsbranche zurückgekehrt. Ein neuer Auszubildender wurde nicht eingestellt. Für Tove wurde Mads Dam eingestellt, als jemand mit Gespür für Sport fehlte. Wie Thygesen auf die Idee kam, dass es von all den Qualifizierten auf Jobsuche ausgerechnet er sein sollte, hatte sie nie verstanden; es hatte bestimmt etwas damit zu tun, dass sie alte Freunde waren. Oder vielleicht war er schlicht und ergreifend der Einzige, der das Gehalt akzeptierte. Die Branche war unter Druck. Zeitungskriege hatten getobt, ohne dass es einen Sieger gegeben hatte, weitere Kriege würden zweifelsohne folgen. Zeitungskonzerne fusionierten und verdrängten die Kleinen, um den ganzen Markt für sich selbst zu haben – inklusive der lokalen Themen. Mehrfach hatte Ivan Thygesen sie darauf vorbereitet, dass die Redaktion vielleicht schließen müsste, aber das Tageblatt hielt noch stand, kräftig unterstützt von den Werbeeinnahmen vieler treuer Anzeigenkunden. Die Werbung überschattete fast den redaktionellen Stoff und wurde sogar manchmal in Zeiten ohne große Neuigkeiten als Titelseite benutzt.

»Vielleicht wurde die Moorleiche nicht vermisst und es wurde nie nach ihr gesucht«, schlug Britt vor, als sie sich fertig gestreckt und eine Zigarette aus der Packung geklopft hatte, obwohl sie sich in der Redaktion normalerweise an das Rauchverbot hielten. Sie gestikulierte, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, als Anne sie vorwurfsvoll ansah. »Verdammt, die Gewerbeaufsicht wird schon nicht herkommen«, verteidigte sie sich und zündete sich mit einem Einwegfeuerzeug von Opel die Zigarette an.

Anne schüttelte den Kopf über sie. »Kann schon sein, dass es eine Person ist, die nicht vermisst wurde«, meinte sie. »Ich bin mir sicher, irgendwo bei einem alten Fall liegt eine Suchmeldung, die man nur ausgraben muss.« Das Klingeln des Telefons auf Thygesens Schreibtisch unterbrach sie. Alle sahen einander an.

»Lass es einfach klingeln«, sagte Britt und nahm ihre Arbeit an der Tastatur wieder auf.

»Das können wir aber verflixt noch mal nicht einfach. Vielleicht geht es um die Pressekonferenz im Polizeipräsidium. Die wissen doch nicht, dass Thygesen krankgemeldet ist, oder?« Anne stand auf und schüttelte erneut missbilligend den Kopf.

In Thygesens Büro roch es immer noch nach Zigarren und alter Kneipe. Sie glaubte auch nicht, dass er sich die Zigarren verkniff, wenn er hier spät am Abend allein saß. Die Sonne schien durchs Fenster, das dringend mal geputzt werden müsste, und auf den verstaubten Rahmen. Das Reinigungspersonal war ebenfalls den Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen, sodass sie nun selbst dafür verantwortlich waren, die Redaktion sauber zu halten. Sie warf einen Krug mit abgekauten Bleistiften und Reklamekulis um, als sie sich über den Schreibtisch beugte und den Hörer abhob. Hätten sie die Umstellung nach dem Blitzschlag letzten Sommer gemacht, hätte sie das Gespräch mit einem einzigen Tastendruck auf ihrem eigenen Telefon annehmen können.

»Redakteur Thygesens Telefon«, meldete sie sich, während sie den Krug aufrichtete, die Bleistifte einsammelte und sie wieder hineinstellte. Durch die schmutzigen Fenster konnte man im diesigen Nebel gerade so am Horizont den Rathausturm ausmachen. Sie hörte ein leises Luftholen im Hörer.

»Hallo, mit wem spreche ich?«, fragte sie und war versucht, wieder aufzulegen.

»Mit wem spreche ich? Ich will nur mit dem Verantwortlichen vom Tageblatt reden!« Die Stimme klang so, als ob sich der Anrufer die Nase zuhielt oder Asthma hatte. Sie witterte die Stimmung von etwas Wichtigem.

»Der verantwortliche Redakteur ist leider krank, kann ich Ihnen weiterhelfen? Ich bin Journalistin. Anne Larsen.«

Langes Schweigen.

»Sie haben über den Mord an dem Mädchen geschrieben. Das sie im Container gefunden haben, stimmt’s?«

Jetzt war sie diejenige, die schwieg.

