Mord bei den Festspielen - Sibylle Luise Binder - E-Book
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Mord bei den Festspielen E-Book

Sibylle Luise Binder

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Bei den Festspielen in Bregenz am Bodensee wird Verdis „Don Carlos“ geprobt. Im Mittelpunkt steht Mario Miercoledi, der zum Bariton mutierte Ex-Supertenor. Doch so sehr ihn seine Fans verehren, so verhasst ist er bei den Kollegen. Darum wundert es auch niemanden, als er umgebracht wird. Doch wer war es? Alle scheinen verdächtig und die Polizei tappt im Dunkeln. Doch Regieassistentin Victoria Benning kennt ihre Szene und ist neugierig genug, um die Nase in diese Angelegenheit zu stecken.

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Sibylle Luise Binder

Mord bei den Festspielen

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Christian Bieri / stock.adobe.com

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6288-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1: Warum immer ich?

Lindau am Bodensee, Mitte Juli 2018

Verflixter, elender Mist! Warum muss so was immer mir passieren? Ich tue doch niemandem was! Warum hat es scheinbar trotzdem die halbe Welt auf mich abgesehen? Und der hier meint es wirklich ernst. Lucas behauptet ja manchmal, ich sei etwas »harmlos«, und er mag insofern recht haben, dass ich grundsätzlich an das Gute im Menschen glaube, aber der da oben – ne, also gute Absichten hat der nicht! Der will mir an den Kragen – oder welchen anderen Grund könnte der Fahrer eines Motorboots haben, nun schon das dritte Mal auf eine Schwimmerin draufzuhalten?

Er kommt direkt auf mich zu und der Scheinwerfer, den er vorne auf seinem Boot hat, blendet mich. Das Dröhnen seines Motors füllt die Nacht und ich frage mich, wo Lucas ist. Ich weiß, dass er einen sagenhaft tiefen Schlaf hat, aber bei dem Krach muss er doch aufgewacht sein!

Hoffentlich ist er nicht ins Wasser gegangen. Er kann mir nicht helfen, er kann nur ein zusätzliches Ziel für meinen Angreifer bieten.

Oh, verflixt – ich muss hier weg. Aber dummerweise war Schwimmen noch nie meine Stärke und meine Kondition ist unter aller Kanone. Gerade darum verstehe ich nicht mehr, wie ich so behämmert sein konnte, mitten in der Nacht in einer Bucht im Bodensee baden gehen zu wollen? Aber Himmel, man kann doch nicht damit rechnen, dass ein Verrückter mit einem Speedboot über einen drüber mangeln will!

Ich hatte schon Ärger geahnt, als das Ding zum ersten Mal an mir vorbeigeprescht war. Es sah selbst als Silhouette im Dunkel aggressiv aus mit seiner langen Motorhaube und dem kurzen Führerstand. Und dann schaltete der Bootsführer die zwei starken Scheinwerfer an, die an einem Bügel über ihm angebracht waren. Ich erkannte, dass das Schnellboot schwarz lackiert war. Und auf einer Seite zog sich eine giftig gelbe Nummer über die Seite hoch zur Motorhaube.

Ich kann mir nicht helfen, aber das Ding erinnert mich an die aufgemotzten, tiefergelegten, mit Breitreifen und Zierspeichen versehenen, fast immer schwarz lackierten Gefährte eines bayrischen Automobilbauers, deren Auftauchen auf der Autobahn hinter einem immer Ärger bedeutet. Ich fahre selbst zügig – mein Ehegespons sagt sogar, mein Fahrstil sei mit »gesengte Sau« zutreffend beschrieben –, aber das hält die Möchtegern-Rennfahrer am Steuer dieser Potenzkrücken nicht davon ab, mir mit der Lichthupe in den Kofferraum zu steigen.

Ich finde das schon auf der Straße unangenehm, obwohl ich da ja in meiner mit allen denkbaren Sicherheitseinrichtungen ausgestatteten Blechbüchse sitze. Wie ich es finde, wenn ich nackt in einem See rumpaddle, brauche ich wohl nicht weiter auszuführen.

Er ist nur noch ein paar Meter entfernt – und was mache ich jetzt? Den Weg zum Ufer hat er mir abgeschnitten und auf den See raus – dazu bin ich nicht schnell genug. Ergo habe ich nur eine Chance: abwärts! Da kann er mir weder folgen, noch kann er mich sehen. Und ich wiederum habe beim Abtauchen einen Vorteil: Ich kann atmen.

Wie? Ja, klar, jeder kann atmen. Ohne diese grundlegende Fertigkeit wäre ein Individuum aus der Spezies Homo sapiens nicht überlebensfähig. Aber was ich meine: Ich kann ein bisschen besser atmen als andere. Ich habe es nämlich gelernt und geübt. Ich habe Kirchenmusik studiert. Dabei muss man singen – man sollte ja einen Chor leiten und den Chormitgliedern eins vorjodeln können. Ergo muss man zum Gesangsunterricht und zu dem wiederum gehört, dass man atmen lernt.

Also, erst mal versuchen, die Aufregung runterzufahren. Mit flatterndem Zwerchfell ist nicht gut atmen. Dann Bauch entspannen, ganz tief Luft holen. Trotz Panik ruhig bleiben und sich vorstellen, wie jedes Lungenbläschen sich entfaltet und mit Sauerstoff auflädt. So. Die Lunge ist voll und darum kann ich jetzt ausatmen – und zusehen, dass ich verschwinde, denn jetzt schwappt mir schon die Bugwelle des Bootes ins Gesicht.

Nicht ablenken lassen! Wie hat meine Mutter früher vorgesungen? »Alle meine Entchen schwimmen auf dem See, Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh’.« Bei mir ging die Kehrseite in die Höh’ und ich versuchte, mit kräftigen Fußschlägen so schnell wie möglich so tief wie möglich zu kommen.

Doch das war gar nicht so einfach, denn das Boot war über mir und wühlte das Wasser auf. Der Sog zog mich nach oben, auf die Schrauben – das schwarze Monster hatte gleich zwei davon und entsprechend Power – zu. Dabei wollte mich das Wasser herumwirbeln und mir damit die Orientierung nehmen! Ich strampelte und kämpfte, ruderte mit Armen und Beinen, ich hatte vermutlich mehr Adrenalin als Blut in den Adern, aber jetzt war das Boot über mir weg und das Wasser beruhigte sich ein wenig. Aber ich hatte Probleme. Meine Oberschenkelmuskeln brannten, in meinem kaputten Knie hämmerte es und ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Dabei fühlte sich meine Lunge an, als ob sie gleich in den Streik treten würde, und ich strampelte – und verdammt, Apnoetauchen hat mich noch nie gereizt und ich will bestimmt nicht im Bodensee ersaufen!

Victoria, benutz deinen Verstand! Es muss auch im Dunkeln eine Möglichkeit geben, den Unterschied zwischen oben und unten festzustellen, und eine davon ist, das Wasser zu beobachten. Je näher es der Oberfläche ist, desto bewegter ist es, also aufhören zu strampeln, ausstrecken, versuchen, die Wellen zu spüren – oh Mensch, ich brauche Luft! Mein Kopf dröhnte, in meiner Brust bildete sich ein dumpfer Schmerz.

Ich setzte alles auf eine Karte und schwamm aufwärts – beziehungsweise dahin, wo ich aufwärts vermutete. Und da war ein Geräusch, ein tiefes Brummen und gleichzeitig spürte ich Wellen und reckte den Hals. Mein Kopf brach durch die Wasseroberfläche, ich spürte den Wind auf meiner nassen Haut, ich japste und schnappte nach Luft – und das fühlte sich gut an! Ich schloss für einen Moment die Augen und trank den Sauerstoff, der wie prickelnder Champagner war.

Aber da war dieses Brummen und jetzt war es noch lauter. Bevor ich darüber nachdenken konnte, schwamm ich in Richtung des Geräuschs. Aber da war jetzt auch ein hellerer Ton und ich sah Licht – mein Angreifer war wieder da und er schien mich zu suchen. Seine großen Scheinwerfer tasteten nur ein paar Meter von mir entfernt über das Wasser. Tja, Freundchen – so blöd, dass ich dir in den Lichtkegel schwimme, bin ich nicht! Ich versuchte, ganz flach an der Oberfläche zu bleiben, und verbarg mein Gesicht halb im Wasser, drehte den Kopf nur leicht seitlich, um atmen zu können.

