Mord ist eine Wissenschaft - Carla Valentine - E-Book

Mord ist eine Wissenschaft E-Book

Carla Valentine

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Beschreibung

Für alle Fans von Agatha Christie und für alle True Crime-Leser*innen: Carla Valentine, die englische Forensik-EXpertin klärt in dieser kompetenten Enzyklopädie der forensischen Methoden auf über Blutspuren und Fingerabdruck, über Giftmord und Obduktion. Lesestoff für alle, die an True Crime und englischer Kriminalliteratur interessiert sind. Viele Kinder lasen Enid Blyton oder Beatrix Potter - Carla Valentine war von klein auf verrückt nach Agatha Christie und rätselte mit, wer wohl der Mörder war. Diese frühe Faszination ließ Carla Valentine Forensik studieren, in Leichenhallen und in pathologischen Instituten arbeiten, doch von Agatha Christie ließ sie nie ab.  Agatha Christie benutzte den Begriff "Forensik" noch nicht wie wir, doch auch sie beschreibt in ihren Krimis mit ihrer fachkundigen Beobachtung und viel Einfallsreichtum die Wendungen und Verwicklungen der einzelnen Fälle und überführt geschickt jeden einzelnen Mörder. Agatha Christie war eine Pionierin der forensischen Wissenschaft, und Carla Valentine beleuchtet in Mord ist eine Wissenschaft das gesamte Wissen einer der beliebtesten Autorinnen der Weltliteratur. Für die Millionen Fans von Agatha Christie und von ihren Ermittlern Miss Marple und Hercule Poirot. Kapitelweise Analyse von Mordfällen, Erläuterung der Mordarten, Hinweise zur Aufklärung und Beschreibung der forensischen Methoden, die schon von Agatha Christie verwendet wurden, tabellarische Zusammenfassung der einzelnen Krimis und der jeweils dort geschilderten Mordmethoden.  Sorgfältige Recherche, fundierte Kenntnisse, Insider-Tipps und ein unterhaltsamer Text machen dieses Buch zu einem Lesevergnügen und einem Muss für alle True-Crime-Fans.

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Seitenzahl: 511

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Carla Valentine

Mord ist eine Wissenschaft

Was schon Agatha Christie über Rechtsmedizin wusste

Aus dem Englischen von Christiane Bernhardt

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Agatha Christie ist eine der beliebtesten Autorinnen der Weltliteratur und berühmt für ihre raffinierten Plots und verschlungenen Erzählungen. Doch sie war auch in der Forensik bewandert und verwob in jedem ihrer Bücher gekonnt menschliche Beobachtung, Einfallsreichtum und echte Wissenschaft miteinander.

Die Forensik-Expertin Carla Valentine führt die Leser*innen an entscheidende Stellen in den Romanen und deckt auf, welche Methoden Christie in ihren Werken nutzte, um die Täter zu überführen, was sie schon damals über Forensik wusste und welche Schlussfolgerungen sie zog.

Sorgfältige Recherche, fundierte Kenntnisse der Forensik, Insider-Tipps und ein unterhaltsamer Text zeichnen das Buch von Carla Valentine aus: Sie beweist, dass es durch die Forensik wirklich fast unmöglich ist, mit einem Mord davonzukommen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Einleitung: Der Tatort

Kapitel 1: Fingerabdrücke

Worum es bei der Analyse von Fingerabdrücken geht

Die Geschichte der Fingerabdruckanalyse

Kapitel 2: Materialspuren

Worum es bei der Analyse von Spurenmaterial geht

Haare

Erde

Glas

Fasern

Die Geschichte der Sicherung mikroskopischer Spuren

Kapitel 3: Forensische Ballistik (Schusswaffen)

Worum es sich bei der forensischen Ballistik handelt

Pistolen

Handfeuerwaffen

Gewehre

Schrotflinten

Munition

Kaliber vs. Bohrung

Die Geschichte der forensischen Ballistik

Kapitel 4: Dokumente und Handschriften

Worum es sich bei der forensischen Dokumentenuntersuchung handelt

Die Geschichte der forensischen Dokumentenprüfung

Kapitel 5: Abdrücke, Waffen und Wunden

Worum es bei Abdrücken, Waffen und Wunden geht

Abdrücke: Fußabdruckspuren, Reifenspuren (und Schleif- und Werkzeugspuren)

Waffen und Wunden

Die Geschichte von Abdruck- und Waffenbeweisen

Kapitel 6: Blutspurenmusteranalyse

Worum es bei der Blutspurenmusteranalyse geht

Blutspurenmuster interpretieren

Die Geschichte der Blutspurenmusteranalyse

Kapitel 7: Autopsie

Worum es sich bei einer Autopsie und der forensischen Pathologie handelt

Die Geschichte der Autopsie und der forensischen Pathologie

Kapitel 8: Forensische Toxikologie

Worum es sich bei der forensischen Toxikologie handelt

Korrosive Substanzen

Systemisch wirkende Gifte

Die toxikologische Analyse im Rahmen der Autopsie

Die Geschichte der forensischen Toxikologie

Schluss: Die Stunde X

Dank

Anhang

Tabelle der Mordmethoden

Bildnachweis

Die Werke Agatha Christies

Für meinen Bruder Ryan, den ich von ganzem Herzen liebe

Einleitung

Der Tatort

Für mich als studierte Medizintechnikerin im Bereich Labor und Pathologie, die in einem Leichenhaus tätig war, lautet die Frage, die ich am häufigsten zu hören bekomme: »Wie um alles in der Welt kommt es, dass du mit Toten arbeitest?« Die Antwort – dass ich dies ganz einfach seit meiner Kindheit tun wollte – stellt kaum jemanden zufrieden. Dabei ist der Grund für diese frühe Faszination recht simpel: Ich verliebte mich in die forensische Wissenschaft, nachdem ich mich in die Bücher von Agatha Christie verliebt hatte. Bücher, die ich mit gerade einmal acht Jahren aus der örtlichen Stadtbibliothek entlieh. Zufälligerweise trifft Agatha Christies Beschreibung der zwölfjährigen Pippa aus ihrem Theaterstück Das Spinnennetz von 1954 genau auf mich zu. Als Jeremy Warrender, der Hausgast von Clarissa Hailsham-Brown, Clarissas Stieftochter Pippa fragt, was ihr Lieblingsfach in der Schule sei, antwortet diese wie aus der Pistole geschossen: »Bio […] Bio ist absolut toll. Gestern haben wir einen Froschschenkel seziert.«1 Überträgt man biologisches Wissen auf Verbrechen, entspricht das in etwa dem, was unter forensischer Pathologie verstanden wird. Etwas, das mir erstaunlicherweise seit meiner Kindheit bekannt war und mich faszinierte.

Agatha Christie selbst hat natürlich nie von »Forensik« gesprochen – der Begriff ist relativ modern. Ihre Geschichten jedoch sind allesamt meisterhafte Beispiele für menschliche Beobachtungsgabe und Erfindungsgeist, durchwoben mit Wissen der aufstrebenden Wissenschaften und Erkennungsverfahren der damaligen Zeit. Und genau dieses Augenmerk auf forensische Details zog mich bereits in frühen Jahren in seinen Bann. Ihr Repertoire umfasst Fingerabdrücke und Dokumentenabgleiche, Blutspurenmusteranalysen, Spurenmaterial und Handfeuerwaffen. Sehr häufig kommt Gift zum Einsatz – vielleicht die Waffe, die am stärksten mit Agatha Christies Büchern in Verbindung gebracht wird, da sie während beider Weltkriege zweitweise als Apothekerin arbeitete und dieses Wissen mit großem Erfolg in ihre Geschichten einfließen ließ. Ebenfalls wichtig: In jedem ihrer Krimis gibt es eine Leiche oder – üblicher noch – mehrere Leichen. Für ein neugieriges Kind, das sich ohnehin bereits für Biologie und Forensik begeisterte, waren diese Geschichten und die dazugehörigen Leichen die perfekte Rätselkost.

Für all jene, die sie noch nicht kennen, liest sich eine Zusammenfassung der Kapitel aus Agatha Christies Leben ebenso spannend wie eines ihrer Bücher. 1890 als Agatha Miller in Devon im Vereinigten Königreich geboren, wurde sie zur kommerziell erfolgreichsten Schriftstellerin der Welt, in Verkaufszahlen nur von der Bibel und von Shakespeare übertroffen. Im Jahr 1952 verfasste sie Die Mausefalle, das am längsten ununterbrochen gespielte Theaterstück aller Zeiten (nach 67 Jahren gelang es 2020 erst dem Coronavirus, die Aufführung des Stückes zu unterbrechen), und so wurde Christie 1971 zur Dame of the British Empire ernannt. Vor ihrem unglaublichen literarischen Erfolg jedoch packte sie während des Ersten Weltkriegs (und im Zweiten Weltkrieg erneut) genauso an wie der Rest der Bevölkerung und arbeitete als Krankenschwester und dann in einer Apotheke – Tätigkeiten, die in zahlreichen ihrer späteren Geschichten eine wichtige Rolle spielen sollten. Manchen mag das unglückliche Ende ihrer Ehe mit ihrem ersten Ehemann Archie Christie im Jahr 1926 bekannt sein – vor allem aber wohl ihr darauffolgendes Verschwinden: Als sie nach elf Tagen in einem Hotel in Harrogate gefunden wurde – möglicherweise litt sie unter einem kurzzeitigen Gedächtnisverlust –, brachte sie das auf die Titelseiten der internationalen Presse. Dennoch bleibt diese Episode ihres Lebens etwas mysteriös und findet keine Erwähnung in ihrer Autobiographie. Zum Glück war ihre zweite, vier Jahre später geschlossene Ehe mit Max Mallowan sehr viel glücklicher und blieb dies bis zu ihrem Tod 1976. Diese zweite Verbindung weckte in Agatha sogar das Interesse an Archäologie, etwas, das skizzenhaft in ihren späteren Werken auftaucht. Und »Skizze« ist hier wirklich genau das richtige Wort: Max ermutigte sie, Zeichenstunden zu nehmen, damit sie die Funde diverser Ausgrabungen für die Nachwelt festhalten konnte, und nachdem sie zahlreiche Fundstücke sorgfältig gesäubert und Skizzen angefertigt hatte, wurde sie schließlich festes, wenn auch unbezahltes Mitglied des Ausgrabungsteams.

