Mord im Dirnenhaus - Petra Schier - E-Book

Mord im Dirnenhaus E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

Sündige Jungfern, tote Freier und eine scharfsinnige Apothekerin 1396: Köln steht Kopf - ein ehrenwerter Kölner Bürger nach dem anderen wird tot im Dirnenhaus aufgefunden. Der mit dem Fall betraute Ratsherr erinnert sich daran, dass Adelina schon einmal einen Mordfall aufgeklärt hat und bitte sie um Hilfe. Die junge Frau hat gerade die Apotheke ihres Vaters übernommen und eigentlich anderes zu tun, als auf Mörderjagd zu gehen. Sie lässt sich jedoch erweichen - und wird plötzlich selbst zur Hauptverdächtigen …

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Petra Schier

Mord im Dirnenhaus

Historischer Roman

Informationen zum Buch

Sündige Jungfern, tote Freier und eine scharfsinnige Apothekerin 1396: Köln steht Kopf – ein ehrenwerter Kölner Bürger nach dem anderen wird tot im Dirnenhaus aufgefunden. Der mit dem Fall betraute Ratsherr erinnert sich daran, dass Adelina schon einmal einen Mordfall aufgeklärt hat, und bittet sie um Hilfe. Die junge Frau hat gerade die Apotheke ihres Vaters übernommen und eigentlich anderes zu tun, als auf Mörderjagd zu gehen. Sie lässt sich jedoch erweichen – und wird plötzlich selbst zur Hauptverdächtigen…

Informationen zur Autorin

Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet mittlerweile freiberuflich als Lektorin und Schriftstellerin.

Mehr Informationen zur Autorin unter www.petralit.de.

Weitere Veröffentlichungen:

(die historischen Romane um die Apothekerstochter Adelina)

Tod im Beginenhaus

Mord im Dirnenhaus

Verrat im Zunfthaus

(aus der Romanreihe um die Reliquienhändlerin Marisa)

Die Stadt der Heiligen

Die Eifelgräfin

Für Paul.

In Liebe.

Ich machte sie satt, doch sie trieben Ehebruch und waren zu Gast im Dirnenhaus.

(Jer. 5,7-9)

Wenn die Flut heranbraust, erreicht sie uns nicht; denn wir haben unsere Zuflucht zur Lüge genommen und uns hinter der Täuschung versteckt.

(Jes. 28,15)

Prolog

Das Haus Zur schönen Frau lag in einer der übelsten Gassen Kölns, der Schwalbengasse beim Berlich. Das hielt den Ratsherrn Thönnes van Kneyart jedoch auch heute, am heiligen Sonntag, nicht davon ab, an die Tür des Dirnenhauses zu klopfen.

Ein paar Schweißperlen rannen ihm über den Nacken in den Kragen. Der Spätsommer gab sich jetzt, Mitte September, noch einmal größte Mühe. Die Sonne stach von einem beinahe unwirklich blauen Himmel herab, und die Luft flirrte vor Hitze. Über allem lag der Gestank der Abortgruben. Es war erst kurz nach Mittag, und die Menschen hatten sich in ihre kühlen Häuser zurückgezogen.

Mutter Berta, die Hauswirtin des Dirnenhauses, war in Wirklichkeit niemandes Mutter, sondern stand den Hübschlerinnen vor. Sie öffnete den Freiern die Tür, hieß sie mit einem überaus wohlwollenden Lächeln willkommen und sorgte dafür, dass jeder das bekam, wonach ihn gelüstete. Nachdem einige Münzen den Besitzer gewechselt hatten, führte sie den Ratsherrn persönlich die Treppen zu den Gemächern hinauf. Elsbeth erwarte ihn bereits sehnsüchtig, behauptete sie, nicht wissend, dass dies sogar der Wahrheit entsprach. Van Kneyart wusste es im Gegensatz zu ihr jedoch genau, und auch er war, wie so oft in letzter Zeit, voll ungeduldiger Vorfreude.

Zur gleichen Zeit, als der Ratsherr die Kammer der Hübschlerin Elsbeth betrat, schlenderte ein hochgewachsener Dominikanermönch an dem Hurenhaus vorbei. Beim Anblick der allzu üppigen steinernen Frauenfigur vor dem Eingang verzog er missbilligend das Gesicht und blieb stehen. Dies war also der Sündenpfuhl, von dem ihm seine Kölner Mitbrüder erzählt hatten. Die Schlangengrube. Beim Gedanken an die unaussprechlichen Dinge, die hinter den weißgekalkten Mauern des zweigeschossigen Hauses vor sich gingen, durchfuhr ihn ein Schauer. Unzucht war ihm verhasst. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Kuppelhäuser auszuräuchern und die Bewohnerinnen mit allen Mitteln wieder der Heiligen Mutter Kirche und dem Herrn zuzuführen.

Als der Kutscher eines vorbeirumpelnden Ochsenfuhrwerks ihm eine obszöne Bemerkung über lüsterne Ordensbrüder zuwarf, verdüsterte sich die Miene des Mönchs. Er schob seine Hände in die Ärmel seiner makellos weißen Kutte und verschränkte sie vor dem Bauch.

Die Hitze schien ihm nichts auszumachen. Vielmehr umgab ihn eine kaum greifbare Kühle, die aus seinem Inneren zu kommen schien. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, wichen ihm unbewusst aus.

Mit geschmeidigen Schritten ging er den schmalen Pfad zur Rückseite des Hauses und spähte in den von einem niedrigen, mit Efeu überwucherten Zaun umgebenen Garten. Dort lagen Wäschestücke zum Bleichen im Gras. Ein junges Mädchen in Holzpantinen und einem fadenscheinigen Kittelchen hackte Holz. Ehe sie ihn bemerken konnte, hatte er bereits den Rückzug angetreten. Er überquerte die Gasse und wandte sich Richtung Zeughaus. Für heute hatte er genug gesehen. Als ein gutes Stück hinter ihm lag, hörte er aus dem Hurenhaus plötzlich hysterisches Schreien. Er blieb stehen und drehte sich um. Auch zwei Fuhrknechte, die einige Häuser weiter eine große Karre mit Bierfässern entluden, wurden aufmerksam, und etliche Gassenjungen kamen herbeigerannt und gafften. Aus dem Geschrei waren deutlich die Worte «Zu Hilfe!» herauszuhören. Der Dominikaner verzog den Mund zu einem wölfischen, fast triumphierenden Grinsen. Die Frucht der Sünde schien einmal mehr herabgefallen zu sein. Mitleid mit der Kreischenden empfand er keines.

In diesem Moment flog die Tür des Hurenhauses auf und ein hünenhafter Bursche, wohl ein Knecht, rannte an ihm vorbei, als habe er den Teufel gesehen.

«Zum Büttel, Mattes! Lauf zum Büttel!», schrie die Hauswirtin dem Burschen nach. Dann fiel die Tür wieder ins Schloss.

Der Dominikaner wollte sich keinesfalls der Sünde der Neugier schuldig machen, dennoch blieb er noch einen Augenblick stehen. Lange genug, um mitzubekommen, wie sich eine alte, ziemlich große und spindeldürre Frau in aller Heimlichkeit aus einer kleinen Pforte an der Seite des Hurenhauses stahl. Ihr Gesicht und Haar waren von einem grauen Tuch fast vollständig verhüllt. Am Arm trug sie einen großen runden Korb, dessen Inhalt sorgsam mit einem Tuch bedeckt war. Die Frau blieb an der Hausecke stehen und blickte sich in alle Richtungen um. Dann lief sie zielstrebig los. Als sie an ihm vorbeikam, konnte er einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Seine Augen weiteten sich, und er starrte ihr mit offenem Mund nach, wie sie die Schwalbengasse hinaufeilte und dann in einer winzigen Seitenstraße verschwand.

