Mord beim Spalatin - Martin Burkert - E-Book

Mord beim Spalatin E-Book

Martin Burkert

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Beschreibung

Neue Herausforderungen liegen im Flüchtlingsproblem und dem Umgang mit dem Islam in unserer großen und kleinen Welt. Im vorliegenden Heimatkrimi wird das konservative und noch immer katholisch geprägte ländliche Franken fokussiert. Das kleine Städtchen Spalt steht beispielhaft für tausende anderer Orte auf dem Lande in ganz Deutschland. Wie wirkt sich die Islamophobie auf die Idylle in romantischer Umgebung aus? Ein besonders einfach strukturierter, sehr katholisch geprägter Außenseiter hört von der angeblichen Gefahr der Umwandlung seiner geliebten Nikolaus Kirche in eine Mosche. Wie sich die aufgestörte, ländliche Welt mit den verschiedensten liberalen und auch gestörten Persönlichkeiten nach dem gewaltsamen Mord eines der angesehensten und beliebtesten Bewohner verhält, lesen Sie hier. Nur folgende Stichpunkte werden hier genannt, um die Spannung nicht aufzulösen: Eifersucht, Gerüchteküche, Gedankenstreit, religiöser Wahn und Heilige in der örtlichen Kirche wie in längst überwunden geglaubten Tagen. Der Icherzähler bringt den Kommissar moderner Denkart dann doch noch zur Überzeugung, dass die Uhren auf dem Land anders laufen können.

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Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Der Heimatkrimi: Mord beim Spalatin

Und wie ging es weiter?

Heftiger Regen geht über der nächtlichen Altstadt von Spalt nieder. Die hohen Dächer der alten Hopfenhäuser wollen die Wasserströme in die Dachrinnen laufen lassen. Doch dem massiven Ansturm der Fluten sind sie nicht mehr gewachsen und schicken wahre Sturzbäche auf die engen Gassen. Die Straßenbeleuchtung, alten Gaslaternen nachempfunden, erfüllt die feuchte kleine Welt nur spärlich mit fahlem Licht. Man fühlt sich in längst verflossene Zeiten zurückversetzt. Für den "jungen Alten" Veit Wiesinger ist die Szene vertraut. Er ist hier daheim. Die Pflastersteine auf den winkeligen Gassen glänzen wie winzige Hügel in kleinen Seen. Nicht nur der Starkregen dröhnt mit lautem Getöse gegen Wände und Fensterscheiben. Von allen Seiten der gewachsenen Bebauung der Stadt lärmt das Unwetter. Die Geräusche sind längst nicht mehr den Quellen zuzuordnen. Der Wind bringt die Fensterläden der alten Hopfenböden zum Knattern und Quietschen. Keinen Hund treibt man hinaus und jetzt, kurz vor Mitternacht, ist keine Menschenseele mehr auf den Straßen und Gassen des Städtchens zu sehen.

Veit Wiesinger verweilt bis zum Hochstellen der Stühle im urgemütlichen Bräustüble des Brauereigasthofes. Mit dem Wetterumschwung hat er nicht gerechnet. Er hat weder Schirm noch Mütze dabei. Mit hochgeklapptem Kragen eilt er seinem nicht weit entfernten Haus in der Altstadt zu. Ohne links und rechts zu sehen, duckt er sich unter der unfreundlichen Himmelsdusche. Er muss durch die Gänsgasse und um die Nikolauskirche herum.

Die Gänsgasse in Spalt bei Nacht

Als er beim Spalatin-Denkmal vorbei huschen will, stürmt plötzlich eine dunkle Gestalt hinter der mit viel Kunstverstand geöffneten Kirchhofmauer hervor. Der Angreifer holt aus und schlägt mit einem gewaltigen, dicken Prügel von hinten auf den ungeschützten Kopf des ahnungslosen Herrn Wiesinger. Dieser geht ohnmächtig zu Boden und bleibt unbeachtet liegen, während sich der Unbekannte lautlos durch die Gassen davonmacht.

