Mörderische Aussichten: Thriller & Krimi bei Knaur #5 - Vincent Kliesch - kostenlos E-Book

Mörderische Aussichten: Thriller & Krimi bei Knaur #5 E-Book

Vincent Kliesch

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Beschreibung

Sie lieben Nervenkitzel und Spannung? Das schön-schaurige Gefühl, das Ihnen den Rücken hinabläuft, wenn Sie von Gewalt, Psychoterror oder Mordfällen lesen? Sie möchten wissen, wie es nach dem Bestseller »AURIS« von Vincent Kliesch und Sebastian Fitzek um den forensischen Phonetiker Hegel weitergeht? Mordfälle, die auf wahren Begebenheiten beruhen, faszinieren Sie? Dann wird Sie der neue True-Crime-Thriller von Michael Tsokos fesseln! Es darf nicht nur blutig und spannend, sondern auch mal lustig sein? Wie wäre es dann mit einem humorvollen Krimi wie »Der Mathelehrer und der Tod« von Marc Hofmann? Diese und weitere Geschichten finden Sie den Mörderischen Aussichten – Nervenkitzel garantiert! Das kostenlose eBook enthält Leseproben zu: - Kliesch/Fitzek, »Die Frequenz des Todes« - Michael Tsokos, »Abgefackelt« - Sonja Rüther, »Der Bodyguard« - Marc Hofmann, »Der Mathelehrer und der Tod« - Katja Bohnet, »Fallen und Sterben« - Toby Faber, »869 – die einzige Zeugin« - Mathias Berg, »Der Preis der Rache« - Emma Rowley, »Ein gutes Mädchen« - Max Bronski, »Der Jaguar« - Alexander McCall Smith, »Das Dezernat für heikle Fälle« - Veit Etzold, »Blutgott« - Alexander Oetker, »Zara und Zoë - Tödliche Zwillinge«

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Seitenzahl: 449

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Vincent Kliesch / Sebastian Fitzek / Michael Tsokos / Sonja Rüther / Marc Hofmann / Katja Bohnet / Toby Faber / Mathias Berg / Emma Rowley / Max Bronski / Alexander McCall Smith

Mörderische Aussichten: Thriller & Krimi bei Knaur

Ausgewählte Leseproben von Kliesch/Fitzek, Michael Tsokos, Katja Bohnet, Sonja Rüther uvm.

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

VorwortKliesch/Fitzek – Die Frequenz des Todes. AURIS 2.Tsokos – AbgefackeltRüther – Der BodyguardHofmann – Der Mathelehrer und der TodBohnet – Fallen und sterbenFaber – 869 – die einzige ZeuginBerg – Der Preis der RacheRowley – Ein gutes MädchenBronski – JaguarMcCall Smith – Das Dezernat für heikle FälleVeit Etzold – BlutgottAlexander Oetker – Zara & Zoë
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Vorwort

Mörderische Aussichten bei Knaur!

Liebe Leserinnen und Leser,

 

unser Frühjahrsprogramm 2020 steht schon in den Startlöchern – bereit, Ihnen einen schönen Schauer über den Rücken zu jagen. Um die Vorfreude (und Spannung!) auf die Neuerscheinungen maximal zu steigern, freuen wir uns sehr, Ihnen wieder eine Auswahl an exklusiven Vorab-Leseproben unserer Top-Krimi-&-Thriller-Neuheiten im digitalen Sampler zu präsentieren: blutige Thriller, verführerische Romantic Suspense oder knifflige Fälle mit hohem Rätselfaktor – gemordet wird diesmal an Tatorten wie diesen:

London. Rushhour. Laurie Bateman wird Zeugin, wie ein älterer Herr direkt vor die einfahrende U-Bahn stürzt. Ein Unfall? Oder wurde er gestoßen? Laurie erinnert sich daran, einen seltsamen Schlüssel in der Hand des Mannes gesehen zu haben. Könnte dieser noch im Gleisbett liegen? Sie fühlt sich verpflichtet, nachzusehen, und findet heraus, dass man die Gleise nachts gefahrlos betreten kann, bevor das System wieder hochgefahren wird. Toby Faber bietet mit »869 – die einzige Zeugin« rasanten Thrill aus dem Londoner Underground. Nicht verpassen!

