MORD IN ULM - Luisa Ferber - E-Book

MORD IN ULM E-Book

Luisa Ferber

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Morgens feierte sie mit Sekt ihren Geburtstag, mittags ist sie tot, vergiftet: Lisa Jablonska, lebenslustige Sekretärin in der Praxis des Spezialisten für Ohren-Krankheiten, Dr. Buchloh. Der Täter kann nur unter den Kollegen oder den taubstummen Patienten zu finden sein, dennoch tappt Kriminalkommissar Krafft im Dunkeln. Da geschieht - praktisch vor seinen Augen - ein zweiter Mord...   Luisa Ferber, gebürtige Frankfurterin, lebte längere Zeit in Berlin, bevor sie in Ulm ansässig wurde - in jener Stadt, die der Schauplatz dieses spannenden Kriminalromans ist und die sie voll Humor und mit sanfter Ironie porträtiert. MORD IN ULM erschien erstmals im Jahr 1982 und wurde mit dem Edgar-Wallace-Preis ausgezeichnet. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur.

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LUISA FERBER

 

 

Mord in Ulm

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

MORD IN ULM 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Epilog 

 

 

Das Buch

 

Morgens feierte sie mit Sekt ihren Geburtstag, mittags ist sie tot, vergiftet: Lisa Jablonska, lebenslustige Sekretärin in der Praxis des Spezialisten für Ohren-Krankheiten, Dr. Buchloh.

Der Täter kann nur unter den Kollegen oder den taubstummen Patienten zu finden sein, dennoch tappt Kriminalkommissar Krafft im Dunkeln.

Da geschieht - praktisch vor seinen Augen - ein zweiter Mord...

 

Luisa Ferber, gebürtige Frankfurterin, lebte längere Zeit in Berlin, bevor sie in Ulm ansässig wurde - in jener Stadt, die der Schauplatz dieses spannenden Kriminalromans ist und die sie voll Humor und mit sanfter Ironie porträtiert.

Mord in Ulm erschien erstmals im Jahr 1982 und wurde mit dem Edgar-Wallace-Preis ausgezeichnet.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur.

  MORD IN ULM

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Ulm ist eine bemerkenswerte Stadt. Sie hat den höchsten Kirchturm der Welt. Sie ist ein internationaler Eisenbahnknotenpunkt. In der Bahnhofstraße sieht und hört man alle Gesichter und Sprachen Europas und des Orients. Aber das ist wohl heute in keiner Bahnhofstraße mehr etwas Besonderes.

Im frühen Mittelalter hieß es Ulmer Geld regiert die Welt. Aber die Entdeckung Amerikas und der Dreißigjährige Krieg zerbrachen Ulms Wirtschaftsmacht, und die hungrigen Heere Napoleons, der das weite Hinterland zu Bayern schlug, machten wiederaufblühenden Handel und Handwerk vorsichtig. Niemand weiß, wo heute das Ulmer Geld steckt, aber es ist wieder da. Kein Schwabe sagt, wie reich er ist. Wenn man bedenkt, was für Preise heute Kidnapper verlangen, so ist das sogar sehr vernünftig. Dennoch hat Ulm mehr Juweliere als Düsseldorf, und beim großen Fest des Fischerstechens vergnügen sich in der Au mehr richtiger und Bauernadel als arme Leute.

Im Schwäbischen beginnt Armut beim Besitz von weniger als drei Häusern. Wenn einer Rentnerin die Handtasche gestohlen wird, hat sie nie weniger als tausend Mark drin gehabt.

In diesem Land ist es selbstverständlich, dass auch der Reiche arbeitet. Da man deshalb auch bei einer Frau nicht immer voraussetzen kann, dass sie nur arbeitet, weil sie es nötig hat, hält kein Mensch von vornherein eine berufstätige Frau für ein armes Luder. Der Umgangston an Marktständen, in Geschäftshäusern und Fabriken ist entsprechend erfreulich, und Schwaben ist das einzige Bundesland mit höflichen Beamten.

Natürlich gibt's in Ulm Mord und Totschlag wie überall. Aber erwischen lassen sich dabei nur die Ausländer und Zugereisten. Richtigen Schwaben war derartiges noch nie nachzuweisen.

Nur bei so vielen tugendhaften Eigenschaften ist es möglich, dass ein berühmter Hals-Nasen-Ohrenarzt wie mein Dr. Buchloh seine Praxis in einer Altstadtgasse haben kann, wo es weit und breit keinen Parkplatz gibt, und trotzdem der schwerhörige Reichtum Schwabens den Weg in unsere keineswegs billigen Sprechstunden findet.

