Mord auf Westwater Manor - Henrietta Hamilton - E-Book

Mord auf Westwater Manor E-Book

Henrietta Hamilton

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Beschreibung

Mord in der Bibliothek - Sally und Johnny ermitteln Zwischen den sonnenverbrannten Hügeln der englischen Countryside erstreckt sich das Landgut der Familie Thaxton. Kaum ist das Buchhändlerpaar Sally und Johnny auf Westwater Manor angekommen, entpuppen sich die seltenen Erstausgaben, die die Bibliothek der Thaxtons auszeichnen, als fragwürdige Fälschungen. Zudem wird der Gutsherr Sir Mark vor den Augen der Gäste in hitzige Debatten verwickelt. Denn zum Leidwesen seiner Nachbarn hat er eine große Farm errichtet und den nebenliegenden Fluss durch einen Damm aufgestaut. Die scheinbare Idylle wird endgültig erschüttert, als Sir Mark leblos aufgefunden wird: Jemand hat ihn mit einem präzisen Schlag ermordet. Auf raffinierte Weise entwirren Sally und Johnny in ihrem zweiten Fall die Verstrickungen rund um den Gutsherren und kommen dem Mörder dabei bedrohlich nah. Dieser könnte noch immer auf Westwater Manor weilen und jederzeit ein weiteres Mal zuschlagen. »Mord auf Westwater Manor« ist die Cosy-Crime-Wiederentdeckung des Sommers, voll flirrender Spannung und kluger Ermittlungen.

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Seitenzahl: 350

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dies ist der Umschlag des Buches »Mord auf Westwater Manor« von Henrietta Hamilton, Dorothee Merkel

Henrietta Hamilton

Mord auf Westwater Manor

Ein Fall für Sally und Johnny

Aus dem Englischen von Dorothee Merkel

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Death at One Blow« im Verlag Hodder & Stoughton, London

© The Estate of Hester Denne Shepherd, 1957

Für die deutsche Ausgabe

© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten

Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Illustration von © Milan Jovanovic, CHAMELEON Studio

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96616-9

E-Book ISBN 978-3-608-12405-7

Für DMM

»Meine Erfahrung, Watson, hat mich gelehrt, dass sich selbst in den abscheulichsten Gassen Londons kein schlimmerer Sündenpfuhl findet als auf dem heiteren, lieblichen Lande.«

Sir Arthur Conan Doyle, Die Blutbuchen

Prolog

Sally Heldar schaute auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor sechs. Johnny würde jeden Moment nach Hause kommen. Nach einem Tag wie heute würde er den Laden bestimmt so früh wie möglich verlassen. In ihrer gemeinsamen Wohnung war es den ganzen Tag lang schon sehr heiß gewesen, aber in seinem engen Büro im zweiten Stock, von dem man auf den Verkehr der Charing Cross Road hinausschaute, musste die Hitze nahezu unerträglich sein. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn sie aufs Land hätten hinausfahren können, aber nachdem sie bereits im März und April einen Monat auf Hochzeitsreise gewesen waren, konnte Johnny vor Herbstbeginn unmöglich noch einmal wegfahren.

Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Johnny würde heute Abend bestimmt ein Bier trinken wollen, und sie selbst konnte durchaus auch eins gebrauchen. Sie nahm zwei Flaschen und zwei Gläser, ging zurück ins Wohnzimmer und stellte das Tablett auf den Tisch aus Palisanderholz, den Onkel Charles Heldar ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte. Kurz darauf hörte sie Johnnys Schlüssel in der Wohnungstür.

Johnny war sehr groß, mit breiten Schultern, dichten braunen Haaren und ausgeprägten Gesichtszügen. Sally hatte sich eigentlich nie gefragt, ob er nun gut aussah oder nicht, und soweit sie das beurteilen konnte, tat das auch sonst niemand. Es gab etwas in seinen Augen, bei dem man solche Erwägungen sofort vergaß: Sie strahlten Autorität, Humor und Güte aus, und wenn man genauer hinsah, konnte man darin die Anzeichen für zahlreiche weitere wertvolle Eigenschaften erkennen. Jeder, der Johnny begegnete, merkte sofort, dass er hier einem Mann von großer Kraft und zugleich großem Sanftmut gegenüberstand.

Er schloss sie in die Arme, kaum, dass er den Raum betreten hatte, und hielt sie eine Weile eng umschlungen, so wie er es immer tat – als hätte er Sorge gehabt, sie könnte während seiner Abwesenheit plötzlich verschwunden sein. Aber sein Kuss war fest und entschlossen. Für einige Augenblicke dachte keiner von ihnen mehr an die Hitze. Dann fragte Sally: »Ein Bier und dann ein kaltes Bad, oder erst ein kaltes Bad und dann ein Bier?«

»Zuerst das Bier, denke ich«, antwortete Johnny. »Vielleicht habe ich ja danach genug Energie, um in die Badewanne zu steigen.« Er zog sein Jackett aus und hängte es über eine Stuhllehne.

Als sie zusammen auf dem Sofa saßen, nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Glas und seufzte. Dann sah er sie an und fragte: »Was hältst du davon, wenn wir für zwei Wochen oder so die Stadt verlassen?«

»Was – jetzt?«

»Ja. Nicht für einen Urlaub, auch wenn das eine nette Abwechslung wäre. Nein, für einen Auftrag – einen dringlichen Auftrag.«

Sally begriff sofort, was er meinte. »Eine Privatbibliothek?«

Johnny nickte und nahm einen weiteren tiefen Schluck. »Es ist eine unglaublich komplizierte Geschichte, und ich bin gerade geistig nicht mehr so ganz auf der Höhe. Aber ich werde mein Bestes versuchen. Erinnerst du dich an den alten Mercator?«

Sally erinnerte sich sogar sehr gut an Sir Mark. Er besaß eine ausgezeichnete Bibliothek, und weil er Teilhaber einer der größten Handelsbanken Europas war, verfügte er auch über die Mittel, diese stetig zu vergrößern. Er gehörte schon seit vielen Jahren zu den Stammkunden der Gebrüder Heldar und war auch häufig persönlich in den Laden gekommen. Zu der Zeit, als sie noch dort gearbeitet hatte, war er jedes Mal überaus charmant und höflich zu ihr gewesen. Darüber hinaus war er Johnny sehr zugetan, und nachdem die Bekanntgabe ihrer Verlobung in der Times erschienen war, hatte er eigens einen Besuch im Laden abgestattet, um ihnen zu gratulieren. Zu dem Anlass hatte er sie zu einem Diner ins Savoy eingeladen. Und zu ihrer Hochzeit hatte er ihnen zwei prächtige Kerzenleuchter aus der Queen-Anne-Epoche geschickt und war bei den Hochzeitsfeierlichkeiten selbst ein äußerst willkommener Gast gewesen.