»Ja, das war ich.«

»Gut, Sie kann ich auch gut gebrauchen. Ich glaube, ich weiß etwas über die Leiche im Moor«, fuhr die Stimme fort. »Wenn meine Vermutung richtig ist, wird es noch weitere Morde geben.«

4

Roland hatte gerade nach einem Gespräch mit Gert Schmidt von der Kriminaltechnik aufgelegt, als der Kriminalbeamte Mikkel Jensen in sein Büro kam. »War das Gert?«, wollte er wissen, als ob er an der Tür gelauscht hätte.

Roland nickte. »Das war ein Tipp bezüglich der Mordwaffe.« Er nahm die Coca-Cola entgegen, die Mikkel ihm aus der Kantine mitgebracht hatte. Sie hatten untereinander eine Vereinbarung in der Abteilung, etwas für die anderen mitzubringen, wenn sie ›außer Haus‹ oder in die Kantine gingen. Er warf seinen Kaugummi in den Papierkorb und trank einen Schluck von der Cola, die, vermischt mit dem Geschmack von Nicotinell mit Lakritz, merkwürdig schmeckte.

Mikkel zog geräuschvoll einen Stuhl vor den Schreibtisch und setzte sich. Es war gegen drei Uhr nachmittags, und der Blutzucker war völlig im Keller. Roland sah ihn an, während er das erste rosafarbene schaumgummiähnliche Ding in den Mund steckte. Jeder hatte irgendwelche Laster. Seine waren italienischer Rotwein und Zigaretten. Mikkels’ waren diese Schaumdinger, obwohl sie überhaupt nicht zu seinem maskulinen Äußeren mit fast glatt rasiertem Schädel und einem jungen Gesicht mit kräftigen Kieferknochen passten. Extrastarkes Lakritz würde besser passen. Er überlegte, wann die Einnahme von Zucker an öffentlichen Stellen verboten werden würde, weil auch das ungesund war.

»Schwarzes Ebenholz«, sagte er.

»Wat?« Mikkel konnte seine echte Aarhuser Herkunft nicht verbergen.

»Die Mordwaffe. Gert Schmidt sagt, das sei Ebenholz. Afrikanisches Ebenholz«, erklärte er geduldig.

»Suchen wir nach einem Afrikaner?«, fragte Mikkel kauend mit einem naiven Gesichtsausdruck.

»Wer weiß? Das Ebenholz ist von sehr guter Qualität und ausgezeichnet verarbeitet. Vielleicht ein Souvenir. Aber das kann natürlich sonst woher kommen.«

»Afrikanische Souvenirs kann man auch hier kaufen. Im Netz zum Beispiel«, erklärte Mikkel.

Roland hatte an ein paar PC-Kursen teilgenommen, aber den Computer für etwas anderes als seine Arbeit zu verwenden, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Mit den jungen Leuten war das etwas anderes, die benutzten den Computer und das Internet eigentlich für alles. Selbst seine Enkelin, Marianna, die gerade sieben geworden war, konnte Tastatur und Maus besser bedienen als er.

»Ich glaube kaum, dass ein Mörder bewusst ins Netz geht und ein aus Ebenholz geschnitztes Souvenir kauft in der Absicht, es als Mordwaffe zu verwenden. Ich glaube, es ist wahrscheinlicher, dass es sich am Tatort befunden hat und am schnellsten und leichtesten greifbar war.«

»Tja, aber eigentlich bin ich wegen der Suchmeldungen gekommen«, meinte Mikkel, der nicht dasitzen und sich über unbedeutende Dinge wie Souvenirs unterhalten wollte.

»Wir haben in dem Zeitraum keine Vermissten, die nicht gefunden wurden – also in Aarhus. Aber ich habe im ganzen Land gesucht und es gab Resultate.« Mikkel sah ihn an, die hellen Augenbrauen erhoben, um ihm die Wichtigkeit des Ergebnisses zu demonstrieren.

»Ja?« Roland schüttete ein neues Stück Kaugummi aus der Schachtel. »1983 wurde eine Frau aus Silkeborg als vermisst gemeldet. Sie wurde nie gefunden. Das könnte sie sein.«

»Passt das Alter?«

»Jep. Zweiunddreißig Jahre alt und Krankenpflegerin.«

Roland nickte abwesend. Eine Frau aus Silkeborg. Aber warum sollte sie in einem Moor in Mundelstrup landen? Er rief im Rechtsmedizinischen Institut an, um zu hören, ob die Ergebnisse des Zahnmediziners vorlagen, aber das war noch nicht der Fall; genervt legte er auf.