Dr. Buchloh ist Spezialist für Ohrenkrankheiten. Als ich vor fünf Jahren meine Ausbildung in Heidelberg als Logopädin beendet hatte und mich bei der Universitätsklinik in Ulm um eine Anstellung bewarb, bot er mir die Tätigkeit einer Assistentin in seiner Privatpraxis an.

»Frau Lembach«, sagte er mit der wundervoll modulierenden Stimme aller Schauspieler und Ohrenärzte, »ich bin ein sehr guter Arzt, und ich lasse mich gut bezahlen. Mit der Hälfte dieser guten Bezahlung behandle und sorge ich für hörgeschädigte Kinder. Dazu brauche ich eine gute und sympathische Logopädin.«

Das Monatsgehalt, das er mir anbot, war entschieden höher als das für eine Logopädin vorgesehene an der Universitätsklinik. Außerdem ist Dr. Buchloh ein schöner Mann und Junggeselle. Ich zog die Arbeit in seiner Privatpraxis dem Universitätsdienst vor.

Hinsichtlich meiner schlechten Absichten war dies ein Reinfall. Doch Sie dürfen mir glauben, dass ich trotz meiner schwäbischen Vorliebe für weltliche Güter und meiner Schwäche für schöne Männer für Dr. Buchlohs Praxis und seine jugendlichen Patienten mein Geld wert bin.

 

Ulm liegt an der Donau, wuchert aber mit seinen Straßen und Häusern wie Rom über sieben Hügel. Fremde finden es komisch, dass die feinsten Leute auf dem Galgenberg und die feinen auf dem Kuhberg wohnen und die Universität auf dem Eselsberg steht. Die amerikanischen Bomben haben uns ein paar mittelalterliche Relikte übriggelassen, die von der Stadtverwaltung liebevoll gepflegt werden. Aber wir haben auch ein ganz modernes Theater, das wie ein blanker Kristall zwischen dem neuen Fernmeldeamt und der Landeszentralbank glänzt. Bei Aufführungen wie Gräfin Mariza ist es sogar ausverkauft.

Das Ulmer Theater hat natürlich auch ein Ballett, das fast so gut ist wie das in Stuttgart, und es hat für die neue Saison einen jungen Tänzer in sein Ensemble aufgenommen, der seit seinem dreizehnten Lebensjahr taub ist. Und damit beginnt diese Geschichte.

Das heißt, eigentlich begann es damit, dass ich eines Morgens aufwachte und es satt hatte, morgens allein aufzuwachen und abends allein zu Bett zu gehen. Seit meiner Scheidung hatte ich sieben Jahre vertrödelt mit Affären, netten Freundschaften und seelischer Trägheit, statt mich darum zu kümmern, einen Mann zu finden, der mich weder abends allein einschlafen noch morgens einsam aufwachen ließ. Ich wollte wieder heiraten, ich musste wieder heiraten, und ich würde wieder heiraten! Noch in diesem Jahr würde ich den Mann meines Lebens finden!

Ich bin neununddreißig Jahre alt, einhundertsiebzig Zentimeter groß und wiege einhundertzehn Pfund. Meine Freundin Gudrun, die Krankengymnastin, findet meinen Lebensstil nicht gerade anstößig, aber auch nicht tugendhaft. In der Praxis verhalte ich mich natürlich untadelig bis zum Exzess. Dr. Buchloh hat allerdings auch noch nie versucht, dieses Wohlverhalten zu erschüttern.

An diesem Morgen fuhr ich, wie jeden Tag, mit dem Omnibus über den Kienlesberg zur Stadt hinunter, und das Münster schwebte luftig und himmelhoch über den Dächern und Brücken. Selbst den Amis war es nicht gelungen, diese Schönheit mit ihren Bomben zu zerstören. Dafür bin ich dem lieben Gott dankbar, wenn ich für seine Beschlüsse auch nicht immer das nötige Verständnis aufbringen kann, besonders hinsichtlich eines Menschenwesens, das Ursula Lembach heißt.