Johnny fuhr mit seinem Bericht fort: »Ich bin mir nicht sicher, ob du wusstest, dass seine Frau eine Thaxton war – eine von den Hampshire-Thaxtons, genauer gesagt. Er hat ihr irgendwann während der Anfangsjahre dieses Jahrhunderts den Hof gemacht, und obwohl Geld und persönlicher Reichtum damals allmählich eine ähnliche Bedeutung erlangten, wie sie es heutzutage haben, bestand bei den Thaxtons kein Bedarf danach, und ihr Vater rümpfte seine aristokratische Nase bei der Vorstellung, sie könnte einen Juden heiraten. Mercator hat sich damals äußerst geschickt verhalten. Das hat jedenfalls Großvater erzählt, von dem ich diesen Klatsch und Tratsch heute Nachmittag erfahren habe. Anscheinend hat sich Mercator zunächst ein ganzes Jahr lang unendlich geduldig bemüht, den alten Herrn umzustimmen. Aber als das nichts fruchtete, hat er jeden Versuch in dieser Richtung aufgegeben und ist mit ihr durchgebrannt – wenn auch so nüchtern und respektabel wie irgend möglich. Die Ehe wurde zu einem vollen Erfolg, und beide Ehepartner waren so beliebt, dass ihnen aus dieser Geschichte keinerlei gesellschaftlicher Nachteil entstanden ist. Sie hatten keinen Sohn, nur eine Tochter, die ein tragisches Ende gefunden hat. Sie hat einen deutschen Grafen geheiratet und ist dann in einem Konzentrationslager ums Leben gekommen. Der Graf wollte das nicht hinnehmen und ist daraufhin ebenfalls verschwunden. Die beiden hatten zum Glück keine Kinder. Zahlreichen anderen Mitgliedern aus der Mercator-Verwandtschaft ist ein ähnliches Schicksal widerfahren, bis Sir Mark schließlich nur noch ein einziger Verwandter blieb: Richard Thaxton, der Großneffe seiner verstorbenen Frau.«

»Richard Thaxton«, wiederholte Sally. »Diesen Namen habe ich irgendwo schon einmal gesehen. Gibt es nicht eine Thaxton-Bibliothek? Aber es ist gar nicht lange her, dass ich den Namen ›Richard Thaxton‹ gelesen habe.«

»Das glaube ich gern. Dazu komme ich gleich noch. Richard muss jetzt so um die dreißig sein. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, aber er galt als Verschwender, und man erzählt sich, dass er nur sehr schlecht, um nicht zu sagen überhaupt nicht mit seinem Vater ausgekommen ist. Jedenfalls ist er nach dem Krieg bei der Royal Air Force geblieben und befand sich gerade in Korea, zusammen mit einer der Sunderland-Flugboot-Staffeln, als sein alter Herr sich bezeichnenderweise beim Jagdreiten das Genick brach. Nur wenige Monate darauf wurde Richard abgeschossen. Dabei muss einiges an Pech im Spiel gewesen sein, denn es ist keineswegs leicht, ein Sunderland-Flugboot abzuschießen. Jedenfalls stürzte er ab und wurde als gefallen gemeldet. Er war damals bereits zum stellvertretenden Staffelkapitän aufgestiegen, muss sich also sehr gut geschlagen haben. Er hatte keinen Sohn und hat alles, was er besaß – einschließlich des Familiensitzes – seiner Verlobten hinterlassen. Ich habe keine Ahnung, um wen es sich dabei handelt.

Aber weil es innerhalb sehr kurzer Zeit drei Tode gegeben hatte – Richards Großvater, der ebenfalls Richard hieß, starb 1948 in recht hohem Alter – sah sich die Verlobte gezwungen, den Familiensitz zu verkaufen, um die Erbschaftssteuern bezahlen zu können. Das war der Moment, in dem Mercator eingriff. Er erzählte meinem Großvater, dass der Familiensitz ihm schon immer gefallen habe – es handelt sich dabei um Westwater Manor in der Nähe von Fanchester – und dass er sich ohnehin aus dem Geschäftsleben zurückziehen wolle und sich daher nach einem Haus auf dem Lande umsehen würde. Außerdem wollte er dafür sorgen, dass Westwater wenn möglich im Familienbesitz verblieb. Vermutlich wollte er darüber hinaus auch Richards Verlobten unter die Arme greifen. Also hat er das Haus gekauft, zusammen mit allem, was sich darin befand, wozu, glaube ich, auch einige sehr kostbare Möbelstücke gehören. Und natürlich gibt es da auch die Thaxton-Bibliothek, für deren Zusammenstellung hauptsächlich Richards Großvater verantwortlich war. Es handelt sich dabei um eine wirklich hervorragende Sammlung, wie du sicherlich weißt. Sie enthält unter anderem einen Flambury von 1510 und eine Erstausgabe von Percival.

Jedenfalls hat Mercator nach diesem Kauf sowohl sich selbst als auch sein Hab und Gut nach und nach von London nach Westwater Manor verfrachtet. Er hat sehr viel Geld in das Haus und das Grundstück gesteckt und zahlreiche Verbesserungen vorgenommen. Natürlich hat er auch seine eigene Bibliothek mitgenommen und diese mit der Thaxton-Sammlung verschmolzen. Er wollte unter anderem auch deshalb sämtliche Bücher beisammenhaben, weil er, sobald er sich eingelebt hatte, für die Versicherung ihren Wert bestimmen lassen wollte. Vor einem Monat hat er sein Haus in Hampstead verkauft und ist nach Westwater gezogen – endgültig, wie er glaubte. Vor zwei Tagen hat die chinesische Regierung bekanntgegeben, dass sie großzügigerweise vier Piloten der Royal Air Force freilassen werde, die, wie sie behauptete, über chinesischem Staatsgebiet abgeschossen worden seien, während sie dort Krankheitserreger abwarfen. Eine hübsche Geste, natürlich, in Anbetracht der bevorstehenden Außenministerkonferenz. Und einer dieser Piloten ist, wie du sicherlich bereits erraten hast, Richard Thaxton.«

Sally griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Wie wollen sie dieses Problem denn jemals gelöst bekommen?«, fragte sie dann.