Mikkel erhob sich und warf die leere Süßigkeitentüte in Rolands Papierkorb. »Wann ist die Pressekonferenz? Die Journalisten belagern uns.«

Roland runzelte die Stirn. Die Journalisten. Die Aasgeier, wie er sie nannte. Wie schwarze Schatten hingen sie über ihnen und lauerten auf Neuigkeiten, die die Verkaufszahlen ihrer bedrängten Zeitungen steigen ließen. Der Leichenfund im Moor war ganz sicher ein Ereignis, auf das sie sehnlichst gewartet hatten, und der Kampf darum, wer als Erstes die makabre Neuigkeit brachte, war eröffnet. Unwillkürlich dachte er an die Journalistin vom Tageblatt, mit der er vor ein paar Jahren während der Ermittlungen im Gitte-Mord gekämpft hatte. Widerwillig musste er einräumen, dass sie ein gutes Team gewesen waren, und dass sie ihm bei der Aufklärung ein ganzes Stück weitergeholfen hatte, gemeinsam mit der blonden Fotografin, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte. Die Journalistin hieß Anne Larsen, das wusste er noch und fragte sich kurz, ob sie wohl noch beim Tageblatt arbeitete. Falls sie das tat, würde es wohl nicht lange dauern, bis er sie an den Fersen kleben hatte.

»Wir müssen bezüglich der Identität sicher sein, bevor wir an die Presse gehen.«

»Sonst fangen die doch selbst an, sich was zusammenzureimen, und das kann, wie wir wissen, noch viel schlimmer sein.«

Roland nickte und sah zur Tür, als sie aufgestoßen wurde und den Stuhl rammte, auf dem Mikkel saß. Der Platz in seinem Büro war nicht gerade überwältigend. Kurt Olsen, der Vizepolizeidirektor, stand in der Tür. Frisch rasiert und in einem sauberen Hemd. Er sah sehr viel besser aus als sonst. Es gab Gerüchte, er habe wieder mit seiner Frau zusammengefunden, aber was den Mann am meisten verändert hatte – die Rasur oder die Frau –, war nicht leicht zu beurteilen.

»Wir halten spätestens am Nachmittag eine Pressekonferenz ab, das werden wir verdammt noch mal müssen«, informierte er sie kurz, so als ob auch er an der Tür gelauscht hätte.

»Sollten wir nicht vorher die Bestätigung bekommen, dass es sich wirklich um die verschwundene Frau aus Silkeborg handelt?«, schlug Roland vor. »Wir sollten bald den Bescheid aus der Rechtsmedizin und der Kriminaltechnik bekommen.«

Eine junge Frau entschuldigte sich und quetschte sich an Kurt Olsen vorbei. Das Büro wirkte langsam klaustrophobisch.

Isabella Munch war eines der neu eingestellten Mädchen bei der Polizei. Sie war gerade zur Kriminalpolizei gewechselt. Erst jetzt war Roland klar geworden, wie sehr Beamte des anderen Geschlechts gefehlt hatten. Weibliche Intuition war dermaßen Mangelware gewesen. Oft bediente er sich Irenes, aber es gab auch Grenzen dafür, wie weit er seine Frau mit Fällen belasten konnte. In manchen Fällen war es auch nicht besonders zweckmäßig und er brach seine Schweigepflicht, aber Irene war aufgrund ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin und als frühere Polizeisekretärin besser dafür geeignet als die meisten anderen Polizistengattinnen. Mit Isabella war die weibliche Intuition immer gleich vor Ort greifbar und er konnte sie nutzen, wann er wollte. Noch dazu kamen die anderen kleinen Vernügen, wie den maskulinen Mikkel erröten zu sehen, als die blonde Beamtin mit dem Pferdeschwanz ihn lächelnd ansah, weil sie ihm ziemlich nah kommen musste, um Roland ein Stück Papier zu reichen.

»Ich habe mir den Fall von damals mal näher angeschaut. Die Polizei von Mittel- und Westjütland ist sehr kooperationsbereit. Die Suche wurde 1984 eingestellt, nachdem man vier Monate lang keine heiße Spur gefunden hatte. Sie hat einen Sohn, Sebastian Juhl. Er wohnt in der Klosterstraße und arbeitet als Mechaniker in einer Autowerkstatt in Hasselager. Ich habe die Adresse rausgesucht, die dort angegeben war«, fuhr sie fort und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.

Er bat Kurt Olsen, noch ein bisschen mit der Pressekonferenz zu warten, nahm seinen Mantel, der über der Stuhllehne hing, und winkte Mikkel zu sich.

»Wir fahren in die Klosterstraße«, teilte er kurz angebunden mit. Mikkel folgte ihm widerwillig. »Aber der Sohn kann doch nicht beantworten, ob das seine Mutter ist, die im Moor gefunden wurde. Und er kann sie unmöglich identifizieren«, murmelte er auf dem Weg zum Aufzug.