1

Adelina war gerade dabei, das Nachtgeschirr ihres Vaters in die Abortgrube auszuleeren. Auch nach beinahe einem Jahr hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt, diese unangenehme Arbeit ihren Mägden zu überlassen. Sie presste die Lippen zusammen, denn der Gestank bereitete ihr Übelkeit. Schon seit Tagen kämpfte sie dagegen an, und jetzt hätte sie sich beinahe übergeben. Das heiße Wetter begünstigte das Entstehen der fauligen Gase noch und übertünchte den lieblichen Duft der Kletterrosen, die sich über den neuen kleinen Hühnerstall rankten. Daneben hatte sie ein Gemüse- und Kräuterbeet angelegt, in dem neben Pastinaken, Möhren und ausladenden Kohlköpfen üppige Petersilien-, Minze- und Melissenstauden gediehen. Auf ihre Bohnen war sie besonders stolz, denn die hohen Stangen waren unter dem Grün des Laubes und der großen Schoten kaum noch zu erkennen.

Doch heute hatte sie keinen Blick für ihren gepflegten Garten.

Zähneknirschend ließ sie den schweren Deckel zurück an seinen Platz knallen und wandte sich rasch ab. In der Hintertür stand ihre junge Magd Franziska und winkte.

«Herrin, in der Apotheke ist der Ratsherr Georg Reese und wünscht Euch zu sprechen.»

«Reese? Du liebe Zeit.» Adelina atmete tief durch und drückte dem Mädchen das Nachtgeschirr in die Hände. «Stell das in die Kammer meines Vaters und dann lauf los und versuche, die Goldgräber dazu zu bringen, noch heute unseren Abort auszufahren. Nimm die zwei silbernen Groschen aus der Dose im Küchenregal, das sollte sie überzeugen.»

Franziska nickte zustimmend. Adelina ging mit grimmiger Miene an ihr vorbei ins Haus.

Bevor sie den Apothekenraum betrat, wusch sie sich rasch in der Küche die Hände, fuhr sich über ihr Kleid und prüfte, ob ihre weiße Leinenhaube noch ordentlich auf ihren schwarzen, sorgfältig geflochtenen Haaren saß.

«Herr Reese, wie nett, Euch wiederzusehen!», begrüßte sie den hageren Mann, der in seiner dunkelgrauen Kaufmannskluft wie ein gestrenger Schulmeister wirkte.

«Adelina… Meisterin Burka», verbesserte er sich und lächelte wohlwollend. «Gut seht Ihr aus. Die Ehe hat Euch noch hübscher gemacht.»

Adelina legte den Kopf auf die Seite. «Nun kenne ich Euch schon eine ganze Weile, Herr Reese, aber ich wusste nicht, dass Ihr auch ein Schmeichler seid. Und nennt mich nur weiterhin Adelina.»

«Wie Ihr meint, aber dann wenigstens Frau Adelina, so gehört es sich.» Reese sah sich in der ordentlichen Apotheke um. Die Wände waren von hohen Regalen gesäumt, in denen neben allerlei Arzneien und getrockneten Kräutern auch Phiolen mit seltenen Essenzen und Tiegel mit geheimnisvollen Pulvern und Pasten aufgereiht waren. In der hinteren Ecke, neben der Tür zu den Wohnräumen, stand eine geschnitzte Holzkiste mit gewölbtem Deckel und Eisenbeschlägen und daneben ein Korb mit frischem Grünzeug. Dieses verströmte einen süßen Duft, der sich auf faszinierende Weise mit den scharfen Gerüchen der getrockneten Kräuter vermischte. Über allem schien eine leicht metallische Note zu schweben.

In der Mitte des Raumes stand die große Verkaufstheke mit der Waage und unterschiedlich großen Gewichten.

«Euer Geschäft ist eine Wohltat für das Auge, meine Liebe. Kein Vergleich zu den Räumlichkeiten Eurer Berufsgenossen.»

Adelina gab keine Antwort, sondern sah ihn nur abwartend an.

Der Ratsherr faltete die Hände vor dem Bauch und sah sich noch einmal um, dann schien er sich dazu durchgerungen zu haben, zu sprechen.

«Wie Ihr sicher schon vermutet habt, bin ich aus einem bestimmten Grund hier. Wir haben uns seit der Sache… der Sache im vergangenen Winter nicht mehr gesehen. Und es hätte sich auch wohl nicht ergeben, wenn nicht…» Er machte eine Pause.

«Was führt Euch zu mir, Herr Reese?»

«Ich brauche Eure Hilfe. Es geht um eine etwas… delikate Angelegenheit. Ich meine… ich weiß, Euer Gemahl ist derzeit nicht in der Stadt…»

«Er macht einen Besuch bei seiner kranken Mutter in Kortrijk, wird aber in wenigen Tagen zurück sein», ergänzte Adelina freundlich.

Reese nickte ihr zu. «Ja, nun, ich weiß. Und ich glaube nicht, dass es richtig ist, Euch gerade jetzt zu behelligen, wo Ihr mit der Apotheke und dem Haushalt und allem alleine seid.»

«Herr Reese», unterbrach Adelina ihn ungeduldig. «Ich habe auch früher schon einen Haushalt alleine geführt und ebenso die Apotheke, wenn es meinem Vater nicht gutging. Würdet Ihr also bitte endlich sagen, worum es geht?»

«Natürlich.» Der Ratsherr schien sich immer unwohler zu fühlen. «Aber ich weiß wirklich nicht, ob Magister Burka damit einverstanden wäre. Ich…» Als er ihren strengen Blick sah, zuckte er mit den Schultern. «Es hat vor zwei Tagen einen Mord gegeben.»

«Ich habe davon gehört», sage Adelina. «Die Leute sagen, dass ein Ratsherr getötet wurde.»

«Ja. Thönnes van Kneyart, der Goldschmied. Er wurde vergiftet.»

«Und warum kommt Ihr damit zu mir?» Adelina hob spöttisch die Brauen. «Oder glaubt Ihr wieder einmal, ich habe ihm das Gift verabreicht?»

«O nein, Gott bewahre!» Reese hob abwehrend die Hände. «Ganz gewiss nicht. Dennoch habe ich gehofft, dass Ihr mir bei der Aufklärung der Sache behilflich sein könnt. Allerdings…», wieder hielt er inne und wischte sich umständlich den Schweiß von der Stirn. «Warm habt Ihr es hier drin.» Auf ihr Stirnrunzeln hin nickte er. «Also, die Sache ist die, dass Ihr Stillschweigen über die Angelegenheit bewahren müsst. Van Kneyart hat sich nämlich an einem denkbar ungünstigen, will sagen unziemlichen Ort umbringen lassen.»

«Tatsächlich?» Um Adelinas Mundwinkel zuckte es. «Ist bei Mord nicht ein Ort so unziemlich wie der andere?»

«In diesem Falle nicht. Er befand sich nämlich zum Zeitpunkt seines Ablebens in der Schwalbengasse, genauer gesagt im Haus Zur schönen Frau.»

«In dem Hurenhaus?», fragte Adelina gelassen. Ihr war klar, dass Männer unterschiedlichster Schichten das Dirnenhaus aufsuchten, interessierte sich aber nicht für die heimlichen Vergnügungen der Reichen und Mächtigen.

«Wie es aussieht, starb er mitten während des…»

«Ich verstehe.» Nun lächelte Adelina. So fahrig und unbeholfen hatte sie den Ratsherrn noch nie erlebt, war er doch sonst ein Respekt einflößender Mann, der unnahbar wirkte und meist eine gewittrige Miene zur Schau trug. «Und woran ist er nun gestorben?»

«Eisenhut. Wir haben die Dirne, die bei ihm war, festgesetzt und befragt. So, wie sie es beschrieben hat, kann es sich kaum um etwas anderes gehandelt haben.»

Adelina schnalzte.

«Ein sehr unangenehmes Gift. Brennen und Kribbeln im Mund, das sich schnell über Arme und Beine ausbreitet. Schweißausbrüche, Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, zum Schluss Atemstillstand», zählte sie auf. Reese zuckte zusammen, nickte aber.