»Ich bin kein Rechtsanwalt«, sagte Johnny. »Gott sei Dank. Ich habe keine Ahnung, was geschehen wird, aber ich kann mir vorstellen, dass es eine unfassbar komplizierte Angelegenheit ist. Glücklicherweise bleibt sie in der Familie, sozusagen. Mercator ist fest entschlossen, Richard wieder zu seinem Besitz zu verhelfen. Er meint, Westwater Manor sei selbstverständlich Richards Zuhause, sobald er in England eintrifft, wahrscheinlich in zwei oder drei Wochen. Und hier kommen wir ins Spiel. Mercator möchte die beiden Bibliotheken wieder auseinanderdividieren, und das ist mehr oder weniger eine Aufgabe für einen Fachmann. Er selbst hat nie ein Exlibris benutzt, und das Gleiche gilt für die Thaxton-Sammlung. Deshalb gibt es auch keine einfache Methode, mit der man die Bücher voneinander unterscheiden könnte. Man muss dazu die Kataloge zu Rate ziehen, und das dürfte hier und da ein bisschen knifflig werden. Mercator könnte das zwar selbst übernehmen, aber sein Sehvermögen ist nicht mehr so gut. Und außerdem hat er genug um die Ohren, weil er ja recht dringlich mit den Rechtsanwälten verhandeln und gleichzeitig versuchen muss, sich mit Richard auszutauschen. Also sollen wir die Sache übernehmen. Darüber hinaus möchte er, wo man schon einmal dabei ist, zu Versicherungszwecken den Wert beider Sammlungen bestimmen lassen. Er hatte sich Richards Erlaubnis eingeholt, die Thaxton-Sammlung neu bewerten zu lassen, noch bevor Richard abgeschossen wurde. Alles soll möglichst noch vor Richards Rückkehr erledigt sein. Das ist nur allzu verständlich. Schließlich möchte man zu einer solchen Zeit keine Fremden im Haus haben.

Hätte es sich um irgendeine andere Person gehandelt, hätten wir gesagt, dass wir diese Aufgabe unmöglich so kurzfristig übernehmen können, und das auch noch mitten in der Ferienzeit. Aber Mercator ist ein so guter und geschätzter Kunde und auch ein so alter Freund, dass wir ihm diesen Gefallen nicht abschlagen wollten. Großvater kann nicht weg von hier, und Onkel Charles ist in Cornwall, also muss ich die Sache übernehmen. Aber ich brauche Hilfe, um das in der kurzen Zeit zu schaffen – es ist wirklich sehr viel Arbeit. Wir haben das mit Mercator durchgesprochen und sind schließlich übereingekommen, dass wir dich bitten, mich dorthin zu begleiten. Mercator hat uns beide als seine persönlichen Gäste eingeladen, und ich glaube, die Sache könnte uns großen Spaß machen. Wäre das für dich in Ordnung?«

»Mehr als in Ordnung. Ich freue mich!«, antwortete Sally. »Aber ist es denn auch wirklich kein Problem für die Firma? Schließlich gehöre ich nicht mehr zur Belegschaft.«

»Wäre es dir lieber, ich würde Miss Jennings mitnehmen?«, fragte Johnny mit ernster Miene.

»Würdest du Miss Jennings denn gerne mitnehmen, Darling?«

Johnny zuckte mit den Schultern. »Naja, das wäre mal was Neues, oder?«

»Du Unhold!«, sagte Sally.

Johnny grinste. »Ich könnte sie mitnehmen, aber sie wäre längst nicht so gut wie du. In jeglicher Hinsicht. Also solltest du doch besser selbst mitkommen, finde ich. Du bekommst übrigens auch dein altes Gehalt.«

»Dafür, dass ich im Luxus bade und … und mit dir zusammenarbeiten kann?«

»Du hast bisher noch nie mit mir zusammengearbeitet. Vielleicht findest du es ja absolut unerträglich.«

»Das ist natürlich gut möglich«, meinte Sally.

Erstes Kapitel

Zwei Tage später brachen sie nach Westwater auf. Das Wetter ließ keine Anzeichen für einen baldigen Umschwung erkennen, und so war es eine gewaltige Erleichterung, aus der Stadt herauszukommen. Johnny fuhr so schnell, wie es der sonntägliche Verkehr erlaubte, und zum ersten Mal seit fast drei Wochen konnten sie ein wenig kühlere Luft genießen.

Gegen kurz nach halb vier erreichten sie eine recht hohe, kahle Hügelkuppe, von der aus sie ein kleines Tal unter sich liegen sahen, das sich als tiefgrüner Einschnitt durch die sonnenverbrannten Hügel zog. Der gesamte Talgrund wurde von einer oval angelegten Parklandschaft eingenommen. Im östlichen, weiter von ihnen entfernt gelegenen Teil wand sich silbrig glitzernd ein kleiner Fluss. In der Ferne konnten sie auch ein winziges Dorf erkennen, von dem Johnny meinte, dass es sich dabei um Danesfield handeln müsse. Fast genau in der Mitte des Parks ragte ein gewaltiger, in einer warmen Farbe schimmernder Backsteinbau auf, hinter dem man gerade noch einen Teil der dazugehörigen Gärten sehen konnte.

Von der Hügelkuppe aus nahmen sie eine Seitenstraße, die steil den Hang hinunterführte, und erreichten schließlich das offenstehende Parktor, dessen hochaufragende graue Pfeiler zwei liegende Löwen aus Stein trugen. Das Pförtnerhaus war ein kleines, quadratisches Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert, in dessen Garten üppig Levkojen und späte Rosen blühten. Jenseits des Tors gelangte man auf eine lange, sorgfältig gepflegte Buchenallee, die von sonnendurchfluteten Parkflächen gesäumt wurde.

Sie sahen das Haus erst, nachdem sie die letzte Kurve durchfahren hatten. Wie sie später entdeckten, war die Südfassade noch sehr viel beeindruckender, aber auch wenn man es aus nördlicher Richtung betrachtete, also von der Seite, von der sie sich gerade dem Haus näherten, bot es einen außergewöhnlich schönen Anblick. Es war um drei Seiten eines Innenhofs gebaut, in den man von dieser Stelle aus Einsicht nehmen konnte. Die beiden Seitenflügel waren, wie sie wussten, im neunzehnten Jahrhundert hinzugefügt worden, doch diese Vergrößerung war so hervorragend ausgeführt worden, und die neuen Gebäudeteile fügten sich so nahtlos an den ursprünglichen georgianischen Bau an, dass sich die eine architektonische Epoche so gut wie überhaupt nicht von der anderen unterscheiden ließ. Auch nach diesen Baumaßnahmen wirkten die Proportionen absolut ausgewogen. Die stille Würde des säulengetragenen Vorbaus war unbeeinträchtigt geblieben, und der mit Steinplatten belegte Hof erweckte nach wie vor einen geräumigen, weitläufigen Eindruck. In der Mitte des Innenhofs ragte ein Maulbeerbaum auf, der sicherlich so alt war wie der georgianische Teil des Gebäudes.

Johnny war kurz langsamer gefahren, damit sie in Ruhe ihren Blick schweifen lassen konnten, und fuhr nun weiter, zwischen den breiten grünen Rasenflächen hindurch. Auf der Vorderseite des Hauses gab es eine breite, bogenförmige Kiesauffahrt, in die die beiden Zufahrtswege mündeten, die an der rechten und linken Seite des Hauses entlangführten. Über die Kiesauffahrt gelangten sie in den steingepflasterten Innenhof, auf dem Johnny den Wagen schließlich vor der gewaltigen Eingangstür anhielt.