Obgleich sie bleibende Detektive wie Hercule Poirot und Miss Marple erschuf, schrieb Agatha Christie nicht ausschließlich Krimis. Unter dem Pseudonym Mary Westmacott (das fast zwanzig Jahre lang nicht gelüftet wurde) verfasste sie darüber hinaus sechs Romanzen, mehrere Sachbücher, darunter ihre Autobiographie, die 1977 posthum veröffentlicht wurde, sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Theaterstücke.

Ganz eindeutig jedoch hatte Christie ein Händchen für Kriminalfälle. Im Lauf ihrer 45 Jahre andauernden Karriere schrieb sie ganze 66 Kriminalromane und jede Menge Detektivgeschichten. Sie war die erste Person, der je ein Grandmaster Award vom Schriftstellerverband Mystery Writers of America verliehen wurde, und sie fungierte 1930 als Gründungsmitglied und Präsidentin des Detection Clubs – eines Zusammenschlusses von Krimischriftstellern, deren Mitglieder sich beim Scheiben von Kriminalliteratur an spezielle Regeln halten und bei einer doch eher ironisch anmutenden Zeremonie über einem Totenkopf namens Eric einen Treueschwur ablegen mussten.

Mich interessiert die faszinierende Geschichte der forensischen Wissenschaft, und ich bin leidenschaftliche Krimileserin – Agatha Christies Bücher sind die perfekte Kombination aus beidem. Ihr Bestreben, kriminaltechnische Verfahren realitätsgetreu darzustellen, und die Entwicklungen der Kriminologie und Rechtsmedizin, die sie in ihren Geschichten abbildet, zeigen deutlich, wie die Forensik zu dem Forschungsgebiet geworden ist, als welches wir sie heute kennen.

Der Begriff »medikolegal« und das noch altertümlicher anmutende »Gerichtliche Medizin« sind Ausdrücke, die früher etwas verbreiteter waren als das Wort »Forensik«, das wir heute verwenden – auch wenn sie beinahe den gleichen Gegenstand bezeichnen. Das Wort »medikolegal« schließt sowohl medizinische als auch rechtliche Aspekte ein, beinhaltet also ausdrücklich die Medizin. »Forensik« hingegen ist weiter gefasst und bedeutet »Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Verfahren bei der Ermittlung von Verbrechen«. Ursprünglich stand das Wort »Forensik« in direktem Zusammenhang mit der Rechtsprechung und dem Gericht und stammt vom lateinischen forensis (von oder vor dem Forum), wobei das Forum nichts anderes ist als der Marktplatz. Zur Zeit der Römer musste eine Anklage vor einer Gruppe von Menschen im Forum präsentiert werden, ganz ähnlich wie in den Gerichtssälen heutzutage. Scheinbar wird das Wort »Forensik« seit Neustem aber auch als Synonym für »genaue Untersuchung« oder »eingehende Analyse« und viel weiter gefasst gebraucht. Ich denke da an Schlagzeilen wie »Forensische Analyse von Rugby-Spiel zwischen Wales und England« oder »Forensische Untersuchung ägyptischer Mumie«. Dabei könnten diese Phänomene, über die hauptsächlich im Fernsehen berichtet wird, ganz einfach mit Adjektiven wie »gründlich«, »analytisch« oder »wissenschaftlich« beschrieben werden, denn weder das Rugby-Team noch die ägyptische Mumie werden eines Verbrechens bezichtigt.

Mit »medikolegal« als gebräuchlicherem Begriff war es vorbei, als sich die forensischen Wissenschaften zu einer eigenständigen Disziplin entwickelten und vor allem, nachdem sie Einzug in die Populärkultur gehalten hatten. Ich selbst begann mein Studium in diesem Fachbereich, als jener an den Universitäten noch in den Kinderschuhen steckte. Dann ging ich Pathologen zehn Jahre lang als Assistentin bei forensischen Autopsien zur Hand und reparierte und restaurierte anschließend historische Körperteile im Museumsbereich, eine Arbeit, die ein ähnliches Maß an Sorgfalt erfordert wie Autopsien. Dank dieser Tätigkeiten verfüge ich über eine einzigartige Perspektive sowohl auf die historischen als auch die modernen Methoden der forensischen Wissenschaften.

Derzeit trage ich die Verantwortung für den Erhalt von fünftausend anatomischen Präparaten des Barts Pathology Museum in London. Der Teil der Präparate, der unter dem Namen »Medikolegale Sammlung« bekannt ist, besteht aus konservierten Gewebestücken, die bis ins Jahr 1831 zurückreichen und greifbar machen, welche Schäden Gift, Schusswunden und gerichtlich angeordnete Hinrichtungen hinterlassen. Präparate der Sammlung, die nach 1966 erworben wurden, sind hingegen als »Forensische Medizinsammlung« bekannt, was uns einmal mehr die etymologische Begriffsentwicklung vor Augen führt.

Es ist schwer, den genauen Zeitpunkt festzulegen, an dem die eine Beschreibung aus der Umgangssprache verschwand und durch andere abgelöst wurde, insofern es sicherlich eine gewisse Überschneidung gab. Es ist jedoch möglich, die Entwicklung der Kriminalistik oder Forensik, wie sie uns heute bekannt ist, in den Blick zu nehmen und nachzuvollziehen, wie sich die Disziplin – die bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht – entfaltete, ganz unabhängig davon, welche Bezeichnung benutzt wurde.

Einer der bekanntesten Namen im Feld der modernen forensischen Wissenschaft ist wohl der des französischen Kriminologen Dr. Edmond Locard (1877–1966), der 1910 das erste Polizeilabor in Lyon mitbegründete – kurz bevor Agatha Christie ihre glorreiche Schriftstellerlaufbahn begann. An dieser Stelle möchte ich auf die Differenzierung zwischen »Kriminalist« und »Kriminologe« hinweisen, da beide Begriffe häufig im Werk Agatha Christies auftauchen. Ein Kriminalist entspricht dabei eher jemandem, den wir heute als »forensischen Wissenschaftler« bezeichnen würden, wohingegen ein Kriminologe die psychologischen und soziologischen Facetten von Verbrechen und Verbrechern erforscht und vielleicht einem »forensischen Psychologen« am nächsten kommt. (Agatha Christies Detektiv Hercule Poirot scheint jedoch zwischen den beiden zu schwanken.) In seiner Kindheit hatte Locard, ganz wie Agatha Christie, Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten verschlungen, und später schrieb er sogar ein Buch mit dem Titel Policiers de Roman et de Laboratoire, was übersetzt in etwa Polizisten im Roman und im Labor entspricht. Er ist für die Formulierung des forensischen Grundprinzips bekannt, den einfachen Satz: »Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur.« Dieser Grundsatz, der heute als Locard’sche Regel bekannt ist, drückt aus, dass der Täter eines Verbrechens unweigerlich etwas am Tatort zurücklässt – irgendeinen Spritzer, irgendein Stäubchen, einen Flecken oder einen Schmutzpartikel. Ebenso wird er oder sie unbemerkt etwas von dort mitnehmen, und beides kann als forensisches Beweismittel dienen. Christie war sich über dieses Prinzip völlig im Klaren, ob sie es nun als Locard’sche Regel kannte oder nicht. Sie hatte verstanden, dass Beweise Mörder mit ihren Opfern und den Tatorten verknüpfen.

Vielleicht wollte Agatha Christie ihre Recherchen nach dem Erfolg ihres Debütromans Das fehlende Glied in der Kette im Jahr 1920 vertiefen und nahm eine druckfrische Ausgabe von Locards Policiers de Roman et de Laboratoire aus dem Jahr 1922 zur Hand. Es wäre wie eigens für sie gemacht gewesen! Höchstwahrscheinlich hätte sie sich sogar die französische Originalausgabe zu Gemüte führen können, da sie die Sprache lesen, obgleich laut ihrem Schriftstellerkollegen Charles Osborne nicht sonderlich gut sprechen konnte.2 Auffällig ist, dass sie das Wort »Spur« erst in den Geschichten verwendet, die nach Mord auf dem Golfplatz erschienen sind, ihrem Kriminalroman von 1923 – der rein zufällig in Frankreich spielt –, nicht aber davor. In diesem Buch, das von einem verdächtigen Todesfall auf einem Golfplatz handelt, der sich zuträgt, als Poirot gerade versucht auszuspannen, beschreibt der Lokalpolizist Giraud, der in dem Fall ermittelt, die Locard’sche Regel, wenn er sagt: »[D]ie Männer, die dieses Verbrechen begangen haben, sind keinerlei Risiko eingegangen. Der Mann wurde mit seinem eigenen Messer erstochen und sollte mit seinem eigenen Spaten begraben werden. Sie wollten keine Spuren hinterlassen! Aber ich werde sie besiegen! Irgendetwas wird immer übersehen. Und ich werde es finden!«3

Die Veröffentlichung von Locards Lehrbuch der forensischen Wissenschaft im Jahr 1931 markiert die Geburtsstunde der modernen Forensik – ziemlich zu Beginn von Agatha Christies Laufbahn also und inmitten des »Goldenen Zeitalters der Kriminalliteratur«.