»Das mit der Identifizierung zieht sich anscheinend hin, also müssen wir die Sache wohl selbst in die Hand nehmen. Vielleicht kann der Sohn uns was erzählen.«

5

Sie wurde auf dem Flur angehalten.

»Annemette Knudsen?«

»Ja.«

»Sie ist gerade im Bad, aber es dauert nicht lange. Sie können eine Tasse Kaffee haben, während Sie warten.« Die Frau nickte in Richtung einer Menge verschiedenfarbiger Thermoskannen und Becher, die auf einem Couchtisch standen.

Annemette nickte, setzte sich auf ein hellgraues Sofa mit braunen Kaffeeflecken und wartete, während sie der Frau nachsah, die schnell in Richtung Flur verschwand. Sie hatte sie zuvor noch nicht gesehen, also war sie wohl neu. Aber sie kannte sich selbst mit den Thermoskannen aus, denn sie kam so oft wie möglich hierher. Sie hätte vorher anrufen sollen, wie sonst auch.

Die Sonne schien durch ein hohes Fenster herein und warf blendendes Licht über den polierten Boden und die weißen Wände. Sie betrachtete die abstrakten Malereien. Nicht, weil sie sie nicht schon mal gesehen hätte, sondern weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte. Rauchen durfte man hier nicht. Die Zeitung auf dem Tisch hatte sie morgens schon gelesen und Kaffee getrunken hatte sie den ganzen Vormittag im Büro. Nora hatte sich wieder gemeldet, sodass sie mit den ganzen Lohnabrechnungen allein war. Trotzdem war sie dankbar. Dankbar dafür, dass sie den Job trotz ihres Alters bekommen hatte. Als das Geld zur Neige ging, war es schwer gewesen, sich das Ganze leisten zu können. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Aber natürlich musste das eines Tages passieren, so wie sie gelebt hatte. Sie hatte nie etwas gespart.

Die Frau ging erneut vorbei, einen Stapel Handtücher im Arm, und teilte mit, dass sie fertig sei. Annemette stand auf. Warum war sie nicht einfach reingegangen? Warum war sie nicht aus dem Bad zu ihr gekommen? Das hätte sie ohne Weiteres machen können, selbst wenn die Neue sie darum gebeten hatte zu warten. Sie dachte über ihre ungewohnte Passivität nach, während sie den langen Flur mit den geschlossenen Türen entlangging. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Je näher sie kam, desto stärker klopfte ihr Herz, sodass sie meinte, man könnte es hören, als sie die Tür erreichte und die junge Frau betrachtete, ohne hineinzugehen. Sie hatte ihren Gast noch nicht bemerkt. Ihr langes Haar war feucht und ganz schwarz. Die Augen waren ebenfalls schwarz. Sie sahen zum Fenster und fixierten ausdrucklos etwas draußen am Horizont. Das Sonnenlicht ließ die dunkle Haut blass wirken. Ihr Vater war Spanier. Ein Versehen während eines Sommerurlaubs vor zwanzig Jahren.

»Hallo Kit.« Vorsichtig trat sie ein und setzte sich auf die gegenüberliegende Seite des Tisches. »Alles Gute zum Geburtstag.«

»Hi. Ich wusste nicht, ob du kommst.«

»Natürlich komme ich an deinem Geburtstag! Den müssen wir doch feiern.«

»Ich wurde gefeiert – mit Brötchen und Kakao. Deswegen musste ich ins Bad, ich hab Kakao verschüttet.« Kit versuchte zu lächeln, aber in ihren Augen standen Tränen.

Annemette strich ihr über die Wange. »Ach komm. Es war doch nur Kakao.«

»Ich hab mich verbrannt!«

Sie zog schnell die Hand zurück und steckte sie stattdessen in eine Tragetasche von Salling. »Ich hab ein Geschenk für dich.« Sie legte es auf den Tisch und wartete gespannt, während Kit es mit einem kleinen, schüchternen Lächeln auspackte.

»Was hast du dir jetzt ausgedacht? Das war doch nicht nötig. Gibst du mir einen Tipp?«

Das Auspacken dauerte ziemlich lange. Annemette wartete ruhig, aber ihr Fuß unterm Tisch wippte ungeduldig. Verdammt, wie gern sie jetzt eine rauchen würde. Bevor es ganz ausgepackt war, hielt sie den Pulli vor Kit. Das Lächeln erstarb langsam, auch in ihren braunen Augen.