Noch während sie aus dem Auto ausstiegen, erschien ein imposanter Butler in der geöffneten Tür. Er schickte sich gerade an, sie die Treppe hinauf ins Haus zu führen, als von oben eine dünne, freundliche Stimme ertönte: »Da sind Sie ja!«

Mercator stieg die Treppe hinunter – eine kleine, schlanke, weißhaarige, von oben bis unten in Flanell gekleidete Gestalt, die eine große Würde und Autorität ausstrahlte. Man fragte sich immer ein bisschen, warum man eigentlich diesen Eindruck hatte, bis er dann zu reden anfing. Als Sally ihn das letzte Mal gesehen hatte, war seine Gesichtsfarbe noch von der typischen Blässe eines Stadtbewohners geprägt gewesen, doch jetzt hatte ihn die Sonne bereits ein wenig gebräunt, und diese Farbe stand seinen feinen Gesichtszügen mit der zierlichen Nase ausgezeichnet. Seine dunklen, von einer Brille bedeckten Augen leuchteten.

»Meine liebe Mrs Heldar, wie freue ich mich, Sie zu sehen!« Er war in England geboren und aufgewachsen, und seine klare, präzise Aussprache wies nicht die geringste Spur eines Akzents auf. »Heldar, schön, dass Sie da sind. Es ist äußerst nett von Ihnen beiden, dass Sie gekommen sind!« Er reichte ihnen beiden abwechselnd seine schmale, dünne Hand. »Was für ein Wetter! Wir könnten genauso gut in Süditalien sein. Kommen Sie doch herein. Sie möchten sicher erst einmal auf Ihr Zimmer gehen. Sobald Sie sich dort ein bisschen frisch gemacht haben, trinken wir Tee im Salon. Draußen auf der Terrasse ist es nachmittags einfach zu heiß.«

Er führte sie durch ein mit einem Marmorfußboden ausgestattetes Vestibül, das zu beiden Seiten von zwei reich geschnitzten, offenbar aus einem Chorgestühl stammenden Bänken gesäumt wurde. Von dort gelangten sie in eine gewaltige Halle, in der ihnen gegenüber eine doppelläufige Treppe zu zwei langgestreckten Emporen hinaufführte, über denen wiederum ein großes, hohes Fenster aufragte. Sally vergaß, Mercator zuzuhören, und kam erst wieder zu sich, als plötzlich vollständige Stille herrschte.

»Es tut mir leid, Sir Mark«, sagte sie hastig. »Ich musste einfach staunen.«

Mercator lächelte. »Ja«, sagte er. »Ich hatte die Gelegenheit, recht viele der großen Herrenhäuser Englands zu besichtigen und war immer schon davon überzeugt, dass dieses hier von allen das schönste ist. Es hätte mich ein wenig verletzt, wenn Sie nicht gestaunt hätten.«

Er führte sie einen der beiden prächtigen, geschwungenen Treppenläufe hinauf und über eine der Emporen zu einem Flur, der sich an der Hofseite des Hauses entlangzog. Von dort aus betraten sie ein großes, sonnendurchflutetes Schlafzimmer mit zwei hohen Fenstern. Die Wände waren mit altweißem Brokatstoff beschlagen, und an den Fenstern hingen taubenblaue Vorhänge.

»Ich hoffe, Sie werden es in diesem Raum bequem haben«, sagte er. »Und hier sind auch schon Emmanuel und Annie, die sich um Sie kümmern werden.«

Emmanuel, der in der Tür zum Ankleidezimmer stand, war ein kleiner, schon etwas älterer Kammerdiener mit olivfarbener Haut, während es sich bei Annie um eine recht mollige Frau vom Lande mit frischem Gesicht handelte. Sie war unverkennbar eine gut ausgebildete und erfahrene Bedienstete, wirkte dabei jedoch gleichzeitig so freundlich und hausbacken, dass sich Sally – die bisher nur selten mit Zofen zu tun gehabt hatte – keine Sorgen machte, sie könne womöglich nicht mit ihr zurechtkommen. Stattdessen betrachtete sie begeistert den wunderschönen Raum mit seinen antiken Möbeln aus Nussbaum und den symmetrisch angelegten Garten mit seinen Rosen und Veilchen, der durch die Fenster zu sehen war. Nachdem sie sich ein wenig frisch gemacht hatten, begaben sie sich wieder nach unten.

Mercator wartete in der Halle auf sie und führte sie von dort aus durch einen Flur zum Salon. Dabei handelte es sich um einen langgestreckten, hohen Raum in einer der Ecken des Hauses, dessen Fenster sich auf die im Süden gelegene Terrasse öffneten. Jenseits der Terrasse breiteten sich weiträumige Rasenflächen aus, die von einem der beiden Zufahrtswege – in diesem Fall dem westlichen – in zwei Hälften unterteilt wurden. An den Wänden des Salons hingen elfenbeinfarbene Tapeten, und die Vorhänge waren in einem derart hellen Gelb gehalten, dass sie fast weiß wirkten. Auch die mit Brokat ausgeschlagenen Sitzmöbel waren elfenbeinfarben. Hier und da waren Kissen im Raum verteilt, die einen etwas lebhafteren Farbton setzten, und überall standen als zusätzliche Farbtupfer Vasen mit Blumen. Es war ein wunderschöner, exquisiter Raum, dessen Gestaltung von einem geradezu weiblichen Geschmack zu zeugen schien, wobei das Ergebnis jedoch keineswegs feminin wirkte. Sally, die erneut ins Staunen geraten war, fand, dass diese Beschreibung ziemlich genau auch auf Mercator selbst passte: ein ruhiger, den Traditionen verpflichteter, konventioneller Hintergrund, vor dem hier und da exzentrische Blitze aufleuchten – Blitze, die leicht Gefahr hätten laufen können, sich als die schlimmste Form kostspieliger Geschmacksverirrung zu erweisen, die in Wirklichkeit jedoch bezaubernd waren. Ihr fiel auch noch etwas anderes auf: Der Raum hätte ebenso gut wie ein Ausstellungsraum wirken können, der vor hundertfünfzig Jahren in einen Dornröschenschlaf gefallen war und bei dem jetzt nur noch die roten Samtkordeln fehlten, die die Besucher daran hinderten, die herrlichen Möbelstücke zu berühren. Aber diesen Eindruck erweckte er keineswegs. Der Raum war zum Bewohnen gedacht und hatte eine freundliche, einladende und gemütliche Atmosphäre.