Das Brummen schien weg zu sein, aber dafür merkte ich, wie meine überforderten Beinmuskeln krampften. Und ich fror! Es war, als ob die Kälte des Sees durch meine Haut drang und die Muskeln auskühlte. Ob ich wärmer wäre, wenn ich nicht nackt wäre? Vorher, als ich ins Wasser gegangen war, war es angenehm gewesen, aber jetzt …

Jetzt war mein Angreifer wieder aktiv. Er schien mich gesehen zu haben und steuerte auf mich zu. Ich wechselte vom Brustschwimmen zum Kraulen – und da vorne, der dunkle Schatten! Das könnte der Steg sein, von dem aus ich ins Wasser gesprungen bin! Wenn ich an den rankommen würde, könnte mir der Typ mit dem Boot nicht mehr folgen!

Ich schaffte es nicht. Er schnitt mir den Weg ab und kam wieder auf mich zu. Ich wusste, dass ich eigentlich abtauchen sollte, aber gleichzeitig war mir klar, dass ich die Kraft nicht mehr hatte. Ich spürte Salz auf meinen Lippen und wusste: Das war nicht der See, sondern meine Tränen. Frust, Enttäuschung, Erschöpfung, Angst – ja, vor allem Angst. Und warum ist dieser Bootsfahrer hinter mir her? Ist das für ihn ein Späßchen? Er hat zufällig in dieser einsamen Bucht eine nackte Schwimmerin entdeckt und macht jetzt Jagd auf sie? Einfach so?

Sehr zielsicher war er nicht, jedenfalls nicht, was den Steg anging. Er drehte zu spät ab, sein Boot schrappte an den Holzplanken entlang, eine flog in die Luft. Ich hoffe, er hat sich den Lack seiner Motorhaube schön zerkratzt!

Vorher, als er eine besonders scharfe Wendung gefahren war, hatte ich eine Frau kreischen gehört. Veranstaltet der Typ die Jagd auf mich, um seiner Begleiterin zu imponieren? Wie pervers ist das denn? Wer kommt denn darauf, jemand anderen aus Jux und Tollerei in Gefahr zu bringen und in Todesangst zu versetzen? Andererseits kann so was wohl nur mir passieren! Romantischer Abend mit dem Ehemann, ein Bad im Mondschein – und ich werd dabei ersäuft!

Die Kreise, die das Boot um mich zog, wurden immer enger. Ich musste gleich wieder abtauchen – und dabei war ich so kalt und müde! Und wo ist Lucas? Kann’s denn sein, dass er all das verschläft?

Oh nein – da sind noch mehr Scheinwerfer! Mein erster Verfolger war südwestlich von mir, doch nun sah ich Licht aus Nordosten. Es war stärker als das meines ursprünglichen Verfolgers, näherte sich schnell und das dazu gehörende Motorengeräusch war ein sonores Brummen – genau das, das ich vorher schon gehört hatte. Und über dem Brummen das »swisch-swisch« einer Schraube – der, der da neu dazugekommen war, schien einen stärkeren Motor zu haben als Nummer eins.

Nun drehte das Boot, das Kreise um mich gezogen hatte, ab und fuhr dabei in den Lichtkegel des Größeren. Ich erkannte zwei dunkle Gestalten in dem Speedboot.

Eine elektrisch verstärkte Stimme tönte über das Wasser: »Hier spricht die Polizei! Stellen Sie den Motor ab. Wir kommen längsseits!«

Das Polizeiboot schob sich zwischen mich und das Schnellboot, einer der großen Scheinwerfer vorne auf dem Bootshaus war darauf fixiert, der andere schwenkte langsam über das Wasser. Und da war noch eine Stimme und mein Herz schlug schneller! Das war Lucas, der da rief! »Vic, hierher! Komm zum Steg!« Ach, wenn ich nur wüsste, wo der Steg ist! Und wenn meine Arme und Beine nicht so schwer wären! Ich hab doch schon Mühe, mich über Wasser zu halten! Ich wälzte mich herum – ja, der dunkle Schatten da hinten könnte der Steg sein.

Das Polizeiboot hob sein Licht und ich sah den Steg und darauf eine vertraute Gestalt. Lucas winkte und rief: »Komm – das schaffst du!« Seine Stimme machte mir Mut und ich biss die Zähne zusammen und schwamm auf den Steg zu.

Aber jetzt hörte ich wieder einen kleineren Motor und eine schnellere Schraube – kommt etwa der Verrückte auf mich zu? Will der mich vor den Augen der Polizei angreifen?

Nein. Der Motor des Speedbootes heulte auf, die Schnauze hob sich hoch aus dem Wasser und die Doppelschrauben wühlten weiße Gischt auf. Mein Angreifer drehte eine elegante Kurve und dann hielt er auf das offene Wasser zu. Er haute ab – und ich konnte es nicht bedauern.

Dafür kam ein anderes, kleineres Boot auf mich zu: Orange – ein Schlauchboot mit Außenbordmotor, zwei dunkle Gestalten darin. Einer hielt einen Ring und rief mir zu: »Vorsicht – Rettungsring kommt!« Ein weiß-roter Korkring kam auf mich zu und platschte neben mir ins Wasser. Ich warf einen Arm darüber, zog mich etwas näher daran, sodass ich den zweiten Arm darüber hängen und ausruhen konnte. Welch ein Luxus, diesen Ring zu haben, der mich trug und dafür sorgte, dass mein Kopf über Wasser blieb! Ich entspannte die Arme, legte das Kinn auf den Ring – erst mal verschnaufen. Gedanken darum, wie ich auf den Steg komme? Gleich. Jetzt erst einmal verschnaufen.

»Frau Benning, halten Sie sich gut fest – wir ziehen Sie zu uns her!«

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass der Rettungsring an einem Seil hing. Es wurde jetzt eingeholt, der Ring schien sich zu wehren, kam an einer Seite hoch, aber ich klammerte mich daran und mein Gewicht zog ihn wieder runter und dann war ich schon am Schlauchboot und zwei kräftige Hände fassten nach meinen. »Sehr gut!«, lobte der Polizist, der in einem orange-weißen Schutzanzug im Boot kniete. »Ich ziehe Sie jetzt vollends raus, ja?« Er beugte sich vor, ließ seine Hände an meinem Arm hinauf wandern, griff unter meine Achseln und mit einem Ruck zerrte er mich über den Gummiwulst ins Boot. Der Boden darin war weich, aber nass und kalt. Ich rollte mich zusammen und schloss die Augen, tiefe Erleichterung flutete durch mich und gleichzeitig war ich so, so müde! Aber der Polizist hatte die Hand auf meinem Arm und zerrte. »Können Sie sich aufrichten?«

Eigentlich wollte ich nicht. Ich wollte liegen bleiben und froh sein, dass ich nicht mehr schwimmen musste. Allerdings war mir schrecklich kalt und mein vernebeltes, erschöpftes Hirn sagte, ich solle dem Polizisten gehorchen. Er würde bestimmt eine Decke oder so etwas haben, irgendetwas Warmes. Und da legte er schon ein Tuch um mich, und als ich mich mehr aufrichtete, rubbelte er meinen Rücken und fragte: »Was war das denn? Wir dachten zuerst, das war ein blöder Scherz, aber der Typ war ja tatsächlich und ganz ernsthaft hinter Ihnen her! Waren Sie mit dem auf dem Motorboot oder wie ist das passiert?« Er wickelte das ganze Tuch um mich, sein Kollege unterdessen hatte das Schlauchboot in eine elegante Kurve gelegt und fuhr auf das große Polizeiboot zu, das am Steg angelegt hatte.

Ich schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, ich kenne den nicht und war auch nicht bei dem an Bord. Ich wollte nur ein bisschen schwimmen und abkühlen und plötzlich war der da und wollte mich überfahren!« Warum klapperten mir jetzt die Zähne? Ich fror immer mehr, obwohl der Polizist mich in eine graue Decke gewickelt hatte.

Das Schlauchboot war bei seinem Mutterschiff angekommen, der Bootsführer hatte Anlauf genommen und war mit Schwung auf eine Rampe gefahren. Hilfreiche Hände fassten nach mir und da war die vertraute Stimme, jetzt aber merkwürdig rau. »Vic – bist du in Ordnung?«

Ich ließ mich in Lucas’ Arme fallen. Er trug Jeans und Polohemd und ich spürte seine Wärme und seinen vertrauten, soliden Körper. Er schlang seine langen Arme um mich und drückte meinen Kopf an seine Schulter. »Ich habe so Angst um dich gehabt!«

Hinter ihm stand ein blonder, junger Mann in Uniform und sagte: »Frau Benning? Herr Benning? Wir sollten ins Warme gehen. Ich muss Frau Benning untersuchen. Ich bin Sanitäter.«

»Klar«, antwortete Lucas und hob mich einfach auf seine Arme. »Gehen Sie mir voraus?«

Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Mir war immer noch kalt. Aber in seiner Nähe wurde es besser. Ich fühlte mich geborgen und wollte einschlafen und erst in ein paar Tagen wieder aufwachen.

