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Es ist ein Tag wie jeder andere, der dein Leben für immer verändern kann. Die Frage ist nur: Wirst du ihn überleben? Mit Stift, Block und einer Schachtel Kippen begibt sich der abgehalfterte Reporter auf die Suche nach einer guten Story. Scheinbar zufällig begegnet ihm ein Mann, der ihm seine Geschichte anbietet. Alles, was der Reporter dafür tun muss, ist, den Mann zu dessen Haus zu begleiten. Ermüdet vom tristen Alltagsleben willigt der Reporter ein – nicht ahnend, dass es die Story seines Lebens wird.
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Seitenzahl: 559
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für Bene
Prolog
Erster Teil: Lose Fäden
Der Reporter
Er
Conrad Krueger
Mary
Der Reporter
Er
Conrad Krueger
Mary
Der Reporter
Er
Conrad Krueger
Mary
Der Reporter
Er
Conrad Krueger
Mary
Der Reporter
Er
Conrad Krueger
Mary
Der Reporter
Er
Conrad Krueger
Mary
Der Reporter
Er
Conrad Krueger
Mary
Der Reporter
Er
Conrad Krueger
Mary
Der Reporter
Er
Zweiter Teil: Guter Stoff
Der Reporter
Brian
Das Biest
Der Reporter
Brian
Der Reporter
Brian
Der Reporter
Brian
Das Biest
Der Reporter
Brian
Der Reporter
Brian
Der Reporter
Brian
Das Biest
Der Reporter
Brian
Der Reporter
Brian
Der Reporter
Brian
Das Biest
Der Reporter
Brian
Der Reporter
Brian
Der Reporter
Brian
Das Biest
Der Reporter
Brian
Dritter Teil: Ende vom Anfang
Epilog
Notiz des Herausgebers
Er kann mich töten. Jederzeit.
Das ist mir jetzt klar. Wahrscheinlich war es das schon länger. Ja, ganz sicher.
Er kann mich töten. Wann er will, wie er will. Das Einzige, was ich dagegen tun könnte, wäre abhauen. Große Chancen rechne ich mir nicht aus. Wenn er mich töten will, dann tut er es.
Und ich denke, genau das wird er tun.
Ich rauchte gerne.
Natürlich immer nur aus gutem Grund. Etwa, wenn ich gestresst war. Besonders gerne auch, wenn es etwas zu feiern gab. Meistens aber aus Langeweile.
Gute Gründe hin oder her, eigentlich brauchte ich keinen Grund. Oder viele Gründe, wen kümmert’s. Rauchen entspannt, rauchen lenkt ab.
Damit gehörte ich einer aussterbenden Spezies an, einer gebrandmarkten noch dazu, das ist mir klar. Vermutlich werde ich alle möglichen Arten von Krebs bekommen und irgendwann impotent an einem Herzinfarkt sterben. Oder blind und zahnlos an einem Lungenemphysem dahinsiechen. Das sind alles keine sehr angenehmen Aussichten. Aber hey – rauchen entspannt, rauchen lenkt ab.
Stilvoll rauchen – diese Zeiten sind längst vergangen. Rauchen ist teuer und schädlich, mehr nicht. Und wissen Sie was? Das alles ist mir egal. Mir ist egal, um ein wie vielfaches größer das Risiko für mich ist, an Bauchspeicheldrüsen-, Lungen-, Kehlkopf- oder Nierenkrebs zu erkranken. Mir ist auch egal, ob rauchen cool, stilvoll oder verpönt ist. Wie ich bereits sagte: Ich brauchte keinen Grund, um es zu tun. Oder eben viele, suchen Sie es sich aus.
Warum ich Ihnen das alles erzähle? Es gibt etwas, das eigentlich unwiderruflich mit dem Rauchen verbunden ist. Nein, ich rede dieses Mal nicht von irgendeiner hässlichen Krankheit. Mir geht es um etwas viel Simpleres. Denn abgesehen davon, dass rauchen cool oder stilvoll, lässig oder ein bisschen versaut, verpönt oder asozial, schädlich oder gar tödlich sein kann, in erster Linie macht rauchen doch eigentlich süchtig. Ich rauchte ständig. Und doch war ich nicht süchtig. Der Grund dafür ist simpel und kompliziert zugleich: Ich kann nicht süchtig werden.
Ich habe es wirklich versucht, wissen Sie.
Angefangen hat alles mit meiner Schwester. Sie war damals sechzehn und nahezu vierundzwanzig Stunden am Tag darauf bedacht, mit ihren Tobsuchtsanfällen allen Menschen in ihrer Umgebung gewaltig auf den Sack zu gehen. Wenn ich recht darüber nachdenke, scheint es zu dieser Zeit keinen Tag gegeben zu haben, an dem nicht irgendetwas im Haus zu Bruch gegangen ist. Doch wahrscheinlich trügt mich meine Erinnerung. Und das tut jetzt so oder so nichts zur Sache.
Jedenfalls wusste ich als unübertrefflich nerviger kleiner Bruder, dass sie eine Packung Luckys mit Filter in einem Schuhkarton im untersten Fach ihrer Kommode hatte. Auf den Schuhkarton hatte sie in bunten, bauchigen Buchstaben den Satz DON’T LOOK BACK! gemalt, nach dem Song der Carry Connor Crew, deren Frontsängerin, Carry Connor, für mich immer geklungen hatte wie ein kastriertes Eichhörnchen, das Reißzwecken geschluckt hatte. Vielleicht war der Satz eine Motivationshilfe für ihr Laufprogramm – denn der Karton enthielt ihre Joggingschuhe –, oder er galt ihren verflossenen Freunden – ihr Tagebuch lag unter den Schuhen –, aber möglich war auch, dass er sich auf die kleinen Laster in ihrem Leben bezog, die sie in ihren Schuhen hütete wie einen kleinen Schatz – da hätten wir Kondome und einen Joint im Angebot, sowie das, was mich damals am meisten interessiert hatte: die Packung Luckys.
Ob meine Schwester je wusste, dass ich mir nach meinem bedeutenden Fund immer mal wieder eine oder zwei Kippen aus ihren Schachteln geklaut habe, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie wirklich geglaubt, ihr Versteck sei sicher, da sich weder der Vater noch ich für ihre Laufschuhe interessieren würden. Zumindest in meinem Fall hätte sie es jedoch besser wissen müssen. Ich schätze, ich wusste einfach schon immer gut über sie bescheid. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum sie mich nie überzeugend anlügen konnte. Einmal, das war etwa ein Jahr vor ihrem Schulabschluss, saßen wir in ihrem Zimmer – es war schon eine besondere Ehre für mich, das Zimmer mit offizieller Erlaubnis betreten zu dürfen – auf dem Boden vor ihrem Bett. Die Scheidung der Eltern war noch ganz frisch und ich fragte mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis ich mit dem Vater alleine in dem zu stillen Haus würde leben müssen.
«Ich gehe nicht weg. Und selbst wenn, dann nehm’ ich mir höchstens ’ne kleine Bude hier in der Nähe. Glaubst du, ich lass’ dich hier alleine verrotten?» Das waren ihre Worte. Ich höre sie noch, als läge dieser Augenblick erst wenige Minuten zurück, und nicht schon über zweieinhalb Jahrzehnte. Damals raufte sie mir die Haare, weil sie wusste, dass ich das hasste, und sie glaubte, dass mich das von dem ablenkte, was so deutlich in ihr Gesicht geschrieben stand, dass es nichts, wirklich nichts gegeben hätte, was sie hätte tun können, um mich zu überzeugen. Alles an ihr verriet mir, dass das nicht einfach nur eine Lüge war, sondern dass sie sogar schon ziemlich konkrete Pläne davon hatte, was sie tun würde. Und wann. Es dauerte keine zwei Wochen, da war ihr Krempel, inklusive Tarnkarton, gepackt und sie gute dreihundert Meilen weit weg.
Aber ich schweife ab. Die Luckys meiner Schwester, darum ging es. Ihre Kippen dienten mir für meine ersten Testläufe. Ich habe zu jener Zeit mein Geld hart mit dem Austeilen von Zeitungen verdient, da wollte ich ganz sicher keinen einzigen Cent für etwas verschwenden, das angeblich widerwärtig schmeckte und stank. Doch ich merkte schnell, dass ich ruhig ein bisschen von meinem hart verdienten Geld in eine eigene Schachtel würde investieren können. Und glauben Sie nicht, dass es eine Schwierigkeit gewesen wäre. Ich bin mit meinen damals nicht mal drei Flusen im Gesicht in den nächsten Laden marschiert und habe mir eine Packung gekauft – Luckys mit Filter, was sonst. Heutzutage klagen so viele Menschen darüber, wie sehr doch alles verkomme. Im Ernst? Wenn ich mir vorstelle, was ich in meiner Kindheit und Jugend angestellt habe, bin ich froh, dass ich keine Kinder habe, ganz ehrlich.