Ich stieg am Rathaus aus und ging über den Münsterplatz. Vor dem Hauptportal des Münsters blieb ich wieder einmal kopfschüttelnd stehen und besah mir, was sogenannte Kunstversiegler da anrichten. Den echten Schmerzensmann haben sie schon längst durch einen nachgemachten ersetzt, aber wenigstens haben sie diesen Ersatz so rau und ungeschleckt gelassen, wie der alte war. Aber Anna Selbdritt, die Maria, der Täufer, die Bischöfe und erst recht die törichten Jungfrauen mit ihren Lampen kommen direkt aus einem PVC-Labor der Badischen Anilin- und Sodafabrik. Es wäre besser, man ließe die ehrwürdigen Steine in Schönheit zerfallen, als sie zugespritzt wie Plastikspielzeug glatt, blank und gelbsüchtig der Nachwelt zu erhalten.

Wenn irgendwo ein Bauer einen nassen Graben zuschüttet, fangen sogleich die Umweltschützer an zu schreien, da ginge der Nachwelt ein rares Läusekraut verloren. Aber könnten sie sich nicht auch einmal rühren, wenn unser frommes Münsterportal verschandelt wird?

Wenn ich nicht meinen Namen nennen müsste, würde ich direkt einen Brief an den Donauspiegel schreiben. Aber wahrscheinlich halten die das Läusekraut auch für progressiver als unsere törichten Jungfrauen.

Sie merken schon, ich bin eine einfältige Person. Ich gehöre zu den Leuten, die immer sagen »Ich verstehe ja nichts davon, aber mir gefällt's!« Und schon rümpfen die Sachverständigen die Nase. Im Kreuzgang des Blaubeurer Klosters bewunderte ich neulich die Blümchen, die die frommen Mönche an die Decke des uralten Gewölbes gemalt haben, und schon erklärte die Koryphäe, die uns führte, die Blümchen stammten erst aus dem 18. Jahrhundert und seien absoluter Kitsch. Soviel über mich.

 

Dr. Buchlohs Haus steht in der Tuchwebergasse gleich hinter dem Münster. Es ist ein schmaler, spitzgiebeliger Fachwerkbau mit einer Lebensmittelfiliale im Parterre. Im ersten Stockwerk wird praktiziert - Dr. Buchloh operiert in der Uniklinik, im zweiten schlafen und im dritten spielen die kleinen Patienten seiner Privatstation. Unter dem Dach mit dem direkten Blick auf die gotischen Spitzenmuster des Münsters liegen Dr. Buchlohs Junggesellenräume, die zu betreten jedes weibliche Mitglied unserer Firma sein letztes Hemd hergäbe.

Herr über die Kinder-Etagen ist Grumbach, ein schnauzbärtiger, hünenhafter Pfleger, den Dr. Buchloh in der Uniklinik beim Umgang mit Kindern beobachtet und umgehend für seine eigene Kinderstation requiriert hatte. Er haust in einer Kammer im zweiten Stock neben den Schlafräumen, wo er kocht, wacht, schläft und ständig neue Bücherborde an die Wände schraubt.

Grumbach liest jedes medizinische Lehrbuch, dessen er habhaft werden kann. Hätte er die Möglichkeit zu einem Studium gehabt, er wäre sicher ein guter Arzt geworden. So ist er ein unangenehmer Besserwisser, der, wie man erleben wird, jederzeit für alles mit einer Diagnose zur Hand ist, mit einer Vorliebe für all die schauerlichen und auf jeden Fall tödlichen Greuel, die diese Wissenschaft zu bieten hat.

Aber für die Kinder ist er nur und reine Liebe. Nur für sie hat er sanfte Hände, herzlichen und erfindungsreichen Trost und die komischsten Grimassen seines Seehundgesichts.

Er ist bei uns im ersten Stockwerk und erst recht im Kellergeschoss, wo die Küchenräume sind, für das Personal bloß eine großmäulige Kanaille, aber in den beiden Kinder-Etagen die Güte, die Sonne, der liebe Gott selber. So was gibt’s!

Ein einziger erwachsener Knecht dieses Hauses braucht sich nie über Grumbach zu ärgern. Das ist meine Freundin Gudrun, die Krankengymnastin.

Weißblond, grauäugig, von majestätischem Wuchs, eine Germanin mit gebräunter Haut, die selbst im Winter nie richtig hell wird, geht sie energisch und mit kundigen Händen jedem Muskelspann an den jungen Körpern unserer Patienten nach. Sie massiert, biegt, dehnt, streckt und lässt die Kleinen turnen, bis ihnen schwarz vor Augen wird. Sie ist niemals zärtlich, zeigt nie Mitleid und duldet keine Wehleidigkeit. Sie ist nicht einmal freundlich zu Grumbach.