Sie setzten sich vor den weißen Kamin im Adam-Stil. Über dem Kamin hing ein von Thomas Lawrence gemaltes Portrait von Elizabeth Thaxton, jener berühmten Schönheit des Regency, und in dem gefliesten Kamin stand eine gigantische Vase mit karmesinroten Gladiolen. Sally war gerade in den Anblick der faszinierenden Elizabeth versunken, als sich die Tür öffnete und ein junger Mann den Raum betrat. Er war die erste Person, die ihr hier begegnete, die ganz und gar nicht in dieses Haus passte.

Er war relativ hochgewachsen, aber da er seine schmalen Schultern gebeugt hielt, wirkte er kleiner. Seine Bewegungen hatten etwas Eckiges, Ungelenkes, und seine zerknitterte Flanellhose schien ihm nicht recht zu passen. Seine schwarzen Haare waren strähnig und ein wenig unordentlich, und sein bleiches Gesicht wurde von einer Hornbrille mit unglaublich dicken Gläsern entstellt. Er sah aus wie ein Student irgendeiner Provinzuniversität, doch kaum war Sally dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, schämte sie sich für ihren Snobismus. Der junge Mann hatte etwas Mitleiderregendes.

Mercator stellte ihn ihr vor. »Mrs Heldar, dies ist Cecil Deane, mein Sekretär.«

Deane schüttelte ihr schlaff die Hand und murmelte etwas, das nur halb verständlich war. Dann begrüßte er Johnny, stolperte über eine Fußbank und setzte sich schließlich ungelenk auf einen der brokatbespannten Sessel.

Der Butler brachte den Tee, und Mercator bat Sally, ihnen einzuschenken. Die georgianische Teekanne war aus Silber und das Geschirr aus Coalport-Porzellan. Deane erhob sich, um die Tassen und Teller zu verteilen, und Sally erwischte sich dabei, wie sie ein stummes Gebet gen Himmel schickte, er möge keines dieser kostbaren Stücke fallen lassen. Aber obwohl sie auf diese Weise sowohl mit der Bewunderung ihrer Umgebung beschäftigt war als auch mit der Angst, es könnte etwas zu Bruch gehen, merkte sie doch, dass Mercator sie unverwandt betrachtete, während sie dort jenseits des Tabletts mit Teegeschirr saß. Sie empfand diese stille Beobachtung als ein wenig verwirrend, doch sie war sich sicher, dass er es im Wesentlichen freundlich meinte.

Nachdem er eine oder zwei Minuten auf diese Weise hatte verstreichen lassen, ergriff er wieder das Wort. Sein Beitrag zu ihrem Tischgespräch war unbeschwert, charmant und geistreich zugleich, und er achtete stets darauf, dass er das Gespräch nicht an sich riss. Johnny und Sally fiel es daher nicht schwer, sich lebhaft an der Unterhaltung zu beteiligen. Deane hingegen sagte so gut wie kein Wort, trotz aller Versuche, ihn aus der Reserve zu locken. Er war in diesem Umfeld ganz offenbar fehl am Platze und war sich dessen vielleicht auch schmerzlich bewusst, dachte Sally. Sie vermutete zunächst, dass er noch nicht lange für Mercator arbeitete, denn es war ja gut möglich, dass dieser erst, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, einen Privatsekretär eingestellt hatte. Doch dann erfuhr sie zu ihrer Überraschung, dass er bereits seit drei Jahren für Sir Mark arbeitete. Aber vielleicht stellte Westwater Manor ja eine vollkommen andere Herausforderung für ihn dar, als es das Haus in Hampstead gewesen war. Kaum war die Mahlzeit beendet, murmelte er eine Entschuldigung und verließ den Salon.

Bald darauf meinte Mercator, er würde den Heldars gerne das Haus zeigen, und sie traten auf den Flur hinaus.

Die Haupträume lagen alle im mittleren Teil des Gebäudes, der auf die Terrasse hinausging. Unmittelbar neben dem Salon befand sich die Bibliothek, ein großer, quadratischer Raum, dessen vollgepackte Bücherregale bis knapp einen Meter unterhalb der hohen Decke reichten. Sally war ein wenig entsetzt über das gewaltige Ausmaß der Aufgabe, die sie hier erwartete, aber Johnny schien den Anblick recht entspannt aufzunehmen. Neben der Bibliothek lag die große Halle und am anderen Ende des Flurs war Mercators Arbeitszimmer – ein freundlicher Raum, der zwar ganz offenbar der Arbeit diente, aber durchaus nicht rein funktional wirkte. Die Einrichtung bestand aus einem massiven Schreibtisch und einigen alten Ohrensesseln, und über dem Kaminsims hing das Portrait eines jungen Mädchens. Ihr Gesicht, das vor einem dunklen Hintergrund schwebte, war ein klar umrissenes Oval mit feinen Gesichtszügen und einer fast durchsichtigen, blassen Haut. Ihre sanften, blauen Augen waren von Lachen erfüllt, und ihre Haare leuchteten so rotbraun wie herbstliches Buchenlaub. Es war eine flüchtige Ähnlichkeit zu Mercator selbst zu erkennen, und Sally erriet die Identität des Mädchens just in dem Augenblick, als Mercator sagte: »Das ist meine Tochter. Ein Portrait von Sargent.«

»Sie ist wunderschön«, sagte Sally. Es schien ihr, als wäre das der einzig angemessene Kommentar.

Mercator lächelte und sah Johnny an. »Ja. Sie ist wunderschön«, sagte er.

Hinter dem Arbeitszimmer, in der südöstlichen Ecke des Hauses, war der Speisesaal und nebenan, im Ostflügel des Hauses, das Frühstückszimmer. Der Rest des Ostflügels war den Unterkünften der Dienstboten vorbehalten. Mercator erklärte ihnen, dass er keine Haushälterin habe, da er es vorziehe, seine Mahlzeiten selbst zusammenzustellen, weshalb er auch in der Küche umherwandern könne, wie es ihm gerade beliebte. Und gerade in der Küche waren die von ihm vorgenommenen Neuerungen am deutlichsten zu erkennen. Es war für jede nur denkbare moderne Annehmlichkeit gesorgt worden, die seinen Dienstboten das Leben erleichtern sollte, und es war nicht zu verkennen, dass sie dies zu schätzen wussten. Selbst der französische Koch, der gerade vor dem großen elektrischen Herd stand, irgendeine geheimnisvolle Sauce umrührte und dabei vor sich hin murmelte, war es ganz offenbar nicht nur gewohnt, seinen Arbeitgeber in der Küche zu begrüßen, sondern zeigte sich sogar hocherfreut.

Sie schauten sich auch den Westflügel an, in dem sich das Büro des Verwalters, ein Rauchsalon aus dem neunzehnten Jahrhundert und die Waffenkammer befanden. Dann gingen sie ins obere Stockwerk, wo sie sich die Bildergalerie und noch einige andere Räume anschauten. Zum Schluss brachte Mercator sie noch zu den Stallungen, die auf der Ostseite des Hauses gelegen waren, und zeigte ihnen die Veränderungen, die er dort vorgenommen hatte. Als sie ins Haus zurückkehrten, ertönte bereits der Gong, der das Zeichen zum Umkleiden gab.