Attentat am Alexanderplatz! Actionreich und »stets am Rande der Selbstaufgabe« (Stern) tauchen Rosa Lopez und Viktor Saizew vom LKA Berlin in Katja Bohnets neuem Thriller »Fallen und Sterben« in menschliche Abgründe und die düsteren Seiten der Hauptstadt ein. Bei den Ermittlungen kommt Rosa Lopez, die vom LKA Berlin mit den Ermittlungen beauftragt wird, dem Täter bedrohlich nahe. Bis sie selbst zur Zielscheibe wird …

Nach dem Bestseller »AURIS« wartet das Autorenduo Vincent Kliesch und Sebastian Fitzek mit einer Fortsetzung der spannenden Reihe um den forensischen Star-Phonetiker Matthias Hegel auf. Denn wenn jemand aus panischen Notrufen einer Mutter Rückschlüsse ziehen kann, dann gelingt das ihm! Erneut schafft Hegel es, die True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge für sich einzuspannen, die sich von ihm endlich Aufschlüsse über ihren verschwundenen Bruder Moritz verspricht. Doch dies bringt die junge Frau in tödliche Gefahr …

Heiß her geht es auch in der actiongeladenen Romantic Suspense aus Deutschland: Die Autorin Sonja Rüther schildert in »Der Bodyguard« den Fall einer jungen Frau, Lynn, die mitten in Hamburg entführt wird. Als Tochter des schwerreichen Wirtschaftsmagneten Peter van Holland führte sie bislang ein sorgenfreies Leben. Von der tödlichen Schuld, die van Holland vor zwanzig Jahren auf sich geladen hat, nichts ahnend, kann nur noch Lynns Bodyguard verhindern, dass die Tochter für die Sünden des Vaters bezahlen muss – wenn ihm da seine Gefühle nicht im Wege stehen …

All denjenigen unter Ihnen, die es auch mal heiter und komisch mögen, legen wir Marc Hofmanns Lehrer-Krimi ans Herz. Der Autor und Kabarettist Marc Hofmann liefert mit »Der Mathelehrer und der Tod« einen Reihenauftakt um einen Gymnasiallehrer namens Gregor Horvath.

Der Hercule-Poirot-Fan Horvath wittert Ungereimtheiten, als er eines Morgens auf dem Schulhof beinahe über die Leiche des Mathelehrers Michael Menzel stolpert. Zusammen mit seiner Deutschklasse beginnt Horvath zu ermitteln – und es gibt zahlreiche Verdächtige: Lehrer, Schüler, Eltern …

Diese und weitere spannende Fälle von den Erfolgsautoren Michael Tsokos, Alexander McCall Smith, Emma Rowley, Mathias Berg sowie dem diesjährigen Glauser-Preisträger Max Bronski finden Sie unter den insgesamt elf exklusiven Vorab-Leseproben zu den Spannungstiteln des Knaur-Verlages, die im Frühjahr 2020 erscheinen werden.

 

Nervenkitzel garantiert!

 

Ihr Knaur-Team

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Vincent Kliesch/Sebastian Fitzek

Die Frequenz des Todes. AURIS 2.

Thriller. Nach einer Idee von Sebastian Fitzek
erscheint am 04.05.2020
Kapitel 1
Cecile

Von allen Geräuschen, die es vermögen, das Grauen anzukündigen, vernahm Cecile Dorm das vermutlich schlimmste. Doch es war kein heftiges Pochen an der Wohnungstür, mitten in der Nacht. So wie letztens, als der Nachbar von schräg gegenüber im Pyjama vor ihrer Haustür gestanden hatte. Friedmann, der sonst nicht einmal grüßte, vermutlich, weil er sich für etwas Besseres hielt, hier in der Villengegend in Westend … die uns eigentlich eine Nummer zu groß ist, Schatz. Findest du nicht?

Aber ihr Mann Jonathan mochte es, war hier groß geworden, wenn auch in einem Mietshaus ohne Garten. So gesehen, hatten sie es nun in dem renovierungsbedürftigen, aber großzügigen Anwesen besser. Auch wenn es einsamer war als in ihrem Heimatdorf in Mahlow, wo Cecile früher nie schräg angeguckt worden war, wenn sie mal eilig im Jogginganzug, ungeschminkt und mit einem hastig gebundenen Verlegenheitszopf das Frühstück holte.

»Ist das nicht die Tante vom Jugendamt? Die Frau vom Nervenarzt? Der holt sich seine Irren nach Hause, heißt es. Ja, er hat jetzt sogar die Praxis vom Dachboden in den Keller verlegt. Ob er in der Klinik rausgeflogen ist? Und das Haus! Nicht mal einen Anstrich können die sich leisten.«

Das hatte ihr Friedmann, der sich seit seiner Pensionierung zu so etwas wie einem selbst ernannten Nachbarschaftssheriff aufgeschwungen hatte, sogar einmal direkt ins Gesicht gesagt: »Eine Schande, wie Sie die alte Villa verkommen lassen.«

Damals jedoch, als er sie aus dem Schlaf gerissen hatte, war ihm die bröckelige Fassade auf einmal nicht mehr so wichtig gewesen. Barfuß und mit einem Telefon in der Hand, das aus irgendeinem Grund nicht funktionierte, stand er vor ihnen, mit wirrem Haar und trockenem Mund.

»Sie sind doch Arzt«, hatte er flehend zu Jonathan gesagt. »Bitte, mein Enkel erstickt!«

Der Vierjährige, den die Friedmanns für ihre Tochter babysitteten, hatte einen Pseudokrupp-Anfall gehabt. Cecile wickelte den Kleinen einfach in eine Decke und trug ihn nach draußen. Sein spastischer Hustenkrampf hatte sich schnell wieder gelöst.