Taube leiden stärker unter Verkrampfungen als Hörende, erst recht natürlich Kinder, die ihr Gebrechen noch nicht begreifen. Gudrun ist ein Segen für die Kinder, die ihr trotzdem nicht gerade zugetan sind. Doch wenn ein misstrauischer und ängstlich steifer Neuankömmling nach einigen Tagen gelockert und wild im Spielzimmer herumtobt und Grumbach am Bart reißt, so kommt dieses Wunder zum größten Teil auf Gudruns Konto. Grumbach frisst ihr aus der Eland.

Dr. Buchloh hat auch noch einen Partner, der auf unserer Etage praktiziert, Dr. Hakki Tschömlekdschian aus Izmir. Er ist für die Triefnasen, die Ohrenschmalzpfropfen und die geröteten Gaumen da, die hartnäckig in der Praxis eines Hals-Nasen-Ohrenarztes aufzutauchen pflegen. Wenn sie nicht gerade einem fürstlichen Kopf angehören, ist Dr. Buchloh über die Behandlung solcher Molesten natürlich erhaben.

Dr. Tschömlekdschian - bei uns allgemein Dr. Tschöm genannt - gehört zu den ernsthaften Leuten, die sich bei Professor Andraschke eine elektronische Komposition von Karlheinz Stockhausen anhören über das Thema Der Schatten, den ich werfe, ist der Schatten, den ich werfe und dann auch noch verstehen, was sie da hören. Seine Kundschaft wird von Lisa, der Sekretärin, im Empfangszimmer mit sicherem Blick von den Dr. Buchloh vorbehaltenen edleren Fällen aussortiert.

Dr. Tschöm, dessen Name unsere schwerhörige Bruderschaft stets merkwürdig zu erheitern pflegt, hat in Deutschland studiert. Er hat den geschmeidigen Gang einer Katze und das Gemüt eines Reibeisens. Er spricht besser Deutsch als wir, und er versteht sein Metier. Obwohl er seiner türkischen Heimat vor zwanzig Jahren schon Lebewohl gesagt hat, ist er ein glühender Patriot und Muselmann geblieben. Er verachtet herzhaft jedes weibliche Wesen, das nicht tief verschleiert geht. Sobald er erscheint, zieht Lisa ihre Röcke eine Handbreit übers Knie hoch und bedauert lautstark, dass die Zeit der Minis vorüber ist. Dr. Tschöm streckt dann die Janitscharennase in die Luft und nimmt von Lisa und ihren Manövern keine Notiz.

Außerdem gibt es noch die Assistentin von Dr. Tschöm, Helena Wilde, ein weißbekitteltes, mageres und schweigsames Wesen, dessen Gesicht von dunklen Haarsträhnen stets völlig verhangen ist. Lisa schwört, Dr. Tschöm habe sie nur wegen dieses haarigen Vorhangs vor der Nase angestellt. Gelegentlich, wenn sie gerade keinen Streit miteinander haben, schließen Lisa und Grumbach Wetten ab, wie viele Wörter mit wem Dr. Tschöms Assistentin in einer Woche wechseln werde.

Frau Wilde schenkt diesem Treiben keine Beachtung. Sie kocht für Dr. Tschöm täglich ungezählte Tassen Kaffee auf der Kaffeemaschine im Küchenzimmer. Sie röntgt verstopfte Nasen, entwickelt die Aufnahmen, schreibt Dr. Tschöms Befunde und überwacht seine Instrumente und seine Krankenkartei. Sie macht unaufgefordert nie den Mund auf, wenigstens nicht außerhalb der Behandlungsräume ihres Meisters. Sie muss für einen türkischen Muselmann eine ideale Gefährtin sein.

 

Meine Arbeit beginnt vormittags um neun mit dem Einzelunterricht, hauptsächlich für die Kinder, die von ihren Eltern gebracht und wieder abgeholt werden. Nachmittags gibt es den Gruppenunterricht für die Kinder der Station, und jeden Donnerstagabend findet noch ein Gruppenunterricht für Erwachsene statt.

Ich betrachte meine Arbeit nicht als Mission, sondern als Beruf. Ich halte das Wort von der Berufung für sentimentalen Quatsch. Entweder man leistet etwas für sein Geld, oder man verdient es nicht. Aber ich bin nicht mit meinem Beruf verheiratet. Natürlich nimmt jeder, der dieses Geschäft ernst nimmt, gelegentlich seine beruflichen Probleme mit nach Hause. Aber ich gebe mir Mühe, nach Feierabend abzuschalten und dann nur noch an mich und meine eigenen Angelegenheiten zu denken. Missionarischen Eifer sollte man unterbeschäftigten Damen überlassen, die sich langweilen und Selbstbestätigung brauchen, aber man sollte sie nicht dafür bezahlen.