Aufgrund ihrer einzigartigen Position als Schriftstellerin in einer Zeit großer rechtsmedizinischer Fortschritte und aufgrund ihrer Liebe zum Detail lässt sich die aufkeimende Wissenschaft der Forensik bestens anhand der Werke Agatha Christies nachvollziehen. Angeblich hat sie sich für ihre Figuren meist nicht von realen Menschen inspirieren lassen, weil ihr diese nicht lebendig genug schienen. Also musste sie sie erfinden, damit sie taten, was immer sie sie tun lassen wollte – ein bisschen wie Marionetten. Hätten sie wirklich existiert, wären ihr manche Charaktereigenschaften und Gedankengänge bekannt gewesen, was im Widerspruch zu dem hätte stehen können, wie sie in ihren Büchern handeln sollten. Das räumt sie auch in ihrer Autobiographie ein, in der sie schreibt: »[Und so kam ich] ein für alle Male zu dem Schluss, dass es nichts taugt, wenn man sich mit wirklichen Menschen beschäftigt – man muss die handelnden Personen selbst schaffen.«4 Begebenheiten aus dem realen Leben und aufgeschnappte Gesprächsfetzen hingegen inspirierten sie durchaus. »Ihre lebhafte Fantasie wurde durch die Zeitungslektüre wahrer Verbrechen angeregt. Fast täglich boten ihr erschütternde Tötungsdelikte, Vandalismus, Raubüberfälle und Fälle von Körperverletzung Inspiration für ihre Geschichten.«5 Natürlich spiegelt sich das auch in ihren Büchern: Auf den berühmt-berüchtigten Fall von Jack the Ripper aus dem Jahr 1888 verweist sie mehrmals in Die Morde des Herrn ABC, und der große Postzugraub von 1963 diente als Quelle für Teile des Plots von Bertrams Hotel, das nur zwei Jahre nach dem Überfall auf einen Postzug im Jahr 1965 erschien. Durch ihr gesamtes œuvre ziehen sich bekannte Fälle wie die von Edith Thompson, Dr. Crippen, den »Bräuten im Bad« und der von Lizzie Borden sowie etwas ominösere Verbrechen wie die »Brightoner Kofferraummorde« oder der »Giftmörder von Hay«. Doch wenn die Kunst das Leben imitiert, dann gilt – entsetzlicherweise – wohl auch, dass das Leben manchmal die Kunst nachahmt, was der Fall war, als eine in den 1970er-Jahren beginnende Mordserie Ähnlichkeiten mit Christies fiktionalen ABC-Morden (Die Morde des Herrn ABC) aufwies. Zum einen wurden von 1971 bis 1973 drei Mädchen im Alter zwischen zehn und elf Jahren in Rochester im Bundesstaat New York sexuell missbraucht und erwürgt. Zum anderen fingen Vor- und Nachnamen der Mädchen jeweils mit dem gleichen Buchstaben an und ebenso die Namen der Orte, an denen ihre Leichen gefunden wurden – eine unheimliche Kopie der Taten von Christies ABC-Mörder, der Alice Ascher in Andover umbrachte, Betty Barnard in Bexhill und Carmichael Clarke in Churston. Die realen Mordopfer waren Carmen Colón, die in Churchville gefunden wurde, Wanda Walkowicz in Webster und Michelle Maenza in Macedon.

Dann trugen sich zwischen 1977 und 1978 sowie zwischen 1993 und 1994 weitere Morde mit übereinstimmenden Anfangsbuchstaben in ganz Kalifornien zu. Die Opfer, ältere Frauen, die angeblich als Prostituierte arbeiteten, waren Carmen Colón (kurioserweise hatte sie genau den gleichen Namen wie eines der Opfer aus dem Bundesstaat New York), Pamela Parsons, Roxene Roggasch und Tracy Tafoya.

2011 schließlich wurde ein Mann namens Joseph Naso für die Morde in Kalifornien festgenommen. Er war Fotograf, stammte ursprünglich aus New York und pendelte schon seit Jahrzehnten zwischen der Ost- und Westküste der Vereinigten Staaten hin und her. 2013 wurde er für die Morde an der Westküste zum Tode verurteilt. Doch seine DNA passte nicht zu den Alphabet-Morden in Rochester, weswegen der Fall offiziell weiterhin als ungelöst gilt.

Zudem wurde in Südafrika zwischen 1994 und 1995 eine ganz ähnliche Mordserie, bekannt unter dem Namen »ABC-Morde«, von einem Mann namens Moses Sithole verübt. Innerhalb dieses kurzen Zeitraums tötete Sithole 38 Menschen, zunächst in Atteridgeville, dann in Boksburg und schließlich in Cleveland.

Selbstredend liegen keinerlei Beweise vor, die darauf hindeuten, dass diese Morde durch Agatha Christies Bücher angeregt wurden, und auch wenn diese Morde an ihre Geschichten erinnern, haben die Täter sie nie als Einfluss erwähnt. Was sich aber zeigt, ist, dass reale Verbrechen wahrlich seltsamer sein können als fiktive Kriminalromane und dass jeder, dem Christies Werk weit hergeholt und unrealistisch erscheint, gut daran täte, in die Welt des True Crime einzutauchen. Und warum auch nicht? Denn wie schon Poirot in Der blaue Express gegenüber der jungen Engländerin Katherine Grey betont, beruht Dichtung auf Wahrheit.

Andererseits haben ein paar Verbrecher Christies Werk durchaus als Inspirationsquelle genannt.

2009 entpuppte sich in Qazvin eine zweiunddreißigjährige Frau namens Mahin Qadiri als erste weibliche Serienmörderin des Iran. Sie behauptete, die Bücher Agatha Christies – die sie las, nachdem sie ins Farsi übersetzt worden waren – hätten sie zu ihren Taten inspiriert. Sie ermordete fünf ältere Frauen, indem sie diese betäubte und erwürgte, dann stahl sie ihr Geld und ihren Schmuck. Einem Artikel im Guardian zufolge »gab Mahin bei ihren Geständnissen an, Muster aus Agatha Christies Büchern übernommen und versucht zu haben, keinerlei Spuren zu hinterlassen«.6

Natürlich trägt Agatha Christie dafür keine Verantwortung, und sie hat nie über jemanden geschrieben, der oder die sich dieser Vorgehensweise bedient hätte. Trägt jemand mörderische Absichten im Herzen, wird dieser Jemand Mittel und Wege finden, sie umzusetzen – ganz unabhängig davon, wer oder was ihn inspiriert hat. Christie selbst weist darauf hin, wenn sie in Das Böse unter der Sonne eine ihrer Figuren aus der Bibel zitieren lässt: »Ja, auch in den Herzen der Menschen ist das Böse, und der Wahnsinn wird in ihren Herzen sein, solange sie leben.«7 Was für ein Glück, dass uns mit den forensischen Wissenschaften Mittel zur Verfügung stehen, anhand derer wir dem Bösen auf die Spur kommen können.

Jedes Mal, wenn ich Agatha Christies Bücher lese, bin ich vom Ausmaß ihrer forensischen Präzision beeindruckt, das eigentlich gar nicht so erstaunlich ist, bedenkt man, dass Sir Richard Attenborough – der 1952 Mitglied des Ensembles war, das ihr Theaterstück Die Mausefalle zum ersten Mal auf die Bühne brachte, und der 1974 in der Filmadaption von Und dann gab’s keines mehr mitspielte – sie als »pingelig darauf bedacht, dass alles absolut korrekt war« charakterisierte.8 Er kannte sie vierzig Jahre lang und vermutlich wirklich gut, insofern darf man dieser Beschreibung wohl getrost Glauben schenken. Auch wenn sie zugab, wenig Ahnung von den Mordwaffen zu haben, die sie in ihren Geschichten zum Einsatz kommen ließ (einmal abgesehen von Gift), recherchierte sie so gründlich, dass ihre Werke bis heute glaubhaft und authentisch wirken. Laut ihrem Ehemann Max gab sie sich die größte Mühe, die Dinge richtig darzustellen. Sie fragte Fachleute um Rat in puncto Polizeiarbeit oder bezüglich der Gesetzeslage und gerichtlicher Verfahren. Vielleicht hatte sie das Gefühl, besonders genau sein zu müssen, um Kritiker abzuwehren. Bezeichnenderweise äußert Christies selbst Kriminalromane schreibende Figur Ariadne Oliver, die in mehreren Poirot-Büchern auftritt, in einem ihrer späteren Werke aus den 1950er-Jahren die Vermutung, manche Menschen läsen ihre Bücher einzig in der Hoffnung, Fehler darin zu finden. Und Cathy Cook, Autorin von The Agatha Christie Miscellany, merkt an:

Einmal schickte ihr ein Anwalt einen Leserbrief und beschwerte sich über ihre mangelnde Kenntnis des Erbschaftrechts. Für sie war es damals eine große Genugtuung, ihm mit ihrer Antwort beweisen zu können, dass der Anwalt selbst nicht auf dem neusten Stand war, dass das Gesetz geändert worden und ihre Aussage richtig gewesen war!

In ihren Büchern signalisierte Agatha Christie auch, dass sie sich der Wirkung ihrer Geschichten – der von Detektivgeschichten generell – durchaus bewusst war. Denn diese eröffneten gerade Laien die bis dato eher im Verborgenen betriebene Wissenschaft. So war es ihr Bestreben, Verbrechen für ihre Leser nachzubilden und ihnen eine Vorstellung von dem zu vermitteln, was bislang der Polizei vorbehaltenes Wissen gewesen war.

In ihrer Kurzgeschichte Der Tempel der Astarte bedauert die Figur des Dr. Pender, dass er und ein Freund einen Toten in einem nahe gelegenen Haus in Sicherheit gebracht haben. Entschuldigend sagt er: »Heutzutage sind wir dank der großen Verbreitung von Kriminalliteratur besser informiert […]. Jedes Kind weiß, dass man eine Leiche dort liegen lassen muss, wo sie gefunden wurde.«9 Das ist es, woran wir denken, wenn uns Christies Geschichten einfallen: Leichen. Vor unserem inneren Auge sehen wir die blassen, kalten Finger einer Frau, die sich in einen Orientteppich auf dem Boden einer Bibliothek krallen; ein leeres Champagnerglas neben ihr; ihre Lippen, die blau anlaufen, während sich ihre Augen langsam schließen. Oder wir stellen uns einen Mann vor, zusammengesunken über einem dunkelroten Fleck, der nach und nach über die Unterlagen auf einem Mahagonischreibtisch sickert. Aus seinem Rücken ragt eine silberne Klinge, in der sich das flackernde Licht des Kaminfeuers spiegelt. Beide Szenen sind Rätsel, die es mithilfe von Ermittlungsverfahren sowie Spuren vom Tatort zu lösen gilt.