Im Alter von elf Jahren kaufte ich meine erste Packung Luckys. Ich glaube, ich war richtig stolz. Schon komisch, wie sich im Laufe der Jahre die Ansprüche an die eigene Person ändern können. Wenn ich heutzutage in den nächsten Laden gehe, um mir eine Packung Kippen zu holen, dann spüre ich kein nervöses Bauchkribbeln angesichts der Unsicherheit, ob mir der Typ an der Kasse die Schachtel wirklich verkaufen wird. Auch bin ich nicht mehr fasziniert davon, die Zellophanhülle aufzureißen und das volle Innenleben der Schachtel zu bewundern, die einzelnen, perfekt geformten Zigaretten, wie sie dort in Reih und Glied nebeneinander stehen und beinahe darum zu betteln scheinen, endlich herausgeholt zu werden.
Auch wenn der Anblick einer neuen Packung Zigaretten in meiner Hand in mir bis zuletzt ein wohliges Gefühl der Beruhigung ausgelöst hat, so ist der anfängliche Zauber, der Reiz des ersten Kostens schon lange verflogen. Und das ist nicht nur bei den Zigaretten der Fall. Bei solchen Überlegungen sehe ich manchmal mein jüngeres Ich vor mir, den kleinen Rotzlöffel, der keine Ahnung vom Leben hat. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, was den Großen noch alles erwartete? Und was es noch immer tut?
Aber vielleicht sollte ich mich zunächst vorstellen.
Er hatte beinahe alles erreicht, was er wollte.
Das Leben eines jeden Menschen kann in der Theorie jede nur denkbare Hürde bereithalten. In den meisten Fällen sind diese Hürden Konsequenzen menschlichen Versagens, des eigenen oder anderer. Ein Mann verliert die Kontrolle über sein Auto, rast mit hoher Geschwindigkeit in ihm Entgegenkommende; der Mann überlebt, der Unschuldige stirbt. Eine erfahrene Turnerin rutscht von ihrer Stange, fällt unglücklich und verbringt den Rest ihres Lebens im Rollstuhl. Ein Urlauber hat nicht genügend Insektenschutz betrieben, fängt sich Malaria ein und stirbt.
In anderen Fällen scheint dagegen das Schicksal auf den Plan zu treten. Krebs, der einen gesunden, sportlichen, auf Alkohol verzichtenden Nichtraucher hinrafft. Ein Neugeborenes, das ohne erklärbare Ursache tot in seinem Bettchen liegt. Trotz aller Unerklärbarkeit und Unbegreifbarkeit, die Menschen dazu verleitet, Schicksal oder gar Gottes Hand hinter derartigen Vorkommnissen zu sehen, sind es doch immer die Menschen selbst, die die Hürden erschaffen. Die Hürden für sich oder andere.
Zweifellos drängt sich bei der Betrachtung der Verteilung derartiger Hürden in ihrer Gesamtheit auf jeden einzelnen Lebenslauf der Begriff des Glücks auf. Person A schafft sich durch fehlerhaftes Handeln – nennen wir es in diesem Fall Rauchen – die eigene Hürde namens Krebs. Person B teilt diese Neigung in etwa demselben Umfang, doch eine Hürde namens Krebs entsteht hieraus nicht. Person A hat kein Unglück, doch vielleicht hat Person B ein wenig Glück. Vielleicht ist Person B aber auch dazu imstande, dieses Hürdenpotential durch etwas anderes zu kompensieren. Vielleicht ist Person B mehr dazu befähigt, die Folgen des eigenen Handelns, wohlmöglich auch das anderer, vorauszudenken. Vorausschauung, Planung, Kalkulation. In Verbindung mit der stets unbestimmbaren Größe Zufall bildet das Gelingen all dieser Faktoren in der Regel das, was Menschen Glück zu nennen pflegen.
In diesem Sinne hatte er in seinem bisherigen Leben Glück gehabt. Vor fünf Jahren schon, im Alter von sechsundzwanzig Jahren, hatte er bereits ein stetig wachsendes Vermögen besessen, das ihn von jeglicher geregelten Arbeit befreite. Spekulationen an der Börse – die weniger Spekulationen als vielmehr Gewissheiten gewesen waren –, die richtigen Investitionen in kleine, aber vielsprechende – und ihre Versprechen zuletzt haltende – Jungunternehmen sowie die gewinnbringende Anlage des Geldes ermöglichten ihm, seinen Alltag so zu gestalten, wie es doch jedem Menschen behagte: frei zu seiner Verfügung.
Geduld, Weitsicht, Intelligenz. Und – ja, auch der Zufall hatte an seinem Gelingen einen unbestreitbaren Anteil gehabt.
Es war ein lauer Herbstmorgen. Er stand in der Küche seines neubezogenen Hauses (dasjenige, in dem er später sitzen und erzählen wird) und bereitete sein Frühstück zu. Seit er eigenes Vermögen und eine neue Identität besaß, die ihn zusammen mit allen weiteren neuen Dokumenten dazu befähigte, ein vollwertiges Mitglied der modernen Gesellschaft zu sein, war es ein Morgen wie jeder andere.
Die Kaffeemaschine lief, während er – frisch geduscht und rasiert – einen Obstsalat und Müsli zubereitete. Der Fernseher im Wohnzimmer war angeschaltet und die Nachrichten liefen, wie an jedem Morgen. Die angenehme Stimme des älteren, grauhaarigen Nachrichtensprechers drang bis in die Küche. Er, der stets mit seinem zubereiteten Frühstück von der Küche ins Wohnzimmer umzog, sah den buschigen, aber sehr gepflegten Schnurrbart des Sprechers vor seinem inneren Auge bei jedem Wort, das dieser sprach, munter auf und ab wippen. Gerade berichtete der Sprecher vom Ende der seit Tagen wütenden schweren Unwetter, die allein in der letzten Nacht den Norden des Landes verwüstet, erhebliche Schäden verursacht und drei Menschen das Leben gekostet hatten.
Der Obstsalat war fertig und auch der letzte Tropfen des frisch gebrühten Kaffees fiel in die Kanne. Er schüttete das vollwertige, eigens aus der Schweiz eingeflogene Müsli in eine Schale. Darauf gab er einige Löffel fettarmen Joghurt, stellte alle Teile – die Schälchen mit Obstsalat und Müsli, einen großen Löffel, die Kanne Kaffee, eine große Tasse, ein Kännchen fettarme Milch, einen kleinen Löffel sowie die sauber gefaltete Tageszeitung – auf ein stabiles Tablett aus Teakholz und machte sich auf den Weg zum Wohnzimmer. Ganz so, wie er es immer tat.
Sein kurzer Weg wurde von der säuselnd-kräftigen Stimme des Sprechers begleitet. Er sah noch das letzte Einspielbild, das irgendein Haus in irgendeiner Stadt im Norden zeigte, dessen Dachstuhl durch einen Blitzeinschlag nahezu vollständig ausgebrannt war, als wieder der Sprecher ins Bild kam und mit seinem nächsten Beitrag fortfuhr.
«Nach dem Fund einer bislang unidentifizierten Leiche hat ein Sprecher der Polizei heute bekanntgegeben, dass es sich bei dem Opfer um den seit fünf Tagen vermissten Philip Walter handele. Die bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche war vor drei Tagen in einem nahegelegenen Wald von einem Schutzgebietsbetreuer gefunden worden. Über einen Gebissabgleich habe man die Identität nun zweifelsfrei bestätigen können. Walter war neben seiner Beschäftigung als Grundstücksmakler gemeinnützig als Gruppenleiter einer Pfadfindergruppe tätig gewesen. Die vor wenigen Monaten aufgenommenen Anzeigen, die ihn des Missbrauchs einiger seiner Schützlinge beschuldigten, mussten fallengelassen werden. Der Polizeisprecher verkündete allerdings, dass die Ermittlungen bei den Familien der mutmaßlichen Opfer ansetzen würden. Durch die Unwetter der letzten Tage, die einen Großteil der Spuren am Leichenfundort vernichtet haben, würden die Ermittlungen jedoch erschwert. Es werde angenommen, dass es sich bei dem Fundort der Leiche nicht um den Tatort handele. Auch im Mordfall des Fondsmanagers Christopher Deitz, der im vergangenen Monat brutal erstochen in seinem Büro aufgefunden worden war, dauern die Ermittlungen noch an. Der Sprecher gab hierzu jedoch an, dass bereits ein Verdächtiger festgenommen worden sei.
Kommen wir nun zum Sport und zu meiner verehrten Kollegin …»
Alles war so wie immer.
Das ist alles ein Traum. Großer Gott, bitte lass dass alles nur ein Traum sein.
Conrad Krueger saß auf einem dieser scheußlich unbequemen Essstühle, die Em vor anderthalb Jahren unbedingt hatte kaufen müssen. Schick waren sie, damit hatte sie recht gehabt. Doch das war es dann auch schon. Die Armlehnen waren viel zu hoch, so dass nur Gäste mit sehr kurzen Armen oder sehr langen Oberkörpern ihre Freude daran hätten haben können. Die Rückenlehne war viel zu aufrecht und zu hart, und das Rattangeflecht, aus dem sie bestand, bohrte sich unerbittlich in seinen Rücken. Es war, als säße er auf einem mittelalterlichen Folterstuhl, nur dass er nicht der Delinquent war, sondern … sondern was? Das Opfer?
Er starrte geradeaus. Hannah saß gegenüber von ihm auf seinem Sofa, und zwar so kerzengerade, dass sie seine Essstühle mit Sicherheit bequem gefunden hätte. Einen Moment lang überlegte er, ob er ihr nicht einen der Stühle anbieten sollte. Schließlich waren ihre Arme auch noch kurz genug, um sogar die Armlehnen nutzen zu können. Doch der starre Blick des Mädchens und ihre riesigen, ängstlichen Augen verstärkten seine Starre nur noch mehr.