Die Lage unserer Praxisräume ist einfach und übersichtlich. Vom Treppenhaus her betritt man einen langen und breiten Flur, entlang den Wänden stehen lederbezogene Bänke für Besucher, und rechts und links vom Flur gehen die Türen zu den einzelnen Zimmern ab. Gleich links neben der Eingangstür residiert Lisa, Empfangsdame und Sekretärin zugleich, in einem offenen Raum, den eine Art Theke als Empfangstisch vom Flur trennt. Die beiden Schreibtische dahinter sind die Arbeitsplätze von Lisa und Frau Wilde. In den Schränken an den Seitenwänden bewahren sie ihre Akten auf, und vor dem Nordfenster zur Straße blühen Lisas Usambaraveilchen, die sie ständig umtopfen muss, weil sie sich wie die Karnickel vermehren.

Vom Sekretariat aus führt eine Tür zum Küchenzimmer. Die Hälfte dieses Raums besteht tatsächlich aus einer Küchenzeile mit Herd, Spüle und Kühlschrank, kann aber mit einem einfachen Nesselvorhang gegen die Fensterhälfte hin abgeteilt werden. Hier stehen an der einen Wand die wachstuchbezogene Liege mit Bestrahlungslampe und Lichtbügelkasten für Kopflichtbäder und gegenüber der Tisch mit dem Inhalationsgerät.

Dieser Teil des Zimmers wird sehen benutzt, da Dr. Tschöm Huster umgehend zum Facharzt für Bronchialkrankheiten schickt, den Schnupfern Kamillentee und Ephedrin-Tropfen verschreibt und für drei Tage Bettruhe verordnet. Ernsthafte Erkrankungen überweist Dr. Buchloh an die Uniklinik.

Im Küchenteil kocht Frau Wilde ihre Spritzen aus und bewahrt sie in sterilen Tüchern in den Hängeschränken über der Küchenzeile auf. In diesem Zimmer spielt sich ein gut Teil des täglichen Lebens der beiden Frauen ab. Hier schminkt sich Lisa und wechselt ihre Strümpfe, hier topft sie ihre Veilchen um, näht Knöpfe an und raucht eine verbotene Zigarette, und hier steht die Maschine, auf der sie Kaffee kochen. In unserem Flur riecht es unentwegt nach frisch gebrühtem Kaffee. Frau Wilde kocht ihn für Dr. Tschöm literweise, und ohne Dr. Tschöms Kaffeetablett ist Frau Wildes Schreibtisch einfach unvorstellbar.

Nächst dem Küchenzimmer kommt die Toilette, daran anschließend die beiden Wartezimmer für die Patienten Dr. Buchlohs und Dr. Tschöms. Diese Räume können nur vom Flur her betreten werden, haben also keine Verbindungstüren untereinander.

Mein Unterrichtszimmer mit seinen schalldichten Wänden und gepolsterten Türen befindet sich dem Empfangszimmer gegenüber, also gleich bei der Tür zur Treppe auf der Süd- und Hofseite des Hauses, anschließend kommt Dr. Buchlohs Ordination. Das Röntgenzimmer liegt zwischen Dr. Buchlohs und Dr. Tschöms Behandlungsräumen. Dieses Röntgenzimmer ist wiederum unterteilt in die abgedunkelte Fensterhälfte, wo das Röntgengerät steht, und die zum Flur liegende andere Hälfte mit Frau Wildes kleinem Labor, wo sie ihre Aufnahmen entwickelt.

Alle diese Räume sind sowohl vom Flur her zu betreten als auch untereinander durch Türen verbunden. Ich könnte also theoretisch von meinem Zimmer aus ohne weiteres bis hinter zu Dr. Tschöms Zimmer gehen, ohne den Flur betreten zu müssen, wovor ich mich aber bisher gehütet habe und mich auch in Zukunft zu hüten gedenke.

 

Die Schwaben sind sparsame Leute und behaupten, reich wird man nicht vom Geld ausgeben, sondern vom behalten. So ist Dr. Tschöms Wartezimmer für die Kassenpatienten stets stärker besucht als das von Dr. Buchloh. Aber wenn sie nicht mehr hören, sind sie alle arme Teufel, ob sie nun Kassen- oder Privatpatienten sind. Denn fremde Hände und fremde Herzen lassen sich kaufen, fremde Ohren noch nicht.