Fast noch in der Nacht, als der Regen etwas nachgelassen hat, findet der Bäcker auf dem Weg zu seiner Backstube einen Mann in aufgeweichter Montur auf dem Pflaster in der Nähe des Spalatin-Denkmals liegen. Der Frühaufsteher kommt als Erster im kleinen Städtchen aus den Federn, um sein Tagwerk zu beginnen.

Und ich, der ich diese denkwürdige Geschichte erzähle, heiße Schorsch Hintersass. Jetzt 63 Jahre alt. Seit einigen Jahren lebe ich mitten drin im sonst so friedlichen Städtchen Spalt. Meine Zelte habe ich in einem romantischen Turm der Stadtmauer aufgeschlagen. Ich fühle mich hier richtig wohl, geborgen und voll dazugehörig. Bis zum Hinauswurf aus dem Bräustüble befinde ich mich im angeregten Gespräch mit meinem Freund Veit. Wir sind wieder einmal die letzten Gäste. Nach einem herzlichen Servus gehe ich rasch unter dem Regen durch in die andere Richtung in mein Altstadtquartier, nichts ahnend von einer Mordgefahr in der vollständig sicher erscheinenden, aber bedrängenden Nässe der Nacht. Das Unwetter hat uns beide im Wirtshaus überrascht, aber bedroht uns keineswegs. Eine bessere Behütung als in unserer Kleinstadt kann ich mir fast nirgendwo auf der ganzen Welt vorstellen. Nur der irrsinnige Regen hindert mich heute, den kleinen Umweg mit Veit auf mich zu nehmen und ihn nach Hause zu begleiten. Es gibt noch so viel zu besprechen, dass ich mich kaum von dem Freund lösen kann. Hätte ich doch nicht auf die kühlen Wassermassen reagiert! Das große Unglück wäre wohl nicht passiert!

Der Altstadtbäcker muss sich immer wieder überzeugen, dass sein Fund nicht nur einen nassen Kleiderhaufen darstellt. „Nein“, denkt er sich, „nein, in Spalt gibt es doch so etwas nicht! Ein Toter auf dem Weg in meine Backstube.“ Er muss sich überwinden, näher heran zu gehen. Der Mann liegt bäuchlings auf dem Pflaster, das Gesicht nach unten. Der Schock wird gewaltig, als der Frühaufsteher eine große wässrige Blutlache um den Kopf herum entdeckt. Er meint den Mann sogar zu kennen, als er vor lauter Schreck nur ganz scheu – aber doch genauer hinsieht. Natürlich, das ist der Veit, der gute Mann, den alle hier bestens kennen und gernhaben. Mein Freund! Unser bester Mann! Das kann doch nicht möglich sein! Eine Seele von einem Menschen – der Veit. Nein, unmöglich!

Er sucht nach einem Ziegel, den der heftige Regen vom Kirchendach gespült haben könnte oder nach einem Stein aus der Mauer, der den guten Mann so unglücklich getroffen haben könnte. Es kann doch nur ein Unfall, ein schrecklicher Zufall gewesen sein, denkt er bei sich. Nicht einmal ein kleiner Brocken ist in der Nähe aufzuspüren. Dem Bäcker wird immer klarer, dass Gewalt im Spiel gewesen sein muss. In seinem Kopf spukt ein schlimmer Begriff herum: Mord! Mord hier bei uns. Mord, bei uns in Spalt, nein das hat es noch nie gegeben, solange er denken kann! Nein! Der Veit, der hat doch sicher keinen Feind bei uns, meint er. Unser Professor, wie wir ihn auch ehrfurchtsvoll nennen, kennt keinen Dünkel, er hilft allen. Auch unseren Spalter Asylbewerbern begegnet er menschlich und freundlich. Uns alle versucht er immer wieder zu überzeugen, dass sie Menschen sind, die hier Schutz suchen aus einer bedrohten Welt und deshalb unsere Hilfe brauchen. Dem Bäcker geht durch den Sinn, dass der tote Mann mehr für seine Heimat ist, als er jetzt im Einzelnen aufzählen könnte. Er repräsentiert ganz einfach Spalt, seine Geschichte, seine Mauern, seine Kirchen, ja kurz gesagt: Er ist so etwas wie die Seele der Stadt. Und er verkörpert das schöne, ruhige aber gesellige Leben hier. Und doch steckt noch mehr dahinter. Er ist in der großen Welt ebenso daheim, wie hier bei uns.