Es war surreal. Ihm war, als befände sich ein Teil von ihm außerhalb seines Körpers. Und als wäre das, was eigentlich sein Körper war, nicht länger eine feste Masse, sondern etwas höchst Fragiles. Etwas, das in einem Sekundenbruchteil in Milliarden kleinster Einzelteile zerfiele, tippte man ihn nur an.
Henry tauchte neben ihm auf. Er sagte auch etwas, doch die Worte drangen nicht zu ihm durch. Wenn er nur den Ausdruck sah, der auf Henrys Gesicht lag – er allein reichte schon aus, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Er brauchte niemanden, der ihm etwas sagen wollte. Es schien, als habe an diesem Tag jeder, wirklich jeder, der mit ihm sprach, nur Lügen für ihn übrig.
«Conrad?» Henry war unerbittlich, das musste man ihm lassen.
Conrad zwang sich, den Blick von Hannah zu lösen, die, den Arm ihrer Mutter um ihre Schultern dasitzend, mit einer Polizistin sprach, und erwiderte Henrys ernsten Blick.
«Ist dir noch etwas eingefallen? Irgendwas?»
Conrad senkte den Blick wieder und schüttelte langsam den Kopf. Das hier passierte sowieso nicht wirklich, das war nicht möglich. Punkt.
Henry ging ein wenig in die Knie, um Conrad besser ins Gesicht sehen zu können. «Weißt du», begann er, «vielleicht war sie früher immer gerne an einem speziellen Ort? Als sie noch kleiner war? Oder gibt es weggezogene Freunde in den Nachbarstädten, die sie möglicherweise besuchen wollte?»
Am liebsten hätte Conrad die Faust, zu der er gerade seine rechte Hand ballte, mit voller Wucht in Henrys einfühlsam blickendes Gesicht geschlagen. Weil Henry offenbar glaubte, er hätte nicht schon mindestens tausend Mal innerhalb der letzten drei Stunden darüber nachgedacht, wo Theresa sein könnte. Weil Henry offenbar der Meinung war, er selbst wüsste nicht, wo seine zwölfjährige Tochter sich gerne aufhielt. Am liebsten wollte er seinen Freund, der zufälligerweise der leitende Ermittler im Falle seiner verschwundenen Tochter war, für diesen elendig unzumutbaren Gesichtsausdruck schlagen – für diesen Ausdruck, der nur eines sagte: Egal, wie viel Mühe wir uns alle geben – das hier wird nicht gut ausgehen.
«Henry, was ich weiß, habe ich dir gesagt.» Er hielt dem Blick seines Freundes stand. «Und was ist mit dir?»
«Nichts Neues, tut mir leid. Hannah bleibt dabei – Theresa wollte nach ihrem kleinen Einkaufsbummel direkt nach Hause. Wir sind gerade noch dabei, die Nachbarn zu befragen, aber auch von denen hat bisher niemand etwas gesehen.»
Conrad nickte nur. Er hatte fürchterliche Rückenschmerzen. Dieser Stuhl, der war ganz sicher für Gäste gedacht, die man gar nicht schnell genug wieder loswerden konnte. Jede Rille des Rattangeflechts bohrte sich unnachgiebig in seinen Rücken und verhinderte, dass er auch nur eine Sekunde mit seinen Gedanken abschweifen konnte. Sich zurückziehen konnte. Wohin auch immer.
Henry stand weiterhin neben ihm, hatte den Blick aber mittlerweile auf einen Beamten gerichtet, der gerade zur Tür hereingekommen war. Erst jetzt, als er dem Blick seines Freundes folgte, bemerkte Conrad, dass sein Wohnzimmer von Polizisten nur so wimmelte. Da waren uniformierte Beamte, die ständig umherliefen und sich irgendwelche Dinge in seinem Haus ansahen. Das war okay, ihm war es egal. Jedoch war er überzeugt, dass es ihnen nicht weiterhelfen würde. Therese war nicht irgendwo hingegangen und versteckte sich dort oder etwas in der Art. Also würde es auch keine Hinweise für ihren derzeitigen Verbleib geben.
Andere Beamte, auch zwei ohne Uniform, machten sich an seinem Telefon zu schaffen. Er selbst verdiente genug, um alle laufenden Kosten zu decken, das war schon alles. Auch wenn die Ermittler gründlich vorgingen – oder vielleicht nur auf Henrys gut gemeinte Anweisung hin handelten –, eine Entführung war doch noch unwahrscheinlicher als die Tatsache, dass Theresa weiß Gott wo herumtrödelte.
Zwei Beamte, nun wieder in Uniform, sprachen noch mit Hannah und ihrer Mutter, doch es schien um nichts Wichtiges mehr zu gehen. Und da war der Polizist, der gerade zur Tür hereingekommen war und Henrys Interesse geweckt hatte. Dem Alter des Polizisten nach zu urteilen war es dessen erster ernsterer Fall. Seine rötlichblonden Haare lugten struppig unter der offensichtlich hastig aufgezogenen Mütze hervor, die Augen blickten gehetzt und seine gesamte Körpersprache drückte schiere Ratlosigkeit aus, die kurz vor der Überforderung stand. Er schüttelte den Kopf, und in diesem Moment krampfte sich etwas in Conrads Magen zu fest und plötzlich zusammen, dass er einen irrwitzigen Augenblick lang befürchtete, seinen gesamten Darminhalt auf der Stelle unkontrolliert von sich lassen zu müssen.
Doch anders als erwartet nickte Henry dem jungen Polizisten nur kurz zu und drehte sich wieder zu Conrad um. «Die Befragung der Nachbarn hat bisher nichts ergeben», teilte er Conrad mit und zog den Mund schief.
«Bisher?», hakte Conrad nach. Sein Blick ging wieder auf Hannah, die gerade mit ihrer Mutter aufstand und von einer Polizistin zur Tür begleitet wurde. Hannah starrte dabei auf den Boden, ihre Mutter brachte es nicht über sich, ihn anzusehen. Alle Menschen in diesem Raum schienen nur einen möglichen Ausgang für das ganze hier im Kopf zu haben, und niemand schien sich die Mühe machen zu wollen, Conrad damit zu verschonen.
Warum sitze ich nicht mit Theresa im Wohnzimmer von Hannahs Eltern? Warum zur Hölle ist ausgerechnet Hannah putzmunter wieder nach Hause gekommen, fröhlich und unbekümmert, zumindest bis zwei Uniformierte an ihre Haustür gekommen sind?, dachte Conrad verbittert und krallte sich in diese vollkommen unnatürlich angebrachte Armlehne des Folterstuhls. Irgendwer hatte ihm mal gesagt, man nehme alles ganz klar wahr, wenn man unter Schock stand. Fast wie in Zeitlupe. Stand er unter Schock? Obwohl noch gar nicht sicher war, was überhaupt passiert war?
Er merkte, dass er Hannah noch immer anstarrte. Die quicklebendige Hannah. Er wusste, dass diese Gedanken ungerecht waren. Und in jeder anderen Situation hätte er sich selbst dafür verachtet. Aber nicht jetzt. Jetzt hätte er im Grunde alles nur Denkbare getan, um die Rollen von Theresa und Hannah zu tauschen.
Dabei kannte er die Antwort auf seine Fragen, oder nicht? Warum Theresa verschwunden war und nicht Hannah? Und war das nicht auch der Grund dafür, warum er auf diesem grausamen Stuhl saß, der mittlerweile seinen gesamten Körper malträtierte und ihn konsequent daran hinderte, mit seinen Gedanken einfach dorthin abzuschweifen, wo keine Polisten waren, keine verschwundene Tochter, und wo seine Frau vielleicht noch lebte und alles in bester Ordnung war?
Er hatte sich geweigert, Theresa vom Einkaufszentrum abzuholen, so sah es aus. Sie hatte ihn angebettelt und große Augen gemacht, bevor sie losgegangen war. Hatte gebettelt und tausend Versprechen gegeben, was sie nicht alles tun würde, um sich dafür zu revanchieren. Hätte sie ihn noch ein weiteres Mal gebeten, er wäre wohl schwach geworden und hätte widerwillig zugestimmt. So hatte er ihr gesagt, dass sie zu Fuß nur zwanzig Minuten brauchte – ein Bus fuhr nicht in ihre Richtung, im Gegensatz zu Hannahs Zuhause – und dass das Wetter an diesem Tag schon viel zu schön sei, um die ganze Zeit in einem stickigen Einkaufszentrum herumzulaufen und Blödsinn zu kaufen, der danach sowieso im Nirwana des Kleiderschranks verschwand.
Theresa hatte keinen Wutanfall bekommen oder so etwas – Conrad hatte in diesem Moment vermutet, dass ihm diese Zeit noch bevorstand –, sondern sich wie immer mit gekräuselter Stirn und vorgeschobener Unterlippe ihrem schweren Schicksal ergeben.
Und jetzt war sie weg. Eine Stunde lang hatte er auf ihre Rückkehr gewartet, bevor er Hannahs Mutter angerufen hatte. Danach war er den Weg zum Einkaufszentrum abgefahren. Und schließlich hatte er Henry angerufen.