Es heißt, Agatha Christie habe jegliche »Form von Gewalt verabscheut«10 und sei von Kriminalromanen, die Grausamkeit und Gewalt beinhalteten, nicht eben begeistert gewesen. Vielleicht liefert das eine Erklärung dafür, warum sie die körperlichen Auswirkungen eines Mordes nie ohne guten Grund in ihren Büchern präsentierte. Sie konnte sich nicht vorstellen, den Anblick eines grausam verstümmelten Körpers im echten Leben zu ertragen, und in ihren Romanen beschrieb sie Leichen nur selten bis ins blutige Detail. Das soll nicht heißen, sie wäre nicht fähig gewesen, darüber zu schreiben, oder dass sie es niemals tat. In ihrer Autobiographie erzählt sie recht unverblümt von den schrecklichen Szenen, die sie zu Kriegszeiten erlebte, als sie beim VAD, dem Frauenhilfsdienst, Soldaten pflegte, wobei sie einmal einer neuen Krankenschwester dabei half, ein amputiertes Bein sowie die dazugehörigen Fleischabfälle und das ganze Blut zu entsorgen. Laura Thompson, die Autorin der maßgeblichen Christie-Biographie, führt dies anhand von Informationen aus Agatha Christies Tagebüchern weiter aus. Sie beschreibt die Operation und den in deren Folge amputierten Unterschenkel und zitiert Agatha Christie, die den Boden sauber wischen und das abgetrennte Bein selbst in den Verbrennungsofen stecken musste.11 In ihren fiktionalen Werken gereicht ihr die absichtliche Vermeidung blutiger Details jedoch zum Vorteil. Häufig weist sie nur auf die hervorstechendsten Merkmale des Opfers hin und überlässt den Rest der Vorstellungskraft ihrer Leserinnen und Leser … was manchmal schlimmer sein kann. In Der Wachsblumenstrauß wird eine Figur brutal mit einem Beil getötet, und ihr Gesicht ist derart entstellt, dass man sie kaum identifizieren kann. In Die Tote in der Bibliothek wird der Leichnam einer jungen Frau nach dem Mord bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, und Das Geheimnis der Schnallenschuhe wartet mit Anspielungen auf die entstellenden Auswirkungen des Verwesungsprozesses auf und obendrein mit roher Gewalt. Wir können uns die Folgen dieser grausamen Verbrechen vorstellen, ohne dass man uns die daraus resultierenden Verletzungen in allen Einzelheiten darlegen müsste; ja, sie allein genügen, uns Albträume zu bescheren.

Häufig beginnen Agatha Christies Ermittlungen mit den Aussagen von Augenzeugen, und einige ihrer fiktiven Morde werden trotz fehlender Leiche von ihren Amateurdetektiven aufgeklärt. Manchmal taucht der Detektiv erst Monate oder gar Jahre, nachdem das Opfer umgebracht wurde, in der Geschichte auf und löst den Fall im Nachhinein, wodurch jeglicher Kontakt mit der Leiche umgangen wird – typische »Lehnstuhldetektive« eben. Oft aber sehen sie durchaus eine Leiche am Tatort. Der Fernseh-Quizshow Jeopardy! zufolge war Christie wohl sogar die erste Person, die je den Ausdruck »Tatort« benutzt hat (in ihrem 1923 veröffentlichten Kriminalroman Mord auf dem Golfplatz heißt sogar ein Kapitel so). Noch beeindruckender ist aber vielleicht ihre Vorwegnahme dessen, was vielen von uns als Tatortkoffer bekannt ist. Zwischenzeitlich gehört er sowohl im wirklichen Leben als auch in Geschichten so selbstverständlich dazu, dass man meinen könnte, es habe ihn schon immer gegeben. Aber das stimmt nicht. Im echten Leben war es der berühmte Pathologe Sir Bernard Spilsbury – jemand, dem wir noch öfter in diesem Buch begegnen werden –, der bemerkte, dass Polizisten noch nicht einmal an den Tatorten grausamster Morde die eigentlich nötige und grundlegende Schutzausstattung zur Verfügung stand. Mit bloßen Händen pflückten sie menschliches Fleisch zwischen Pflastersteinen hervor und wischten vergossenes Blut mit ihren privaten Baumwolltaschentüchern auf. Gegenstände wie Kuverts, Pinzetten, Gefäße und Handschuhe – um Beweismittel zu sichern und dabei weder die Polizeibeamten noch den Tatort zu verunreinigen – wurden oft improvisiert und gehörten nicht zur Standardausrüstung. Erst mit der brutalen Tötung Emily Kayes – auch bekannt als »Die Crumbles-Morde« – im Jahr 1924 begannen sich die Dinge zu ändern. »The Crumbles« war ein Kiesstrand an der Küste von Sussex, der unglücklicherweise zum Schauplatz zweier voneinander unabhängiger Morde wurde. Beim ersten Mordopfer handelte es sich um Irene Munroe, die mit gerade einmal 17 Jahren von zwei Männern erschlagen wurde. Deren simples Motiv lautete: Raub.

Die zweite Tat, vier Jahre später, war die weit berüchtigtere grausame Tötung und Zerstückelung der schwangeren Miss Kaye durch ihren verheirateten Liebhaber Patrick Mahon. Was diese Tat so aufsehenerregend machte, war, dass Mahon die Körperteile von Emily Kaye in einer großen Truhe in einem Zimmer ihres Bungalows verstaute und dann auch noch die Nerven hatte, eine andere Frau, Ethel Duncan, einzuladen, das lange Osterwochenende mit ihm in besagtem Bungalow zu verbringen … während dort zugleich diverse Gliedmaßen verwesten.

Dieser grausige Tatort regte Spilsbury dazu an, eine Commissionstasche einzuführen, die sich zum Tatortkoffer wandelte, der die Untersuchungsinstrumente enthält, die uns heute so vertraut sind: Handschuhe, Beweistüten, Pinzetten, Probenröhrchen etc. Im vier Jahre vor dem Mord an Emily Kaye veröffentlichten Christie-Roman Das fehlende Glied in der Kette scheint es jedoch ganz so, als hätte Hercule Poirot bereits einen Tatortkoffer! Er läuft herum, sammelt Beweismittel in »Probenröhrchen« und »Kuverts« und sagt: »Ich stelle meine kleine Tasche jetzt ab, bis ich sie brauche«12, was zeigt, dass er zu diesem Zweck sogar ein spezielles Behältnis hat – zur damaligen Zeit eine ganz und gar neue Idee.

Auch wenn der Tatort von größter Bedeutung ist, gilt es bei forensischen Ermittlungsarbeiten, viele verschiedene Facetten zu berücksichtigen. In Kurz vor Mitternacht beklagt Kriminologie-Experte Frederick Treves den Umstand, dass Detektivgeschichten meist mit einem Mord beginnen, dieser seiner Meinung nach jedoch das Ende der Geschichte markieren müsste: »Die Geschichte beginnt lange davor. Manchmal Jahre davor – mit den Ursachen und Ereignissen, die bestimmte Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Tag an einen bestimmten Ort verschlagen […]. Alle bewegen sich auf einen bestimmten Punkt zu […]. Die Stunde X. Ja, sie alle bewegen sich auf den kritischen Punkt zu, den kritischen Punkt.«13

Vorliegendes Buch ist mein Versuch, dieses Zitat zu würdigen, soweit das mit forensischen Beweismitteln möglich ist. Die Geschichte eines Mordopfers beginnt am Tatort oder den Tatorten, und alle Beweise laufen an der Leiche zusammen – am kritischen Punkt. Wie ein Ermittler, der ins Spiel kommt, wenn der tote Körper ins Leichenschauhaus gebracht wurde, werde ich im übertragenen Sinn damit beginnen, »Ursachen und Ereignisse« am Tatort zu analysieren und Schuhabdrücke, Papierfetzen und Patronenhülsen genauer unter die Lupe zu nehmen. Erst dann wende ich mich der Leiche zu, um Wundmuster, toxikologische Befunde und weitere Gegenstände einer Autopsie zu untersuchen. Daraufhin werden wir zum Finale unserer Ermittlung vorstoßen – zur Auflösung, zur logischen Schlussfolgerung des Buches: zur Stunde X – die all die forensischen Fäden in einem netten kleinen Ermittlungsknoten zusammenführen wird.

Kapitel 1

Fingerabdrücke

Bloß – was hatte die Alte eigentlich in meinen Händen gesehen? Ich hielt sie vor mich hin, die Innenflächen nach oben gekehrt, und betrachtete sie. Was war Händen schon abzulesen?14

 

 

Zehn dunkle, verschmierte Ovale auf einem blassen Rechteck aus Pappe – tintenschwarze Abdrücke der Fingerspitzen krimineller Finger – symbolisieren die Geschichte polizeilicher Ermittlungsarbeit. Der Fingerabdruck mit seinem ausgeprägten Muster aus Linien und Kurven ist zum Inbegriff des Verbrechens geworden. Zahllose Filme, Dokumentationen, Spiele und Podcasts bedienen sich der Abbildung eines Fingerabdrucks, der synonym steht für Verbrechen und Forensik. Es ist ein derart charakteristisches und spezielles Muster, dass es kaum der Erklärung bedarf. Ein Fingerabdruck an einem Tatort, heutzutage von der Spurensicherung üblicherweise als Fingerspur (»fingermark«) bezeichnet, lässt keinen Zweifel daran, dass die betreffende Person vor Ort war. Oder, wie Hercule Poirot es in Agatha Christies erstem Kriminalroman Das fehlende Glied in der Kette ausdrückt: »Wie erklären Sie sich dann die Tatsache, dass Sie ganz eindeutig Ihre Fingerabdrücke darauf hinterlassen haben?«15

Nur ein Anwesender kann seine Fingerabdrücke auf einem Gegenstand hinterlassen – es sei denn, seine oder ihre Finger wurden abgetrennt und waren anstelle der Person vor Ort!

Aufgrund ihres Symbolcharakters und weil sie recht einfach abgenommen werden können, wurden Fingerabdrücke häufig Gegenstand von Kriminalgeschichten, und auch Agatha Christie machte sie sich wie so viele andere Schriftsteller auf verschiedene Weise raffiniert zunutze. Ob versehentlich platziert oder mit Vorsatz, ob auf Glas geschmiert oder auf Papier gedrückt – Fingerspuren ziehen sich durch Agatha Christies gesamtes Werk. Zweifelsohne war sie sich ihres forensischen Stellenwerts bewusst, und so finden Fingerabdrücke in ihren Romanen mehr Erwähnung als alle anderen forensischen Teilgebiete. Da das Scotland Yard seine Fingerabdruckzentrale bereits 1901 gegründet hatte, standen Agatha Christie fünfzehn bis zwanzig Jahre an Informationen über diese bahnbrechende »neue« Technik zur Verfügung, als sie sich 1916 daranmachte, Das fehlende Glied in der Kette zu verfassen. Dennoch, hinsichtlich von Fingerabdrücken geht sie in ihrem Debütroman erstaunlich ins Detail; bedenkt man, dass damals, anders als heute, nicht massenhaft Forensik-Dokus und Krimiserien über die Bildschirme flimmerten. Wir können jedoch davon ausgehen, dass Christie im Vorfeld ihres ersten Romans über das Thema in der Zeitung las und sich vielleicht sogar ganz gezielt neue Informationen darüber beschaffte.