Plötzlich schießt dem Bäcker ein neuer Gedanke in den Kopf: es sieht ja nicht so aus, aber vielleicht lebt der Mann ja doch noch und braucht Hilfe. Eigentlich ja naheliegend, aber auf einmal unwirklich für ihn. Mehr aus Pflichtbewusstsein, aber total scheu und voller Schaudern berührt er das Opfer an der blutverschmierten Wange. Eiskalt! Er versucht den Körper etwas zu bewegen. Stocksteif! Ja, das ist die Totenstarre. Aus den vielen Krimis, im Abendprogramm des Fernsehens anscheinend das Wichtigste der Welt, weiß man schließlich in diesen mörderischen Dingen Bescheid - und zwar überall, auch in Spalt.

Was ist jetzt zu tun?

„Sanitäter überflüssig,“ denkt er. „Ich kann den Ärmsten doch nicht einfach auf der Straße liegenlassen - es könnte jetzt allmählich jemand aufstehen und mit dem Auto um die Nikolauskirche anrollen! Also schnell mit dem Handy den Notruf 112 wählen.“

„Ja, hier der Bäcker aus der Altstadt in Spalt. Auf der Straße vor dem Spalatin-Denkmal am Gabrieli-Platz liegt ein Mann. Ich glaube, er ist tot. Bitte sofort kommen!“

Er bleibt bei dem Toten und muss 20 unheimliche Minuten bangen - ganz allein mit ihm, als ob er Totenwache halten müsste. Es wird ihm übel, kalt und wieder heiß in kurzen Abständen, obwohl es immer noch etwas regnet und die feuchte Kälte am Morgen eines späten Herbsttages ihm durch Mark und Bein geht.

Endlich ein Martinshorn und kurz danach noch mal zwei Sirenen. Die Sanitäter, der Notarzt, die Polizei - alle stehen geschockt und ziemlich ratlos herum. Es gibt nach kurzer Überprüfung keinen Zweifel, dass da ein Toter liegt. Keine Spuren verwischen! Alles sieht nach einem Mord aus. Man muss warten auf die Spurensicherung und den Kommissar von der Mordkommission aus Nürnberg.

Tatsächlich – gegen acht Uhr trifft er bereits mit seinen Leuten am Tatort ein, als schon etwa zwanzig Frauen und Männer der Stadt in der Nähe stehen, gaffen und tuscheln. Sie machen einen verschreckten Eindruck. „Ist es wirklich unser guter Professor? Erst gestern Abend habe ich ihn noch mit seinem Freund Schorsch beim Bier im Bräustüble gesehen. Ich bin aber bald vor dem großen Regen heimgegangen“, weiß einer zu berichten.

Der Ermittler erfasst die Situation sehr schnell. Zunächst denkt er zwangsläufig an einen Raubmord. Die ersten Fragen, die er sich stellt sind: wer ist der Tote? Was wurde vom Täter erbeutet?