Das war nun weitere drei Stunden her. Drei sehr lange, sehr aufreibende Stunden.
Wie es schien, standen ihm noch viele weitere bevor. Er konnte nur hoffen, dass das nicht für Theresa galt.
«Das ist doch scheiße, ich sag’s dir. Ist doch jedes Mal das gleiche.»
«Mh-m.»
«Jetzt mal im Ernst. Alles klar? Wir buchten ihn ein, sie hat ihre Ruhe. Sie könnte sonst was tun, ihr Leben leben, abhauen, was weiß ich. Und wie wird’s laufen?»
«Mhhh-m.»
«Genau wie immer. Sie kommt angeschissen und holt ihn wieder zurück nach Hause, und das erste, was der Drecksack tut, ist, sich besonders handfest bei ihr zu bedanken. Das ist doch scheiße, ehrlich. Wie sieht’s aus, gehen wir noch irgendwo was trinken?»
Keine Antwort.
«Hey. Hast du überhaupt ’ne Sekunde zugehört?»
Mary sah nur widerwillig auf. «Klar. Heute nicht, okay? Ich habe hier noch etwas zu erledigen.»
Victor würde nachhaken. Er war der neugierigste Mensch, den sie kannte. Und für gewöhnlich war es auch in Ordnung, es war sein Job, neugierig zu sein. Sie hasste es bloß, wenn er sich zuviel für ihre Angelegenheiten interessierte. Und das tat er eigentlich immer.
«Worum geht’s? Wenn ich dir helfe, sind wir hier in Nullkommanichts fertig und können endlich den tollwütigen Penner in der Ausnüchterungszelle vergessen.» Victor grinste breit und starrte sie erwartungsvoll an.
Mary unterdrückte einen Seufzer, klappte die Mappe mit den zahlreichen losen Zetteln, über denen sie schon seit Monaten brütete, zusammen und verstaute sie in ihrer Tasche. Für den Moment konnte sie ihre kleine Privatermittlung vergessen.
«Also los», sagte sie und stand auf, «betrinken wir uns hemmungslos.»
Victor gab einen zufriedenen Laut der Zustimmung von sich und stand ebenfalls auf. «Erst hemmungslos betrinken, dann hemmungsloser Sex, wie klingt das?»
Sie nahmen ihre Aktentaschen und verließen das Polizeibüro durch die zweiflügelige Schwingtür. Selbst jetzt, um kurz vor Mitternacht, brannte noch an zahlreichen Schreibtischen Licht. Es wurden Berichte geschrieben, Recherchearbeiten durchgeführt. Manche der Beamten schienen auch bloß darauf zu warten, dass sich etwas Neues ergab und sie etwas Konkretes zu tun bekamen.
«Das klingt, als könnte ich niemals betrunken genug sein», entgegnete Mary und schenkte ihrem Partner ein breites Grinsen.
«Du hast ja keine Ahnung, was dir entgeht», gab Victor zurück und hielt ihr die Tür auf, die hinaus in die klare Nachtluft führte.
Mary betrachtete ihn, während sie gemeinsam den kurzen Weg zur nächsten Bar antraten. Wirklich schlecht sah er nicht aus, das musste sie ihm lassen. Er ging auf die fünfzig zu und würde sich zumindest die nächsten zwei oder drei Jahre noch an seinen chronisch ungekämmten Haaren mit den zahlreichen grauen Strähnen erfreuen können. Seit seine Frau ihn vor zwei Jahren vor die Tür gesetzt hatte, hatten sein nachdienstlicher Alkoholkonsum und sein Hüftumfang etwa analog zueinander zugenommen, was Mary hin und wieder etwas Sorgen bereitete. Aber alles in allem wäre Vic keine schlechte Partie gewesen, besonders dann nicht, wenn es nur um ein wenig Zerstreuung ging.
Wenn da nicht das Problem mit seiner Neugier wäre.
«Du grübelst schon wieder», bemerkte er mit einem kurzen Blick auf sie, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Und das traf vielleicht sogar ein wenig zu, schließlich war er einer der besten Ermittler, die sie kannte.
«Und du hast schon wieder nichts Besseres zu tun, oder? Los, rein da, sonst überleg’ ich es mir vielleicht noch anders fall’ doch noch über dich her, nur um dich zum Schweigen zu bringen», sagte sie und hielt Victor die Tür zur Bar auf.
«Dann sollte ich dich wohl noch etwas weiter aushorchen, was meinst du?»
Anstatt ihm zu antworten, versetzte sie ihm einen Stoß. Victor verschwand im Inneren der kleinen Bar, dicht gefolgt von Mary. Sie mochte es dort. Da das Revier direkt um die Ecke war, trieben sich dort eher selten zwielichtige Gestalten herum. Nicht, dass sie damit ein Problem gehabt hätte. Sie hatte bloß hin und wieder gerne ihre Ruhe.
Kaum hatte Mary die Tür hinter sich geschlossen, umhüllte sie der gewohnte Geruch nach uralten Holzmöbeln, die über die Jahre unzählige Flüssigkeiten aufgesogen hatten wie ein Schwamm, gemischt mit billigen Reinigungsmitteln und dem würzigen Duft nach Spareribs und Tacos, den beiden einzigen Speisen, die es dort zu essen gab.
«Vic, es wird Zeit, dass du ’ne Freundin findest», stellte Mary fest und ließ sich neben Victor auf einem Hocker direkt an der Bar nieder. Außer ihnen waren nur zwei weitere Gäste dort, ein älterer Mann mit einem buschigen, weißen Bart, und eine Frau mittleren Alters, die verdrießlich in das Schlückchen Scotch blickte, das in dem Glas vor ihr schwamm. Beide waren vertieft in ihre Drinks und ihre ganz eigenen Probleme. Ein typischer, später Abend in dieser Bar, weiter nichts.
Victor orderte für sie beide das Übliche, was bedeutete: einen Gin Tonic für Mary, einen Whisky Soda für Victor. Im Laufe des Abends wurden beide Drinks in der Regel um die weniger alkoholische Zutat reduziert.
«Und irgendwas zu Knabbern, Bert. Sei nicht immer so verdammt geizig», beschwerte Victor sich, als Bert, der füllige Barkeeper, ihnen die Drinks servierte. Victor hatte einmal darüber gescherzt, dass Bert mindest hundertachtzig Jahre alt sein müsste, so tief waren die Furchen in seinem kugelrunden Gesicht mit den stets geröteten Wangen und den vom regelmäßigen Nikotinkonsum gelb eingefärbten, eigentlich schlohweißen Haaren, die ihm stets ein wenig fettig in die hohe Stirn fielen.
Bert gab ein tiefes Brummen von sich und schob den beiden Stammgästen eine Schale mit Erdnüssen hin, die Mary skeptisch beäugte. Sie wusste, in spätestens einer Stunde würde sie die Nüsse vermutlich ohne zu zögern essen, aber momentan konnte sie sich nur fragen, wie alt die Nüsse waren und wie viele ungewaschene Finger schon darin herumgewühlt hatten.
«Du hast einen schlechten Einfluss auf mich, Vic. Wenn das so weiter geht, werde ich zur Alkoholikerin.»
«Zu einer fetten Alkoholikerin, meinst du wohl.»
«Fett? Wie bitte?»
«Du weißt schon. Mein schlechter Einfluss. Der beschränkt sich nicht bloß auf die Trinkgewohnheiten, soweit ich weiß.»
Mary betrachtete wieder die Nüsse. Sie war jetzt zweiunddreißig Jahre alt und Single, was bedeutete, dass sie sich in ihrer Freizeit – also der wirklich beschäftigungslosen Zeit – allem widmen konnte, wozu sie Lust hatte. Sport gehörte nicht unbedingt dazu, dafür aber zu den Dingen, die man gemeinhin tat, um den Kopf frei zu kriegen. Und um wenigstens etwas dagegen zu tun, in einem Jahr Berts Bauchumfang zu erreichen.
«Ich sag’ ja, es wird Zeit, dass du ’ne Freundin findest.»
«Du meinst, damit endlich mal wieder jemand für mich kocht? Schätzchen, meine Großmutter – Gott hab’ sie selig – hätte dich geliebt, das schwöre ich dir.»
Mary nahm einen großen Schluck von ihrem Gin Tonic. Sie wunderte sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr darüber, dass sie den Alkohol nicht mehr wahrnahm.
«Ich habe nicht gesagt, dass ich dich bekoche.»
Eine zeitlang saßen sie schweigend nebeneinander, tranken ihre Drinks und lauschten der gedämpften Musik, die irgendwo aus Boxen leise zu ihnen drang. Mary kannte die Songs in der Regel nicht, aber das kümmerte sie wenig. Sie waren seicht und anspruchslos, das war alles, was sie daran interessierte.
«Kriegen wir ihn?», fragte Victor plötzlich.
Mary fuhr innerlich zusammen. Hätte Victor sie in diesem Moment angesehen – und nicht mit leerem Blick geradeaus das Flaschenregal angestarrt –, hätte er ihren erschrockenen Ausdruck gesehen. Denn einen Augenblick lang war Mary überzeugt, dass er es wusste. Dass Victor wusste, was sie seit Monaten umtrieb. Oder vielmehr wer.