Der blonde Polizist unterdessen legte eine rote Fleece-Decke um mich, als Lucas mich in der kleinen Kabine auf die Bank setzte. Es gab nur einen Tisch, eine Eckbank dazu, zwei angeschraubte Stühle und eine kleine Theke, hinter der eine uniformierte Brünette eine Kaffeemaschine füllte.

Ihr Kollege fasste nach meinem Handgelenk. »Frau Benning?« Er schob die Manschette eines Blutdruckmessgerätes über meinen Arm und hielt mir ein Thermometer ans Ohr.

»Ist das nötig? Mir geht’s schon wieder besser!«, protestierte ich.

»Moment bitte …« Er las das Thermometer ab, dann schaltete er das Messgerät an meinem Arm ein. Es blies sich auf, ließ langsam wieder Luft ab und piepste dabei. »Oh, oh, Frau Benning – das wird wohl eine Nacht im Krankenhaus! Sie haben Untertemperatur und Ihr Blutdruck ist lausig. Sie müssen behandelt und vor allem beobachtet werden. Unterkühlung kann tückisch sein.«

Ich war tatsächlich ein wenig an Lucas’ Schulter eingeschlafen, als eine tiefe Stimme mich ansprach. »Hallo, ich bin Polizeihauptkommissar Bühler, der Kommandant des Schiffs. Willkommen auf dem ›Seeadler‹!« Er nahm der Brünetten, die mit einem Tablett mit Bechern und zwei Thermoskannen an den Tisch gekommen war, die Becher ab und verteilte sie. »Kaffee oder Tee?«

Lucas votierte natürlich für Kaffee, ich nahm einen Becher Tee, der zwar nicht sonderlich schmeckte, an dem ich mir aber die Finger wärmen konnte. Der Kommissar unterdessen öffnete eine Mappe und fummelte ein Formular heraus. »So, erst mal Personalien …«

»Sorry, darf ich erst mal eine Frage loswerden? Wo kamen Sie so plötzlich her?«

Der Polizist schaute Lucas an und lächelte. »Ihr Mann hat die Notrufzentrale angerufen.«

Lucas sah ein wenig verlegen aus. »Ich bin aufgewacht, weil ich den Krach gehört habe. Nachdem ich erkannt habe, was da auf dem See los ist, habe ich die Polizei gerufen. Du weißt, ich bin kein besonders guter Schwimmer.«Mein Mann hatte seine Papiere aus der Brieftasche genommen und legte dem Kommissar seinen Personalausweis hin. »Die Unterlagen meiner Frau sind im Auto und das steht vor dem Restaurant Seeblick.«

Ich packte meinen Kopf wieder an seine Schulter, schloss die Augen und hörte zu, wie der Polizist die Daten vorlas: »Benning, Lucas Emanuel, 30. August 1966 in Semera – ja, wo isch des denn?« Sein Schwäbisch klang durch und zeigte sein Erstaunen.

Lucas war die Reaktion auf seinen ungewöhnlichen Geburtsort gewöhnt und er erklärte fast gelangweilt: »Meine Eltern sind Paläoanthropologen und waren zu der Zeit im Afar-Dreieck in Äthiopien tätig.«

»Paläoantrowas?« Der Beamte schaute ihn an, als ob Lucas gerade grüne Tentakel gewachsen wären.

»Sie waren Spezialisten für die Stammesgeschichte des Menschen, unterrichteten an der Universität in Tübingen und forschten in Afrika. Da stand ja bekanntlich die Wiege der Menschheit.«

Der Polizist sah nicht aus, als ob ihm das bekannt gewesen wäre, dafür blätterte er in Lucas’ Pass und betrachtete die vielen Stempel. »Sie kommen weit herum.«

»Ich bin Sänger und Regisseur«, erklärte Lucas und streichelte dabei meine Schulter. »Besser, Liebes? Wieder warm?«, fragte er.

Ich nickte und kuschelte mich an ihn. Es tat wohl, seine Wärme durch die Decke zu spüren.

»Und Sie wohnen in …?«, unterbrach der Beamte unsere eheliche Idylle.

»Stuttgart«, gab Lucas an und diktierte unsere Adresse. Dann küsste er meine Schläfe. »Soll ich deine Daten diktieren, Vic?«

»Ja, bitte!« Ich war froh, die Augen wieder schließen zu können, und hörte Lucas zu. »Meine Frau heißt Victoria Konstanze Benning, geborene Rühle, kam am 12. November 1982 in Balingen auf der Schwäbischen Alb zur Welt, schreibt kluge Bücher, hat einen Lehrauftrag als Musikhistorikerin an der Stuttgarter Hochschule für Musik und arbeitet außerdem als meine Assistentin.«

Der Polizist hatte mitgeschrieben, jetzt lächelte er. »Fein – und Adresse ist gleich wie bei Ihnen, nehme ich an. Und jetzt erzählen Sie mir doch bitte, was eigentlich passiert ist. Ich hab von der Leitstelle nur gehört, dass in der Bucht vor Lindau eine schwimmende Frau von einem Verrückten in einem Motorboot angegriffen wird. Natürlich haben wir zuerst gedacht, dass das eine miese Nummer ist. Wir erleben leider manchmal, dass betrunkene oder bekiffte Skipper Schwimmer jagen.«

»Ich glaube nicht, dass es das in diesem Fall war. Für mich sah das eher nach gezieltem Angriff aus«, sagte Lucas.

»Okay.« Bühler hatte eine Notiz gemacht. »Und jetzt mal mit Vorgeschichte. Wie kamen Sie in die Bucht? Wohnen Sie in der Nähe?«

»Ja. Wir residieren gerade im Seehotel Excelsior in Lindau. Wir arbeiten aber in Bregenz – wir inszenieren ›Don Carlos‹ für die Seefestspiele«, erklärte Lucas. »Heute hatten wir einen recht harten Tag auf der Probe, daher schlug meine Frau vor, dass wir in dieses nette Restaurant etwas außerhalb fahren, um ein bisschen Abstand zu bekommen. Und nach dem Essen … uhm … öh …«

Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Mein Liebster hatte nämlich rote Ohren bekommen und überlegte nun wohl, wie er die Geschichte vom Rest des Abends verpacken sollte. Mein Sängerseelchen ist nämlich ein wenig prüde, während ich als echte schwäbische Pfarrerstochter zwar keine Bomben lege, aber als »böses Mädchen« manchmal meinen Ex-Sängerknaben – ja, Lucas war Hymnus-Chorknabe – zu unzüchtigem Tun verleite. »Ich hatte ihn zu einem Abendspaziergang überredet und da war nun diese herrliche Trauerweide in der kleinen Bucht. Sie breitete ihre Arme weit aus und sie bildeten einen grünen Vorhang, unter dem wir ganz für uns waren. Und da ist er eingeschlafen – hinterher. Ich unterdessen war putzmunter und erhitzt, darum bin ich in den See gegangen.

Als ich auf dem Steg stand, sah ich das schwarze Boot. Es dümpelte am Rand der kleinen Badebucht, nur von zwei kleinen Leuchten erhellt. Und da war ein nacktes Frauenbein gewesen, das sich einmal hochgereckt hatte, und ein gutturales Lachen, das dann zu einem Seufzen wurde. Ich hatte in mich hineingelächelt. Warum hätte ich dem Paar auf dem Boot nicht gönnen sollen, was ich davor genossen hatte?

Ich bin ein Stück vom Steg weg und auf den See hinaus geschwommen, wobei ich den Kontrast zwischen dem an der Oberfläche von der Sonne erwärmten Wasser und der Kälte in tieferen Regionen genossen habe. Dann habe ich den Motor gehört und das Boot auf mich zukommen sehen. Ich habe mich geärgert, obwohl mir da noch nicht klar war, dass der Bootsführer etwas von mir wollen könnte – und dann fuhr er fast über mich hinweg und ich musste wegtauchen, damit mich die Schrauben nicht verletzten.

Ich dachte, dass der Bootsführer mich nicht gesehen hatte, hob den Arm und rief, aber er beachtete mich nicht. Oder etwa doch? Er drehte um und kam wieder auf mich zu.«

An dieser Stelle hob Lucas die Hand und unterbrach mich, »Ab da habe ich es ungefähr mitgekriegt. Mich hat der Motorenlärm geweckt. Ich schlüpfte in meine Hose und ging auf den Steg hinaus, um Victoria zu suchen. Dabei sah ich die zweite Attacke – und mir war sofort klar, dass es der Typ auf meine Frau abgesehen hat. Also habe ich die Polizei angerufen.«

Der Polizist guckte uns an. »Frau und Herr Benning – können Sie sich die Attacke erklären? Kennen Sie den Bootsführer?«

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte ich nachdenklich. Ich zerbrach mir ja selbst den Kopf!

»Haben Sie einen Feind, der Ihnen ans Leben will?« Der Polizist war hartnäckig.