Die herumstehenden Bürger können die erste der Fragen zweifelsfrei beantworten: „es ist der Spalter Bürger Dr. Veit Wiesinger.“ Diese erste, für jede Ermittlung erst einmal wichtigste Information ist hier einfach und schnell gelöst. Die zweite Aufgabe ist schon komplizierter: Herauszufinden, was fehlen könnte, erfordert die Kenntnis, welche Gegenstände vorhanden waren. Um keine Spuren zu verwischen, fingert der mitgekommene Spezialist mit Gummihandschuhen vorsichtig in den Taschen des Opfers herum. Er fördert aus der rechten Manteltasche einen Geldbeutel mit Ausweisen, einer Menge von Plastikkarten und einer Barschaft von nur 73 Cent zu Tage. Ein Blick auf den Personalausweis bestätigt die Identität des Toten. Der minimale Geldbetrag könnte den Verdacht untermauern, dass der Täter die Scheine an sich gebracht hat und die Geldbörse schnell wieder loshaben wollte. Auch der ungewöhnliche Auffindungsort in der Manteltasche ist verdächtig. Wer trägt schon seine wichtigsten Dokumente so ungeschützt herum? Der Einfachheit und Schnelligkeit halber könnte der Täter die Scheine an sich genommen und die Geldbörse geschwind in die Manteltasche zurückgesteckt haben. Alles andere als Bargeld gibt nur Spuren, weiß der erfahrene Ermittler. Wenn noch der relativ einfache Nachweis geführt werden kann, dass Herr Wiesinger einen nennenswerten Barbetrag bei sich hatte, ist seine erste Vermutung eines Raubmordes untermauert.

Der Kommissar wendet sich an die verängstigt herumstehenden Leute. Er hört sie von einem Freund des Opfers sprechen. „Wer ist sein Freund, von dem Sie sich gerade unterhalten? Bitte Name und Anschrift! Vielleicht hat jemand auch seine Handynummer?“

„Nein, aber er wohnt gleich um die Ecke. Er heißt Schorsch und haust in einem Turm der Altstadtmauer gerade mal 5 Minuten von hier- gleich nach dem Brauereigasthof.“ „Hat er auch einen Nachnamen?“, fragt der Kommissar. „Ja, Schorsch Hintersass, schreibt er sich.“

Der Kommissar überzeugt sich, dass die Spurensicherung gut läuft und die Leiche so schnell wie möglich in die Gerichtsmedizin abtransportiert werden kann. Er erkundigt sich bei den Bürgern nach der Familie des Opfers. Man weiß genau Bescheid: „Seine Frau, die Anni, ist auf Reha in Bad Staffelstein und seine zwei Töchter aus erster Ehe befinden sich irgendwo beim Studium im Ausland. Daheim ist ganz sicher niemand. Und die Anni, seine zweite Frau, ist eine ganz Eifrige, die nach ihrer Hüftoperation sicher längst im Kraftraum trainiert oder ihre Runden schwimmt. Vor Mittag erreichen Sie die agile Anni sicher nicht!“

Der „Kriminaler“, wie ihn die Spalter nennen, entscheidet sich, erst einmal den Freund des Toten, Schorsch Hintersass – also mich persönlich - aufzusuchen. „Kann mich vielleicht jemand begleiten?“, bittet er die Einheimischen. Gleich drei Bürger gehen bereitwillig mit. Sie sind sehr gesprächig auf dem kurzen Weg:

„Ja, der Wiesinger, ein schöner und bedeutender Mann, der war Professor an der Universität und ist seit einem Jahr in Rente. Er ist ein berühmter Geschichtsforscher und außerordentlich beliebt in seiner Heimat. Er stammt aus einer Spalter Familie. Sein Vater war hier Lehrer. Er kam von Gunzenhausen und hat hier reingeheiratet. Er war ein Lutherischer, die Kinder, also auch der Veit, sind aber katholisch.“

„So genau wollte ich das gar nicht wissen“, meint der Kommissar etwas unwillig. Er ist erstaunt über ein Detail, das er bei seinen Ermittlungen noch nie gehört hat. „Ja mei, das mit katholisch oder lutherisch ist aber bei uns in Spalt immer noch a weng wichtig“, erklärt ihm ein Einheimischer mit bedeutsamer Gestik. Und schon stehen sie vor meinem schön ausgebauten Stadtmauerturm.

Jetzt um halb neun Uhr ist das Leben in der kleinen Stadt erwacht. Aus vielen Fenstern scheint an diesem trüben Morgen noch Licht und man hört es überall rumoren. Autos starten von Parkplätzen und aus den Garagen.