Gehörlose leben wie Körperbehinderte am Rand unserer bewegungs- und lärmfreudigen Gesellschaft. Und da sie keinen Lärm schlagen können, weiß man wenig von ihnen und über sie.

Dabei sind Taubstumme nicht stumm, wie viele Leute glauben. Sie haben eine Stimme mit einer Vielzahl von Lauten. Da sie sich jedoch selbst nicht hören können, haben sie keine Kontrolle über den Umfang ihrer Stimme und keinen Vergleich mit dem gesprochenen Wort des Hörenden. Ohne langwierige und geduldige Schulung kommt ihre Stimme unartikuliert, zu laut, dumpf und verzerrt aus ihrem Mund, so dass sie für den Zuhörer unverständlich bleibt.

Es ist meine Aufgabe, sie die Gebärdensprache zu lehren und die Lautsprache wenigstens so weit, dass sie sich allein und selbständig in einer hörenden Umwelt bewegen und verständlich machen können.

Nur etwa ein Drittel unserer Sprache kann von den Lippen abgelesen werden. Es braucht sehr viel Einfühlungsvermögen und ständiges Beobachten, um die Bedeutung unserer gesprochenen Worte und den Sinn unserer Sätze zu verstehen, wenn man nur die Lippenbewegungen sieht. Es gibt kaum einen Hörenden, der die Mühsal auf sich nimmt, das Lippenlesen zu erlernen.

Wem Gehör selbstverständlich ist, weiß nicht, dass die meisten Gefühle und Empfindungen über das Ohr aufgenommen werden, Schmerzenslaute, Weinen, Trauer, Enttäuschung, Zorn und erst recht die weite Gefühlswelt der Musik! Das Ohr prägt unser soziales Verhalten. Schon dem Kind bringt man bei, »das gehört sich« oder »das gehört sich nicht!« Über das Ohr kommt der Gehorsam, es macht uns hörig und zugehörig.

An ihren Stimmen erkennen wir Menschen, Vögel, Autohupen, Signale der Außenwelt. Mit dem Ohr vernehmen und lernen wir verstehen. Mit einem Schrei beginnt unser Leben, mit dem Verstummen hört es auf.

 

Der Tag, an dem ich beschloss, nun endlich den Mann meines Lebens zu finden, und an dem das Unheil begann, war ein Montagvormittag im September. Ich unterrichtete die kleine Silke Bayer, dreijährig und taub geboren. »Das ist ein Ball. Nimm den Ball. Gib mir den Ball. Ball, Ball!«

Das Kind war unruhig und unaufmerksam. Es wandte den Kopf ab, spielte mit dem Ball und sah mich nicht an. Es interessierte sich für Christian Hausdörfer, der beim Phonator saß und an den Knöpfen des Tonverstärkers drehte. Ich hätte ihn gern fortgeschickt, aber das ging natürlich nicht. Christian Hausdörfer gehört zum Inventar.

Er ist ein Freund Dr. Buchlohs, um die Fünfzig, Besitzer einer kleinen Fabrik für Blechdosen und taub seit Geburt. Er wandert ungehindert zu jeder Tageszeit im Haus herum, spielt mit den Kindern, macht sich nützlich, sitzt zuschauend in einer Ecke und verschwindet ohne Aufhebens, wenn er glaubt, dass er im Weg ist. Er beliefert mit seinen Weißblechdosen die Welt von Grönland bis nach Teheran und gehört zu der Einkommensklasse, die in Ulm in den Stadtrat gewählt wird. Er ist privilegierter Besucher in meinem Unterrichtszimmer, heiter, phlegmatisch, wohlerzogen, und er ist jederzeit bereit, mich zu begleiten und zu trösten, sobald der liebe Gott und ein Mann mich wieder einmal im Stich gelassen haben.

Ich drehte Silkes Gesichtchen zu mir herum. »Sieh mich an!« Ich nahm eine auf eine Lederschnur aufgezogene Holzperlenkette. »Das ist eine Kette. Lege mir die Kette um den Hals. Nimm du die Kette. Lege du dir die Kette um den Hals!«

Dieser Unterricht bedeutet Schwerarbeit für ein so kleines Kind. Die Kleine gab sich Mühe, sie nahm die Kette, sie legte sie sich um den Hals, die Augen blickten fragend, verstehend, ernst und angestrengt und schließlich erschöpft. Silke steckte den Daumen in den Mund und legte den Kopf in meinen Schoß. Sie war müde. Ich gönnte ihr eine Pause.