Aber das war Blödsinn. Victor wusste überhaupt nichts. Er ahnte etwas, das mit Sicherheit, aber er hatte bislang keine Ahnung und das musste auch so bleiben. Zumindest solange, bis Mary wusste, wie es weitergehen würde.
«Du klingst so pessimistisch», gab Mary zurück, nachdem sie sich wieder gesammelt hatte.
Victor hatte von ihrem Fall gesprochen, nicht von dem Kerl, den sie heute Nachmittag zur Beruhigung in die Ausnüchterungszelle gesteckt hatten – der war schon fast eine Art Stammgast bei ihnen, ein paar Mal im Monat rief seine Frau, grün und blau geschlagen, bei ihnen an, sie holten ihn zu sich aufs Revier, nur um wenige Stunden später wieder seine Frau zu sehen, die ihn reumütig zurück nach Hause holte, um sich die nächste Lektion in Sachen ‹Was eine gute Haus- und Ehefrau ausmacht› abzuholen. Zu einer Anzeige kam es in der Regel nie, und falls doch, wurde sie natürlich zurückgezogen. In guten wie in schlechten Tagen eben.
Victor sah sie an. «Geht’s dir soviel anders?», wollte er wissen und leerte sein Glas.
Mary erwiderte seinen Blick ungerührt. «Ich weiß es nicht. Wir haben nicht viel, das ist wohl richtig.»
«Nicht viel?», gab Victor zurück und stopfte sich eine handvoll Nüsse in den Mund. Mary, die noch nicht einmal annähernd betrunken genug war, um auch nur die Vorstellung davon ertragen zu können, schüttelte sich kurz. «Im Grunde haben wir nichts, machen wir uns nichts vor. Ich hasse so was.»
Mary sagte nichts. Auch sie leerte ihr Glas und ließ sich von Bert einen doppelten Gin bringen.
«Ach was? Ich dachte, ich wäre der Typ mit dem schlechten Einfluss», bemerkte Victor und schenkte ihr sein süffisantes Grinsen.
«Halt die Klappe. Du kannst machen, was du willst. Aber tu mir einen Gefallen, ja?»
«Ich erfülle dir jeden deiner geheimsten Wünsche, Süße.»
«Oh man, du weißt echt, wie man Frauen heiß macht, was? Ich mein’s ernst, Vic.»
«Schön, lass hören», forderte er sie auf, grinste jedoch noch immer.
«Keine Gespräche über die Arbeit mehr.»
Victor hob sein Glas und prostete ihr zu. «Ist gebongt. Dann kannst du mir ja jetzt erzählen, was dich so beschäftigt. Was macht die kleine Mary, wenn sie keine bösen Buben jagt?»
Mary dachte an den Inhalt ihrer Tasche. An die schlichte grüne Pappmappe mit den vielen losen Zetteln. Ob sie Victor tatsächlich überzeugend belügen konnte? Unwahrscheinlich. Also half ihr nur die Wahrheit.
«Wer sagt, dass ich je etwas anderes mache?»
Ich könnte Ihnen jetzt erzählen, dass ich 1979 geboren wurde als Sohn eines Steuerprüfers und einer Kindergärtnerin. Ich könnte Ihnen auch erzählen, dass ich mit acht Jahren einen Hund namens Kong bekommen habe, der schon ein Jahr später sterben musste, weil ihn ein besoffener Penner überfahren hat. Weiterhin könnte ich Ihnen natürlich auch von der Scheidung der Eltern berichten, ebenso von der ersten Freundin. Aber ganz ehrlich – das ist alles nur unwichtiges Zeug. Hierbei geht es um etwas ganz anderes, und wenn ich Ihnen derartige überflüssige Dinge erzählen würde, dann würden Sie sich wohl die ganze Zeit über im Freudschen Sinne fragen, welches Trauma etwa die Scheidung der Eltern in mir hinterlassen hat und ob die erste Freundin, die ich zufällig im gleichen Satz genannt habe wie die elterliche Scheidung, nur eine Kompensationshandlung meinerseits war, um die weggezogene Mutter durch ein anderes älteres Mädchen zu ersetzen.
Andererseits könnte ich Ihnen erzählen, dass ich mit fünfzehn Jahren Zeuge eines Autounfalls geworden bin, der in seiner Furchtbarkeit jede Vorstellung überschreitet, was mich aber nicht davon abgehalten hat, der Retter eines der beteiligten Opfers zu werden. Dann könnte ich etwa auch erzählen, wie sehr ich mich gefreut habe, als ich den Lotterie-Jackpot geknackt habe und den Millionengewinn nicht einmal teilen musste.
Klar. So was könnte ich auch erzählen, aber im Gegensatz zur elterlichen Scheidung, einer impulsiven ersten Liebelei und einem früh verstorbenen Hund entsprächen letztere Punkte nicht der Wahrheit. Leider bin ich kein Millionär. Nicht, dass ich konkrete Geldsorgen hätte, aber manche Dinge lassen sich mit dem nötigen Kapital einfacher regeln. – Ich bin auch kein Held, der jemanden aus einem zerquetschten, brennenden Auto gezogen hat – die brenzligste Situation, in der ich mich je befunden habe, war, als ich mich als Kind im Schrank meiner Schwester versteckt habe, um sie beim Fummeln mit ihrem ersten Freund zu beobachten.
Ich könnte hier alles Mögliche sein, Ihnen alles Mögliche erzählen. In dem Augenblick, in dem ich den Stift aufsetze, könnte ich die schönsten Phantasien aufschreiben. Klar könnte ich das. Aber darum geht es mir nicht.
Mir geht es bloß um eines: meine Geschichte. Sie zu erzählen, ist alles, was ich will. Meine Lebensgeschichte, mit allen Spannungen, Langweiligkeiten und möglichen Gräueltaten (ich habe da so eine Ahnung), die ich für erzählenswert halte. Deswegen ist es anders nicht möglich, nicht für mich. Die eigene Geschichte, die eigene Vergangenheit kann man nicht umschreiben.
Trotz aller Abschweifungen und Wiederholungen, manchmal schleppend, manchmal zu zügig erzählten Ereignisse (denn so läuft es doch im gemeinen Leben), geht es nur um meine Geschichte. Fragen Sie sich, warum ich mich bis jetzt mit Dingen aufgehalten habe, die scheinbar unwichtig sind? Lassen Sie es mich erklären: Alles, was mir einfällt, könnte wichtig für Sie sein.
Wichtig für Sie, für Ihr Verständnis von mir und meinem Handeln. Wichtig für mich.
Wenn ich über das Rauchen rede, dann lässt sich das einerseits nicht vermeiden, weil ich einfach gerne rauche und es nun mal genauso zu mir gehört wie die Hand, mit der ich diese Zeilen schreibe. Andererseits aber dient mir dieses Thema dazu, Sie mit dem bekanntzumachen, was mich am elementarsten auszeichnet: Ich kann nicht süchtig werden.
Ich habe nahezu alles ausprobiert – Alkohol, Tabletten, Sport, Sex natürlich auch, Computerspiele und was noch. Die Zigaretten sind die einzigen von mir intensiv gestesteten Nicht-Suchtmittel, bei denen ich aus purer Lust geblieben bin. Dem Alkohol habe ich natürlich auch nicht völlig entsagt – aber ich glaube nicht, dass mich hier etwas Bier oder dort etwas Wein zum Alkoholiker machen; kein nervöses Zittern, wenn ich nicht pünktlich an das Zeug komme.
Die Tabletten haben mir etwas Sorgen bereitet. Ich habe verschiedene Schmerztabletten ausprobiert – ich kann nicht einmal sagen, ob sie eine Wirkung hatten, immerhin hatte ich keine Schmerzen – und da ich kein Mediziner bin, war ich mir nie wirklich sicher, was eventuelle Nebenwirkungen anging. Ich wollte süchtig, nicht ins Jenseits befördert werden. Ob ich Langzeitschäden davontragen werde, wird sich zeigen müssen. Aber wer soviel raucht wie ich, kann sich über so etwas unmöglich ernsthaft Sorgen machen, nicht wahr?
Sex war da schon wieder ein anderes Thema. Neben dem Rauchen ist es mein liebstes Nicht-Suchtmittel. Aber halten Sie mich jetzt nicht für einen Don Juan – ich hatte in meinem Leben ein paar feste Freundinnen, wenn auch nicht viele, und ein paar nicht feste Freundinnen (niemals aber die für Geld, ich schätze, dazu bin ich zu pingelig – ich beschränkte mich stets auf die Freiwilligen. Sie wissen schon – frei und willig). Mit denen lief es wunderbar und es waren schöne Nächte. Befriedigende Nächte. Ob mich das süchtig gemacht hat? Niemals. Ich habe ein durch und durch gesundes Verhältnis zu Sex, wenn es so etwas überhaupt gibt. Sie verstehen schon, was ich meine.
Egal also, was ich versuchte, nichts machte mich süchtig. Gar nichts. Warum mich das so fertig macht? Warum ich mich nicht einfach glücklich schätze und es dabei belasse?
Nun, wenn es so einfach wäre, hätte ich schließlich nichts zu erzählen.