Ich zog die Schultern hoch. »Nicht, dass ich wüsste …«

»Sind Sie in irgendetwas Kriminelles verwickelt? Als Zeugin, als Opfer …?«

Lucas und ich schauten uns an. Dann nickte er langsam und sagte: »Ja, kann man wohl so sagen. Sie haben wahrscheinlich mitbekommen, dass bei den Proben zu den Seefestspielen ein Sänger ermordet wurde?«

»Ja, klar! Hätte mir eigentlich gleich einfallen können, als Sie sagten, Sie arbeiteten bei den Seefestspielen.« Der Kommissar runzelte die Stirn. »Das war doch dieser Mario Miercoledi? Ganz bekannter Mann …«

»Richtig«, nickte Lucas. »Wir waren dabei, als die Leiche gefunden wurde und meine Frau hat Ihren Kollegen den Hinweis gegeben, der dazu führte, dass die den Mord als solchen erkannt haben.« Er räusperte sich. »Glauben Sie, zwischen diesem Mord und dem Anschlag auf meine Frau könnte ein Zusammenhang bestehen?«

»Aber Lucas! Woher hätten die, die Mario vergiftet haben, wissen sollen, dass ich heute Nacht in einer einsamen Bucht bade?«, warf ich ein.

»Das weiß ich nicht. Aber warum sollte jemand dich einfach so umbringen wollen?«

»Es gibt Spinner, die so was witzig finden«, begehrte ich auf. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Mord an dem Tenor und dem Anschlag auf mich gab. »Außerdem wird Kommissar Gerstenmeier ja nicht damit hausieren gehen, dass ich ihm die Geschichte mit der Eibe erzählt habe!«

Der Polizist hatte sehr interessiert zugehört, jetzt hob er die Hand. »Kommissar Gerstenmeier ist mit der Sache befasst?«

»Ja, er ermittelt wegen des toten Tenors«, antwortete ich.

»Ich denke, jetzt sollten Sie mir Ihre Geschichte von Anfang an erzählen!«, befand er.

Lucas streichelte über meine Schulter. »Hoffentlich schaffst du das bis Lindau!«

*

Zwei Stunden später lag ich in einem dieser bezaubernden Flügelhemdchen in einem Krankenhausbett und beneidete meinen Mann. Lucas schlief nämlich neben mir. Er gehört zu den Menschen, die immer schlafen können. Er geht ins Bett, sein Kopf trifft das Kissen und schon ist er weg.

Ich dagegen gehe hundemüde ins Bett, mache das Licht aus, drehe mich in meine Schlafstellung, schließe die Augen – und in dem Moment scheint mein Gehirn den Befehl »Alle grauen Zellen anschnallen! Es geht wieder rund!« auszugeben.

Zuhause stehe ich dann wieder auf. Bleibe ich nämlich liegen, habe ich innerhalb von ein paar Minuten alles, was in meinem Leben nicht optimal läuft, nach oben gegraben und sehe nur noch Probleme. Also gehe ich lieber an den Computer und spiele Candy Crush oder etwas ähnlich Dämliches oder ich arbeite. Arbeit lenkt ab und macht müde, und wenn ich da im richtigen Moment den Absprung finde, kann ich schließlich schlafen.

In meiner Krankenhausnacht konnte ich nicht in die Arbeit fliehen. Ich hatte mein Notebook nicht zum Baden mitgenommen. Also musste ich mir zur Unterhaltung ein paar Gedanken machen und erinnerte mich an die Nacht vom 14. Juli.

Da hatte ich auch nicht geschlafen. Es war ein sehr heißer Tag gewesen und mein Herr und Meister hatte die Klimaanlage in unserer Suite abgeschaltet. Wie die meisten Sänger verträgt er die trockene Luft nicht, die eine Klimaanlage fabriziert. Dabei war er eigentlich gar nicht als Sänger, sondern als Regisseur am See. Martin Haller-Rojas, der Intendant der Seefestspiele, hatte ihn und damit auch mich für die zweite Produktion, einen ›Don Carlos‹1 in Starbesetzung, engagiert. Und wie immer, wenn wir inszenierten, war Lucas vorwiegend auf der Bühne zugange, während ich am Regiepult saß. Wir haben eine klare Rollenverteilung: Lucas ist für die Personenführung und das Künstlerische zuständig, ich kümmere mich um Technik, Budget, Logistik und Papierkram.

Wir sind ein gutes Team und hatten uns auf den Sommer am Bodensee gefreut, wobei uns allerdings klar gewesen war, dass dieser »Don Carlos« kein Zuckerschlecken werden würde. Das von unserem Intendanten bei jeder Gelegenheit so hochgepriesene »Starensemble« umfasste nämlich nicht nur den kolumbianischen Tenor Cayetano Gutiérrez-Martin als Carlos und den brillanten Bass Rocco Banhardt als König Philipp, sondern auch Mario Miercoledi als Maquis de Posa. Und dieser Herr war ein Problem.

Vor einigen Jahren war Miercoledi in der Szene fast omnipräsent gewesen. Er sang an allen großen Opernhäusern; er beglückte seine Fans mit Konzerten in Fußballstadien; schmetterte italienisches in der Arena in Verona und jodelte im deutschen Fernsehen Weihnachtslieder; er produzierte CDs mit den »schönsten Lovesongs der Klassik« und Crossovers mit irgendwelchen Schlagerstars. Man musste den Fleiß und die Disziplin bewundern, mit denen er sein »Heute hier, morgen dort«-Jetset-Leben bewältigte. Insider und Kollegen bemerkten aber zunehmend, dass seine Stimme in der Höhe überanstrengt klang und in der Mittellage rau. Lange Legato-Linien konnte er nicht mehr »veratmen«, kurz und wenig gut: Wenn er schon zu Anfang seiner Karriere so gesungen hätte, wäre der knödelnde Gesangslehrer Alfred in der »Fledermaus« in Bad Kleinkleckersheim der Höhepunkt seiner Karriere gewesen.

Allerdings wunderte sich niemand über Miercoledis stimmlichen Abbau. Singen auf dem Niveau, auf dem Opernsänger an großen Häusern unterwegs sind, ist Hochleistungssport und strapaziert die Stimmbänder.

Dennoch staunte die Fachwelt, als Miercoledi vor drei oder vier Jahren verkündete, seine Stimme habe sich »gesetzt«. Darum sei er jetzt Bariton.

Ich hatte mir dabei übrigens vorgestellt, dass seine arme Stimme vor Erschöpfung in einen Sessel gefallen und zu müde gewesen war, sich wieder zu erheben.

Diesen postpubertären Zweitstimmbruch fanden Experten überraschend – vorsichtig gesagt. Stimmlage wird nämlich üblicherweise nicht durch die Höhen und Tiefen definiert, welche ein Sänger erreicht – das ist nämlich auch eine Frage seiner Technik –, sondern durch das Timbre. Von einem Tenor erwartet man zum Beispiel eine strahlende Höhe und einer eher »helle« Stimmfärbung, während der Bariton mit samtig-dunklen Tönen schmeicheln sollte.

Genug von der Stimmtheorie, zurück zu Miercoledi: Für mich klang er nicht nach Bariton, sondern nach alterndem Tenor. Aber diese meine Ansicht wurde von den Miercoledi-Fans nicht geteilt. Sie saßen offenkundig einem Phänomen auf, über das ich immer wieder staune, das aber zum Beispiel in der Werbung gut bekannt und erforscht ist: der Einfluss der Erwartung.

Das ist bekannt und nachgewiesen: Drückt man einem Kunden einen Joghurt in die Hand, auf dessen Becher Erdbeeren aufgedruckt sind, meint er, Erdbeeren zu schmecken – selbst wenn im Becher Zitronenjoghurt ist.

Bei Sängern funktioniert es offenkundig ähnlich. Wenn die Leute oft genug lesen und hören, dass XY ganz toll ist, meinen sie, einen Spitzensänger zu hören – auch wenn der Mensch auf der Bühne aus dem letzten Loch pfeift. Konkret: Wenn der Intendant des Bregenzer Opernfestivals, ein Mann mit 30-jähriger Erfahrung im Musikmanagement, einen Miercoledi engagiert; wenn der große Dirigent Michail Piotrowitsch Jendrowski mit ihm arbeitet; wenn der Regisseur Lucas Benning, selbst ein berühmter Bariton, ihn in seiner Produktion hat, dann muss der toll sein. Das gilt auch, wenn es sich für Opernfan Stephen Müller, im Zivilberuf EDV-Berater, nicht so anhört.