«Ein gefährliches, aber leicht zugängliches Gift.»

«In Italien ist es sehr beliebt, sagt mein Gemahl.» Adelina stützte sich auf der Theke ab. «Aber auch hierzulande findet man es nicht selten. Nun weiß ich aber noch immer nicht, wie ich Euch helfen kann.»

«Ich muss wissen, wo hier in der Gegend Eisenhut zu finden ist und wie es in den Magen des Opfers gelangt ist.»

«Wo man Eisenhut findet, kann ich nicht sagen, dazu müsste ich meine Sammelfrauen befragen. Verabreicht wird es normalerweise über das Essen oder als Essenz in Wein oder Bier.»

«Wir haben das Essen, das van Kneyart in dem Hurenhaus angeboten wurde, beschlagnahmt, ebenso den Wein. Beides haben wir einem Straßenköter gegeben, aber er lebt noch. Das kann es also nicht gewesen sein. Außerdem beteuert die Dirne, dass sie ebenfalls davon gegessen habe.»

«Und sonst hat er nichts zu sich genommen?»

«Soweit wir wissen, nicht», bestätigte Reese.

«Eisenhut ist ein schnell wirkendes Gift», erklärte Adelina mit Bestimmtheit. «Die ersten Symptome treten schon nach wenigen Minuten auf. Er muss noch etwas anderes gegessen haben.»

«Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit? Würdet Ihr Euch dieser Frage annehmen? Ich wäre Euch sehr dankbar.»

Adelina verschränkte die Arme vor dem Leib. «Ich kann mich umhören, aber versprecht Euch nicht zu viel davon. Ich glaube nicht, dass es noch andere Wege gibt, jemanden damit zu vergiften. Versucht lieber herauszufinden, was der Mann sonst noch gegessen oder getrunken haben könnte.»

Reese nickte erneut und trat zur Tür. «Was Eure Sammelweiber angeht…»

«Ich befrage sie», versprach Adelina. «Wie kann ich Euch erreichen?»

«Ich komme in ein oder zwei Tagen wieder her, wenn es Euch recht ist. Gehabt Euch wohl und grüßt Euren Vater von mir. Und Euren Herrn Gemahl, falls er bis dahin schon wieder im Lande ist.»

«Natürlich.» Adelina sah ihm durch das Fenster nach, wie er zielstrebig über den Alter Markt schritt und kurz darauf in der Menge der Käufer, die sich zwischen den Marktbuden drängten, verschwand.

«Wenn er wieder im Lande ist», murmelte sie vor sich hin und seufzte. Die beinahe sechs Wochen, die Neklas nun schon fort war, kamen ihr wie Monate vor. Allmählich machte sie sich Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Schließlich hörte man immer wieder von Wegelagerern und Räuberbanden, die selbst große Handelskarawanen überfielen. Einer solchen hatte er sich Anfang August angeschlossen, nachdem ein Bote ihm die Nachricht überbracht hatte, dass seine Mutter schwer erkrankt sei, vermutlich sogar auf dem Totenbett liege und ihren jüngsten Sohn noch einmal sehen wolle. Adelina rieb sich über die Stirn. Sie selbst hatte Neklas ermutigt, so rasch wie möglich zu reisen, wusste sie doch nur zu genau, wie es war, die Mutter zu verlieren. Doch nun…

Entschlossen griff sie in eines der Regale und nahm ein Kästchen heraus, das mehrere kleine, furchtbar teure Glasfläschchen mit Duftessenzen enthielt, die alle säuberlich in Wachstuchbeutelchen genäht waren. Eine Lieferung für Ida vom Stein, eine reiche Patrizierin, die in der Nähe des Neumarkts wohnte.

Es war erst kurz nach Mittag, also Zeit genug, die Ware dort abzuliefern und dann einen Umweg über den Heumarkt zu machen und nach Hilka oder Eva Ausschau zu halten. Die beiden Frauen versorgten sie regelmäßig mit frischen Kräutern und Wurzeln aus den Feldern vor und den Wäldern hinter den Stadttoren.

Doch wen sollte sie mitnehmen? Allein konnte sie nicht ausgehen. Nicht nur, weil es sich für eine verheiratete Frau nicht schickte, sondern vor allem, weil die Straßen nach den Unruhen der vergangenen Monate ziemlich unsicher geworden waren. Nachdem sich die Gaffeln, wie sich die Kölner Zünfte nannten, über die im Rat vorherrschenden Patrizier erhoben und diese gewaltsam gestürzt hatten, trieben sich noch immer etliche Soldaten und Kriegsknechte herum, die nach dem Rückzug vieler Adels- und Patrizierfamilien nach Bonn arbeitslos geworden waren und ihre Langeweile in Bier ersäuften, Wirtshausprügeleien anzettelten und ehrbaren Frauen auflauerten.

Sie entschied sich für Magda, eine ruhige ältliche Magd, deren zahllose Lachfältchen um Mund und Augen von ihrer angeborenen Heiterkeit zeugten.

Trotz der Hitze hüllte sich Magda, bevor sie das Haus verließ, ein adrettes weißes Tuch fest um den Kopf. Sie nahm Adelina das Kästchen mit den teuren Duftölen ab und lief immer einen Schritt hinter ihr. Adelina blieb stehen.

«Magda, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du neben mir gehen sollst? Ich kann mich doch unmöglich mit dir unterhalten, wenn du ständig hinter mir her läufst.»

«Aber es schickt sich nicht, dass die Magd neben der Herrin geht», protestierte Magda.

«Dennoch erlaube ich es dir. Der Weg zum Neumarkt ist weit, und eine Unterhaltung käme mir sehr gelegen.»

Zögernd schloss Magda daraufhin zu ihr auf, und Adelina begann über allgemeine Dinge des Haushalts zu plaudern. Sie gab es ungern zu, aber auf diese Weise konnte sie sich für eine Weile von den Gedanken ablenken, die sie belasteten. Sie vermisste Neklas und sorgte sich um seine wohlbehaltene Rückkehr. Aber das war nicht ihr einziges Problem. Sie war nun schon beinahe ein dreiviertel Jahr verheiratet und noch immer nicht schwanger. Niemals hätte sie gedacht, dass sie sich das jemals wieder wünschen würde. Nicht, nachdem sie vor Jahren heimlich ein Kind abgetrieben hatte, weil ihr Bräutigam sie hatte sitzenlassen. Niemand wusste davon. Nicht einmal ihr Vater. Nur Neklas hatte sie es erzählt. Und nun wollte sie so gerne sein Kind unter dem Herzen tragen. Kurz vor seiner Abreise hatte sie gedacht, es sei so weit, und hatte sich darauf gefreut, ihm bei seiner Rückkehr die frohe Botschaft verkünden zu können, doch dann hatte sich herausgestellt, dass ihre morgendliche Übelkeit von einer Magenverstimmung herrührte, von der nach und nach der gesamte Haushalt befallen worden war.

Nun sorgte sie sich, dass die frühere Abtreibung vielleicht der Grund sein könnte, warum sie bisher noch nicht empfangen hatte, vielleicht niemals empfangen würde. Zwar hatte Ludmilla, die Weise Frau, bei der sie seinerzeit gewesen war, behauptet, sie sei wieder vollständig genesen. Aber konnte nicht auch eine Weise Frau einmal irren? Und was wäre dann? Wäre Neklas von ihr enttäuscht? Manchmal, in den einsamen Nächten, wenn sie nach der leeren und kalten Betthälfte tastete, malte sie sich aus, dass er vielleicht nicht mehr zu ihr zurückkehren würde, weil er lieber eine jüngere Frau wollte, die ihm noch viele Kinder gebären konnte. Sie zählte jetzt einundzwanzig Jahre, zweiundzwanzig im Winter. Sicher, das war noch nicht alt, aber eben auch nicht mehr ganz jung. Die meisten Frauen bekamen ihre Kinder mit sechzehn, siebzehn. Manche sogar noch früher, obwohl eine zu frühe Mutterschaft auch schädlich sein konnte.