Dasjenige, worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Ich habe keine Verbindung zum Leben. Es ist, als lebte ich in einer Art Luftblase. Ich kann mit Menschen reden, mich zusammen mit ihnen irgendwo aufhalten, aber letztlich bleibe ich alleine in meiner Blase, während alle anderen zusammen außerhalb sind. Mein Leben – das bin nur ich. Genau genommen habe ich also keine Verbindung zu dem, das Sie wohl als Leben bezeichnen, ich dagegen eher als das Andere.
Die Tatsache, dass ich in meiner Luftblase umherstreife, heißt natürlich nicht, dass ich eremitenähnlich irgendwo im Nirgendwo in einer Höhle hocke und mich selbst unterhalte, ganz sicher nicht. Ich bin sogar ein recht kommunikativer Mensch. Das Problem ist dabei nur, dass ich alles immer nur auf mich beziehe. Ich schätze, das ist die unvermeidbare Konsequenz meiner kleinen emotionalen Verschrobenheit, oder wie immer man das nennen kann. Alles, was ich tue, alle Kontakte, die ich knüpfe – einfach alles um mich herum beziehe ich allein auf mich. Alles, was ich tue, tue ich für mich. Ein egozentrisches Weltbild, wenn Sie so wollen. Ich bin der zentrale Himmelskörper, um den alles und jeder kreist.
Den meisten Menschen, die mich kennen, wird diese sonderbare Eigenschaft meiner Wenigkeit vermutlich noch nie aufgefallen sein. Wie sollte es auch? Ich mache all die Dinge, die alle anderen auch machen. Ich habe einen Job, ich gehe einkaufen, treffe mich mit anderen Menschen, trinke guten Wein. Der Alltag in seiner potenziertesten Form, das bin ich für die Welt da draußen, für das Andere, auf das ich aus meiner Blase blicke und mich frage, warum ich nicht dazugehöre.
Ich bin kein böser Mensch, wissen Sie. Aber auch kein guter. Ich glaube, das ist genau der Punkt, um den es geht.
Er verfolgte die Sportnachrichten mit mäßigem Interesse, während er sein Frühstück aß. Schließlich kam der Wettermoderator ins Bild und verkündete die aktuelle Wetterlage. Nichts Spektakuläres, schließlich waren die Unwetter vorüber; die Sonne würde sich zeigen und ein leichter Wind auffrischen.
Er stellte die leere Müslischale beiseite und fischte die letzten Überreste seines Obstsalats aus dem Schälchen. Es war ein wunderbarer Morgen. Die Polizei hatte nichts Besonderes gefunden.
Mit der Kaffeetasse in der Hand lehnte er sich auf seinem dunkelgrauen Sofa zurück. Die Nachrichtensendung war zu Ende. Jetzt liefen Werbesendungen, bis die Zeit für eine dieser elendigen Talkshows gekommen war. Er griff zur Zeitung und begann aufmerksam, Seite für Seite zu überfliegen. Hatte Walter tatsächlich gedacht, er würde damit durchkommen?
Er schaltete den Fernseher aus, die Talkshow hatte begonnen. Gespieltes Leben interessierte ihn nur dann, wenn er einen guten Film genießen wollte. Das reale Leben war wichtiger.
Er hatte dieses perfekt gelegene Grundstück haben wollen: riesengroß, direkt am Waldesrand (nicht der Wald, in dem Philip Walter gefunden worden war) und abgelegen. Er wollte es haben, bevor er den Makler kennen gelernt hatte. Und dann begegnete er Walter. Lange bevor er Nachforschungen über den Makler anstellte, wusste er, dass er fündig werden würde. Jeder, der mit ihm etwas näher in Kontakt kam, wurde für ihn zu einer vollständig bestimmbaren und durchleuchteten Größe. Er kannte die Menschen, mit denen er zu tun hatte. Er wusste alles über sie.
Nach Abwicklung des Kaufvertrages für das Grundstück hatte er Zeit vergehen lassen. Walters letzter Kunde gewesen zu sein, hätte ihn möglicherweise in die Ermittlungen hineingezogen. Er wäre nur pro forma befragt worden, doch angesichts seiner nunmehr fünfzehn Jahre andauernden Flucht – früher mehr, heute weniger – hätte er noch immer jemandem auffallen können. Möglicherweise. Vor allem einem sehr aufmerksamen Polizisten.
Er hatte Monat für Monat verstreichen lassen, genau wie bei Deitz. Zu dieser Zeit hatte er Walters Haus längst mit Wanzen ausgestattet. Keine große Sache, wenn man wusste, wie sie funktionierten und wo man sie am besten platzierte, um erstens den größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen und zweitens nicht entdeckt zu werden. Als er in einem der Gespräche zwischen Walter und dessen Frau hörte, dass sie das nächste Wochenende zu ihrer Mutter fahren würde, wusste er, dass der Zeitpunkt gekommen war. Walter würde allein sein.
Nur hatte er dieses Mal nicht lange allein sein müssen.
Niemand hatte angerufen.
Überall im Haus brannte mittlerweile Licht. Conrad fragte sich, wer sich die Mühe gemacht hatte, tatsächlich alle Lampen, auch die kleinen Tischleuchten, die – Em sei Dank – überall verstreut auf Fensterbänken, dem Kaminsims und kleinen Tischchen herumstanden, anzuknipsen. Und warum. Em hatte immer gesagt, so viele indirekte Lichtquellen sorgten für ein gemütlicheres Ambiente, im Gegensatz zu einer hellen Deckenlampe. Angesichts der Tatsache, dass Conrads Tochter seit nunmehr sieben Stunden vermisst war und es keinen Grund gab, etwas anderes als grauenhafte Gedanken an den Verbleib des Mädchens zu haben, kamen Conrad die vielen Lampen mit ihren beinahe idyllischen Lichtkreisen wie blanker Hohn vor.
Die Zahl der Polizisten in seinem Haus hatte sich erheblich reduziert, als ihnen klar geworden war, dass es sich mit Sicherheit nicht um eine Entführung handelte. Nun, streng genommen ging zwar jeder von einer Entführung aus – nur eben nicht von der Sorte, bei der der Entführer darauf aus war, das Kind wieder herzugeben.
Nur Henry und die Beamtin, die mit Hannah gesprochen hatte, waren noch da. Henry verabschiedete die Frau, dessen Namen Conrad heute vermutlich schon mehr als ein Dutzend Mal gehört hatte und sich trotzdem nicht hatte merken können, gerade an der Tür. Als sie weg war, nahm Henry von der kleinen Anrichte neben der Wohnzimmertür eine Flasche von Conrads Whisky sowie zwei Gläser, die dort immer parat standen. Wieder so ein Tick von Em. Sie war der Meinung gewesen, einige wenige Flaschen sehr guten Alkohols könne man getrost seinen Gästen präsentieren, ohne dass diese einen gleich für einen Alkoholiker hielten.
Conrad fixierte die wenigen Flaschen, die dort standen – noch zwei Whiskys, ein Cognac und einen Wodka –, und unterdrückte den Drang, sich die nächstbeste zu nehmen und sich den kompletten Inhalt in den Hals zu schütten. Als hätte er seine Gedanken gelesen, hielt Henry ihm stirnrunzelnd eines der Gläser, das er von der Anrichte genommen hatte, mit gut zweifingerbreit Whisky darin hin.
«Du musst nicht meinen Babysitter spielen», sagte Conrad und nahm einen großen Schluck. Für gewöhnlich genoss er die wohlige Wärme, die die Flüssigkeit halsabwärts verströmte. Doch an diesem Abend kratzte und brannte es bloß, so wie damals, als er mit siebzehn das erste Mal Whisky getrunken und sich kurz danach übergeben hatte.
«Das tue ich nicht. Ich leiste dir bloß noch etwas Gesellschaft.»
Henry meinte es gut, das wusste Conrad. Aber das hier, jetzt hier mit ihm zu sitzen – es hätte nichts gegeben, was Conrad stärker hätte zeigen können, wie einsam er eigentlich war. Wie unnatürlich leer dieses Haus plötzlich war.
«Wie geht es jetzt weiter?», fragte Conrad. Ob er es wirklich wissen wollte? Eigentlich nicht. Er wollte auch nicht wissen, was gerade alles mit Theresa geschehen konnte, und doch kam er nicht umhin, sich genau das immer und immer wieder vorzustellen. Er schätzte, dass er es aus demselben Grund tat, aus dem er noch immer auf diesem verfluchten Stuhl saß, dessen Rattangeflecht sich wohl unwiderruflich in seinen Rücken geprägt hatte.
«Die Suchmannschaften inklusive Hundestaffel durchkämmen weiterhin die Gegend. Die Vermisstenmeldung wird regelmäßig in den Lokalnachrichten gesendet. Wir haben auf dem Revier eine Hotline eingerichtet, aber bisher ist noch nichts Hilfreiches eingegangen. Bei so was melden sich immer ’ne Menge Spinner», gab Henry zu und trank mürrisch seinen Whisky.
«Henry …»
«Die verfluchte Nacht macht die Suche schwieriger. Daher werden wir morgen die betroffenen Gebiete noch einmal durchsuchen. Wir sind verdammt gründlich, dafür sorge ich.»
«Sag’ mir, was mit Theresa passiert ist. Henry, du machst das jetzt schon so viele Jahre, und ich weiß, dass das nicht dein erster Vermisstenfall ist.»
Henry sah ihn nur widerwillig an.