Sally schminkte sich gerade, als Johnny aus ihrem privaten Bad zurück ins Zimmer kam. Er schlenderte zu ihr hinüber, stellte sich hinter sie, und sie lächelten sich im Spiegel an.

»Sehr schön«, sagte er. »Aber nicht ganz so gemütlich wie unsere Wohnung.«

»Nein«, stimmte Sally ihm feierlich zu.

Johnny fragte unvermittelt: »Macht es dir was aus, dass ich dir so etwas wie das hier nicht bieten kann?«

»Ob es mir was ausmacht? Was ausmacht?«

»Schon gut«, sagte Johnny und klang dabei geradezu absurd erleichtert. »Ich wollte nur sichergehen.«

***

Gelegentlich gönnten sich die Heldars einen besonderen Abend, an dem sie ausgingen und in einem Restaurant dinierten, aber nach dem Essen, das ihnen bei Mercator serviert wurde, waren sich beide einig, dass sie noch nie eine bessere Mahlzeit zu sich genommen hatten. Ganz offenbar gehörte der französische Koch zu Mercators kostbarsten Schätzen. Das Gleiche ließ sich jedoch auch über seinen Burgunderwein sagen. Der Speisesaal von Westwater Manor gab eine würdige Umgebung für das Mahl ab, und Mercator selbst zeigte sich von seiner geistreichsten und charmantesten Seite. Das Einzige, was Sally an dem Abend auszusetzen hatte, war der Umstand, dass Mercators Vorbild bei Deane keinerlei Spuren zu hinterlassen schien. Er war genauso schweigsam, wie er es beim Tee gewesen war, und sie hatten kaum Antoines exquisiten Kaffee und Mercators hervorragenden Cognac getrunken, da murmelte er auch schon wieder eine Entschuldigung, wünschte ihnen gute Nacht und verschwand.

Mercator nahm die Heldars für einen kurzen Spaziergang durch den Garten mit nach draußen, und dann brachte er sie, da er im Verlauf des Abends entdeckt hatte, dass sie sein Interesse an der Musik teilten, wieder in den Salon zurück und öffnete einen großen Sheraton-Schrank, der Grammophonplatten enthielt.

»Vielleicht mögen Sie ja etwas auswählen«, sagte er. »Meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher.«

Nachdem sie ein wenig hin und her diskutiert hatten, entschied Johnny sich für Brahms’ Variationen über ein Thema von Haydn, legte die Platte in die große Musiktruhe, und sie setzten sich, um zuzuhören.

Sie hatten der Musik gerade mal fünf Minuten gelauscht, als ihr Hörgenuss unsanft unterbrochen wurde. Auf der Terrasse waren schwere Schritte zu hören, und als Sally aufblickte, sah sie, wie ein kleiner, beleibter, in einen Smoking gekleideter Herr mit backsteinrotem Gesicht an der offenstehenden Terrassentür auftauchte. Im nächsten Moment kam er wie ein wütender Stier in den Raum gestürmt.

»Aha!«, rief er. »Also hier sind Sie, Mercator! Haben Sie meinen Brief bekommen?«

»Ja, das habe ich«, antwortete Mercator freundlich. »Kommen Sie doch herein, mein Freund, kommen Sie! Ich freue mich, Sie zu sehen.«

Diese Einladung schien den Besucher noch mehr aufzuregen. Sein Gesicht nahm eine dunkelrote Farbe an. »Also?«, fragte er trotzig. Dann folgte er Mercators vorwurfsvollem Blick, entdeckte Sally und machte eine kleine Verbeugung. »Verzeihen Sie, Madam.«

Mercators Augen funkelten amüsiert. »Mrs Heldar, erlauben Sie, dass ich Ihnen Colonel Danby vorstelle, meinen Nachbarn – auch wenn er dies, leider Gottes, nicht mehr lange bleiben wird!«

»Aber das ist es ja gerade!«, brüllte der Colonel triumphal. Dann erinnerte er sich an Sallys Gegenwart, senkte hastig die Stimme und murmelte ein Wort der Begrüßung. Johnny, der sich erhoben hatte, wurde nun ebenfalls vorgestellt. Der Colonel widmete ihm gerade so viel Zeit, wie es die Höflichkeit erforderte, und wandte sich dann wieder an Mercator.

»Ah, ja, mein lieber Freund«, sagte Mercator daraufhin. »Ihr Brief –«

Sally murmelte: »Wenn Sie geschäftliche Dinge besprechen möchten, Sir Mark, dann sollten Johnny und ich uns vielleicht einmal in der Bibliothek umsehen.«

»Nein, nein!«, sagte Mercator. »Auf keinen Fall, meine liebe Mrs Heldar. Sie und Ihr Mann bleiben hier und sorgen für Fairplay, wie es die Engländer so schön sagen.«

Sally fand ihren ursprünglichen Verdacht, dass er ein Spiel mit dem Colonel spielte, bestätigt, und setzte sich wieder. Sie warf Johnny einen Blick zu. Der feierliche Gesichtsausdruck, mit dem er ihren Blick erwiderte, hatte den gleichen Effekt, als würde er ihr zuzwinkern.

»Tja, wenn Sie darauf bestehen«, brummte der Colonel beleidigt.

»Aber ich stehe Ihnen natürlich voll und ganz zu Diensten. Setzen Sie sich, kommen Sie, setzen Sie sich doch! Entschuldigen Sie mich einen Moment, ich muss das Grammophon ausschalten. Ich weiß, dass Ihnen an Musik nichts liegt.«

Nachdem er das erledigt hatte, kehrte er wieder zu seinem Sessel zurück, setzte sich und lächelte den Colonel mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit an.

»Nun?«, fragte Danby. »Was werden Sie dagegen unternehmen?« Der triumphierende Klang war in seine Stimme zurückgekehrt.

Mercator zuckte die Achseln und breitete seine Hände aus. Die Geste hatte den erwünschten Erfolg.

»Verdammt nochmal, Sir!«, brüllte der Colonel. Dann drehte er sich hastig zu Sally um. »Verzeihen Sie, Mrs Heldar.« Als er weitersprach, bemühte er sich leiser zu sprechen, was ihm jedoch eine geradezu qualvolle Mühe zu bereiten schien. »Es bleibt Ihnen nur eins übrig. Das habe ich Ihnen schon in meinem Brief erklärt. Wenn ich nicht gerade oben in Schottland gewesen wäre, dann wäre ich sofort hergekommen, als ich das mit Richard gehört habe. Stoppen Sie den Bau Ihrer verdamm – Ihrer schrecklichen Farm! Sie können nicht auf einem Stück Land bauen, das Ihnen nicht gehört, Sir! Und wenn Sie es doch versuchen sollten, werde ich Maßnahmen ergreifen! Jetzt, da Richard am Leben ist, sieht die Sache schließlich ganz anders aus.« Er rieb sich befriedigt die feisten Hände.