Adelina merkte, wie ihre Gedanken trotz des fröhlichen Schwatzes mit Magda abzuschweifen begannen. Doch da hatten sie auch schon den Neumarkt erreicht. Sie pochte an die Tür des Anwesens derer vom Stein und gab die bestellte Ware ab. Während sie auf die Bezahlung wartete, beobachtete sie die rege Betriebsamkeit auf dem Marktplatz. Der Neumarkt war ein großes Rechteck, an der Seite, die zu St.Aposteln führte, stand eine große Viehtränke. Der Platz wimmelte von Rindern, Schweinen, Ziegen, Schafen und Hühnern. Etwas abseits waren an einem langen Holzgestell mehrere gedrungene, kräftige Pferde angebunden. Der Neumarkt diente hauptsächlich als Viehmarkt, und dementsprechend roch es auch. Mehrere Knechte waren von früh bis spät damit beschäftigt, Dung und Kothaufen zu beseitigen, damit die Käufer sauberen Fußes die Waren begutachten konnten. Das Muhen und Blöken der Kühe und Schafe mischte sich mit dem aufreizenden Meckern der Ziegen. Doch beinahe noch mehr Krach machten die Armbrustschützen im hinteren Teil des Marktplatzes. Die verschiedenen Schützenbruderschaften trugen hier regelmäßig ihre Schieß- und Kampfübungen aus und brüllten sich dabei Befehle und Anfeuerungsrufe zu. Im Frühling und Sommer wurden auf dem Neumarkt immer wieder Wettkämpfe, Turniere und Schützenfeste ausgetragen. So konnten sich die Anwohner an der Kunstfertigkeit der Schützen erfreuen und wurden ein wenig für den alltäglichen Lärm entschädigt.

Ein rostbraun gekleideter Diener kam an die Tür und überreichte Adelina einige Münzen, die sie rasch in ihrer Gürteltasche verschwinden ließ.

«Dame Ida wünscht zu wissen, wann Euer Herr Gemahl wieder in der Stadt ist», lispelte der Diener. Ihm fehlten die beiden oberen Vorderzähne. «Sie leidet arg unter ihrer Gicht und wünscht eine Behandlung ihres schlimmen Fußes.»

Adelina setzte ein freundliches Lächeln auf. Ida vom Stein war eine betagte Dame und immer sehr freigebig, wenn es um Arzthonorare ging. Und damit unterschied sie sich von den meisten reichen Patienten, die sich gerne Zeit mit der Bezahlung ließen oder diese auch schon mal vergaßen.

«Tut mir leid, dass es Dame Ida so schlechtgeht. Leider ist mein Gemahl noch nicht zurück. Ich erwarte ihn jedoch jeden Tag und gebe ihm gleich Bescheid, dass er herkommen soll.»

«Vielen Dank.» Der Diener verbeugte sich knapp und schloss nach einem kurzen Gruß die Tür.

«Und nun», Adelina wandte sich lächelnd ihrer Magd zu, «gehen wir zum Heumarkt. Dort kannst du mir helfen, die beiden Kräuterfrauen zu suchen, die mich immer beliefern.»

«Haben sie Euch nicht erst am vergangenen Freitag Kräuter und Wurzeln gebracht?», wunderte sich Magda und wischte sich verstohlen ein paar Schweißtropfen von der Stirn.

«Das ist richtig, aber ich muss etwas mit ihnen besprechen.» Adelina beschloss, nicht weiter über Reeses Anliegen zu reden, denn sie fand, dass ihr Part in dieser Angelegenheit durch das Gespräch mit den beiden Sammelfrauen hinreichend erfüllt wäre. Danach sollte sich der Ratsherr selbst um die Aufklärung des Mordes kümmern oder die Schöffen damit beauftragen. Nach der Einsetzung der neuen Stadtverfassung vor wenigen Tagen hatte es schließlich geheißen, dass das Kölner Hochgericht nun endlich wieder seine Arbeit aufnehmen würde, nachdem es fast ein ganzes Jahr nicht getagt hatte.

Adelina wollte auf keinen Fall weiter in die Sache hineingezogen werden, sie kannte den getöteten Mann nur oberflächlich – er war Kunde in ihrer Apotheke gewesen – und hatte außerdem weder Zeit noch Lust, noch einmal in eine solche Ermittlung zu schlittern. Die Ereignisse, das inzwischen geräumte Beginenhospital betreffend, und die menschlichen Abgründe, die sich dabei aufgetan hatten, jagten ihr noch heute manchmal einen Schauer über den Rücken.

Zum Heumarkt war es nicht mehr allzu weit, und auch dort herrschte ein buntes Treiben, wie auf allen Marktflecken am hohen Mittag. Nur roch es weitaus angenehmer, denn wie der Name schon sagte, wurde hier hauptsächlich Heu angeboten, daneben aber auch Getreide.

Der würzige Duft des getrockneten Grases kitzelte angenehm in der Nase. Adelina sog die Gerüche tief ein und sah sich um. Auch andere Dinge des täglichen Lebens gab es hier zu kaufen. Vor allem Zwiebeln, Kohlen und Salz. Die Händler dieser Waren hatten ihre angestammten Plätze an der Nordseite des Marktes. Im Ostteil fand man einige Stände mit Gewürzen, Käse und Gemüse. An der Westseite stand eine Fleischbank, desgleichen in der Mitte des Platzes, direkt neben dem Kax, wie hier in Köln die Pranger genannt wurden. Heute hatte sich eine Gruppe keifender Weiber um den Schandpfahl geschart. Sie bewarfen einen kahlköpfigen Mann in Metzgerkleidung mit faulenden Gemüseabfällen. Was er wohl angestellt haben mochte, dass die Marktbüttel ihn den öffentlichen Schmähungen seiner Mitbürger ausgesetzt hatten?

Doch Adelina verfolgte den Gedanken nicht weiter, denn Magda zupfte sie am Ärmel und deutete auf die Fleischbank am Marktplatzrand. Dort stand vor dem Ladeneingang eines Gewandschneiders die Kräuterfrau Eva mit einem Korb voller Pilze, wahrscheinlich den ersten in diesem Jahr. Sie war eine kleine stämmige Frau mit abgearbeiteten Händen und ausgemergelten Gesichtszügen. Ihr grauschwarzes Kleid wirkte schon etwas fadenscheinig, und sie trug eine gleichfarbige Haube, die an den Rändern leicht ausgefranst war.

Adelina nickte ihrer Magd zu und bedeutete ihr, mitzukommen.

Die Sammelfrau lächelte erfreut, als sie die Apothekerin erkannte.

«Frau Adelina, was führt Euch zu mir? Braucht Ihr noch einmal Kräuter? Ich kann erst morgen wieder losziehen. Oder möchtet Ihr Pilze?»

«O nein, Eva», wehrte Adelina ab. «Bei uns werden kaum Pilze gegessen. Du weißt doch, Vitus ist da sehr mäkelig, und mein Vater verträgt sie nicht. Und was meinen Mann angeht, so hat auch er andere Vorlieben.»

«Dann ist er endlich wieder zurück? Wie schön für Euch!», freute sich Eva.

Adelinas Miene verdüsterte sich kurz. «Leider noch nicht, Eva, aber ich erwarte ihn täglich. Heute möchte ich nichts von dir kaufen. Ich habe nur eine Frage, die du vielleicht auch an deine Schwester Hilka weitergeben kannst.»

«Aber natürlich.» Eva nickte eifrig. «Sagt mir, wie ich Euch helfen kann.»

«Ein befreundeter Ratsherr, ein sehr wichtiger Mann, hat mich gebeten herauszufinden, wo es hier in der Gegend Eisenhut zu finden gibt.»

«Eisenhut?» Eva kratzte sich am Kinn. «Den findet man um diese Jahreszeit manchmal auf den Wiesen und Weiden vor den Stadttoren. Aber richtig häufig kommt er im Bergland vor. Soweit ich weiß, gibt es Vorkommen in der Eifel oder im Westerwald. Und im Siebengebirge soll er auch zu finden sein.»