Stephen Müller hat aber dennoch recht – und wenn er Intendant, Dirigent und Regisseur in einer ruhigen Stunde im Vertrauen fragen könnte, bekäme er das bestätigt. Dann würde der Intendant ihm verraten, dass er ja viel lieber diesen jungen, spektakulären Bariton engagiert hätte, der ihm neulich bei einem Lehrgang aufgefallen ist. Aber den kenne kein Mensch und mit dem könne er keine Tickets für 300 Euro verticken und kriege keinen Kooperationsvertrag mit Yonic, dem Marktführer für klassische Musikaufnahmen. Michail Piotrowitsch würde ebenfalls erklären, dass er lieber den jungen Bariton gehabt hätte, aber dass seine 120 Musiker im Orchester jeden Monat ihr Gehalt wollen und man das nicht mit unbekannten Größen verdient.

Regisseur und Sänger Lucas schließlich würde seufzen und auf seinen Vertrag verweisen, der nichts über ein Mitspracherecht bei der Besetzung sagt, aber eine Menge bezüglich seiner Loyalitätspflicht gegenüber dem Bregenzer Opernfestival.

Und so kam’s, dass wir bei den Proben unter Miercoledi, seinen Stimmproblemen und seinen Allüren litten, und Lucas und ich mussten obendrauf noch aushalten, dass der gesamte Miercoledi-Clan – Mario, Ehefrau Giulia und die erwachsenen Töchter Marietta und Mafalda – neben uns wohnte. Ob ihrer Lautstärke ließen sie uns öfter überlegen, ob das Familienoberhaupt nicht nur an Selbstüberschätzung, sondern auch an Schwerhörigkeit litt. Ohrenstöpsel gehörten zu unserer Standardausrüstung, wenn wir ins Bett gingen. Die Miercoledis waren nämlich zu allem Glück auch noch nachtaktiv.

Auch in dieser Nacht trieben sie wieder ziemlich um – und ich bewunderte ihr Durchhaltevermögen. Um halb zwei wäre mir nicht danach, mit der ganzen Familie zu diskutieren. Mir war noch nicht einmal danach, dem leisen Atmen meines schlafenden Mannes zuzuhören. Stattdessen schlüpfte ich in Jeans und T-Shirt und beschloss, im Park des Hotels direkt am Seeufer noch etwas frische Luft zu schnappen.

1Giuseppe Verdi hat die Oper nach dem Schauspiel von Friedrich Schiller geschrieben. Dabei gibt es eine italienische und eine französische Version. Lucas macht am Bodensee die französische.

Kapitel 2: Lucas’ Vergangenheitsbewältigung

Am Bodensee,Anfang Juli 2018

Ich saß auf einer kleinen Bank am Seeufer, durch die Hecke hinter mir nicht nur vor Blicken, sondern auch vor dem Wind geschützt, sah hinaus auf den See, der im Mondlicht silbrig leuchtete, und dachte über den Abend nach. Wir hatten die Probe relativ früh beendet – Überstunden kosten in der Oper Geld, daher versucht man, sie zu vermeiden – und während ich noch mit dem Beleuchter diskutiert hatte, waren Lucas und Mischa, Dirigent der Produktion und einer meiner ältesten Freunde, schon einmal zu unserem Lieblingsitaliener auf dem Marktplatz gegangen.

Die beiden hatten mal wieder ein echtes »Männergespräch« geführt, sprich: Sie hatten in ihre Biergläser gestiert, ab und zu einen Schluck getrunken und dabei gegrunzt. Die Kommunikation genügte ihnen, jedenfalls hatten mir die zwei schon unabhängig voneinander versichert, der jeweils andere sei ein »toller Gesprächspartner«, der »nie nerve«.

Ich setzte mich dazu, bestellte einen Latte macchiato mit Karamellsirup, streckte die Beine und ließ, den Kopf an die Schulter meines Mannes gelehnt, die Seele ein wenig baumeln.

Doch lange konnte ich die Ruhe nicht genießen. Es vergingen keine zehn Minuten, dann tönten nämlich die Sopranposaunen von Spoleto über den Platz. Die Männer schreckten zusammen, ich bekam Gänsehaut und suchte nach einem Mauseloch zum Verschwinden, doch es nützte uns nicht. Giulia Miercoledi, ihre Töchter Marietta und Mafalda hatten Bregenz’ Einzelhandel zu einem ordentlichen Konjunkturschub verholfen, beklagten sich nun aber auf Italienisch darüber, dass sie in dieser Provinz nirgends die neue Gucci-Pucci-Mucci-Kollektion gesehen hatten! Dabei war – so jedenfalls befand Mutter Miercoledi – der Besitz einer dieser »zuckersüßen Clutches« doch existentiell!

An der Stelle schaute ich beschämt auf die schon reichlich angegammelte blaue Tasche aus recycelter LKW-Plane, in der ich Notebook, Partitur, Produktionsordner und – laut Lucas – ein dreiviertel Pfund Büromaterial mit mir herumschleppte. Ich war mir mal wieder sehr bewusst, dass ich in meiner bequemen Cargohose unter einem Big-Shirt mit einem von Lucas geklauten Flanellhemd nie als »Society-Schönheit Victoria Benning« beschrieben werden würde. Dafür aber hatte ich kein Problem damit, in der Malerwerkstatt auf einem Farbeimer zu sitzen, und in meinen vielen Hosentaschen fand alles Platz – vom Markierband über das Metermaß, das Notizbuch, den Schraubenzieher bis hin zum Probenplan. Und gegenüber Madame Miercoledi hatte ich noch einen Vorteil: Ich weiß für gewöhnlich, wo mein Bariton sein müdes Haupt zur Ruhe bettet, und kann mich darauf verlassen, dass er nur auf der Bühne den Don Giovanni gibt.

Die Miercoledi-Damen waren bei uns angekommen, meine wohlerzogenen Herren waren aufgestanden und hatten ihre Handibussis bei Madame abgeliefert, während ich ein wenig Blabla mit den Töchtern veranstaltet hatte. Die beiden taten mir leid. Sie waren mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden, sie hatten alles gehabt – außer der Liebe und Zuwendung ihrer Eltern. Ihr Vater war hauptsächlich mit seiner Geilheit und der Gier nach Ruhm und Reichtum beschäftigt gewesen, während ihre Mutter ihm atemlos hinterhergehechelt war, immer in der Sorge, dass er sie für eine seiner Geliebten verlassen würde.

Die beiden Töchter waren für das Paar PR-Requisiten gewesen – Bilder von ›MM‹ als liebevollem Vater hatten sich immer bestens verkauft und immer noch ließ er keine Gelegenheit aus, sich mit der durchaus attraktiven Nachkommenschaft fotografieren zu lassen. Doch Marietta und Mafalda war anzumerken, dass ihnen nach Eigenständigkeit gewesen wäre.

Beide hatten diesbezüglich Versuche unternommen. Marietta hatte ein paar Semester Musikwissenschaft studiert und eine Stelle als Volontärin bei einer großen italienischen Zeitung gefunden. Doch ihr Vater hatte befunden, dass man sie nur um ihres Namens und ihrer Beziehungen willen eingestellt habe. Sie hatte kündigen müssen und wurde seitdem von Herrn Papa geneigten Regisseuren als Assistentin angedient – allerdings immer nur für die Produktion, bei der er dabei war und auf Töchterchen aufpassen konnte. Bei Lucas hatte das allerdings nicht geklappt. Der hatte eine diesbezügliche Anfrage von Miercoledi mit einem »Danke, aber nein danke« beantwortet.

Mafaldas Geschichte war noch trauriger als die ihrer Schwester: Sie war von ihrer Mutter ausersehen worden, den Traum zu leben, an dem Giulia gescheitert war. Diese war Tänzerin – dritte Reihe, zweiter Schwan von links – gewesen, als sie ihren Tenor-Helden getroffen hatte. Ein paar Wochen später war sie schwanger gewesen und nun erzählte sie, dass diese Schwangerschaft ihre »Karriere« beendet habe. Ich hatte diese Story auch einmal zu hören bekommen, und als wohlerzogener Mensch hatte ich es mir verkniffen, laut darüber nachzudenken, dass sie mit ihren damals 28 Jahren keine Chance mehr gehabt hätte, sich aus dem Corps de Ballet nach vorne an die Rampe zu tanzen.

Dafür sollte es später die Tochter schaffen und so hatte sie ihre Kindheit und Jugend im Ballettstudio verbracht. Tatsächlich war sie talentiert und nach ihrer Abschlussprüfung in der berühmten John Cranko Schule in Stuttgart hatte sie ein Engagement beim Stuttgarter Ballett bekommen. Ein Jahr später – sie war da gerade 18 Jahre alt gewesen – hatte sie sich im Urlaub mit den Eltern bei einem von ihrem Vater verursachten Bootsunfall das Knie verletzt. Ihre Karriere als Ballerina war zu Ende gewesen, seitdem reiste sie mit dem Vater, wirkte aber ziellos und gelangweilt.