Christian gesellte sich zu uns und betrachtete nachdenklich das Kind. Seine Hände waren in Bewegung. »Heute ist Föhn«, sagte er. »Die Kleine spürt es.«

Die Gebärdensprache der Taubstummen ist eine ungewöhnlich intelligente und natürlich vor allem geräuschlose Sprache. Sie ist die einzige Möglichkeit, mit der sich Gehörlose miteinander und mit uns unterhalten können. Man sollte sie nicht komisch finden. Über die Braille-Schrift der Blinden lacht ja auch niemand. Wenn sich im Omnibus auf den Sitzen hinter mir zwei ältere Frauen scharfstimmig und so laut unterhalten, dass einem die Ohren wehtun, wünsche ich mir oft, sie würden mit den Händen reden.

»Haben Sie Mitleid mit dem Wurm!«

»Ich darf nicht. Sie wissen selbst, in diesem Alter lernen sie am leichtesten. Und je eher sie verstehen und begreifen lernen, umso günstiger ist es für ihre geistige Entwicklung. Mitleid hilft ihnen nicht.«

Ich weckte das Kind. »Das ist Papier. Nimm du das Papier. Gib mir das Papier.« Ich führte die kleine Hand über den Papierrand. Ich ließ es das Papier zerknüllen. »Papier, P-A-P-I-E-R!«

Silke bewegte die Lippen, legte bereitwillig die Hände an meinen Kehlkopf, um dort die Schwingungen des »R« zu fühlen. Und dann brachte der kleine Mund das erste laut und deutlich gesprochene Wort hervor: »Papi!«

Silke war entzückt. Sie konnte sich nicht hören, aber sie hatte begriffen, dass sie etwas vollbracht hatte, das mich freute. »Papi«, sagte sie noch einmal, »Papi«. Aber beim dritten Mal wurde es schon undeutlich und verzerrt.

Ich herzte das winzige Geschöpf. »Es ist gut«, sagte ich. »Nimm den Ball. Gib mir den Ball!«

Christian Hausdörfer sah uns zu. Er würde, genau wie die kleine Silke, nie ein gesprochenes Wort hören können.

Grumbach kam angeschlurft, »’s Kindle hat genug für heute.« Das Kind streckte ihm die Arme entgegen. Ich sah auf die Uhr. »Noch fünf Minuten, Grumbach!«

Ich hätte genauso gut zur Wand reden können. Silke war vor einiger Zeit bei uns in der Kinderstation gewesen. Sie gehörte zu Grumbachs besonderen Lieblingen. Ich wusste, er wollte sie nur ein paar Minuten für sich allein haben, bevor er sie der Mutter im Wartezimmer zurückgab.

Er nahm die Kleine auf, die ihm zulachte und ihm zutraulich die Arme um den Hals legte. »Komm, Mädle, wir gehen zur Mammi!«

»Papi«, sagte da Silke laut und streichelte ihm den Hals, »Papi!«

Grumbach blieb stehen. Sein Brustkorb dehnte sich, sein Schnauzbart zitterte, sein Gesicht leuchtete. »Mädle«, sagte er ergriffen, »ja mein Mädle!« Es war ein rührendes Missverständnis.

»Beim Doktor ist was Neues«, sagte er nach einiger Zeit über die Schulter zu mir. »Vierzehn, taub und lahm. Ich bring es gleich rüber. Der Doktor will noch mit der Mutter allein reden.« Er beugte sich über das Kind auf seinem Arm. Er kitzelte es mit seinem Schnurrbart an den Ohren. »Du bist ein Prachtmädle!« Silke antwortete mit einem gurgelnden Lachen.

Grumbach trug sie davon und schlug krachend die Tür hinter sich zu. Grumbach knallt prinzipiell jede Tür zu. Er bringt dies sogar den Kindern bei. Lisa wünschte ihm dafür die Pest an den Hals.

Ich stand auf, wusch mir die Hände und fuhr mir mit dem Kamm durch die Haare. Es knisterte, ich spürte den Föhn. Ich sah im Spiegel Christians Augen auf mir ruhen. Ich nickte ihm zu und wandte mich um. »Glauben Sie bloß nicht, dass ich mich über den Burschen ärgere! Aber er ist das unverschämteste Goldstück in diesem Laden.«

Dr. Buchloh kam aus seinem Ordinationszimmer. »Frau Lembach, ich lasse gleich eine Vierzehnjährige herüberbringen. Komplizierter Fall. Taub und gelähmt von den Hüften abwärts. Kein Befund. Einwandfrei psychische Trausis.« Er sah aus dem Fenster. Auf dem Arkadenhof schilpten die Spatzen, der Springbrunnen murmelte, der Hausmeister riss Unkraut aus dem gepflasterten Boden um den Sockel einer römischen Säule.