«So weit von hier?»

Eva nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. «Na ja, kann sein, wie gesagt, dass er hin und wieder auch hier in der Nähe wächst. Aber was wollt Ihr denn mit der Giftpflanze? Oder geht es etwa um den ermordeten Ratsherrn?»

Adelina hob bei Evas neugierigem Gesichtsausdruck amüsiert die Brauen. «Hast du also auch schon davon gehört? Es geht in der Tat um diese Angelegenheit. Aber ich bitte dich, darüber Stillschweigen zu bewahren. Ich habe meinem Bekannten lediglich versprochen, mich bezüglich des Eisenhuts zu erkundigen.»

«Natürlich, ich sage nichts», beteuerte Eva und senkte dann ihre Stimme. «Dann ist es also wahr, dass man den Goldschmied vergiftet hat? Man munkelt, er sei in diesem Dirnenhaus am Berlich gewesen.»

«Darüber weiß ich nichts», wehrte Adelina rasch ab und warf Magda einen raschen Blick zu. Doch die tat so, als ob sie dem Treiben am Kax zusehen würde. Adelina ahnte jedoch, dass ihr bestimmt kein Wort der Unterhaltung entgangen war. Dazu waren die Neuigkeiten zu interessant. Sie wandte sich wieder an Eva. «Also wäre es möglich, dass sich jemand das Kraut vor den Stadttoren geholt hat?»

Eva runzelte die Stirn und schnalzte. «Glaub ich nicht. Oder es müsste schon ein Kräuterkundiger sein. Eisenhut findet man nicht so leicht. Dazu ist er hier wirklich zu selten. Man muss schon genau wissen, wo man suchen muss. Ich selbst wüsste es nicht.»

«Und wer könnte deiner Meinung nach Eisenhut finden?», hakte Adelina nach.

Eva hob wieder die Schultern. «Da fragt Ihr mich was. Ich kenne niemand… halt, doch. Einer würde ich es zutrauen. Sie heißt Ludmilla. Vielleicht habt Ihr schon von ihr gehört. Sie lebt in den Wäldern, die an der Straße Richtung Aachen liegen. Sie nennt sich Weise Frau, verrichtet manchmal Hebammendienste in der Stadt. Aber man sagt auch, dass sie unheilige Künste anwendet und eine Engelmacherin ist. Ihr wisst schon, sie hilft Frauen, ihre Kinder vor der Zeit loszuwerden.» Bei dieser Bemerkung zuckte es um Adelinas Mundwinkel, doch sie riss sich zusammen.

Eva hatte den Schatten, der über Adelinas Gesicht gehuscht war, nicht bemerkt und fuhr fort: «Von ihr hat man schon so manches gehört. Wenn eine weiß, wo es Eisenhut zu finden gibt, dann bestimmt die.»

«So, so, Ludmilla also?» Adelina nickte Eva verbindlich zu. «Das werde ich mir merken. Vielleicht hilft es dem Rat ja weiter. Ich danke dir, Eva.» Sie kramte aus ihrer Gürtelbörse einen kleinen Kupferpfennig heraus und drückte ihn der Sammelfrau in die Hand. «Nun müssen wir aber weiter. Ich kann die Apotheke nicht den ganzen Tag geschlossen halten.»

Auf dem Heimweg schwieg Adelina nachdenklich. Ludmilla war auch ihrer Ansicht nach eine Person, der zuzutrauen war, die Fundstellen von Eisenhut in dieser Gegend genau zu kennen. Ob sie das Gift vielleicht im Auftrag des Mörders gesammelt hatte? Adelina kam das eher unwahrscheinlich vor, denn Ludmilla hielt sich, wenn möglich, von den Stadtbewohnern fern und bemühte sich, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Normalerweise kam sie nur in die Stadt, wenn sie aufgrund einer schwierigen Geburt geholt wurde. Wie damals, als Adelinas Bruder Vitus zur Welt gekommen war. Damals war etwas schiefgegangen, und ihre Mutter war bei der Geburt gestorben. Und es war nur Ludmillas Heilkünsten zu verdanken, dass das Kind überlebt hatte. Allerdings hatte Vitus dabei Schaden genommen, war ganz blau angelaufen, und schon bald war klar gewesen, dass er ein Simpel war. Ein inzwischen fünfzehnjähriger Junge mit etwas schiefen Gesichtszügen und dem Verstand eines Dreijährigen.

Adelina seufzte innerlich. Vitus war zwar schwierig, doch bei weitem nicht das größte Problem in ihrer Familie.

***

Als Adelina und Magda den Alter Markt überquerten, kam ihnen eine aufgeregte Franziska entgegengerannt. Ihre klobigen Holzpantinen polterten auf dem unebenen Pflaster.

«Herrin, Herrin, kommt schnell!» Außer Atem blieb die junge Magd stehen und brach in verzweifeltes Schluchzen aus. «Es tut mir so leid. Ich dachte, er wäre in seinem Zimmer und schläft. Aber als ich von den Goldgräbern zurückkam… Wir müssen ihn sofort suchen!»

«Franziska, beruhige dich!» Adelina schüttelte das Mädchen heftig. «Wen müssen wir suchen, was ist passiert?»

«Euer Vater ist verschwunden.» Tränen quollen Franziska aus den Augen. «Ich kam nach Hause und wollte nach ihm sehen, da war er weg. Einfach weg.»

«Liebe Zeit!» Adelina fasste sich an die Stirn. Ihr wurde ganz kalt. Albert Merten, ihr Vater, der noch bis vor kurzem die Apotheke geführt hatte, war krank. Er vergaß oft, wo oder wer er war, verwechselte Namen oder redete wirr. An schlechten Tagen durfte man ihn keinen Augenblick aus den Augen lassen. An guten Tagen jedoch war er wieder vollkommen normal und half ihr sogar in der Apotheke.

Sie hatte gedacht, dass heute ein guter Tag sei. Doch nun war er allein fortgegangen. Einen Moment lang überwältigte sie die Panik. Mit aller Kraft rief sie sich zur Ruhe und atmete tief ein, um sich zu beruhigen.

«Franziska, such nach Ludowig. Er soll losgehen und die Schänken absuchen. Du fragst die Leute auf dem Marktplatz, ob sie Vater gesehen haben.»

Das Mädchen nickte und rannte wieder los.

«Magda.» Adelina wandte sich ihrer Begleiterin zu, die stumm und erschrocken dastand. «Du gehst nach Hause und kümmerst dich um Vitus. Nicht dass er auch noch etwas anstellt. Ich laufe rasch zum Zunfthaus Himmelreich.»

«Aber Herrin, Ihr könnt doch nicht alleine gehen!», protestierte Magda, doch Adelina hatte sich bereits umgedreht und war losmarschiert. Sie musste ihren Vater finden, und das so schnell wie möglich. Bisher hatte es sich noch nicht herumgesprochen, dass es ihm nicht gutging. Der Zunftmeister wusste es natürlich, und einige Zunftbrüder wie der Schatzmeister Ludolf Beichgard, der einst um ihre Hand angehalten hatte, jedoch aufgrund von Alberts merkwürdiger Erkrankung seinen Antrag zurückgezogen hatte. Adelina fürchtete, der Ruf ihrer Apotheke, ja ihrer Familie könnte unter dem Geschwätz der Leute leiden, sollte sich die Sache allzu sehr verbreiten. Schon Vitus mit seinem zuweilen kleinkindlichen Verhalten gab oft genug Anlass zu Tratsch und gehässigen Bemerkungen.

Als Adelina im Frühjahr ihre Meisterprüfung abgelegt hatte – Neklas hatte darauf bestanden und die hohen Gebühren, ohne mit der Wimper zu zucken, bezahlt–, hatte sie dem Zunftvorstand vom Zustand ihres Vaters berichtet, die Übernahme der Apotheke bekannt gegeben und um Aufnahme in die Zunft gebeten. Diese war ihr inzwischen auch bewilligt worden.