Wie »idyllisch« das Familienleben bei Superstars verlief, bekamen wir öfter vorgeführt. So waren wir vor ein paar Tagen aus einer Pizzeria geflüchtet, weil die Familie Miercoledi nebenan über Geld diskutiert hatte. Obgleich mein Italienisch nicht gut ist, reichte es, um mitzubekommen, dass der Maestro die Ausgaben seiner Damen im Vergleich zu den von ihnen erbrachten Leistungen zu hoch fand. Dagegen wehrten sich Mutter und Töchter ebenso wortreich wie lautstark.

Lucas, sehr appetitlich in beiger Baumwollhose und honigfarbenem Poloshirt – es unterstützte die Farbe seiner Augen –, trank den letzten Schluck Wein, drückte dem herbeieilenden Kellner einen Schein in die Hand und nahm meinen Arm. »Nix wie weg hier! Ich möchte nicht Ohrenzeuge werden, wenn die Miercoledis anfangen, sich gegenseitig zu meucheln!«

»Glaubst du, seine Familie steht auch auf der Liste derer, die ihn gerne im See ersäufen würden?«

»Hoffentlich tut das niemand! Der See ist Trinkwasserreservoir für halb Süddeutschland inklusive Stuttgart!«, stellte Lucas fest und legte den Arm um mich. »Aber könntest du es den Miercoledi-Damen verdenken? Du würdest ihn wahrscheinlich schon nach einer Woche erschlagen! Giulia hält ihn schon 28 Jahre lang aus.«

»Kannst du mir verraten, warum? Ich weiß, in Italien sind Scheidungen immer noch sehr langwierig und teuer …«

»Teuer ist das Stichwort, mein Herz!«, gab Lucas zurück. »Vor einigen Jahren war Mario mal ernsthaft verliebt und hat über Scheidung nachgedacht. Aber dann hat ihm sein Anwalt vorgerechnet, was der Spaß kosten würde. Darauf hat er beschlossen, dass er doch nicht ohne Giulia leben kann.«

Ich gestehe, dass ich ab und zu ein bisschen Szenentratsch durchaus schätze. Lucas behauptet sogar, mein Busenfreund Mischa und ich seien wie neapolitanische Marktweiber, wenn wir wieder mal das »Wer-mit-wem« der Branche verhackstücken. Aber dadurch bin ich immer gut informiert und mir fiel etwas zu Lucas’ Geschichte ein. »War das nicht diese brünette Mezzosopranistin, die bei Operata rumgeturnt ist? Elizabeth Cranmer oder so?«

Lucas steuerte die Beifahrerseite seines Jaguars an – zu seinen vielen guten Eigenschaften gehört, dass er sich nicht einbildet, aufgrund des Besitzes eines Y-Chromosoms ein besserer Autofahrer als jede Frau zu sein. Deswegen lässt er meist mich fahren. Gleichzeitig aber korrigierte er mich: »Falsch, Frau Professor!« Er grinste. »Elizabeth Cranmer ist der zickige Alt, der mich in München als Penelope fast in den Wahnsinn getrieben hat. Ihr hat MM den zweiten Sohn zu verdanken.« Er schnallte sich an.

Ich war auf der Fahrerseite eingestiegen und ließ jetzt den Motor an. »Ja, war das nicht der potenzielle Scheidungsgrund?«

»Nein.« Lucas schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und schlug die langen Beine übereinander. »So bescheuert, mit einer so neurotischen Zicke leben zu wollen, ist er nicht.«

»Aber was hat seine Frau denn zu dem außerehelichen Knaben gesagt?« Ich steuerte das Auto auf die Straße und musste gleich an einer Ampel halten.

»Ausführliches!«, antwortete Lucas trocken. »Es hat ihn einen dicken Klunker und einen Mottenfiffi – wenn ich mich richtig erinnere, war es ein Silbernerz – gekostet, bis sie sich mit ihm versöhnt und mir erklärt hat, dass sie ihn eben liebe. Außerdem wolle ein Mann eben Söhne und sie habe ihm nur Töchter geboren. Ergo hat sie ihm gleich zweimal verziehen.«

Ich verdrehte die Augen. »Nur zur Information: So sehr, dass du mich als Fußabtreter nutzen dürftest, liebe ich dich nicht!«

»So wollte ich auch nicht geliebt werden!«, stellte Lucas fest. »Und ich beabsichtige auch nicht, außereheliche Kinder zu zeugen.« Er grinste. »Das wäre mir zu teuer! Klunker und Pelz für dich, Anwaltskosten wegen Anerkennung …«

»Hat Miercoledi etwa abgestritten, dass er der Vater ist?«

Lucas schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, mein Herz. Er führt seine illegitimen Sprösslinge gerne vor. Mit dem von Madame Cranmer ist es kein Problem. Der lebt zwar bei Mama in München, aber er macht ja öfter mal Urlaub bei Papi und seiner Familie. Beim anderen ist es allerdings schwierig. Dessen Mutter hat nämlich einen Ehemann, der darauf besteht, dass der Knabe seinen Lenden entsprungen ist. Dagegen wollte Mario klagen. Man hat ihm dann aber klargemacht, dass er da nicht den Schatten einer Chance hat. Nun beklagt er gerne, dass man ihm seinen Sohn vorenthalte …«

»Verhältnisse sind das!«, staunte ich. »Dagegen sind wir richtig langweilig.«

»Tja …« Lucas grinste schräg. »Das kommt davon, wenn man eine Pfarrerstochter und Kantorin heiratet.«

Ich streckte ihm die Zunge heraus. »Du wärst der Richtige für solche Abenteuer! Wer war’s denn, der mir einst schon nach ein paar Wochen erklärt hat, dass er keine ›g’schlamperten Verhältnisse‹ mag?« Wir waren auf der Seepromenade und Lucas legte seinen Arm um meine Schulter. Er ist 19 Zentimeter größer als ich, darum passe ich unter seine Achsel und kann selbst meinen Daumen ganz gemütlich in die hintere Gürtelschlaufe seiner Jeans hängen. »Aber hast du nicht erwähnt, dass Mario einmal kurz vor der Scheidung stand?«

»Zweimal«, korrigierte Lucas. »Das erste Mal war die Mutter des unehelich geborenen Knaben. Die sah Mario als die ganz große, schicksalhafte Liebe. Der Haken war nur: Sie empfand es nicht so. Sie war eine Prinzessin mit einem Stammbaum bis zurück ins alte Rom und sie hatte nie die Absicht, sich scheiden zu lassen, um sodann eine bürgerliche Signora Miercoledi zu werden. Sie hat ihn in die Wüste beziehungsweise zurück zu seiner Giulia geschickt.«

»Und dann kam diese Elizabeth Cranmer?«, erkundigte ich mich neugierig.

»Nein«, widersprach Lucas. »Wegen der wollte er sich nicht scheiden lassen. Das war nur eine Affäre und das sah er damals auch so.«

»Obwohl sie ein Kind von ihm hatte?«

»Ja. Aber dann gab es noch das Sopran-Quietschie: Katia Ulanova. Wegen der wollte er Giulia verlassen.«

»Moment!« Ich wuschelte mit der freien Hand durch mein kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Der Name war mir vertraut, aber es brauchte einen Augenblick, bis ich ihn zuordnen konnte. »Die war doch bei Operata!« Und dann fiel mir noch etwas ein. »… und mindestens 20 Jahre jünger als Miercoledi!«

»32, Herzchen.« Lucas verdrehte die Augen. »Aber das ist bei manchen Männern kein Hinderungsgrund, sondern eine Empfehlung. Wie kann man seine Männlichkeit besser unter Beweis stellen als mit einer sehr jungen Frau?«

Er war stehen geblieben und schaute auf den See hinaus, in dessen ruhigem Wasser sich der Mond als silberne Scheibe spiegelte. Ich drehte mich in seinem Arm, lehnte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. »Hilf mir mal drauf – du warst doch Jurymitglied bei Operata, nicht?« Obwohl ich als Kirchenmusikerin nicht mit Oper befasst war, hatte ich zumindest die Resultate des großen internationalen Sängernachwuchs-Wettbewerbs Operata immer mitbekommen. Und natürlich wusste ich auch, dass Operata das Werk von Miercoledi war. Er ließ schließlich keine Gelegenheit aus, »seinen« Wettbewerb bei Facebook, Twitter, Instagram und wo immer es sonst ging abzufeiern.

Lucas brummte ein ablehnendes »Hmm«.

Ich war neugierig und bohrte nach. »Du warst aber nur in den ersten Jahren dabei, nicht? Warum bist du so schnell wieder ausgestiegen?«

»Wegen Katia Ulanova«, gab er Auskunft.