»Ach, meinen Sie?«, fragte Mercator geringschätzig.

»Das meine ich nicht nur, das weiß ich, Sir! Ich bin hier in der Gegend schließlich der Friedensrichter. Sie müssen den Bau stoppen. Und sobald Richard wieder hier ist, wird er Ihre scheußliche Konstruktion einreißen lassen. Das Ding verdirbt kilometerweit die Aussicht und ruiniert mir den Fluss. Die Fische kommen da überhaupt nicht mehr hoch, seit Sie dieses Ungeheuer von einem Damm ins Wasser gebaut haben. Richard wird das nie im Leben zulassen. Dafür liegt ihm die Landschaft viel zu sehr am Herzen. Und außerdem nimmt er im Gegensatz zu Ihnen Rücksicht auf seine Nachbarn.«

»Aber das wäre doch unendlich schade!«, rief Mercator. »Meine schönen Gebäude – sie sind fast fertig. Ich werde Richard auf jeden Fall raten, sie zu behalten. Wenn er für einen ordentlichen Betrieb sorgt, wird die Farm ihm sehr viel Geld einbringen.«

Nach diesen Worten vergaß der Colonel Sallys und Johnnys Anwesenheit vollkommen und brüllte mit seiner Kasernenhofstimme derartig laut los, dass die Porzellanfiguren auf dem Kaminsims erzitterten. Dabei erging er sich in einer wirren, zornentbrannten Tirade über ländliche Lebensqualität und die Rechte von Uferanliegern. Mercator hörte ihm eine Weile zu, um schließlich selbst in einen erbitterten Wutanfall auszubrechen. Er kramte aus seinem Repertoire die unterschiedlichsten Zornesgesten und empörten Gebärden hervor und schleuderte seinem Gegenüber in mehreren Sprachen Beleidigungen an den Kopf. Sally fiel jedoch auf, dass Mercators Beleidigungen eher malerischer Natur waren, statt wirklich verletzend gemeint zu sein, auch wenn sie nicht ganz sicher war, ob das dem Colonel ebenfalls klar war. Jedenfalls war sie davon nicht im Geringsten peinlich berührt. Es machte ihr sogar Spaß, bis zu dem Moment, als der Colonel und Mercator von ihren Stühlen hochfuhren, und das Gesicht des Colonels einen bedrohlichen Ausdruck annahm. Als sie daraufhin erneut Johnny ansah, stellte sie fest, dass er sich ebenfalls erhoben hatte.

»Meine Herren, bitte!«, sagte er beschwichtigend. Sally glaubte, er würde sie nun daran erinnern, dass eine Dame anwesend war, aber offenbar scheute er davor dann doch zurück. Es war auch gar nicht notwendig. Mercators Wut verpuffte sofort. Der Colonel hingegen wandte Johnny sein zorniges Gesicht zu und öffnete den Mund, um ihn anzubrüllen, schloss ihn dann jedoch sofort wieder.

»Verzeihen Sie«, sagte er brüsk. »Sie haben ja recht, mein Junge.« Er wandte sich erneut an Sally. »Bitte verzeihen Sie, Mrs Heldar. Das war unentschuldbar. Ich hoffe, wir haben Ihnen keine Angst eingejagt.«

Sally neigte den Kopf. Daraufhin wandte er sich Mercator zu, nickte steif und sagte: »Wir besprechen die Sache ein anderes Mal. Gute Nacht.« Dann drehte er sich um, marschierte zur Terrassentür hinaus, und sie hörten, wie sich seine Schritte entfernten.

»Mrs Heldar«, sagte Mercator. »Ich muss mich ebenfalls bei Ihnen entschuldigen, auch wenn ich Sie nicht fragen werde, ob wir Ihnen Angst eingejagt haben. Aber ich kann Danby einfach nicht widerstehen. Er liebt es, wenn man sich so richtig in die Haare gerät.«

»Fast ebenso sehr wie Sie«, sagte Sally und lächelte ihn an.

Er schenkte ihr im Gegenzug ein amüsiertes Lächeln, das fast schon liebevoll war. »Wie recht Sie haben, meine Liebe!«, sagte er. »Und wie umsichtig Ihr Gatte eingeschritten ist, gerade zur rechten Zeit!« Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass der Colonel von seinem Haus aus mehr als nur eine Giebelspitze von meiner Farm sehen kann, und ich glaube auch nicht, dass die Farm auch nur im Geringsten Anstoß erregen wird – das heißt, gesetzt den Fall, Richard entscheidet sich dafür, sie fertigzustellen. Und ich habe sogar einen kleinen Seitenarm für die Fische angelegt, über den sie hochschwimmen können. Ich habe mich von allen möglichen Experten beraten lassen, und die Pläne sind genehmigt worden, also weiß ich verdammt nochmal – oh, entschuldigen Sie bitte, Mrs Heldar, ich habe diesen Fluch hauptsächlich wegen des netten Wortspiels benutzt – dass mein Damm die Anglerfreuden des Colonels in keiner Weise beeinträchtigen wird. Aber er will das einfach nicht glauben, und es wäre natürlich auch sehr langweilig, wenn er es täte. Schön, dann lassen Sie uns weiter der Musik zuhören, ja?«

Als der Brahms zu Ende war, legte Johnny Bachs Arie »Schafe können sicher weiden« auf. Der Friede war in das wunderschöne Zimmer zurückgekehrt. Sally lehnte sich in ihrem Sessel zurück, sah zu Johnny hinüber, der auf dem Sofa saß, und stellte fest, dass er sie ebenfalls ansah. Im nächsten Moment wurde der Friede erneut zerschlagen, diesmal jedoch nahezu geräuschlos.

Sally wurde sich der Gegenwart einer weiteren Person im Raum bewusst und als sie aufschaute, sah sie einen jungen Mann in einer der Terrassentüren stehen. Einen Moment lang verharrte er derart bewegungslos an Ort und Stelle, dass sie sich fragte, ob auf Westwater Manor ein Geist spukte. Aber er war kein Thaxton, falls man die Familienportraits als Orientierung heranziehen konnte. Er hatte weder den obligatorischen Rotschopf der Thaxtons – denn er war blond – noch hatte er jemals über deren vollendete Schönheit verfügt, auch wenn er früher einmal gut ausgesehen haben mochte. Sein Gesicht war blass und wirkte merkwürdig ausgezehrt, und Sally fragte sich, ob er krank war. Doch dann sagte er etwas, und seine belegte, schleppende Stimme ließ erkennen, was tatsächlich mit ihm nicht stimmte: Wenn er krank war, dann wegen langjähriger Trinkerei.