Merkwürdig, dass ihr ausgerechnet jetzt die Sitzung der Zunftmitglieder in den Sinn kam, in der über ihre Aufnahme abgestimmt worden war. Da die anwesenden Männer und Frauen sie alle kannten, seit sie ein Kind gewesen war, hatte es keine Gegenstimmen gegeben. Alle wussten um ihre Fähigkeiten. Ihre Meisterstücke, eine komplizierte Kräuterarznei und eine Kostprobe ihres nach altem Familienrezept hergestellten Konfekts, hatten großen Beifall gefunden. Sie wollte sich damit einen Namen machen und ihr Geschäft zur besten Apotheke Kölns machen.

Energisch richtete sie ihre Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt. Sie eilte über den Laurenzplatz und bog dann in die Schildergasse ab. Wenige Augenblicke später stand sie vor dem Zunfthaus. Schweiß rann unter ihrer Haube hervor. Hastig wischte sie ihn mit dem Handrücken fort und klopfte an die Tür. Der Zunftmeister, Johann Leuer, öffnete ihr persönlich.

«Frau Adelina, wie schön, Euch zu sehen. Kommt herein und erfrischt Euch…» Er kniff die Augen zusammen, was seinem faltigen Gesicht noch mehr Runzeln hinzufügte. «Ist etwas passiert?»

«Meister Leuer, habt Ihr meinen Vater heute gesehen?»

«Aber ja doch, er war vor nicht ganz einer Stunde hier.» Der Zunftmeister verzog besorgt den Mund und fuhr sich mit den Fingern durch das schüttere weiße Haar. «Ich habe mich noch gewundert, dass er allein herkam, aber er schien guter Dinge und wohlauf. Er hat mir den Vertrag über den Lehrjungen zurückgebracht, der im Frühjahr zu ihm hätte kommen sollen. Nachdem Ihr die Apotheke übernommen habt, mussten wir ihn ja an einen anderen Meister vermitteln. Euer Vater bedauerte noch, dass es Euch als Frau nicht gestattet sei, Jungen auszubilden, denn Lehrmädchen für das Apothekergewerbe sind rar.»

«Wisst Ihr, wohin er gegangen ist?», unterbrach Adelina seinen Redestrom.

«Ist er denn noch nicht zurück? Er wollte geradewegs nach Hause gehen.» Meister Leuer wirkte nun richtig erschrocken. Ihm wurde offensichtlich erst jetzt bewusst, in welcher Klemme Adelina steckte. «Du meine Güte!», rief er. «Soll ich Euch suchen helfen? Ich könnte ein paar Burschen bitten, einen Suchtrupp zu bilden.»

«Nein, vielen Dank», wehrte Adelina entschieden ab. «Einen Knecht und eine Magd habe ich bereits losgeschickt und werde selbst auch noch weitersuchen. Ich möchte kein großes Aufsehen. Ihr seid aber sicher, dass er sofort nach Hause gehen wollte?»

«Ja, auf jeden Fall. Das sagte er mir.» Der Zunftmeister nickte heftig. «Ich meine auch, gesehen zu haben, dass er in Richtung Laurenzplatz gegangen ist.» Er seufzte. «Liebe Adelina, es tut mir so leid. Ich konnte ja nicht wissen… Nein, ich hätte wissen müssen…»

«Meister Leuer!» Adelina schnitt ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. «Es ist ja nicht Eure Schuld. Vielleicht ist er in einer Schänke oder Garküche eingekehrt.» Und hat noch nicht einmal Geld dabei, um seine Zeche zu zahlen, schoss es ihr durch den Kopf. «Ich laufe zurück und frage bei den Tavernen am Laurenzplatz nach.» Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal kurz um. «Danke für Euer Angebot, uns zu helfen.»

«Gebt mir Nachricht, wenn Ihr ihn gefunden habt!», rief Meister Leuer ihr noch hinterher.

Sie rannte beinahe bis zur Einmündung am Laurenzplatz. Die Sonne stach vom Himmel und ließ die Luft flirren. Der Schweiß hatte mittlerweile ihr Kleid am Kragen durchnässt, und ihre Haube klebte ihr feucht ums Gesicht.

Unentschlossen blickte sie über den Laurenzplatz. In welche Richtung sollte sie sich nun wenden? Wo mochte ihr Vater in einem Anfall von Verwirrung hingegangen sein?

«Platz da!», brüllte plötzlich eine harsche Stimme hinter ihr. Sie fuhr erschrocken herum und sah mehrere bewaffnete Berittene in den Uniformen der Stadtsoldaten auf sich zukommen. Mit einem Satz brachte sie sich in Sicherheit vor den klappernden Hufen der Streitrosse. Dennoch traf sie einer der Soldaten schmerzhaft mit seinem Stiefel an der Schulter.

«Dummes Weibsbild!», schimpfte er, blickte sich jedoch nicht einmal mehr nach ihr um. Adelina rieb sich die geschundene Schulter und sah ihm böse nach. Sie hatte ihn an seinem dunklen, zu einem glatten Zopf gebundenen Haar erkannt. Tilmann Greverode, ein Offizier der Stadtsoldaten, mit dem sie schon einmal aufs unfreundlichste Bekanntschaft gemacht hatte.

Weshalb wohl die Stadtwache zu den Waffen gerufen worden war? Falls es zu Unruhen kommen sollte, wie so häufig in letzter Zeit, war es noch wichtiger, ihren Vater bald zu finden.

Auf dem Heimweg betrat Adelina jede Schänke und Garküche, hatte jedoch kein Glück. Auf dem Alter Markt hielt sie Ausschau nach Franziska, konnte diese aber in dem Gewühl von Händlern, Hausfrauen, Bauern und Kleinvieh nicht ausmachen. Unschlüssig, was sie nun tun sollte, umrundete sie den Marktplatz. Als sie fast wieder an ihrem Haus angekommen war, fiel ihr Blick in die Judengasse, auf das Rathaus. Und dort – sie atmete erleichtert auf – erblickte sie auch die untersetzte Gestalt ihres Vaters. Sein schütteres rotblondes Haar mit den grauen und weißen Strähnen war zerzaust, und er fuhr sich mit den Fingern ein ums andere Mal fahrig durch seinen dichten Vollbart. Dann ging er los, leider jedoch in die falsche Richtung. Adelina raffte ihre Röcke und rannte hinter ihm her. Dabei rempelte sie einen Mann in der Zunftkleidung der Zimmermänner an, der ihr unflätig hinterherfluchte.

«Vater, warte!», rief sie und war erleichtert, als Albert stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Außer Atem blieb sie vor ihm stehen. «Wo willst du denn hin?»

«Adelina, Mädchen, du sollst doch nicht allein in der Stadt herumlaufen! Geh sofort wieder ins Haus. Ich muss mit deinem Zukünftigen ein Wörtchen reden. Es geht nicht, dass er die Hochzeit noch weiter hinausschiebt.»

«Mein Zukünftiger? Hochzeit?» Adelina starrte ihn verblüfft an.

«Ja, natürlich, du weißt doch, wie lange die Heirat mit Ludolf Beichgard schon verabredet ist. Wie ich hörte, ist er ja nun im Stadtrat, also eine noch bessere Partie für mein Mädchen.» Er lächelte ihr liebevoll zu, wurde jedoch gleich wieder ernst und runzelte die Stirn. «Aber stell dir vor, im Rathaus sagte man mir, dass er im Augenblick gar nicht in der Stadt sei. Er wird sich doch nicht vor seiner Pflicht drücken wollen? Das werde ich nicht zulassen.»

«Vater.» Adelina bemühte sich um einen ruhigen Ton in der Hoffnung, damit bei Albert durchzudringen. «Ludolf ist nicht mein Bräutigam. Ich bin doch längst verheiratet.» Zum Beweis hob sie die Hand mit dem schmalen goldenen Ehering, auf den eine stilisierte Lilie eingraviert war.