Ich bewunderte Dr. Buchlohs Profil, klassisch, heldenhaft, mit einer hohen Stirn, die von leicht gewelltem Blondhaar mit silbrigem Schimmer umrahmt wurde. Seine Statur musste eine reine Freude für seinen Schneider sein! Schultern wie bei einem Olympier und keine Spur von Bauch. Und dazu eine Stimme, die jedes hörende Ohr hörig machen konnte. Ich hatte längst jeder Hoffnung entsagt, er könnte der Mann meines Lebens werden.

»Ich werde das Mädchen ab nächster Woche für einige Zeit auf die Station nehmen. Umweltwechsel, Entspannung, vor allem: Trennung von der Mutter. Unterricht ohne Hörhilfen. Wir werden sehen.«

Er beugte sich aus dem Fenster. »Herr Glöckler«, rief er, »der Hahn in meinem Badezimmer tropft. Könnten Sie bitte eine neue Dichtung auflegen?«

Jeder Schauspieler, der so etwas mit so viel Wohllaut in der Kehle sagen könnte, bekäme umgehend die Titelrolle im Don Juan.

Er wandte sich wieder seiner hingerissenen Bewunderin zu. »Es ist ein ungewöhnliches Mädchen. Starke Abhängigkeit von der Mutter, Sehr hübsch, sehr edel, man könnte es sogar schön nennen. Die Mutter übrigens auch. Es besteht eine gewisse Herzarrhythmie, vermutlich die Folge einer nicht ausgeheilten Grippe. Wir werden Digitalis geben. Ich bin sicher, dass Frau Hellmann mit ihrer Reflexzonenmassage da einiges erreichen kann. Auf jeden Fall: absolut keine Überanstrengung, keine Aufregungen irgendwelcher Art!«

Ich versprach, die schöne Arrhythmie mit Samthandschuhen anzufassen. Er schien mit mir zufrieden. »Grüß dich, Christian«, sagte er und nickte dem Freund zu. Er verschwand durch die Tür zu seinem Zimmer.

Christian stand auf und ging fort.

Grumbach brachte Angela Laitinger. Er trug sie wie Christus das Lamm. Er setzte sie behutsam auf den Stuhl an meinem Schreibtisch.

»Taub und lahm seit vier Jahren«, erklärte er. »Seit der Bruder ertrunken ist. Wenn Sie mich fragen, Schilddrüse und Tachykardie. Das Mädle fällt mal einfach tot um.«

»Es fragt Sie keiner.« Es ist grundsätzlich verboten, vor den Patienten über ihre Krankheiten zu sprechen, selbst wenn sie es nicht hören können.

»Ha no, ich sag's trotzdem. Alles psychisch. Dem Kindle haben sie einen Schuldkomplex eingeredet.«

»Stellen Sie keine Diagnosen und machen Sie, dass Sie rauskommen!«

Er grinste. Es freute ihn immer, wenn er einen von uns ärgern konnte. Er hob die schweren Schultern, klopfte dem Mädchen auf die Wange, schnitt eine Grimasse und drehte den Kopf wie eine Schildkröte. Doch Angela Laitinger verzog keine Miene. »Na, dann auf später, Mädle.« Er knallte die Tür zu.

Die dunklen Augen des Mädchens betrachteten mich ohne Neugier. Das bräunliche Gesicht war zart und hart zugleich, wie so viele Gesichter dieser jungen Menschen, die durch ihre Taubheit vom mitteilsamen Verkehr mit der Welt ausgeschlossen sind.

»Ich bin Frau Lembach«, sagte ich, »kannst du mich verstehen?«

Das Mädchen las von meinen Lippen und nickte gleichgültig.

»Kennst du die Gebärdensprache?«

Es schüttelte den Kopf und wandte das Gesicht ab.

Ich legte ihm die Hand unter das Kinn und bog sein Gesicht wieder zu mir. »Bitte, sieh mich an, wenn ich mit dir spreche. Es ist nicht höflich, den Kopf abzuwenden.«

Das Mädchen zog die schmalen Augenbrauen zusammen und starrte misstrauisch und voller Abwehr.