»Also hier sind Sie.« Er sprach sehr leise, doch dieser leise Ton war wesentlich verstörender, als es das Gebrüll des Colonels gewesen war.

Mercator stand auf. »Verzeihen Sie, Mrs Heldar«, sagte er. »Ja, hier bin ich, Willesdon. Wenn Sie mit mir reden möchten, sollten wir besser in mein Arbeitszimmer gehen.«

»O nein!« Die Stimme klang zwar immer noch leise, aber der junge Mann war mittlerweile ein paar Schritte weit in den Raum hineingetreten. Er torkelte ein wenig. »O nein. Wir werden diese Auseinandersetzung vor Zeugen führen.«

»Ich habe Sie gebeten, in mein Arbeitszimmer zu kommen«, entgegnete Mercator ruhig.

»Als wäre ich ein ungezogener Junge, der zum Schuldirektor gerufen wird?« Die Stimme wurde ein wenig lauter. »Nein, vielen Dank auch, Mercator. Wir werden das hier und jetzt austragen. Ich will meinen Arbeitsplatz zurück, und zwar sofort. Die Dinge werden sich mit Richards Heimkehr ändern. Er wird mir meinen Posten sicherlich zurückgeben, auch wenn Sie sich weigern. Also stellen Sie mich besser jetzt direkt wieder ein, um weitere Unannehmlichkeiten zu vermeiden.« Er machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Sein Gesichtsausdruck wirkte bedrohlich.

Mercator bewegte sich nicht von der Stelle. »Heldar«, sagte er. »Würden Sie mit Ihrer Frau bitte in die Bibliothek hinübergehen?«

»Das mache ich, Sir«, sagte Johnny. »Aber dann werde ich hierher zurückkehren, wenn es Ihnen recht ist.«

»Das wäre vielleicht keine schlechte Idee. Vielen Dank.«

»Eine verdammt gute Idee«, sagte der junge Mann. »Dann habe ich einen Zeugen. Und der sieht auch nicht wie ein dreckiger Jude aus.«

Sally spürte, wie Johnnys Hand sich um ihren Arm verkrampfte. Dann verließ er mit ihr zusammen den Raum und begleitete sie in die Bibliothek.

»Sei vorsichtig«, sagte sie, auch wenn ihr bewusst war, dass das eine recht unsinnige Warnung war. Johnny war sehr viel kräftiger als der junge Mann im Salon und achtete auch stets darauf, dass er sich in bester körperlicher Verfassung befand. Außerdem war er im Krieg Kommandoführer gewesen.

Er blieb mit seiner großen, beruhigenden Gegenwart noch kurz neben ihr stehen und schaute zu ihr herunter. Er war ein wenig weiß im Gesicht, was bei einem Heldar immer ein Zeichen von Wut war, aber er lächelte sie an. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er und verließ den Raum.

Das Haus hatte dicke Wände. Eine ganze Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, hörte Sally überhaupt nichts. Dann ertönte Willesdons Stimme auf der Terrasse, der laut gegen irgendetwas zu protestieren schien. Es folgten einige nur schwach vernehmbare Geräusche, die auf eine Handgreiflichkeit hinzuweisen schienen, und dann herrschte Stille.

Ein paar Minuten später kehrte Johnny wieder zurück. Seine Gesichtsfarbe war wieder normal, und er sah auch nicht im Geringsten derangiert aus. Als sie ihn fragend ansah, sagte er: »Nicht jetzt. Komm mit, Darling.«

Als sie in den Salon zurückkehrten, stand Mercator vor dem Kamin. »Dieses Mal muss ich mich sehr wohl bei Ihnen entschuldigen, Mrs Heldar«, sagte er. »Es tut mir außerordentlich leid, dass Sie einen derart unerquicklichen Vorfall haben mitansehen müssen. Ich kann nur sagen, dass er sich dank dem Eingreifen Ihres Gatten hoffentlich nicht wiederholen wird.«

***

Johnny kam in seinem Schlafanzug aus dem Ankleidezimmer und setzte sich neben sie auf die niedrige Fensterbank. Beide Fenster standen weit offen, und die Luft war vom Duft nächtlicher Blüten erfüllt.

»Ich denke, ich darf dir erzählen, worum es bei dem ganzen Tamtam ging«, sagte er. »Willesdon war ein Kamerad von Richard bei der Royal Air Force. Wenige Monate, bevor Richard nach Korea ging, schloss Willesdon seinen Armeedienst ab, und als der alte Thaxton sich das Genick brach, hat Richard ihn hier auf Westwater zum Grundstücksverwalter gemacht. Der alte Verwalter setzte sich gerade zur Ruhe. Doch es war ohne Zweifel eine äußerst unkluge Entscheidung von Richard, Willesdon diesen Posten zu geben, denn der hatte absolut keine Ahnung, wie man ein solches Anwesen führt, und er ist nicht mal auf dem Land aufgewachsen. Als Mercator sich die Lage anschaute, stellte er fest, dass Willesdon die meiste Zeit sturzbetrunken und selbst im nüchternen Zustand absolut unfähig war. Also hat er ihn rausgeschmissen. Er hat niemand anderen eingestellt, sondern die Verwaltung selbst übernommen, und ich könnte mir vorstellen, dass er das sehr gut macht. Willesdon hat es, glaube ich, zunächst nicht gewagt, sich zu beschweren, sondern erst, als er gehört hat, dass Richard noch am Leben ist. Und selbst dann hat er sich ordentlich mit Gin Mut angetrunken, bevor er sich traute, hierherzukommen und Mercator zur Rede zu stellen. Ich glaube, er ist nach seiner Entlassung wieder nach London gezogen. Die Entscheidung liegt jetzt natürlich bei Richard, aber er wäre ein Narr, wenn er Willesdon wieder einstellen würde.«

»Was hast du mit ihm gemacht?«

»Ich habe ihn mit einem Tritt die Terrassenstufen hinunterbefördert, wenn du’s unbedingt wissen willst. Es tut mir leid, mein Schatz, das war für dich eine unschöne Szene.«

»Mach dir da mal keine Gedanken. Und die Sache mit dem Colonel hat mir richtig Spaß gemacht.«

Johnny lachte. »Das war ein gemeines kleines Schauspiel, das Mercator da in Szene gesetzt hat. Wie er sich als den ausschweifenden, aufbrausenden Fremden gegeben hat, mit einem Schuss Dilettantismus und einem Hauch von Emporkömmling – nichts wäre besser geeignet gewesen, um den Colonel in Rage zu versetzen. Danby stammt aus einer anderen Zeit. Ich wusste gar nicht, dass solche Leute überhaupt noch existieren!«

»Ich mag ihn eigentlich, muss ich sagen«, meinte Sally nachdenklich. »Und Mercator habe ich regelrecht liebgewonnen!«