«Ich meine es ernst. Welches Szenario ist das wahrscheinlichste?»
Er konnte sehen, wie Henry mit sich kämpfte. Der erfahrene Polizist in ihm versuchte, die Sache so klar und vernünftig wie nur möglich zu beurteilen. Der Freund in ihm wollte genau das verhindern. Und dieser Anblick machte Conrad mehr Angst als alles andere. Bevor Henry antwortete, leerte er sein Glas mit einem weiteren großen Schluck. «Du solltest dir besser keine Hoffnungen machen.»
Sie war wieder sechzehn.
Es war ein sonniger Tag, die Luft, die Farben in den Bäumen, die Geräusche der Tiere, einfach alles um einen herum kündigte den nahenden Sommer an. Von irgendwo ganz in der Nähe drang der vertraute Ruf einer Schwarzkopfmeise zu ihr, die mit ihrem unverwechselbaren chick-a-dee-dee-dee auf sich aufmerksam machte. Sie hatte diesen Laut schon lange nicht mehr gehört, und obwohl sie den Vogel noch nie gesehen hatte, wusste sie, dass er in dem alten Rotahorn hockte, der unmittelbar vor dem Schulgebäude auf einer kleinen und penibel gepflegten Grünfläche stand.
Mary sah sich um. Es musste kurz vor Schulbeginn sein, von überall her strömten Schüler unterschiedlichen Alters an ihr vorbei in das Gebäude. Die Schwarzkopfmeise, die mit ihrem Gesang schon so manchen Schüler während eines Tests in den Wahnsinn getrieben hatte, trällerte auch nun fröhlich weiter, als wäre das hier der wunderbarste Ort, den man sich überhaupt nur vorstellen konnte.
Ihre rechte Hand schmerzte. Als sie an sich hinunterblickte, sah sie, dass sie ihre Schultasche krampfhaft umklammert hielt, während sie dort wie angewurzelt neben dem Ahorn stand und es nicht über sich brachte, ins Gebäude zu gehen, wie alle anderen auch.
Es war ein Traum, oder zumindest so etwas in der Art. Eine traumhafte Erinnerung, die sie im Dämmerschlaf und mit einer ordentlichen Portion Restalkohol im Blut überkam. Nur war sie weder schläfrig genug, um unbekümmert in dem Traum verschweben zu können, noch wach genug, um sich dagegen zur Wehr zu setzen und einfach aufzustehen.
Ihre Gedanken drifteten wieder ab. Die Schwarzkopfmeise, deren Ruf sie schon so viele Jahre nicht mehr gehört hatte, sang tapfer weiter, als wollte sie jeden Schüler persönlich willkommen heißen. Mary blickte sich um, doch sie sah kein vertrautes Gesicht. Dabei hatte sie sowieso nur nach einem ganz bestimmten Ausschau gehalten.
Irgendwer rempelte sie an und das löste ihre Starre. Wie automatisch setzte sie sich in Bewegung, unwillig zwar, aber unfähig, sich aus dem Schülerstrom zu lösen, sich umzudrehen und einfach wieder zu gehen. Dieses Gefühl des inneren Widerstands, das hatte sie früher oft gespürt, oder nicht? Irgendwie hatte sie das vergessen. Aber das stimmte nicht. Sie hatte es verdrängt.
Träge stieg sie die drei Stufen hinauf. Kurz bevor sie durch die in ständiger Bewegung begriffene, gläserne Schwingtür gehen konnte, fiel diese zu und sie erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild. Das Mädchen, das sie ansah, trug die dunklen Haare etwas länger als heute. Sie war dürr, die Proportionen ihres Körpers noch nicht ausgebildet. Die Augen schienen nicht zu diesem jungen Körper passen zu wollen – ihr Blick war ernst und ein wenig finster. Angesichts der Tatsache, dass auch ein Teil der älteren, der erwachsenen Mary aus diesen Augen blickte, wunderte sie das nicht.
Als sie in der Glastür sah, was sie an diesem Morgen trug, verkrampfte sich etwas in ihrem Magen. Ganz entfernt drang der Gedanke, dass sie am vergangenen Abend eindeutig zuviel getrunken hatte, in ihr Bewusstsein durch, doch er streifte sie nur und verschwand schnell wieder im dunklen Nichts ihres Verstandes, der gegenwärtig allein auf Vergangenes konzentriert war.
Diese schlichte, weiße Bluse mit den kurzen Puffärmeln hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Bitterkeit stieg in ihr auf. Er hatte an diesem Tag – der Tag, der der letzte sein würde, an dem sie diese Bluse trug – keinen einzigen Gedanken an sie verschwendet. Hatte keinen Moment nachgedacht, was er ihr antun würde.
Der Teil in ihr, der sich erinnerte und nicht bloß träumte, schien beschlossen zu haben, dass es jetzt reichte. Mit einem Mal verschwanden ihr Spiegelbild in der Glastür, das Schulgebäude, die anderen Schüler. Der Ruf der Schwarzkopfmeise, die all die Jahre ihrer Schulzeit gut versteckt in dem Rotahorn gehockt und Schüler begrüßt, verabschiedet, verhöhnt und erheitert hatte, wurde immer leiser, bis er gar nicht mehr zu hören war. Dafür hörte Mary nun das vertraute Ticken ihres Weckers, der zum Glück noch keine Anstalten machte, sie aus dem Bett zu scheuchen. Als sie die schweren Augenlider aufschlug, sah sie ihr Schlafzimmer. Die traumhaften Erinnerungsbilder waren verschwunden. Die Gedanken an ihn blieben. So wie jeden Tag.
Wie ich bereits sagte, ich bin kein böser, aber auch kein guter Mensch. Wenn man alles um sich herum lediglich auf sich selbst bezieht, jede Handlung, jeden Austausch stets danach bewertet, wie es um den Selbstzweck bestellt ist, dann darf man sich wohl nicht wundern, wenn man wie ich so … uneingebunden ins gemeine Leben ist. Einen Sitz im Leben, wie man so schön sagt, habe ich nicht. Hatte ich nie. Das hat mich auch nie überrascht, ganz im Gegenteil. Meine Haltung entsprach eher einer nüchternen Zurkenntnisnahme. Man ist schließlich, wer man ist. Und solange man selbst damit zufrieden ist, wird man auch so bleiben.
Und genau da liegt das Problem. Ich will nicht so bleiben. Meinen Sitz im Leben finden, einen Sinn in der Gemeinschaft erfüllen, ja, meinetwegen. Ich frage mich, ganz simpel ausgedrückt, was ich hier Großes zu leisten habe. Dass ich mir so eine Frage überhaupt stelle, liegt wahrscheinlich gerade darin begründet, dass ich es nicht tue, weil ich mich offenbar nur in meinem Universum bewege, dessen Zentrum ich paradoxerweise gleichzeitig bin. Entweder, nur ich habe etwas von meinem Handeln, oder anders herum. Zu letzterem bin ich nämlich theoretisch durchaus fähig, nur vermeide ich, es zu tun. Ganz einfach, weil ich nichts davon habe. Besser kann ich es Ihnen nicht beschreiben, ziehen Sie einfach Ihre Phantasie zurate, das gehört dazu.
Vielleicht kann ich Ihnen mit einem kleinen Beispiel helfen. Nach der Schule und einem sonderbaren Intermezzo an einer Universität – für das sie extra von zu Hause weggezogen ist –, wurde meine Schwester als purer Überzeugung Altenpflegerin. Weder der Vater noch ich hatten eine rechte Ahnung davon, wie sie plötzlich auf diese Idee kam, aber sie ließ uns in einem Brief wissen, dass sie felsenfest davon überzeugt sei, einen Job machen zu wollen, bei dem es in erster Linie nicht um sie selbst, sondern um andere gehe. Einen Job, bei dem nicht die eigenen Interessen, die Karriere oder sonstiges im Vordergrund standen. Das sagte sie. Ich, als ihr kleiner, egozentrischer Bruder, denke mir, dass ich ähnlich argumentiert hätte, wenn ich ein riesen Aufhebens um meine zukünftige akademische Laufbahn gemacht hätte, nur um dann relativ schnell festzustellen, dass ich a) nicht mal halb so schlau bin, wie ich immer dachte, und b) nicht mal annähernd genug Ehrgeiz besitze, die mangelnde Hirnaktivität durch harte Arbeit auszugleichen. Aber wie gesagt, das wäre mein Verhaltensmuster gewesen. Wie lange meine Schwester den Job tatsächlich durchgehalten hat – oder ob sie vielleicht sogar noch immer mit Gesundheitsschuhen über quietschenden Linoleumboden schreitet und Bettpfannen ausleert –, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe seit einer Nachricht, die sie kurz nach ihrem Dienstantritt geschrieben hat und in der sie uns mitteilte, wie sehr sie diese Tätigkeit erfülle, nie wieder etwas von ihr gehört.