»Warst du nicht auch begeistert von ihr?«

»Nein«, sagte er kurz und knapp. »Sie hat eine tolle Figur, aber die Stimme ist Durchschnitt und rechtfertigte in keinem Fall den ersten Preis, den Mario ihr zuschustern wollte. Ich sagte ihm, dass er Operata damit zur Farce und die Jury zu Clowns mache. Und nachdem ich gestreikt hatte, haben dann auch die anderen protestiert.«

»Ich fand sie auch nicht so großartig«, erinnerte ich mich. »Das Abschlusskonzert kam im Fernsehen, da sang sie mit dieser etwas rundlichen Ungarin das Duett ›Mira o Norma‹2 und ist meiner Ansicht nach abgestunken.«

»Eindeutig«, bestätigte Lucas. »Ich habe Mario auch gesagt, dass er ihr keinen Gefallen tut, wenn er sie mit Ildiko Hanyadi im direkten Vergleich singen lässt. Aber da war er total vernagelt. Er war in sie verschossen und erzählte mir etwas von Seelengefährtin, endlich einmal ›eine Frau, die mich versteht‹ und ›noch mal ganz von vorne anfangen‹. Ich habe ihm damals gesagt, dass das teuer werden könnte und dass er doch mal darüber nachdenken solle, ob er mit einer so jungen Frau langfristig glücklich werden könne.«

Ich erinnerte Lucas nicht daran, dass er 16 Jahre älter als ich ist, sondern verwies stattdessen auf meine Eltern, die bei 19 Jahren Altersunterschied über 40 Jahre gut miteinander gelebt hatten.

Lucas zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, dass deine Eltern sich geliebt haben. Bei dieser jungen Dame hatte ich allerdings den Eindruck, dass sie mehr an ihrer Karriere als an Mario interessiert war. Darum nahm sie ihm sehr übel, als er sie abservierte. Er hat sich dann nicht mehr um Engagements für sie bemüht und so wurde es nichts mit ihrer internationalen Karriere. Sie war so ein typischer Fall von jemandem, der es immer wieder an große Häuser schafft – aber eben nur einmal. Inzwischen ist ihr allerdings ein reicher Bauunternehmer aus der bayerischen Provinz zugelaufen, den sie dann geheiratet und dem sie einen Erben beschert hat. So ganz glücklich scheint sie dabei aber nicht zu sein. Sie reist immer noch in der Szene rum, beklagt ihre verlorene Karriere und verflucht Mario, der ihr Leben verpfuscht habe.«

»Und sie war daran nicht auch beteiligt?« Ich schüttelte den Kopf. »Manche Leute machen es sich einfach. Man muss halt immer einen finden, dem man die Schuld zuschieben kann!«

»Tja …« Lucas atmete tief durch. »Mario hat sich in der Geschichte aber tatsächlich nicht mit Ruhm bekleckert. Er hatte ein Penthouse in Wien gekauft und sein G’spusi da etabliert. Dann ging er zum Anwalt, und als der ihm vorgerechnet hat, was er bei der Scheidung von Giulia alles drangeben müsste, bekam er das Fracksausen. Er ist – wahrscheinlich direkt vom Anwalt aus – zum nächsten Juwelier gerannt, hat einen ganz dicken Klunker gekauft und ist bei Giulia zu Kreuze gekrochen. Fräulein Ulanova unterdessen bekam Post vom Anwalt – damit hat Mario die Beziehung beendet. Und weil’s in einem Aufwasch ging, wurde sie dann auch gleich aufgefordert, die Wohnung zum Quartalsende zu verlassen oder ab sofort die ortsübliche Miete – und die war saftig – zu bezahlen.«

»Junge, Junge!« Ich konnte nur noch staunen. »Darauf, den Anwalt dafür einzuspannen, muss man erst einmal kommen!« Lucas hatte offenkundig genug vom Mond im See gesehen und ging langsam weiter, wobei er mich an die Hand nahm. Ich war immer noch mit dem Schicksal der Miercoledis befasst: »Dass seine Frau ihm die unehelichen Kinder und die Geschichte mit Ulanova verziehen hat, ist eigentlich unfassbar. Und wer weiß, was er sonst noch alles angestellt hat!«

»Ich weiß es teilweise. Leider!«, schnaubte Lucas. »Giulia dagegen wollte es nicht so genau wissen.«

Ich konnte nicht anders. Ich blieb stehen, schaute ihn an und fragte provokant: »Und du? Du warst jahrelang sein Partner und er schwärmte doch immer davon, wie schön es sei, mit einem Freund zu arbeiten, und dass ihr aufeinander eingeschossen wäret wie ein altes Ehepaar. Ich erinnere mich an ein Fernsehinterview – ich glaub, es kam aus Salzburg, wo ihr zusammen ›Manon‹3 gemacht habt …«

»Daran erinnere ich mich auch!«, knurrte er, zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich über dem inneren Ansatz der linken eine tiefe Furche bildete und fragte: »Willst du jetzt wissen, ob unsere ›Männerfreundschaft‹ sich auch darauf erstreckte, gemeinschaftlich auf Abenteuertour zu gehen?« Er klang angesäuert.

Mein Blick glitt an ihm entlang, von den weichen, grau melierten Locken über die markante Nase, die sinnlichen Lippen und das energische Kinn über den breiten Schultern.

Wir sind im fünften Jahr verheiratet – und manchmal wundere ich mich, wie einfach es ist. Wir gehören sicher nicht zu den Paaren, die sich »nie« streiten. Ab und zu mal fetzen wir uns ordentlich und bei unser beider Temperament auch durchaus lautstark. Aber solche Gewitter gehen bald vorbei und hinterlassen keine Schäden.

Wir gehören zu den Paaren, für die »frisch verliebt« schwierig war, denn da standen uns noch mein Stolz und seine Sturheit im Weg. Darum hat unser erster Anlauf miteinander nur ein paar Monate gedauert. Dann haben wir uns zerstritten, sind auseinandergelaufen, haben anderweitig geheiratet – und ich habe mir dann jahrelang eingeredet, dass es pure Sentimentalität war, wenn mir bei seinem Auftauchen die Knie weich wurden und der Puls sich erhöhte.

Vor sechs Jahren haben wir uns wiedergefunden – beide nicht nur älter, sondern definitiv auch reifer geworden. Er hat seine Chauvi-Allüren abgelegt; ich bilde mir nicht mehr ein, dauernd meine Unabhängigkeit vorführen zu müssen. Und ich finde es heute nicht mehr »weicheierig« zuzugeben, dass ich ihn liebe und dass er der wichtigste Mensch in meinem Leben ist.

Ich bilde mir heute sogar ein, dass wir uns näher sind als andere Paare – schon allein durch unsere besondere Situation. Lucas ist manchmal neun Monate im Jahr auf Reisen. Vier Wochen in New York an der Metroplitan Opera für eine Wiederaufnahme, drei Monate in Sydney für eine neue Produktion, drei Wochen in Japan für eine CD, eine Tournee mit einem Orchester, eine eigene Inszenierung in Dublin. Und ich habe meinen Job bei der Zeitung gekündigt und mir einen halben Lehrauftrag als Musikwissenschaftlerin an der Stuttgarter Musikhochschule angelacht. Den kann ich blockweise abarbeiten – zum Beispiel, wenn mein Herr und Meister gerade mal in Stuttgart singt oder inszeniert.

Ansonsten reise ich mit ihm. Wenn er inszeniert, mache ich Assistenz; wenn er singt, schreibe ich Bücher. Das hat den Vorteil, dass ich beschäftigt bin, wenn er tagelang probt und erst abends total groggy in unser Übergangsheim kommt. Aber es gibt auch Wochenenden und die Zeiten, in denen die Inszenierung läuft und er nur alle zwei, drei Tage auftritt. In diesen Phasen bewährt sich dann, dass wir nicht nur Liebende, sondern auch Freunde sind und gemeinsame Interessen haben. Wir bummeln stundenlang durch Städte, besichtigen Schlösser, Kirchen und Museen; sitzen aber auch schon mal einen halben Tag auf einer Klippe, Lucas zeichnet, ich lese, wir beobachten die Natur. So oft es möglich ist, gehen wir zu den Pferden. Ich reite, Lucas schaut zu, beschmust Pferde oder fährt. Reiten ist nicht sein Ding – auf dem Pferd fühlt er sich immer noch unsicher. Aber der Kutschbock ist sein Revier und er hat inzwischen einige Fahrkurse absolviert.

Er war stehen geblieben und schaute einem Schwanenpaar zu, das mit seinen vier Kindern am Ufer entlangpaddelte. Ich schaute ihn prüfend an. Lucas mit seinem sinnlichen Mund über dem energischen Kinn ist immer ein attraktiver Mann gewesen und ich hatte seine Wirkung auf Frauen nicht nur bei mir, sondern auch bei vielen anderen erlebt. Dennoch hatte ich ihm immer vertraut – so sehr, dass es mich manchmal selbst irritierte und ich dachte: Bist du nicht total verblendet, einem Mann so vorbehaltlos zu trauen? Hast du aus deinen Erfahrungen nichts gelernt?