Damals war Kriminalliteratur für die breite Öffentlichkeit eine der besten Möglichkeiten, um an derartiges Fachwissen zu gelangen, und für Agatha Christie – die insbesondere Arthur Conan Doyles Detektivgeschichten mit Begeisterung las – bot Sherlock Holmes ganz bestimmt jede Menge Stoff, mit dem sie arbeiten konnte. Auch andere belletristische Titel wie Mark Twains Erzählung Leben auf dem Mississippi und sein Roman Knallkopf Wilson enthielten Informationen zu Fingerabdrücken. Die Schriftsteller des Goldenen Zeitalters der Kriminalliteratur bezogen wissenschaftliches Faktenwissen wohl größtenteils aus Zeitungen und später vielleicht aus Büchern wie dem 1935 in Erstauflage erschienenen Modern Criminal Investigation. Allerdings waren das keine Quellen für Durchschnittsleser, sondern doch eher etwas für Fachkreise.

In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass Arthur Conan Doyle Mitglied des 1903 gegründeten Crimes Club war, beschrieben als »eine Handvoll Männer, deren gemeinsames Interesse Mordfällen galt«. Der Crimes Club war ein Männerzirkel – und zwar ausschließlich Männer –, die sich für Verbrechen erwärmten, aber aus ganz unterschiedlichen, »mehr oder minder juristischen« Berufen stammten. Ihr Ziel war es, mehr über ein Thema zu erfahren, das ihrem Eindruck nach hauptsächlich von den Medien beherrscht – und zum Skandal aufgebauscht – wurde. Die Gruppe bestand sowohl aus Schriftstellern als auch aus Juristen, Gerichtsmedizinern und Chirurgen, die zu ihren exklusiven Treffen regelmäßig Gastredner einluden, wie beispielsweise den bereits erwähnten, höchst renommierten Bernard Spilsbury. Der Crimes Club versammelte sich (und versammelt sich auch heute noch, obgleich unter anderem Namen) mehrmals jährlich zu einer Veranstaltung namens »Supper and Crime« – und ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass auch ich Zutritt zu diesen privilegierten Abendessen erhalten habe, da der Club nicht mehr ausschließlich Männern vorbehalten ist.

Eine andere Gruppe, der Detection Club (der, bei dem die Mitglieder einen Schwur auf Eric den Totenkopf ablegen mussten), wurde später, im Jahr 1930, gegründet und stand schon immer beiden Geschlechtern offen, war allerdings einzig Krimiautorinnen und -autoren vorbehalten. Anthony Berkeley, der bei seiner Gründung federführend gewesen war, orientierte sich dabei an Conan Doyles Crimes Club, und sein erster Präsident war G. K. Chesterton (der, der die Kriminalromane mit dem scharfsinnigen Father Brown verfasst hat, der sich immer wieder in polizeiliche Ermittlungen einmischt). Häufig wird auch Agatha Christie als eines der Gründungsmitglieder des Detection Clubs angeführt, da sie höchstwahrscheinlich bei Berkeleys ersten Abendessen im engsten Kreis anwesend war, die um 1928 begannen und zu denen ausschließlich Krimiautoren geladen waren. Damals entspann sich wohl der Plan, einen richtigen Club zu gründen, mit Regeln, Zusammenkünften und Mitgliederabstimmungen. Im Laufe der Zeit engagierte sich Christie immer mehr, unter anderem wohl auch, weil ihre Ehe zwei Jahre zuvor ein tragisches Ende genommen hatte. (Martin Edwards, der heutige Präsident des Clubs, hat ein ganzes Buch über seine interessanten Anfänge geschrieben, das ich wärmstens empfehlen kann. Es heißt The Golden Age of Murder.16) Agatha Christie, damals bereits die berühmteste Krimiautorin der Welt, war von 1957 bis zu ihrem Tod im Jahr 1976 Präsidentin des Clubs, wobei sie einen Co-Präsidenten hatte, da sie ausgesprochen schüchtern war und öffentliche Auftritte scheute. Im Lauf ihrer Zeit als Vorstand wurden die Aufgaben unter den Mitgliedern aufgeteilt – ein bisschen so wie beim Jobsharing heutzutage. Da Eric der Totenkopf im Rahmen des Aufnahmerituals berührt werden musste, frage ich mich, wie viele hochkarätige Fingerabdrücke wohl auf ihm zu finden sind!

In ihrem Club diskutierten Christie und ihre Schriftstellerkollegen ganz ähnliche Themen wie die, über die sich Conan Doyle im früher gegründeten Crimes Club mit den seinen ausgetauscht hatte – darunter auch der raffinierte Einsatz von Fingerabdrücken. Bekannt ist das, weil in Berkeleys Einladungsschreiben an andere Krimiautoren stand, man wolle sich in regelmäßigen Abständen zum Abendessen treffen, »um unser Handwerk betreffende Angelegenheiten zu diskutieren«17. Im Jahr 1936 veröffentlichten mehrere Mitglieder des Detection Clubs eine umfassende und akribisch recherchierte Sammlung von Essays über Mordfälle, die den Titel The Anatomy of Murder trug. In der 2014 erschienenen Neuauflage des Buches schreibt Martin Edwards, der auch als Archivar des Clubs tätig ist, in seiner Einleitung: »Diskussionen über wahre Mordfälle waren Teil der Treffen des Detection Clubs.«18 Damit legt er zugleich nahe, Christie und ihre Zeitgenossen könnten einen großen Teil ihrer Inspiration möglicherweise aus diesen Treffen gezogen haben. Ach, wie gerne wäre ich zur Blütezeit des Clubs doch eine Fliege an der Wand gewesen!

Von Beginn ihrer Karriere an erwies sich der Detection Club also als ungemein wichtige Quelle für Agatha Christies Schaffen, da er es ihr ermöglichte, sich mit anderen Schriftstellern über Kriminalfälle und Literatur auszutauschen. Sie warfen einander Ideen zu und kritisierten einander, sie schrieben gemeinsam Bücher und arbeiteten an Radiosendungen, um Geld zu verdienen, damit sie den Club am Leben erhalten und für die opulenten Abendessen und Feierlichkeiten aufkommen konnten. Und über den beruflichen Nutzen hinaus bot er einer schüchternen und zurückgezogenen Person eine kostbare Möglichkeit, einfach sie selbst und mit ihren Freunden zusammen zu sein.

Es ist kaum zu glauben, dass die Kammdetails von Fingerabdrücken eigentlich einigen Säugetierarten dazu dienen, ihnen an Körperteilen eine Reibungsfläche zu verschaffen, die ansonsten zu glatt wären, um etwas zu greifen. Dass sich die Abdrücke, die dabei als Nebenprodukt entstanden sind, als eines der besten forensischen Identifikationsmittel erwiesen haben, ist reiner Zufall.

Die Fingerabdruckmuster bilden sich beim Fötus im frühen Stadium der Schwangerschaft. Um die zehnte Woche herum fängt das Ganze an und ist bis zur siebzehnten Woche abgeschlossen. Die Fingerabdrücke, mit denen ein Baby geboren wird, bleiben sein gesamtes Leben lang unverändert. Allein tiefe Gewebeschäden an den Fingerkuppen – wie Verbrennungen oder Vernarbungen – können die Abdrücke auf unnatürliche Weise nachhaltig verändern. Fingerabdrücke bilden sich nicht nur bereits vor der Geburt, sie gehören auch zu den letzten Merkmalen, die nach dem Tod und dem körperlichen Verwesungsprozess übrig bleiben, was bedeutet, dass man Tote oft auch dann noch identifizieren kann, wenn sie bereits Jahre zuvor verstorben sind.

Ebendiese lange Haltbarkeit macht es möglich, mittels eines Verfahrens, das umgangssprachlich als »Behandschuhung« bezeichnet wird, auch von Leichen Fingerabdrücke zu nehmen, bei denen die Verwesung bereits eingesetzt hat. Bei dieser etwas grauslich anmutenden Prozedur, die eine Autopsie oder einen Tatorttechniker erforderlich macht, wird die sich von den Fingern lösende Haut von der gesamten Hand abgezogen und – wie ein zweiter Handschuh – über die eigene latexummantelte Hand gezogen und dann die Fingerabdrücke abgenommen. Der englische Terminus technicus dafür ist ein bisschen umständlich: Er heißt »die indirekte Kadaver-Hand-Haut-Handschuh-Methode« oder schlichter und für deutsche Beamte in Gebrauch: indirektes Handschuhverfahren.19

In Ein gefährlicher Gegner, Agatha Christies zweitem Roman, überraschenderweise eher Thriller als Krimi, sagt der Anführer einer Bolschewistenbande zu einem seiner Gefolgsmänner: »Aber Sie werden Handschuhe tragen, die mit den Fingerabdrücken eines polizeibekannten Einbrechers versehen sind.«20 Offenbar sollen auf diese Weise irreführende Fingerabdrücke am Tatort hinterlassen werden. Auch wenn Agatha Christie nicht darauf eingeht, wie solche Handschuhe hergestellt werden, ist es möglich, dass sie die abgelöste Haut eines Toten meinte, als sie sie beschrieb. Erneut erweist sie sich als ungewöhnlich hellsichtig, da sie das Buch Anfang der 1920er-Jahre schrieb, das Verfahren jedoch erstmals 1936 bei einer Konferenz zum Thema Fingerabdrücke Erwähnung fand, als die von der Polizei in Buenos Aires angewandte Methode der Fachwelt vorgestellt wurde. Bei der damaligen Präsentation wurden die Stücke der oberen Hautschicht, die sich von der Unterhaut des Leichnams gelöst hatten, reizenderweise als »Haut-Fingerhüte« bezeichnet. Dem Publikum erklärte man: »Die verantwortliche Person platziert die Haut-Fingerhüte auf ihren Fingern und schützt sich selbst mit Gummihandschuhen. Jetzt verhält sich die Person so, als würde sie sich selbst ihre Fingerabdrücke abnehmen.«21

Da es je nach Zersetzungsgrad nahezu unmöglich sein kann, einen Leichnam anhand seines Gesichts zu identifizieren, ist die Handschuhmethode von überaus großer Bedeutung. Das Verfahren ermöglicht es, ein Abbild der Fingerabdrücke zu erhalten, wie sie zu Lebzeiten des Verstorbenen aussahen. Besonders nützlich ist die Methode dann, wenn der Verwesungsprozess mit Wasserentzug einherging und die Finger des Toten ausgetrocknet, starr und verschrumpelt sind – wie die runzeligen Enden einer Salami. Diese werden dann mit einer Mischung aus Wasser und Weichspülmittel rehydriert, ein Trick, der vielen Gerichtsmedizinern bekannt ist, über den man in gesitteten Kreisen jedoch nur selten spricht. Fügt man diesem Wissensschmankerl noch hinzu, dass wir obendrein Biowaschpulver benutzen, um Weichteilgewebe von Knochen abzuziehen, erscheint einem eine Ladung Dreckwäsche plötzlich in ganz anderem Licht.