Ich habe den Faden verloren, verzeihen Sie. Wo war ich stehengeblieben? Richtig. Meine Schwester, der Samariter. Das hat mich geprägt, auch wenn es mich sehr geschmerzt hat, dass sie sich so mir nichts, dir nichts aus dem Staub gemacht hat. Irgendwie habe ich ihr wohl immer nachgeeifert, auf meine sehr eigene Weise, versteht sich. Ich will schließlich etwas an meinem Seifenblasendasein ändern, und der Grund dafür ist ganz einfach und für Sie, als normalen Menschen, vermutlich mehr als nachvollziehbar: Ich alleine, meine kleine Welt, das alles gibt mir nicht genug. Es füllt mich nicht aus. Ich suche etwas, das vermag, mir etwas Sinnvolles zu tun zu geben, etwas, das mich aus meiner kleinen, aber widerstandsfähigen Luftblase befreit. Noch habe ich meinen Weg nicht gefunden. Noch nicht.
Ich war sehr aktiv in dieser Hinsicht, das können Sie mir glauben. Und genau da kommen wir zurück zum Thema Sucht. Stellen Sie sich einmal die Frage, was eine Sucht eigentlich ausmacht. Im Grunde ist es doch das nahezu unbeherrschbare Verlangen, einen ganz konkreten Zustand der befriedigenden Stimulation zu erreichen. Aber wissen Sie was? Eine Sucht zeigt einem auch ein knallhartes, wenngleich auf die Extreme reduziertes Bild der Realität – größte Zufriedenheit und rauschhafte Glücksgefühle auf der einen, tiefste Depression und schmerzvolle Ernüchterung auf der anderen Seite. Rausch und Entzug, Leben und Tod – gewissermaßen eine synthetisch erzeugte bipolare Störung, denn nichts anderes ist unser Leben doch.
Eine Sucht ist ein Geben und Nehmen. Man bedient sich eines Suchtmittels, um sich von ihm eine wie auch immer geartete Erfüllung geben zu lassen. Hierbei muss man sicherlich Abstufungen machen, vor allem auch hinsichtlich meiner Vermutung, dass mir doch manche unaufgeschlossene Leser ansonsten vorwurfsvoll die Intention unterjubeln könnten, ich verherrliche Drogen und animiere zu deren Konsum. Falsch. Auch wenn ich bereits eine ganze Bandbreite an Suchtmitteln ausprobiert habe, gibt es doch einen wesentlichen Unterschied zwischen … sagen wir zwischen Alkohol und Sport. Sie selbst kennen den Unterschied. Ich habe ihn kennengelernt, ohne dass es bei mir jemals zu einer Sucht gereicht hätte. – Simpel ausgedrückt: Destruktive Suchtmittel auf der einen Seite, effektive auf der anderen. Und zwar auf lange Sicht hin gesehen, denn effektiv sind sie doch alle, sofern es nur um die oben genannte Erfüllung geht. Mir ging es nicht darum, auch wenn ich das erst lernen musste. Die Suche nach einem effektiven Suchtmittel ist in den letzten Jahren meines Lebens gewissermaßen zu meinem zentralen Motivator geworden, in allem, was ich in dieser Zeit angestrebt habe, und sie ist es noch jetzt. Alles, was ich seitdem getan habe, richtete sich auf diesen Endzweck, auf das Auffinden dieses einen Mittels, das dazu in der Lage sein könnte, selbst mir zur Sucht zu werden. Zu einer effektiven, produktiven Sucht.
Wahrscheinlich werden Sie jetzt denken: Es ist nur logisch, wenn einer, der nur auf sich bezogen in der Welt umherstreift, unfähig dazu, sich selbst an etwas Äußeres so zu binden, dass es ihn bindet, unempfänglich für eine Sucht ist. Aber vielleicht fragen Sie sich auch eher Folgendes: Wie kann man überhaupt unempfänglich für eine Sucht sein? Ist doch gerade das Gefährliche an einer Sucht, dass man mehr oder weniger unwillentlich in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis fällt, das in schlimmen Fällen wenn nicht tödliche, dann zumindest andere schlimme Konsequenzen nach sich zieht.
Ich selbst kann den Grund hierfür nur vermuten, wenn sich auch diese Vermutung auf eine große bis sehr große Wahrscheinlichkeit stützt. Das Entscheidende sind Gefühle: Suchtmittel helfen dabei, sich gut zu fühlen. Effektive Suchtmittel helfen sogar dabei, sich gut zu fühlen und damit etwas Gutes – für sich selbst, für andere, für das Allgemeinwohl, für wen oder was auch immer – zu bewirken. Und jetzt folgt natürlich das große Aber: ABER warum bedarf es dabei denn einer Sucht?
Sehen Sie, gerade das ist der Punkt, wenn Sie sich auch möglicherweise bereits damit abgefunden haben, dass ich selbigen niemals erreichen werde. Um so zu handeln, um Gutes oder Produktives durch eine mich erfüllende Handlung für jemand anderen zu tun – um etwas zu tun, was mich auf den erwähnten obersten Punkt der Richterskala schießt und gleichzeitig einen Mehrwert für meine Umwelt darstellt … um so etwas tun zu können, dass sich so gut anfühlt, dass ich mich ohne diese Sache weniger wie ich selbst fühle, brauche ich ein Suchtmittel. Sie können jetzt ihren Kopf schütteln, Sie können zustimmend nickend, Sie können sich meinetwegen gänzlich unbeteiligt am Hintern kratzen – aber wenn Sie mir folgen wollen, sollten Sie diesen Sachverhalt ganz einfach akzeptieren. An meinen Ausführungen gibt es nichts zu bemängeln, gibt es auch nichts zu loben, weil das ganz einfach Ich bin. Ich tue das nicht, um Sie mit meiner Person zu unterhalten. Ich will Ihnen weder gefallen noch missfallen, Sie sollen mich einfach nur zur Kenntnis nehmen. Den Grund erfahren Sie noch.
Dieses Thema ist für mich selbst ebenso komplex wie für Sie, ich muss mich in meinen eigenen Gedanken, die teilweise auch mir neu sind, zurechtfinden.
Gefühle sind bei der ganzen Sache unbedingt das Entscheidende. Sie sind der Motor. Nur wenn ich selbst erfüllt bin, wenn ich mich gut fühle, dann kann ich mich auch um die anderen kümmern. So sieht’s aus. Das macht mich nicht zu einem pathologischen Fall, vielleicht aber zu einem speziellen.
Dieser Exkurs, so ermüdend er auch für Sie gewesen sein mag, war doch notwendig. Hatte ich Sie nicht vorgewarnt, dass derartige Dehnungen auf Sie zukämen? Sie sind unvermeidbar, denn ich schreibe alles so, wie es mir in den Sinn kommt, anders geht es nicht. Außerdem – verhält es nicht ebenso mit dem alltäglichen Leben? Das Warten auf den Fahrstuhl kann uns wie eine Ewigkeit vorkommen, bei guter Unterhaltung dagegen verfliegt die Zeit.
Aber ich will Sie nicht länger langweilen. Lassen wir also nun für den Moment die Dehnungen beiseite und durchschreiten wir zentrale Stationen meines Lebens im Zeitraffer.
Das Haus der Walters hatte eine ideale Lage. Als letztes Haus am Ende einer langen, geschwungenen Sackgasse, grenzte es nach hinten direkt an ein kleines Waldgebiet an, dessen dichter Baumbestand niemanden zu abendlichen Spaziergängen einlud. Unmittelbare Nachbarn hatten die Walters ebenfalls nicht, zumindest niemanden in Sichtweite. In Hörweite zwar, aber was das anging, ließen sich gewisse Sicherheitsmaßnahmen ergreifen.
Die Tür war nicht abgeschlossen, aber er hatte sowieso nicht vorgehabt, zu klingeln. Die Sonne war bereits untergegangen und in den wenigsten Häusern brannte Licht.
Er durchschritt den Eingangsbereich. Er kannte das Haus, kannte jeden Raum und jede Ecke. Auf das dezente Flurlicht, das Walter angeschaltet hatte, war er nicht angewiesen.
Walter war oben in seinem Arbeitszimmer. Er hörte den Eindringling in seinem Haus nicht, der sich ihm mucksmäuschenstill näherte. Er war mit voller Konzentration in das vertieft, was vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
Dann fuhr er leise japsend herum. Er hatte keine Ahnung, wie lange der Kerl schon in der Tür stand, und das war auch egal. Wichtig war nur, dass da ein Kerl in seinem Haus stand. Seine Hoden zogen sich zu steinharten Murmeln zusammen, während er versuchte, den Eindringling und die von ihm ausgehende Gefahr abzuschätzen. Doch irgendetwas tief in seinem Inneren verriet ihm, dass der Kerl ihn nicht ausrauben und zum Dank dafür noch etwas vermöbeln wollte. Vielleicht war es aber auch die Art und Weise, wie er da stand – ganz ruhig, beherrscht und, was ihn am meisten beunruhigte, ohne Maske –, die Philip Walter leise wimmern ließ.
«Wer …», setzte er an, als er den Mann plötzlich erkannte. Er hatte diesem Typen ein Grundstück verkauft. Es war schon länger her, aber dieses Gesicht war unverkennbar. Der Name lag ihm auf der Zunge, doch er konnte nicht klar denken. Als Walter bewusst wurde, in welcher Situation sein ehemaliger Kunde ihn hier überrascht hatte, stieg ängstlicher Zorn in ihm hoch. «Was zur Hölle tun Sie hier?», wollte er wissen.
Der Mann blieb gelassen im Türrahmen stehen und blickte ruhig auf das zusammengesunkene, dickleibige Häufchen am Schreibtisch. Er sagte nichts.