Ich habe geduscht und mich gut gelaunt und gemütlich im Morgenmantel zum Frühstück niedergelassen, als jemand wie wild am Seil der alten Hausglocke zieht. „Wer da so bald am Morgen?“, frage ich mit leicht singender Stimme verwundert zum Eingang hin. „Polizei“ ruft der Kommissar fast etwas überfreundlich, wie wenn er sich entschuldigen wollte. Er möchte wohl nicht gleich einen Schock am Morgen auslösen. Ich denke an den Scherz eines Freundes oder Bekannten. Gelassen öffne ich die Türe, erschrecke aber ganz schön beim Anblick des Fremden.

„Mein Name ist Hermann Bauernfeind. Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung. Es geht um eine todernste Sache. Bitte fassen Sie sich! Herr Wiesinger wurde heute Morgen tot in der Nähe des Denkmals am Gabrieli-Platz aufgefunden. Ich leite als Kommissar der Nürnberger Dienststelle die Ermittlungen. Nach den Bekundungen ihrer Mitbürger sollen Sie gestern Abend mit dem Verstorbenen beim Bier im nahen Brauereigasthof gesessen haben. Entspricht das der Wahrheit?“

Ich bin schockiert und total verunsichert. Soll ich das einfach nicht glauben, weinen oder schreien? Meinen letzten Frühstücksbissen beginne ich zu würgen. Der Kommissar beobachtet mich aufmerksam, ja sogar etwas argwöhnisch.

Gequält stoße ich ein „ja“ heraus. Allmählich schaffe ich es, einigermaßen zusammenhängende Sätze zu formulieren: „Nach elf Uhr, in der Nacht, haben wir uns verabschiedet. Es hat in Strömen geregnet, sonst hätte ich gestern meinen Freund heimbegleitet und den Umweg in Kauf genommen. Wir waren so vertieft im Gespräch, dass ich mich richtig von ihm losreißen musste. Bei dem Unwetter sahen wir zu, jeder auf dem schnellsten Weg durch die Wassermassen nach Hause zu kommen.“

Der Kommissar unterbricht mich etwas unsanft. Ihm kommt ein schlimmer Gedanke in den Sinn. „Bevor Sie weitersprechen, Herr Hintersass, muss ich Sie dringend auf etwas aufmerksam machen. Das Wort belehren klingt nach vorgestern. Momentan sind Sie Hauptverdächtigter, da Sie sich, wie Sie selbst bekunden, unmittelbar vor der Gewalttat beim Opfer aufhielten. Der Verstorbene ist allem Anschein nach ermordet worden. Es sieht so aus, als ob er von einem schweren Gegenstand von hinten auf den Kopf getroffen wurde. Erst die Obduktion wird genauere Erkenntnisse ergeben - vielleicht auch den Zeitpunkt, wann genau der Tod eingetreten ist. Er lag unentdeckt und ohne Hilfe, die ihn vielleicht noch hätte retten können, bis zum frühen Morgen im heftigen Regen. Erst der Bäcker, als Frühaufsteher, hat ihn entdeckt. Sie, Herr Hintersass, waren vielleicht nur wenige Minuten vor der blutigen Tat in nächster Nähe des Ermordeten. Bitte verstehen Sie, wenn ich Sie vorerst in den Bereich der Verdächtigten einreihen muss. Sie haben die Möglichkeit, die Aussage zu verweigern und einen Rechtsanwalt beizuziehen. Falls Sie aussagen, wird es schwer sein, wieder von allen Einzelheiten, die sie vielleicht unbekümmert berichten, wegzukommen. Wenn Sie eine verantwortliche Aussage machen, wird die Vernehmung mit meinem Smartphone als Tonaufnahme mitgeschnitten.“

Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Erst der Schock mit existenzieller und tiefer Trauer um meinen besten Freund und dann auch noch der Verdacht, ihn selbst umgebracht zu haben! Das ist einfach zu viel - auch für mich, obwohl ich mich als sehr belastbar einstufe. Ich zittere am ganzen Körper, stottere unverständliche Wortfetzen und kann mich endlich soweit artikulieren, dass ich dem Kommissar klarmache: „Ich will nicht nur, ich kann gar nicht anders. Wir müssen herausfinden, wer es war. Und einen Rechtsanwalt brauche ich schon gar nicht.“

Der Kommissar scheint von meiner Reaktion beeindruckt zu sein und meint, dass ich erst einmal Ruhe brauche, um den Schock wenigstens vorläufig zu verarbeiten. Er komme später zur Vernehmung. Zunächst sei ich die Schlüsselfigur für die gesamten Ermittlungen. Er müsse erst nach Bad Staffelstein zur Witwe des Getöteten. Eine schwere Aufgabe, der Überbringer der schrecklichen Nachricht zu sein!