»Magst du ihn? Kannst du erkennen, was die Pailletten darstellen?«

»Ja. Schmetterlinge. Er ist toll. Wirklich. Aber wann soll ich den anziehen? Wann brauche ich denn mal etwa so Schickes?«

»So ein Quatsch. Das brauchst du doch oft und so schick ist er nun auch wieder nicht, dass du ihn nicht im Alltag tragen könntest.«

Kit berührte vorsichtig die Pailletten. Es war ein Ausdruck in ihre Augen getreten, den Annemette noch nie leiden konnte. Es war einer dieser Tage. Einer dieser Tage, mit denen sie so schwer umgehen konnte.

»Warum hast du mich damals nicht einfach sterben lassen?«

»Nein, hör jetzt auf!«

»Ich weiß, dass du die Wahl hattest. Warum hast du nicht einfach gesagt, sie sollten ausschalten?«

Annemette sammelte geräuschvoll das Geschenkpapier ein und stopfte es in die leere Plastiktüte. »Wer erzählt denn so einen Unsinn? Woher hast du nur solche Gedanken?«

»Oma hat es mir erzählt. Sie sagte, du solltest die Entscheidung treffen. Das war damals, als sie mal Lust hatte, mich zu besuchen.«

»Oma ist krank. Es geht ihr sehr schlecht, und nur deswegen kommt sie nicht. Das weißt du genau.«

»Warum holst du sie dann nicht ab und bringst sie mit?«

Annemette ließ die Frage im Raum stehen.

»Ich hab mich doch damals richtig entschieden, oder? Sonst würdest du heute nicht Geburtstag feiern.«

»Und das wäre besser gewesen. Alles wäre besser gewesen als das hier!« »So was darfst du nicht sagen, Schätzchen.«

Der Puls stieg und das Zwerchfell krampfte sich zusammen. Hätte sie das Frühstück besser nicht ausfallen lassen sollen?

»Gibt es zur Feier des Tages nicht ein bisschen Kaffee und Kuchen?«

Sie versuchte die Gereiztheit in ihrer Stimme zu verbergen.

»Sie geben heute Abend eine Feier für mich. Kommst du?« Kit sah sie bittend an.

»Du weißt genau, ich kann nicht.« Sie nahm ihre Hände, die schlaff auf dem Tisch lagen. »Ich muss doch arbeiten.«

Kit riss ihre Hand an sich und sah sie wütend an, bis sie plötzlich die andere Hand losließ. »Du hättest mich sterben lassen sollen, dann hättest du nicht so viel arbeiten müssen. Dann hätte der Bürojob ausgereicht. Dann hättest du kommen können.«

»Ja, aber dann wärst du nicht hier gewesen und es hätte keine Feier gegeben.« Sie lächelte und versuchte neckend zu klingen. Manchmal reichte das. »Aber dann kannst du heute Abend deinen schicken Pullover anziehen. Das wird bestimmt schön mit all deinen Freunden.« »Freunde! Nennst du das Freunde? Wo sind meine Freunde jetzt? Verrat mir das mal!«

»Schätzchen, du verstehst doch bestimmt, dass sie ...« Sie stockte, als ihr aufging, dass der Satz katastrophal missverstanden werden würde. Sie stand auf und begann, den Mantel anzuziehen. Kits Blick folgte jeder ihrer Bewegungen. Es tat im Innersten weh und sie freute sich beschämt darauf, wieder draußen im Sonnenschein zu stehen und die reine Luft einzuatmen. Draußen in einer anderen Welt. Ihrer eigenen.

»Rufst du morgen an und fragst, wie die Feier war?« Es kam eine Bewegung über Kits Lippen, die zur Feier des Tages einen Hauch schimmernden Lipgloss verpasst bekommen hatten.

Annemette deutete das als ein Lächeln und atmete erleichtert auf. »Natürlich. Hab einen schönen Abend und freu dich darüber, zwanzig zu werden. Das ist das beste Alter im Leben.« Vielleicht war das unangebracht – geradezu böse, aber jetzt war es gesagt.

»Ja, das Alter, in dem man sich amüsiert und sein Leben lebt.« Dieses Mal lächelte sie, aber es war ein ironisches und bitteres Lächeln. »Darf ich dir winken?«

»Natürlich darfst du das. Ich muss dann mal.«

Sie ging um Kit herum und schob den Rollstuhl ans Fenster.

Als sie vom Parkplatz aus zum Fenster schaute und zurückwinkte, dachte sie, dass Kit der größte Fehler war, den sie je begangen hatte.

6

In der Klosterstraße öffnete niemand, daher gingen sie davon aus, dass Sebastian Juhl noch bei der Arbeit war.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!