Worum es bei der Analyse von Fingerabdrücken geht

Die Wissenschaft der Fingerabdruckanalyse wird manchmal auch als »Daktyloskopie« bezeichnet, ein Wort, das von einem weiteren Pionier der Forensik eingeführt wurde: Juan Vucetich. Vucetich war Kriminalist, stammte ursprünglich aus Kroatien, wanderte in den 1880er-Jahren nach Argentinien aus und wurde 1892 zum ersten Menschen, der einen Mord anhand von Fingerabdrücken aufklärte. Vielleicht verdankt es sich Vucetichs Einfluss, dass die argentinische Polizei so fortschrittlich war und andere bereits 1936 darin unterweisen konnte, wie man Haut-Fingerhüte verwendet. Der Begriff »Daktyloskopie« stammt vom altgriechischen dáktylos, was in etwa so viel bedeutet wie »Finger«. Kürzlich lautete eine Frage bei der Quizshow The Chase: »Welches Wort verwendet man umgangssprachlich für Daktylogramm?« Die Antwort darauf war selbstredend Fingerabdruck. Man kann nie wissen, wann man so eine Art Wissen einmal brauchen kann!

Daktyloskopie ist demnach schlicht ein anderes Wort für »Fingerabdruckverfahren« und beschreibt die Dokumentation oder Abnahme von Abdrücken, die von den Papillarleisten eines menschlichen Fingers hinterlassen wurden. Dass Fingerabdrücke einer bestimmten Person zugeordnet werden können, kommt daher, dass man noch nie zwei Personen mit den gleichen Fingerabdrücken entdeckt hat, noch nicht einmal eineiige Zwillinge. Beweismittel mit einzigartigen Merkmalen, die auf ein bestimmtes Individuum verweisen, werden als »Individualmerkmale« bezeichnet – das Gegenteil der sogenannten Gruppenmerkmale.

Die Muster auf unseren Fingerkuppen entstanden, weil sich unsere Vorfahren, die Primaten, gerne von Ast zu Ast schwangen und weil sie gleichzeitig ihre Nahrung festhalten wollten. Die Arbeit von Fingerabdruckspezialisten erfordert ein hohes Maß an Sorgfalt. Dann jedoch können sie Menschen mit 99,8-prozentiger Sicherheit »voneinander unterscheiden«, da Fingerabdrücke aus komplett beliebigen Kombinationen unterschiedlicher Charakteristika bestehen:

Leisten: oder in voller Länge »Papillarleisten«, geben unseren Fingern Haftung. Auch wenn sie so schwach ausgeprägt erscheinen, dass man meinen könnte, sie wären nutzlos, bewahren sie uns im Zusammenspiel mit der erhöhten Anzahl an Schweißporen in dieser Hautform davor, schrecklich ungeschickt zu sein. Diese Rillen machen das Muster unserer Fingerkuppen aus sowie das des »Stempels«, den wir mit ihnen hinterlassen.

Furchen: Die Furchen wiederum braucht es, damit die Papillarleisten sich abheben, aber sie dienen auch als Kanäle für die Ausscheidungen der Schweißporen, sodass unsere Fingerkuppen nicht allzu glitschig werden.

Die Leisten und Furchen winden und schlängeln sich über die Oberfläche unserer Fingerkuppen und bilden unverwechselbare Zufallsmuster, die nicht reproduziert werden können. Ich erinnere mich da an ein Bastelprojekt meiner Kindheit, bei dem wir unterschiedliche Ölfarben auf die Oberfläche einer breiten Wanne voller Wasser fließen ließen, sie mit einem Holzstock umrührten und dann ein leeres Blatt Papier darauflegten. Die sich daraus ergebende Marmorierung auf dem Papier war filigran, komplett willkürlich, und es war unmöglich, sie noch einmal geradeso zu wiederholen. Genauso stelle ich mir die Entstehung von Fingerabdrücken vor. Ebendiese Einzigartigkeit macht die Erforschung von Fingerabdruckmustern aus, bei der die Muster Kategorien zugeordnet werden. Tatsächlich bilden sich solche Leisten und Furchen auf allen Oberflächen unseres Körpers (nicht nur auf den Fingerkuppen, sondern auch auf den Zehen, Hand- und Fußflächen. Ja, selbst unsere Lippen weisen Leisten auf, die durch ein Verfahren namens Cheiloskopie sichtbar gemacht werden können. Überlegen Sie es sich also lieber noch einmal, bevor Sie einen Brief mit einem zärtlichen Kuss versiegeln, vor allem, wenn es sich um eine Lösegeldforderung handelt).

Der 1926 von Agatha Christie verfasste Krimi Alibi ist möglicherweise der Kriminalroman des Goldenen Zeitalters schlechthin. Und zwar in jeder Hinsicht – außer in einer. Doch es ist genau diese eine spektakuläre Abweichung, die ihn von anderen Büchern der Epoche unterscheidet und Agatha Christie in die erste Liga des Genres beförderte. Das Ende des Buches war derart unkonventionell und verstieß offenbar gegen die sonst so ironisch anmutenden Regeln des Detection-Club-Eids, dass es Bestrebungen gab, Agatha Christie aus dem Club auszuschließen! Nur die Stimme ihrer ebenfalls Kriminalromane verfassenden Schriftstellerkollegin Dorothy L. Sayers rettete Christie. Sollte dies allein nicht genügen, Ihre Neugier zu wecken, so kann dem hinzugefügt werden, dass die British Crime Writer’s Association das Buch 2013, also beinahe neunzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen, zum besten Kriminalroman aller Zeiten kürte und es als »das gelungenste Beispiel innerhalb des Genres« bezeichnete. Zwischen den beiden Buchdeckeln sind charakteristische Elemente des goldenen Zeitalters enthalten wie Grundrisse aller Räume des Hauses sowie tief im Text verborgene Hinweise. Meiner Meinung nach kann man ihm nur gerecht werden, indem man es sich zu Gemüte führt. Sehen Sie keine Verfilmung, hören Sie nicht das Audiobuch an, lesen Sie es auch nicht auf einem E-Book-Reader – so lassen Sie sich nur die Freude entgehen, die mit zahlreichen Zwischentönen gespickten Seiten förmlich rascheln zu hören: Kaufen Sie sich stattdessen ein Exemplar des Buches und gönnen Sie sich die Lektüre. Nur so können Sie »zwischen den Zeilen« dieser raffinierten Geschichte lesen.

Das Buch handelt von Inspektor Raglan, der versucht, die Dolch-Attacke auf den unglückseligen Roger Ackroyd aufzuklären. Im Laufe seiner Ermittlungen betrachtet er mit einigen der anderen in der Geschichte vorkommenden Figuren mehrere vergrößerte Fotoabzüge von Fingerabdrücken und geht dann dazu über, die Anwesenden »mit diversen Fachausdrücken wie zum Beispiel ›Schleifen‹ und ›Wirbel‹«22 zu traktieren. Daraus können wir schließen, dass auch Agatha Christie um die Einzigartigkeit von Fingerabdrücken wusste, die durch die Muster der Papillarlinien zustande kommt, nämlich durch Schlingen, Wirbel, Bögen und unterschiedliche Kombinationen der drei Formen:

Schlingen: Bei Schlingen (teilweise auch »Schleifen« genannt) bilden die aus einer Richtung kommenden Papillarlinien einen halbkreisförmigen Schlingenkopf und kehren in etwa parallel zurück. Da sie immer entweder in die eine oder in die andere Richtung verlaufen, weisen Fingerabdrücke entweder Radialschleifen auf (die dorthin laufen, wo der Radius, die Speiche, an der Daumenseite endet) oder Ulnarschleifen (die dorthin laufen, wo die Ulna, die Elle, an der Kleinfingerseite endet). Schlingen dominieren Fingerabdrücke zu etwa sechzig Prozent.

Wirbel: Ein Wirbel gleicht einem Strudel, häufig mit einer ganzen Reihe mittig zusammenlaufender Ovale oder Kreise. Wirbel machen bis zu 35 Prozent der Fingerabdruckmuster aus.

Bögen: Ein Bogen ist wie eine Welle, die, sanft geschwungen an der Spitze, über die Fingerkuppe fließt. Wie beispielsweise Torbögen oder Fenster einen ausgeprägten, spitzen Bogen haben können oder einen eher gewölbten, flachen, ist dies auch bei Fingerabdrücken der Fall. Bögen können in »flache Bögen« und »gewölbte Bögen« unterteilt werden. Wie der Name nahelegt, wellen sich die gewölbten Bögen in der Mitte sehr viel stärker als die flachen. Die Bogenmuster machen nur fünf Prozent der Fingerabdruckmuster aus.

1 Abbildung der drei Grundmuster von Fingerabdrücken

 

Nehmen Sie doch einmal Ihre eigenen Fingerabdrücke in Augenschein – das kann ziemlich faszinierend sein! Auf ihren zehn Fingerkuppen werden Sie eine Kombination all der genannten Muster finden. Da Schlingen am häufigsten vorkommen, werden Sie wohl mehr Schlingen sehen als Bögen, aber wer weiß, vielleicht auch nicht. Jeder Mensch ist absolut einzigartig. Diese drei Grundmuster können sich zu weiteren Mischformen verbinden wie zu Zwillingsschleifen (in den Vereinigten Staaten »Doppelschleifen« genannt), oder sie können etwas vollkommen anderes sein, etwas, das weder einem Bogen, einer Schleife oder einem Wirbel entspricht, aber doch Merkmale aller drei Formen aufweist. Die Kombinationsmöglichkeiten von Papillarlinienenden und Gabelungen führen zu einer unendlichen Anzahl an Mustern, die sich auf Ihren Fingerkuppen bilden können.