Ich weiß nicht, was ich machen soll. Schließlich folge ich einem alten Rezept, das ich bei Möglichkeit in Fällen der Bedrängnis anwende: ich stelle mich anhaltend unter die heiße Dusche. Dieses Mal wird es eine Dauerdusche, bis mein Wasserspeicher nur noch Kaltes spendet. Immer wieder meldet sich hartnäckig mein Telefon. Nein, jetzt niemand - keine neugierigen Anrufe! Vielleicht erhöht dies die Verdachtsmomente gegen mich, wenn ich mich stumm stelle? So geht es mir durch den wirren Sinn. Jetzt erst einmal die Stunden bis zu meiner Vernehmung überbrücken! Kein Mensch kann mir im Moment helfen. Vielleicht wird sogar mein Telefon überwacht?! Ich kann jetzt im kleinen Spalt unmöglich das Haus verlassen, ohne dass ich umlagert werde und Erklärungen abgeben muss. Sicher würde ich - wenigstens von meinen Mitbürgern - genau beobachtet werden. Alle möglichen Schlüsse könnte man aus meinem Verhalten ziehen.

Ich lösche die Lichter, verrammle die Türe und sitze halb nachdenklich, halb verwirrt im Dämmerlicht des Regentages. Versunken in meinem alten Ohrenbackensessel warte ich verstört. In meinem Kopf rast es wild durcheinander. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.

Herr Bauernfeind, der Kommissar, findet rasch die Reha-Patientin in Bad Staffelstein. Anni Wiesinger befindet sich im Speiseraum der Kurklinik im angeregten Gespräch mit zwei Frauen. Während der Fahrt von Spalt nach Staffelstein wälzt der Beamte in seinem Kopf die Worte hin und her, wie er es möglichst schonend rüberbringen könnte. Alle Schulungen, die er bei Fortbildungstagungen hinter sich gebracht hat, gehen ihm durch den Sinn und doch fühlt er sich hilflos. Erst muss er Frau Wiesinger von ihren Gesprächspartnerinnen loseisen. Er tritt an den Tisch und stellt sich höflich vor, ohne etwas von Polizei verlauten zu lassen. „Frau Wiesinger, kann ich Sie in einer wichtigen Sache kurz allein sprechen?“, fragt er freundlich. Etwas misstrauisch folgt sie ihm ins Foyer. Hoffentlich ist es kein Betrüger, der ihr etwas aufschwätzen will! Eine Anmache schließt sie bei dem deutlich feststellbaren Altersunterschied gleich aus.

„Frau Wiesinger, ich suche Sie in einer tragischen und sehr traurigen Sache auf. Ich bin Kommissar bei der Kriminalpolizei.“ Dabei zeigt er seinen Ausweis kurz vor. „Ihrem Mann ist heute Nacht etwas Furchtbares zugestoßen. Auf dem Heimweg vom Bräustüble wurde er allem Anschein nach von hinten mit einem schweren Gegenstand niedergeschlagen. Er hat diesen Gewaltakt nicht überlebt.“

„Tot? Wirklich tot? Ich fass es nicht.“ Sie beginnt am ganzen Leib zu zittern. Es wird ihr heiß und kalt. Sie möchte weinen, schreien oder sich die Haare raufen. Es geht einfach nichts. Sie ist wie betäubt - so tief sitzt der Schreck. Ist sie doch gerade noch so fröhlich gewesen und jetzt: ein totaler Umschwung der Gefühle!