«Was redest du da?» Albert kniff die Augen zusammen und musterte sie, als sei sie es, die den Verstand verloren habe. «Was willst du damit sagen, du bist längst verheiratet? Hast du etwa ohne meine Zustimmung irgend so einen dahergelaufenen Tunichtgut geheiratet?» Seine Stimme wurde immer lauter. Die ersten Neugierigen drehten sich bereits zu ihnen um. Verlegen nahm Adelina ihren Vater am Arm und führte ihn zurück zur Apotheke. Er machte Gott sei Dank keine Anstalten, sich zu wehren.

«Ich habe nicht ohne deine Zustimmung geheiratet. Und mein Gemahl ist kein Tunichtgut, sondern ein angesehener Medicus, der sogar für den Rat und die Schöffen arbeitet.»

«Medicus? Davon weiß ich nichts.» Albert schüttelte vehement den Kopf, dann fing er plötzlich an, laut zu schluchzen. Erschrocken stieß Adelina die Haustür auf und schob ihn hindurch. «Ich kann das einfach nicht glauben!», weinte Albert. «Du hast einfach hinter meinem Rücken einen Fremden geheiratet! Wenn das deine Mutter erfährt! Sie wird am Boden zerstört sein.»

«O Vater, so ist es doch gar nicht. Und Mutter ist schon lange tot. Was soll ich bloß mit dir machen?»

«Mit mir?», regte sich Albert auf. «Mit mir? Hol lieber diesen angeblichen Medicus her, damit ich ihn mir ansehen kann. Wenn du schon nicht den Anstand hattest, ihn mir vor eurer Hochzeit vorzustellen.»

Adelina biss sich auf die Lippen. Nun saß sie wirklich in der Klemme. «Ich kann Neklas nicht holen. Er ist fort, auf Besuch bei seiner Mutter in Kortrijk.» Wie sie befürchtet hatte, lief ihr Vater nun vor Zorn rot an.

«Was sagst du da? Er hat dich hier allein gelassen? Ich wusste es, wahrscheinlich ist er ein ganz ausgekochter Hund, der dich nur ausnutzt und deine Mitgift vergeudet! Was hast du dir nur dabei gedacht? Und nun hat er dich sitzengelassen. Womöglich…» Wieder musterte er sie, und seine Augen wanderten zu ihrer Leibesmitte hin. «Bist du schwanger? Hat er seine schwangere Frau sitzengelassen? Dann soll ihn…»

«Nein, Vater!» Verzweifelt schüttelte sie ihn. Ihre Stimme kippte über, sie musste sich mit aller Macht zur Ruhe zwingen. «Neklas ist nur zu Besuch bei seiner kranken Mutter. Und ich bin nicht schwanger.» Der letzte Satz gab ihr einen leichten Stich, den sie jedoch zu ignorieren versuchte.

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Hinterzimmer und Magda streckte den Kopf in die Apotheke.

«Was ist denn hier…? O Herrin, Ihr habt ihn gefunden! Gott sei Dank.» Die Magd bekreuzigte sich und kam herein. «Geht es Euch gut, Meister Merten? Soll ich Euch einen Becher Bier bringen?»

Albert sah die Magd einen Augenblick verblüfft an, dann schüttelte er den Kopf. «Nein danke, Magda. Meine Sieglinde kümmert sich schon um mich, nicht wahr?» Er sah Adelina an, die zögernd nickte.

«Ich bringe dir etwas. Geh schon mal vor in deine Kammer.»

Sie sah erleichtert zu, wie ihr Vater zu seiner Schlafkammer ging. Als die Tür hinter ihm zuklappte, stützte sie sich erschöpft auf dem Verkaufstresen ab.

«Er hat Euch wieder Sieglinde genannt», sagte Magda und trat zu ihr. «Er hält Euch für Eure Mutter, nicht wahr?»

«Er hatte einen schlimmen Anfall, Magda. Wir dürfen ihn nicht aus den Augen lassen. Ich bringe ihm einen Kräuteraufguss, vielleicht schläft er dann ein wenig. Was macht Vitus?»

«Er sitzt im Garten und spielt mit seiner Katze. Soll ich das Abendessen zubereiten?»

«Nein.» Adelina richtete sich auf und löste ihre Haube. «Das mache ich schon. Geh und such Franziska. Sie braucht ja nun nicht mehr nach Vater zu suchen. Und schaut dann gemeinsam, ob ihr Ludowig findet.»

Als Magda mit einem «Jawohl, sofort, Herrin» zur Tür hinausgeeilt war, warf Adelina mit einem Wutschrei ihre Haube zu Boden. Der Zorn überkam sie wie Hitzewellen. Zorn auf ihren Vater, Zorn auf Neklas, der nicht da war, aber vor allem Zorn auf sich selbst. Sie schaffte das alles nicht! Das Geschäft, die Sorge um ihre Familie, das Alleinsein. Noch vor einem Jahr hätte sie nicht für möglich gehalten, dass ihr das Alleinsein jemals zu schaffen machen würde. Sie brauchte niemanden! Keinen Knecht, keine Magd, keinen Mann.

Sie starrte auf die zerknitterte Haube am Boden. Langsam ging sie in die Hocke und hob sie auf. Der Stoff fühlte sich klamm an. In ihrer Kehle begann sich ein Kloß zu bilden, der sie würgte. Kraftlos ließ sie sich gegen den Tresen sinken und presste ihr Gesicht in den feuchten Stoff. Natürlich brauchte sie Neklas. Gott, sie vermisste ihn so!

2

«Habt Ihr etwas herausgefunden?», fragte Georg Reese, als er zwei Tage später noch vor Mittag in die Apotheke kam. Adelina war gerade dabei, kandierte Früchte abzuwiegen und in kleine, mit Wachstuch ausgeschlagene Holzkästchen zu verteilen. Sie bot ihm davon an, und er wählte erfreut eine Kirsche und schob sie sich in den Mund. Verzückt verdrehte er die Augen.

«Hm, hervorragend!», lobte er. «Vielleicht sollte ich meiner Braut ein Kästchen davon mitbringen. Das wird ihr bestimmt gefallen.»

«Eurer Braut?» Adelina hob neugierig die Brauen. «Dann wollt Ihr Euch also wieder verheiraten?»

Reese nickte. «Reinhild, Gott hab sie selig, ist nun schon fast ein Jahr tot. Ich muss an meine Kinder denken. Sie brauchen eine Mutter, vor allem die Mädchen. Glücklicherweise habe ich eine passende und noch dazu außerordentlich liebreizende junge Witwe gefunden. Rosa ist eine Base des erzbischöflichen Sieglers Christian van Erpel. Ihr Gemahl ist vorletzten Winter am Lungenfieber gestorben. Sie ist zwar schon sechsundzwanzig, doch eine gefestigte Person mit einem fröhlichen Gemüt. Sie bringt zwei eigene Söhne mit in die Ehe, die mir sicher tatkräftig im Geschäft helfen werden, bis wir passende Lehrstellen für sie gefunden haben.»

«Ihr klingt, als wäret Ihr glücklich», stellte Adelina fest. «Das freut mich für Euch.»

«Glücklich. Ja, das bin ich wahrhaftig.» Reese nickte bekräftigend und lächelte. «Rosa ist eine gute Frau. Die Hochzeit findet am Tag vor Martini statt.»

«Nun, da müsst Ihr ja nicht mehr lange warten.» Adelina klappte eines der Kästchen zu und reichte es ihm. «Eine Mark Kölner Silber.»

«Was? Eine Mark? Das ist ja…» Empört starrte er das Kästchen in ihrer Hand an.