Ich hatte nach unserem schiefgelaufenen ersten Anlauf und vor meiner ersten Ehe eine Geschichte mit einem Celloprofessor absolviert – und darin zwei Jahre lang nicht bemerkt, dass er mich ständig nach allen Regeln der Kunst betrogen hatte. Als ich ihm draufkam, beschwor er, dass er nur mich liebe, aber ab und zu brauche er eben ein bisschen Abwechslung. Ich überließ ihn derselben – ich bin arrogant genug zu glauben, dass ich einen Mann ganz für mich verdiene und dass ich einem solchen auch genug sein sollte.

Doch es hatte wehgetan und ich hatte einige Zeit daran geknabbert. Dennoch vertraute ich Lucas – und das sagte ich ihm auch. Aber nach dem Gespräch über Miercoledi saß mir etwas quer und mein feinfühliger Mann bemerkte es, als wir Hand in Hand auf die Terrasse des Restaurants gingen. Wir setzten uns, bestellten unser Essen – Wildschweingulasch für mich, Bodenseefellchen für Lucas – und schauten eine Weile schweigend auf den in der Abendsonne glitzernden See hinaus. Unsere Getränke kamen, Lucas schenkte Riesling ein – und dann seufzte er: »Ich habe mich immer unbehaglich gefühlt, wenn Mario unsere ›Freundschaft‹ so herausstellte. Ich fühlte mich ihm nicht nahe, ich mochte ihn noch nicht einmal sehr. Wir waren einfach nur Kollegen, aber …«, er schluckte, machte eine kleine Pause und sprach dann weiter: »Ich muss anders anfangen. Du hast mich vorher angeschaut, als ob du Schmutzflecken da, wo ich Mario zu nahegekommen bin, suchen würdest.«

Ich trank einen Schluck und ließ den fruchtigen Wein über meine Zunge rinnen. Ich fühlte mich ertappt und musste das erst einmal schlucken. Ja, ich hatte meine Empörung über Miercoledis Treiben ein Stück auf Lucas übertragen – und das war nicht fair gewesen. Ich senkte den Kopf, schaute einen Augenblick in meinen Schoss, doch dann gab ich mir einen Schubs und sagte: »Entschuldigung …«

Lucas fasste nach meiner Hand, zog sie an seinen Mund biss sanft in den Daumenballen. »Das Schlimme ist, dass du teilweise recht hast. Ich war sein Spießgeselle oder wie immer man das nennen will.«

»Du?« Ich hatte plötzlich eine Vision von Miercoledi und Lucas in einem halbseidenen Nachtklub beziehungsweise in dem, was ich als schwäbische Provinzpfarrerstochter mir darunter vorstellte. Dabei hatte Miercoledi eine vollbusige, spärlich bekleidete Blondine auf dem Schoss, während Lucas seine markante Nase im Dekolleté einer Rothaarigen versenkt hatte.

Mit einem energischen Kopfschütteln verscheuchte ich die Spießerfantasie und schaute Lucas an, der nicht glücklich aussah. Er knibbelte am Etikett der Weinflasche, die neben ihm im Eiskühler stand. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, hob er den Kopf und bemühte sich um ein Lächeln. »Ich überlege gerade, wie ich eigentlich in dieses moralische Dilemma hineingerutscht bin …«

»Erzählst du mir die Geschichte von Anfang an?«, bat ich.

In diesem Moment kam der Kellner mit unserem Essen und Lucas bat um eine »Gnadenfrist«, weil er sein Fischlein nicht kalt werden lassen wollte.

Beim Kaffee danach holte er dann tief Luft. »Du weißt, dass ich in Stuttgart und London studiert habe? Mein erstes Engagement hatte ich in Stuttgart, aber dann hat mich Covent Garden abgeworben.« Im Royal Opera House4 habe er dann so ziemlich das ganze Repertoire für lyrische Baritone rauf- und runtergesungen und so sei er eines Tages auch als Silvio in »Il Pagliaccio« (in Deutsch: Bajazzo) eingesetzt worden. »Der Bajazzo« aber ist insofern eine Ausnahme von anderen Opern, da hier nicht der Tenor die Dame kriegt, sondern als betrogener Ehemann fungiert, während der Bariton der Ehebrecher ist.

In London wurde der Bajazzo von Mario Miercoledi gesungen, der damals schon ein etablierter Star war. Lucas kommentierte grinsend: »Damals war er ja auch noch 15 Jahre älter als ich. Inzwischen wird er jedes Jahr jünger und in ein paar Jahren werde ich dann der Senior sein.«

In den Proben in London habe Miercoledi damals den jungen Kollegen nicht weiter beachtet. Doch in der Vorstellung kam er nicht umhin – Lucas bekam nämlich Szenenapplaus, Miercoledi aber nicht. Und vor dem Vorhang musste Miercoledi dann feststellen, dass dieser Jüngling, den man ihm da als Bariton serviert hatte, nicht nur ekelhafte zehn Zentimeter größer als er war, sondern obendrauf auch noch einen vorwiegend weiblichen Fanklub in London hatte und von dem ebenso lautstark wie enthusiastisch bejubelt wurde. Miercoledi sei alles andere als glücklich darüber gewesen.

Ich konnte es mir gut vorstellen. Miercoledi war für seine Eitelkeit bekannt und pflegte sich im Beifall zu suhlen. Ich grinste bei der Vorstellung, wie er es wohl gefunden hatte, neben einem deutlich jüngeren und definitiv hübscheren Kollegen zu stehen.

Dennoch: Miercoledi wäre nicht so weit gekommen, wenn er nicht gewusst hätte, dass man mit starken Partnern am besten zur Geltung kommt und so erbat er sich bei seinem nächsten Engagement in London Lucas als Partner. Gegeben wurde Puccinis »Manon Lescault« und Miercoledi dachte wohl, dass Lucas ihm als Manons fieser Bruder nicht die Show stehlen würde, aber das empfanden die Damen im Publikum anscheinend anders. Ein Kritiker hatte damals geschrieben, dass der »Bad-Boy-Effekt« voll zum Tragen gekommen sei und der tenorale Lover dagegen fast blass gewirkt habe.

Kurz darauf verabschiedete sich Lucas vom Royal Opera House in die einträglichere Karriere als freier Sänger. Dadurch war er auch für andere Häuser verfügbar und er war als Lescaut so aufgefallen, dass er nun ständig als Miercoledis Partner engagiert wurde. »Ich freute mich natürlich – mir war klar, dass die Zusammenarbeit mit ihm eine Riesenchance für mich war. Ich kam mit ihm an die Scala, nach Wien in die Staatsoper, nach München zur Bayerischen Staatsoper, nach Stuttgart, nach Stockholm. Allerdings: An der Met und bei den Salzburger Festspielen habe ich ohne ihn mit Mozart debütiert. Aber wer weiß, ob die mich bemerkt hätten, wenn ich nicht mit ihm unterwegs gewesen wäre?«

Bei der Zusammenarbeit mit Miercoledi habe er natürlich ganz schnell auch Giulia Miercoledi kennengelernt. Sie sei immer sehr nett zu ihm gewesen. Bei der ersten großen Produktion mit Miercoledi – wobei so etwas mit allen Proben schon einmal zehn oder elf Wochen dauern kann – sei er sich schließlich vorgekommen, als ob die Familie Miercoledi ihn als jüngeren Bruder adoptiert hätte.

Dabei habe er aber schon gemischte Gefühle gehabt. »Sicher, sie waren ganz reizend, aber – wie soll ich das erklären?« Lucas suchte nach Worten, orderte noch einen Kaffee und erzählte weiter: »Beide können nicht allein sein – noch nicht einmal miteinander. Deswegen waren sie schon damals immer mit einer Entourage – Assistent, Manager, Sekretärin, Nanny für die Kinder, irgendwelche Leute aus der weitläufigen Verwandtschaft – auf Tour. Du kommst dir bei ihnen immer vor wie an Gianni Schicchis5 Sterbebett! Das Verrückte war aber, dass ihnen die Entourage hätte reichen sollen, aber nein – ich wurde auch noch ständig mitgeschleppt. Wenn wir nicht geprobt haben, wollte Mario mit mir Tennis spielen oder Giulia wollte einen Begleiter für den Stadtbummel. Sagte ich dann, dass ich nicht Tennis spiele und Shopping Trips nicht sonderlich mag, wurde ich überredet. Und ich wollte nicht ständig der Spielverderber sein, mir tat Giulia leid, wenn sie darüber klagte, dass sie sich alleine fühlt, weil die Leute um sie rum ja alles seine Leute seien. Gleichzeitig ging es mir so auf den Wecker, dass man dann auch jeden Abend miteinander essen gehen sollte. Du kennst mich …« Er lächelte ein wenig verlegen.