„Ja, leider, so ist es. Ich würde Ihnen gerne etwas Schöneres berichten. Mein herzliches Beileid“, bringt er empathisch hervor. Nach einer längeren Pause des Schweigens, verbunden mit stoßartigem Schluchzen, fragt sie der Kommissar, ob sie in der Lage sei, Fragen zu beantworten, oder ob sie erst einmal im gerichtsmedizinischen Institut der Universität Erlangen von ihrem Mann Abschied nehmen möchte.

Wie paralysiert vor Schmerz steht Anni auf, ohne ein Wort herauszubringen und wankt mehr, als dass sie geht, zu ihrem Tisch. Der Kommissar hält sich dezent in der Nähe. Es dauert lange, bis sie sich einigermaßen fängt und auf das Angebot des Beamten eingeht. Also mit zur Gerichtsmedizin, ihren Mann noch einmal sehen – sonst kann sie es nicht glauben und hält es für einen Albtraum. Eine hilfreiche Frau ihres Tisches fährt mit ihrem Auto hinterher nach Erlangen, um ihr beizustehen und sie wieder zurückzubringen. Sie will ihr helfen, bis sie selbst in der Lage sein wird, zu packen und ins traurige Heim nach Spalt und in eine beängstigende Zukunft zu fahren. Während der Autofahrt nach Erlangen im Wagen des Kommissars fängt sie sich etwas und stellt die ersten Fragen. Der Beamte antwortet nüchtern, aber im freundlichen Ton. Viel weiß er ja auch noch nicht. Sie bringt unter Schluchzen hervor, dass Veit doch keine Feinde habe. Erst gestern Abend hat er noch in guter Laune mit ihr telefoniert und sei dann ins Bräustüble gegangen, um seinen Freund Schorsch zu treffen. Die Beiden seien ein Herz und eine Seele. Sie betreiben Geschichtsforschung, sind engagierte Stadtführer und kümmern sich um Asylbewerber in unserem Städtchen. Spalatin, der berühmteste Bürger der zwölfhundertjährigen Geschichte der Stadt Spalt, ist es, über den sie gemeinsam forschen. Der Kommissar fragt nach, wer denn dieser Spalatin sei. „Da fragen Sie am besten den Schorsch Hintersass. Ich will jetzt nicht mehr reden“, antwortet sie entschieden. Der Polizist gibt ihr noch sein Kärtchen und bittet sie, ihn anzurufen, wenn sie sich gefangen hat. Er begleitet sie in den Raum vor der Obduktionsabteilung, bleibt noch kurz in ihrer Nähe, als die arme Frau über der Leiche ihres Mannes laut schluchzend zusammenbricht. Er lässt sie in ihrer Trauer allein, da sie ihn ernsthaft darum bittet. Ihre Bekannte, die zur Unterstützung von Staffelstein gefolgt ist, hält sich dezent im Hintergrund, bis Anni sich bei einer herzlichen Umarmung mit ihr ausweint.

Auf dem schnellsten Weg fährt Herr Bauernfeind nach Spalt zurück. Er gönnt sich nur ein „Leberkäsweckla“ bei einem der überregional bekannt guten Metzger des Städtchens und geht rasch zu Schorsch Hintersass - also endlich zu mir. Meine Vernehmung ist vorerst das Wichtigste für ihn. Er hat keine Ahnung von Spalt und den Menschen, die nach seinem ersten Eindruck voller Liebe und Zuneigung für das Opfer fühlen.

Wie erlöst aus dem selbstgewählten Versteckspiel höre ich endlich ein Klopfen an meinem Holztor und die Stimme des Kommissars.

„Nehmen Sie Platz hier in dem bequemen Sessel! Fast alles hier im Turm stammt von meinem Onkel Hans, der sich für sein Alter diesen idyllischen Platz geschaffen hat und mich nach seinem Ableben als Nachfolger und Verwalter eingesetzt hat.“

Geschickt leitet der Beamte die Vernehmung ein. „Schön haben Sie es hier. Ich nehme an, Sie brennen immer noch darauf, auszusagen und wollen mir weiterhelfen.“

Er baut sein Smartphone auf und schaltet es auf Tonaufnahme.