Auch wenn es durchaus möglich ist, dass die Fingerabdrücke einer Person die gleichen Elemente enthalten wie die einer anderen, wird beim Fingerabdruckabgleich immer das große Ganze in Betracht gezogen. Ursprünglich waren zwölf identische Minutien (die Endungen und Verzweigungen der Papillarleisten) erforderlich, um zwei unterschiedliche Fingerabdrücke als miteinander übereinstimmend zu identifizieren – und insofern als Individualbeweis. Kein Geringerer als Edmond Locard brachte diese Zahl 1918 mit seiner Zwölf-Punkte-Regel ins Spiel. Er ging davon aus, dass zwölf in Tatortspur und Vergleichsabdruck übereinstimmende Minutien für eine vollständige Identifizierung genügten. 2001 wurde in England und Wales nach einer Reihe von Beratungsgesprächen jedoch ein nicht-numerischer Ansatz eingeführt. Das bedeutet, dass einem Sachverständigen nicht länger eine einfache Formel die exakte Anzahl an Minutien vorgibt, die es zu finden gilt, bevor geschlossen werden kann, dass zwei Fingerabdrücke miteinander übereinstimmen, und ganz bestimmt sind es nicht mehr zwölf – der neue Ansatz baut auf Erfahrung, statistisches Wissen, ein scharfes Auge, Computertechnologie und vieles mehr. Inzwischen geht es beim Abgleich von Fingerabdrücken nicht mehr nur darum, auf Grundlage qualitativer Kriterien eine Vermutung anzustellen; heute werden auch Wahrscheinlichkeitsmodelle und statistische Verfahren herangezogen, um abzuklären, ob zwei vorliegende Fingerabdrücke von derselben Person stammen.

In Das fehlende Glied in der Kette fragt Poirot seinen treu ergebenen Freund Arthur Hastings im Lauf einer Unterhaltung, ob er sich gut mit »Fingerspuren« auskenne. Hastings gibt zu, sein Wissen in diesem Bereich sei damit erschöpft, dass kein Fingerabdruck einem anderen gleicht. Poirot, immer der Erfahrenere der beiden, führt aus: »Ich will Ihnen den komplizierten Apparat nicht weiter beschreiben, den Puder und all das, was ich benutzt habe. Die Polizei bedient sich schon lange dieser Methode, damit kann man in kürzester Zeit ein Foto von [Fingerspuren] auf jedem Gegenstand erhalten.«23

Poirot war, wie wir aus Agatha Christies Büchern erfahren, vor seiner Zeit als Privatdetektiv Polizist in Belgien, und es ist interessant, dass er den Begriff »Fingerspur« verwendet, ganz so wie die Fingerabdruckspezialisten heutzutage, obwohl sie unter Laien im Allgemeinen doch als Fingerabdrücke bekannt sind (Agatha Christie trifft also wieder einmal den Nagel auf den Kopf). Im voranstehenden Zitat beschreibt er den gängigen Einsatz von Puder und Pinsel, um Fingerabdrücke oder – wenn wir fachspezifischer sein wollen – Fingerspuren sichtbar zu machen und sie fotografisch festhalten zu können. Es ist das allseits vertraute Bild, das einem in den Sinn kommt, wenn man an Fingerabdrücke denkt: Der Kriminaltechniker, der mit einem großen Pinsel Fingerabdrücke einpudert und sie dann auf etwas überträgt, das aussieht wie Klebeband, ein Verfahren, das eingesetzt wird, um latente Fingerspuren abzunehmen.

Latente Fingerabdrücke entstehen durch die Übertragung kleiner Mengen von Schweiß und Talg auf eine Oberfläche. Da man sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann, müssen sie sichtbar gemacht werden. Je nach Oberfläche, auf der der Abdruck hinterlassen wurde, gibt es verschiedene Methoden, dies zu tun.

Eine ist die oben erwähnte: das behutsame Einpudern der Oberfläche mit einem Pinsel aus feinem Naturhaar oder aus Fiberglasfasern. Dieses Verfahren kann auf fast allen nicht-porösen Oberflächen wie Fensterglas, angemalten oder lackierten Türen und Trinkgläsern angewandt werden. Während Christies Regentschaft als »Queen of Crime« war dies üblicherweise die Methode der Wahl, obgleich ausschließlich mit Naturhaarpinseln (aus Ziegen-, Eichhörnchen- und sogar Kamelhaar gefertigt, manchmal auch aus Vogelfedern). Manche Ermittler benutzen auch heute noch Naturhaarpinsel, je nach Vorliebe und der Oberfläche, auf der der Abdruck hinterlassen wurde. Eine weitere Option besteht darin, die »bedruckte« Oberfläche mit Ninhydrin einzusprühen, eine chemische Verbindung, die mit den Aminosäuren des Hautsekrets der Fingerabdrücke reagiert und blauviolette Tupfer zum Vorschein bringt (»Tupfer« – »dabs« – ist noch so ein Wort für Fingerabdrücke, das von frühen Tatort-Experten verwendet wurde und sogar in Auf doppelter Spur von 1963 Erwähnung findet). Ninhydrin wird häufig dann eingesetzt, wenn die Oberfläche porös ist wie Papier, unbehandeltes Holz und manche Gewebe. Und übrigens: Mit dem Verfahren können Fingerspuren sichtbar gemacht werden, die bis zu 15 Jahre alt sind! Auch wenn das wie Science-Fiction klingen und man annehmen mag, es handele sich um ein recht modernes Verfahren, geht die erste Erwähnung von Ninhydrin als einem »nützlichen Reagenz für den Nachweis für Aminosäuren« auf das Jahr 1910 zurück und stammt von Chemiker Siegfried Ruhemann (die blauviolette Färbung, die durch die Reaktion entsteht, wird daher auch als »Ruhemann’sches Purpur« bezeichnet). Im Jahr 1955 wurde der Gebrauch von Ninhydrin zur Sichtbarmachung von Fingerabdrücken in Großbritannien zum Patent angemeldet, und bald darauf zogen auch die Vereinigten Staaten und Deutschland nach. Gut möglich, dass auch Agatha Christie von dem Verfahren wusste. In Vier Frauen und ein Mord, das drei Jahre vor der Patentierung von Ninhydrin veröffentlicht wurde, setzt Poirot einen Verdächtigten darüber in Kenntnis, dass »es […] neue wissenschaftliche Methoden [gibt], um Blutflecke zu analysieren – und abgewischte Fingerabdrücke wieder zum Vorschein zu bringen.«24 Wie dieses Zitat zeigt, kursieren Informationen über innovative Entdeckungen oft schon weit vor deren Anmeldung zum Patent, und dass diese Neuentdeckung bei den Treffen des Detection Clubs diskutiert wurde, kann man sich nur zu gut vorstellen.

Das »Einstäuben auf der Suche nach Fingerabdrücken« ist etwas, das sich in zahlreichen Büchern Christies findet. Wie Poirot ist auch Henry Blore aus Und dann gab’s keines mehr ein ehemaliger Kriminalbeamter. Obwohl Blore nicht mehr im Dienst ist, führt er noch immer sein Fingerabdruck-Set bei sich und pudert auf der Suche nach Fingerabdrücken eine vermeintliche Mordwaffe ein, in der Hoffnung, den Mörder zu finden, der aus seiner Reisegesellschaft eine Person nach der anderen ins Jenseits befördert. Aufgrund ihrer beruflichen Vergangenheit kann man bei Blore und Poirot davon ausgehen, dass sie wissen, wie man Fingerabdrücke abnimmt.

Erstaunlicher ist da schon, dass Christies zweite Meisterdetektivin – die ältliche Miss Marple – auch eine Art Expertin darin ist, obwohl sie nie in den Genuss einer kriminalistischen Ausbildung gekommen ist. Miss Marple ist das genaue Gegenteil von Poirot: Ihren klaren Verstand verbirgt sie eher, als dass sie ihre »kleinen grauen Zellen« bei jeder Gelegenheit preist. Sie verfügt über ein einzigartiges Verständnis der menschlichen Natur, ihr Urteil über andere ist häufig eher düster und steht damit im Gegensatz zu ihrem eigenen freundlichen Wesen, ihrem flauschigen weißen Haar, ihren strahlend blauen Augen und ihrer Vorliebe fürs Stricken. Dabei ist es genau diese unbeabsichtigte Tarnung, die Miss Marple Zugang zu Informationen verschafft, die andernfalls nicht so bereitwillig mit ihr geteilt würden. Sie selbst sagt im vorletzten Miss-Marple-Roman Das Schicksal in Person: »[I]ch wirke sicher sehr durchschnittlich und wie eine gewöhnliche, zerstreute alte Dame. Das ist selbstverständlich eine erstklassige Tarnung.«25 Miss Marple wusste einfach immer, wo ihre Stärken liegen, und das blieb auch so bis ans Ende ihrer Tage.

In einer frühen Miss-Marple-Kurzgeschichte, Der Maßbandmord von 1941, sagt ein junger Inspektor zu ihr: »Heutzutage hinterlassen die Täter keine Fingerabdrücke und Zigarettenspuren mehr, Miss Marple.«26

Vielleicht ist das der Grund, weshalb Miss Marple in der ein Jahr später veröffentlichten Geschichte Der Fall des perfekten Hausmädchens in puncto Spurensicherung nichts dem Zufall überlässt und ihre eigene kriminaltechnische Untersuchung vornimmt: Sie geht davon aus, dass ein sich ziemlich verdächtig verhaltendes Dienstmädchen nicht so nachlässig gewesen sein wird, ihre Fingerabdrücke überall am Tatort zu hinterlassen, sodass die Polizei diese nur noch zu finden braucht, und beschließt, sie betreffender Person daher selbst abzuluchsen. Sie nutzt das Image der schusseligen Alten und lässt ihre Handtasche genau in dem Moment fallen, als das fragliche Dienstmädchen sie zur Tür hinausbegleitet. Als ein halb gelutschtes Pfefferminzbonbon und ein Taschenspiegel auf den Boden rutschen, nutzt das Dienstmädchen die Gelegenheit zu beweisen, was für eine wunderbare Hilfe sie doch ist, und hebt erst den einen, dann den anderen Gegenstand auf und übergibt sie der scheinbar dankbaren alten Dame. Was sie nicht ahnen kann, ist, dass das Bonbon nicht klebrig war, weil ein Kind ein bisschen daran gelutscht und es dann in Miss Marples Tasche geworfen hatte, wie diese dem Dienstmädchen entschuldigend erzählt. Sondern dass es von Miss Marple vorsätzlich zusammen mit dem Spiegel dort platziert wurde, in der Hoffnung, das Dienstmädchen werde klebrige Abdrücke auf der glänzenden Oberfläche des Spiegels hinterlassen! Fingerspuren, die auf solche Weise verursacht werden, nennt man sichtbare Fingerabdrücke – beispielsweise durch eine Substanz, die sie hervortreten und leicht dreidimensional erscheinen lässt.