Nun lächelte Adelina. «Ihr wollt doch nicht etwa knauserig sein? Diese kandierten Früchte sind ein wunderbares Geschenk für eine liebreizende Braut. Wartet.» Sie griff unter den Tresen und zog eine weitere Holzschachtel hervor, hob den Deckel und entnahm ihr ein paar weitere Süßigkeiten, die sie in das Kästchen zu den kandierten Früchten legte. «Weil Ihr es seid, gebe ich noch ein paar Stücke meines guten Konfekts dazu, ohne Aufpreis.»

«Von Eurem Konfekt habe ich bereits gehört.» Er beäugte die süßen Leckereien, bevor sie Schachtel und Kästchen wieder sorgfältig verschloss. Seufzend nahm er ihr das Kästchen ab. «Nun gut, ich bin ja kein Kniesbüggel.» Er gab ihr das Geld, das sie sogleich in ihre Geldkatze unter dem Tresen legte.

«Das hatte ich auch nicht erwartet», sagte sie liebenswürdig. «Aber nun zu Eurer Frage von eben. Ich habe mit meinen Sammelfrauen gesprochen. Sie halten es für ausgeschlossen, dass jemand, der sich nicht auskennt, hier in der Nähe Eisenhut gesammelt hat. Eva, die ältere der beiden, meinte, dass er hier nur sehr selten vorkommt und eher in der Eifel oder anderswo im Bergland zu finden ist.»

«Und wenn der Mörder so ein Sammelweib wie die Euren bezahlt hat, ihm das Kraut zu besorgen?»

«Unwahrscheinlich.» Adelina schüttelte den Kopf. «Wie gesagt, Eisenhut ist sehr schwer zu finden. Meine Sammelfrauen haben es sich nicht zugetraut.»

«Sagen sie. Und wenn sie lügen?»

Adelina hob die Schultern. «Eva meinte, wenn überhaupt jemand Eisenhut hier in der Nähe findet, dann nur eine Person. Doch die hat sich gewiss nicht für eine Mordtat hergegeben. Da bin ich mir sicher.»

«So? Wie kommt Ihr darauf?» Reese legte den Kopf auf die Seite und musterte sie aufmerksam.

«Sie hat vor vielen Jahren meiner Mutter bei der Geburt meines Bruders beigestanden. Meine Mutter starb, doch durch die Heilkünste der Weisen Frau konnte mein Bruder gerettet werden.»

«Ihr kennt sie also?»

Adelina biss sich auf die Lippen. Jetzt nur nichts Falsches sagen, sonst käme sie womöglich in Teufels Küche. «Ich… war damals noch ein Kind. Aber ich erinnere mich an sie. Sie… hat getan, was sie konnte. Sie ist keine Mörderin.»

Reese hob spöttisch die Brauen. «Mag sein, dass sie Eurem Bruder geholfen hat, vielleicht ist sie ja eine gute Hebamme. Doch Euch sollte bekannt sein, dass gerade solche besonders klugen Hebammen auch über tödliche Pflanzen Bescheid wissen und sie zuweilen auch anwenden. Der Teufel sucht sich für seine bösen Pläne gerne Geburtshelferinnen aus.»

«Der Teufel?» Adelina schüttelte den Kopf. «Was redet Ihr denn da? Ludmilla ist doch keine Hexe.» Sie bekreuzigte sich rasch.

Reese zuckte mit den Schultern. «Wollen wir es hoffen.»

«Ihr redet ja gerade so, als sei ihre Schuld bereits erwiesen!», regte sich Adelina auf. «Es kann auch noch hundert andere Möglichkeiten geben, wie der Eisenhut in van Kneyarts Essen gelangt ist.» Verärgert begann sie mit einem Lappen über den Tresen zu wischen. Da fiel ihr noch etwas ein. «Wisst Ihr denn inzwischen, wie er das Gift zu sich genommen hat?»

«Nein, leider noch nicht.» Bedauernd schüttelte Reese den Kopf. «Aber gerade in diesem Augenblick ist ein Abgesandter des Stadtrats in dem Haus am Berlich und befragt die Bewohnerinnen.»

«Ein Abgesandter des Rates?», wunderte sich Adelina. «Warum keiner der Schöffen? Sind sie nicht für derlei Angelegenheiten zuständig?»

Reese seufzte und lehnte sich gegen den Verkaufstresen. «Wohl wahr, normalerweise. Doch Erzbischof Friedrich wird in Kürze in der Stadt erwartet, und die Schöffen sind wegen seines Empfangs anderweitig beschäftigt. Die neue Stadtverfassung, der Verbundbrief, muss vom Erzbischof abgesegnet werden. Wenn er sie nicht akzeptiert, kann es erneut zu Streitigkeiten und Unruhen kommen. Deshalb bereiten die Schöffen alles sorgsam vor.»

«Dann ist die Vorbereitung des Empfangs wichtiger als die Aufklärung eines Mordes?» Die Missbilligung war Adelinas Stimme deutlich anzuhören, doch Reese ging nicht darauf ein.

«Der Mann, der die Befragung durchführt, ist Anwärter auf das Schöffenamt. Deshalb wurde er für diese Aufgabe ausgesucht. Ihr kennt ihn übrigens, es ist Euer Nachbar, Anton Keppeler.»

«Was, Keppeler will Schöffe werden?» Verwundert hob Adelina die Brauen. «Das höre ich heute zum ersten Male.»

«Dann behaltet es auch für Euch. Es ist zwar kein Geheimnis, aber dennoch eine Sache, die vertraulich zu behandeln ist. Und nun sagt mir noch einmal, wie diese Weise Frau heißt, von der Ihr gesprochen habt.»

«Ihr Name ist Ludmilla. Sie lebt…»

«So, so. Ludmilla, sagt Ihr? Das ist ja interessant.» Plötzlich wirkte Reese aufgeregt, als sei ihm erst jetzt etwas Wichtiges eingefallen. «Ich muss nun leider aufbrechen und einem Hinweis nachgehen. Ludmilla…», murmelte er vor sich hin. Er hatte die Tür bereits geöffnet, als er sich noch einmal umdrehte. «Bei solchen Frauen kann man niemals sicher sein, wofür sie sich hergeben.»

Adelina schüttelte heftig den Kopf. «Nicht Ludmilla. Was sie auch tut, sie will damit den Menschen helfen. Sie ist keine Mörderin.»

«Vielleicht nicht. Aber möglicherweise die Helfershelferin eines Mörders? Ich halte Eure Ansichten in dieser Sache für äußerst naiv. Und noch dazu, da sie sich gänzlich auf Eure Erinnerung begründen. Ihr wisst doch selbst, welche dunklen Abgründe sich hinter einer Samariterseele verbergen können.» Damit spielte er auf die Geschehnisse vom vergangenen Winter im Beginenhospital an. «Doch nun müsst Ihr mich entschuldigen. Vielen Dank für Eure Mühe. Möglicherweise wird sich schon in Kürze alles aufgeklärt haben. Gehabt Euch wohl.»

Adelina sah ihm durch das Fenster nach. Offenbar hatte der Name Ludmilla ihn auf eine Spur gebracht. Sie strich sich voll Unbehagen über die Stirn. Ob die alte Weise Frau vielleicht doch in die Sache verwickelt war?

Doch als die Glöckchen an der Tür einen neuen Kunden ankündigten, schob sie alle Gedanken an Mord und Giftpflanzen beiseite und setzte ein freundliches Lächeln auf. Sollte der Rat sich um alles Weitere kümmern.

***

«War das vorhin Frau Entgen bei Euch in der Apotheke?», fragte Franziska wenig später, als sie Adelina auf dem Weg zum Schneider begleitete. Ihnen voraus lief Vitus, der wie ein kleines Kind über den Rinnstein hüpfte und dabei unmelodisch sang. Adelina hatte ihm saubere Kleidung angezogen und sein schwarzes Haar ordentlich gekämmt, sodass er äußerlich ein schmucker Junge mit ansprechenden, wenn auch etwas verzerrten Gesichtszügen war. Dennoch blickten ihm die Leute nach, schnalzten vernehmlich und die Gassenjungen zeigten mit dem Finger auf ihn.