Ohne Nachfrage rattere ich meine Personalien herunter: „Georg Hintersass, 63 Jahre, lediger Rentner und selbständiger Trauerredner, wohnhaft Stadtmauer 17, 91174 Spalt, nicht verwandt und nicht verschwägert – aber gut befreundet mit dem Getöteten - belehrt und aussagebereit“.

„Nanu, professionell?“ meint der Kommissar.

„Naja, vor langer Zeit war ich einmal für ein paar Jahre Staatsanwalt im bayerischen Justizdienst. Dann wurde ich so etwas, wie eine verkrachte Existenz. So sehen es wenigstens einfältige Gemüter.“

Der Kommissar unterbricht mich und meint, er müsse die Vernehmung etwas formatieren. Zunächst solle ich ihm von Veit Wiesinger erzählen, damit er sich ein Bild vom Opfer machen kann – dann von mir, weil ich mich zur fraglichen Zeit nahe am Tatort befand. Zum Schluss will er dann wissen, was man über Spalt so erfahren muss, um einen Mord in diesem Städtchen aufzuklären.

Ich reiße mich zusammen und beginne:

„Veit ist etwa in meinem Alter. Genau weiß ich es im Moment bei der Aufregung nicht. Er ist ein sehr wohlhabender Bürger der kleinen Stadt - ich muss ja in der Vergangenheit sprechen, ja schrecklich, leider - er war es. Geerbt soll er haben und als Universitätsprofessor hat er gut verdient, was zu einer hohen Pension führte. Er war ein Sportsmann, schlank und elegant. Veit sah ungewöhnlich gut aus. Man hielt ihn für viel jünger, als er war. Über Geld sprachen wir nie. Ich wusste nur, dass er sehr viel davon hatte. Er war sehr freigiebig. Geholfen hat er überall, wo er nur konnte. Ihn umgab ein Hauch von Geheimnissen. Irgendwie war Veit hier ganz daheim und doch wieder nicht. Er war viel mehr als ein Kleinstadtbürger. Ich kann es selbst kaum fassen, was es genau ausmachte, dass er so anders war. Er wohnte in einem der schönsten alten Hopfenhäuser, aus Sandsteinquadern erbaut und mit fünf Hopfenböden in den Himmel ragend. Die Fremden stehen häufig davor und zücken ihre Fotoapparate, wenn sie dieses stattliche Anwesen sehen. Ich glaube kaum, dass es hier jemand gibt, der ihn nicht kannte. Wenn er sich hätte aufstellen lassen, wäre er stante pede zum Bürgermeister gewählt worden - da bin ich mir sicher. Es ist aber nicht so, dass unser Bürgermeister kein Treffer wäre – im Gegenteil! Mit Veit war ich mir einig, dass wir die große Weltgeschichte nur verstehen können, wenn wir die Historie der Heimat so genau wie möglich studieren: Wie war es hier und wie in Franken, dann in Deutschland, Europa und der Welt. Vom Kleinen zum Größeren! So betrieben wir unser gemeinsames Hobby. Wir sind im Geschichtsverein aktiv. Kein anderer als Veit ist schon lange der Vorsitzende. Ich bin sein Vertreter.

Er war zunächst als promovierter Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Nürnberg tätig. Später habilitierte er sich mit einem Thema über die Gegenreformation in Franken. Der Aufhänger persönlicher Art für sein Interesse an dieser Zeit war die Vertreibung seiner lutherischen Vorfahren im Dreißigjährigen Krieg aus dem Salzburgischen. Entweder katholisch werden, auswandern oder Tod und Verfolgung hieß es damals unerbittlich. Veit war als liberaler Katholik stolz auf seine Vorfahren, die sich als sogenannte Exulanten nicht verbiegen lassen wollten, sondern ihre geliebte Heimat in Richtung evangelisches Franken verließen. Sie gaben einen wunderschönen reichen Bauernhof in Werfen bei Salzburg dahin. Mit Veit besuchte ich sogar einmal die Heimat seiner Vorfahren in Werfen. Der Getötete