Die Fingerabdrücke, derer viele von uns sich schuldig machen – die, die auf Küchengeräten aus rostfreiem Edelstahl zurückbleiben –, zählen übrigens nicht dazu, da auch sie durch unsere natürliche Hautsekretion entstehen. Sichtbare Fingerabdrücke sind nur deshalb so gut erkennbar, da sie durch eine zusätzliche Substanz entstehen, die von der Fingerkuppe übertragen wird, wie Blut, Farbe, Schokolade, Tinte, Rotwein, Fäkalien oder, wie in Miss Marples Fall, einem klebrigen Bonbon. Üblicherweise kann man sie fotografieren und mit bereits bekannten Fingerabdrücken abgleichen, ohne dass es eines speziellen Verfahrens bedarf.

Ich frage mich, ob Miss Marple wusste, dass sie als sichtbare Fingerabdrücke bezeichnet werden oder dass man sie abfotografieren kann. Jedenfalls überrascht es kaum, dass der pensionierte Kommissar Sir Henry Clithering, dem sie in mehreren Kurzgeschichten und Romanen dabei hilft, so manchen Verbrecher festzunehmen, sie in höchstem Maße respektiert.

Dann gibt es noch eine dritte und letzte Art Fingerabdruck, der in Christies Werk allerdings nirgendwo auftaucht: den plastischen Fingerabdruck, der dort aufgefunden wird, wo jemand einen 3-D-Abdruck seiner Fingerkuppe in einem weichen, formbaren Material hinterlassen hat, wie in Kitt an einem Fenster, Modelliermasse oder Kerzenwachs. Wie sichtbare Abdrücke erfordern auch sie keinen großen Aufwand, um sichtbar gemacht zu werden – man kann sie mit bloßem Auge erkennen. Es soll schon vorgekommen sein, dass Fingerabdrücke selbst auf Schokolade gefunden wurden – seien Sie also auf der Hut, denn sollte es in Ihrer Familie einen angehenden Tatortermittler geben, könnten Sie überführt werden, wenn Sie ein hartes Toffee aus einer Toffee-Mischung nehmen und es, nachdem Sie Ihren Fehler bemerkt haben, zurücklegen, um es gegen ein weicheres einzutauschen. Auch diese Art Abdruck wird für gewöhnlich abfotografiert, am besten mit einem geeigneten Blitz, damit er auf den Bildern deutlich zum Vorschein kommt.

Diese Ausführungen hier beziehen sich auf »Abdrücke«, und als Beispiel wurden Fingerabdrücke herangezogen. Aber natürlich gilt alles auch für Hand- und selbst Fersen- und Zehenabdrücke, auch wenn diese nicht so oft an Tatorten gesichert werden. Aufgrund ihrer Einzigartigkeit sind sie vor Gericht aber ganz genauso zulässig. Ob das wohl etwas war, was Agatha Christie bereits 1926 voraussah? In Alibi jedenfalls lässt sie ihren Erzähler Dr. Sheppard sagen: »Wären auf dem Dolchgriff Zehenabdrücke zu sehen gewesen, wäre es allerdings etwas anderes gewesen.«27

Die Geschichte der Fingerabdruckanalyse

Das früheste historische Zeugnis einer gezielten, funktionalen Nutzbarmachung von Fingerabdrücken stammt aus der Zeit der Regentschaft des babylonischen Herrschers Hammurabis vor 1800 v.Chr. Babylonische Verfasser von in Keilschrift geschriebenen Texten auf Tontafeln fügten diesen ihren Fingerabdruck als Fälschungsschutz hinzu, vor allem, wenn es sich um etwas Geschäftliches wie Verträge handelte. Das babylonische Reich erstreckte sich über das historische Gebiet Mesopotamiens, eine Region, die Agatha Christie nicht nur für Ausgrabungen bereiste, sondern über die sie auch einige Bücher verfasste – darunter, wie der Titel ganz offensichtlich verrät, Mord in Mesopotamien. Ob sie wusste, dass die von ihr so geschätzten Fingerabdrücke ursprünglich bereits Tausende von Jahren vor ihrer Zeit an diesem Ort, den sie oft ihr Zuhause nannte, benutzt wurden? Darüber kann ich nur spekulieren. Die überraschende Verbindungslinie, die dadurch zwischen ihren Kriminalromanen und ihrem Interesse für Archäologie entsteht, begrüße ich jedoch. In ihrer Autobiographie, in der sie davon berichtet, wie viel Freude es ihr bereitet, ihren Ehemann Max bei seinen Ausgrabungsarbeiten in Mesopotamien zu unterstützen, schreibt sie: »Die Vertragstäfelchen sind besonders interessant: Man erfährt aus ihnen, wie und wo ein Mann sich als Sklave verdingte oder unter welchen Bedingungen man einen Sohn adoptierte«28, gut möglich, dass sie die ersten Fingerabdrücke, die genutzt wurden, um eine Person zu identifizieren, zwar gesehen hat, aber nicht wusste, inwieweit diese mit der forensischen Wissenschaft in Verbindung standen. Sie selbst hielt sich nicht für eine »wissenschaftlich sonderlich bewanderte Gräberin« und verbrachte die meiste Zeit damit, Fundstücke zu fotografieren und zu säubern. Ihr Ehemann Max war in diesem Punkt jedoch anderer Meinung und soll einmal zu ihr gesagt haben: »Ist dir eigentlich klar […], dass es in ganz England kaum eine Frau gibt, die so viel über prähistorische Töpferei weiß wie du?«29

Wichtiger noch als Fingerabdrücke, die verwendet wurden, um Vertragstafeln zu unterzeichnen, ist, dass die Babylonier zu Identifikationszwecken auch die Fingerabdrücke von Verbrechern nahmen. Dabei handelt es sich eindeutig um eine forensische Verwendung, und das mehrere Tausend Jahre vor der Gründung der ersten Fingerabdruckzentrale der westlichen Welt. Im Lauf der fast viertausend Jahre von damals bis heute begab sich der bescheidene Fingerabdruck also auf eine äußerst interessante Reise.

Früher wurden Finger- und Handabdrücke fast ausschließlich als Identitätsnachweis eingesetzt und nicht zu forensischen Zwecken, so wie wir das heute kennen. In China wurden die Papillarleisten der Finger und Handflächen ab 300 v. Chr. dazu verwendet, Personen zu identifizieren, zunächst in Lehm und dann mit Tinte. Von China breitete sich die Verwendung der Abdrücke nach Japan aus, wo man bereits zahlreiche Methoden aus China übernommen hatte. Als sich Einwanderer aus China und Japan in den benachbarten Ländern ansiedelten, reiste die Vorgehensweise mit ihnen vermutlich bis nach Indien.

Es ist wenig überraschend, dass sich Agatha Christie in zahlreichen ihrer Bücher auf Indien bezieht, insofern das Land von 1858 bis 1947 unter britischer Herrschaft stand. Das britische Kolonialreich auf dem Subkontinent ist der Grund, aus dem so viele ihrer Figuren, wie Major Barry in Das Böse unter der Sonne, Captain Wyatt in Das Geheimnis von Sittaford oder Sir Henry Angkatell in Das Eulenhaus Zeit in Indien verbracht haben und dazu neigen, andere mit Erzählungen ihrer Abenteuer dort zu langweilen. Einer dieser redseligen Charaktere, Major Palgrave aus Karibische Affäre, erzählt allen, die zuhören, Geschichten aus Indien, darunter auch der stets aufmerksamen Miss Marple, auch wenn sie ihm dabei nur mit halbem Ohr lauscht, da sie sich aufs Stricken konzentriert – was sie bereut, da Palgrave am darauffolgenden Morgen tot aufgefunden wird. Palgrave sagt: »In Indien zum Beispiel, in den bösen alten Zeiten, wenn eine junge Frau einen alten Mann heiratete. Sie wollte ihn nicht loswerden, schätze ich, weil sie dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre […].«30

Er beschreibt Sati, einen vielschichtigen und grausamen Brauch, der in Teilen Indiens, obgleich offiziell verboten, bis heute praktiziert wird. Der Brauch gibt vor, dass die Ehefrau eines verstorbenen Mannes ebenfalls sterben muss – andernfalls verliert sie ihr Gesicht. Dabei werden die Frauen geopfert, das heißt: bei lebendigem Leib zusammen mit ihrem Ehemann auf einem Scheiterhaufen verbrannt, manchmal aber auch zusammen mit seinem Leichnam lebendig begraben. Auch wenn der Brauch 1829 von den britischen Kolonialherren mithilfe des bedeutenden Reformers Raja Ram Mohan Roy verboten wurde, kommt es auch heute noch zu Meldungen über neue Witwenverbrennungen. Teil des Brauchs ist es, dass die hinterbliebene Ehefrau einen Abdruck ihrer Hand auf einem Sati-Schrein verewigt, bevor sie in den Tod geht. Diese mit Handabdrücken übersäten Schreine zeugen von einer weit erschütternderen Verwendung von Handabdrücken als zum bloßen Zweck der Identifizierung.

Die britische Besatzung Indiens und die verschiedenen Anwendungsgebiete von Finger- und Handabdrücken bringen uns nun zum wichtigsten Kapitel der Geschichte der Verwendung von Fingerabdrücken im Vereinigten Königreich: In den 1850er-Jahren arbeitete Sir William Herschel als Beamter für die Ostindienkompanie. Auch wenn er zur Identifizierung anderer Personen möglicherweise Fingerabdrücke nutzte, entsprach dies nicht wirklich seiner ursprünglichen Intention.

Aus einem Impuls heraus hieß er einen lokalen Geschäftsmann seine Handfläche auf einen Vertrag drücken, den er unterschrieben hatte, und sagte, der Zweck sei gewesen, »ihm Angst zu machen, sodass er seine Zusage nicht wieder zurückzog«.31