Jetzt hingegen war es kein ersticktes Röcheln, das Ceciles Herz dazu brachte, ihr gegen die Rippen zu schlagen wie ein Basketball aufs Turnhallenlinoleum. Auch kein Hupen, gefolgt von quietschenden Autoreifen, das sich rasend schnell auf sie zubewegte. Weder das Bersten von Fensterglas im Wohnzimmer, während sie nachts im Bett lag, noch das helle Knacken eines Knochens beim Aufprall nach einem Sturz. Das Geräusch, das sie so sehr ängstigte, war noch weit schlimmer als all das. Es kam direkt aus der Wiege zu ihr, in die sie die kleine Selma zum Schlafen gelegt hatte. Das Geräusch, das aus Selmas Wiege drang, war Stille. Nichts als absolute, erbarmungslose Stille.

Cecile war von genau dieser beängstigenden Ruhe geweckt worden. Nur für einen kurzen Moment hatte ihre Erschöpfung die Oberhand gewonnen über das Beschützertier, das seit Neuestem in ihr wohnte. Die Bärenmama, die ihr Junges nicht für einen Augenblick aus den Augen lassen wollte, hatte versagt und war mit der Milchpumpe in der Hand auf dem Sofa eingeschlafen. Und das lag nicht einmal daran, dass Nachtruhe und Durchschlafen seit nunmehr sechs Wochen nicht mehr als entfernte Erinnerungen für sie waren. Gestern war sie viermal aufgestanden, alle zwei Stunden, und hatte die Flasche machen müssen, weil das wenige, das aus ihren Brüsten in die Pumpe tropfte, nicht einmal ein Mäusebaby hätte satt machen können.

Einmal hatte Jonathan angeboten, ihr zu helfen, hatte mit schläfriger Hand und geschlossenen Augen müde nach ihr getastet, doch sie hatte abgewunken. Er brauchte seinen Schlaf für die Patienten. Musste ausgeruht sein, durfte keine Fehler machen. Gerade jetzt, da er sich endlich – nach über einem Jahrzehnt als Arzt und Psychotherapeut in verschiedenen Berliner Kliniken – mit einer eigenen Praxis selbstständig gemacht hatte. Die Depressions-, Essstörungs- und Panikpatienten, die ihn hier zu Hause aufsuchten, hätten sicher kein Verständnis dafür, wenn er es Cecile gleichtat und während einer der Therapiesitzungen gedankenverloren einschlief.

Wobei es aber gar nicht das Baby gewesen war, das Cecile gedanklich nachgegangen war, sondern das Telefonat mit ihrer Mutter.

»Jonathan hat sich verändert, seit Selma da ist. Irgendwie habe ich das Gefühl, er ist eifersüchtig auf die Kleine.«

»Das bildest du dir ein, Schatz.« Ceciles Mutter hatte warm und vertrauenserweckend geklungen. »Er liebt eure Kleine genauso sehr wie du.«

»Wahrscheinlich hast du recht. Ich sehe Gespenster.«

»Wann bekomme ich meine Enkeltochter denn endlich mal zu sehen? Du enthältst sie mir schon seit Wochen vor.«

»Bald, Mama. Ganz bald!«

»Das will ich aber auch schwer hoffen! Ich habe euch beide seit eurer Hochzeit nicht mehr gesehen.«

Die Hochzeit! Was für ein wunderschöner Tag das gewesen war. Mindestens genauso schön wie der Moment, als Jonathan ihr den Antrag gemacht hatte. Er hatte so unglaublich aufrichtig geklungen, als er nach dem Besuch im Theater des Westens in dem kleinen Restaurant an der Hardenbergstraße ihre Hand ergriffen hatte. Als er sie angesehen hatte, wie er es nur dann tat, wenn er etwas wirklich Bedeutsames zu verkünden hatte. Mit diesem ganz speziellen Funkeln in seinen grünen Augen, das Cecile immer nur dann an ihm bemerkte, wenn er mit ihr sprach.

»Könntest du dir vorstellen, einen Mann zu heiraten, der zwanzig Jahre älter ist als du, der seltsame Hobbys hat, jeden Tag mit psychisch Kranken arbeitet und der morgens nach dem Aufwachen immer erst mal mürrisch ist und aussieht wie ein Kobold?«

Cecile hatte gelacht, aber nicht wegen Jonathans selbstironischer Scherze. Immerhin war es auch ein solcher Scherz gewesen, mit dem er sie das erste Mal zu einem Rendezvous eingeladen hatte. »Würden Sie mit mir essen gehen, solange ich die Gabel noch selbst zum Mund führen kann?«, hatte er sie gefragt, nachdem sie ihn überraschend auf der Geriatriestation besucht hatte. Eine Schwester reichte dort gerade fürsorglich einer alten Dame das Essen an, und Cecile und Jonathan hatten ihr für einen Augenblick dabei zugesehen.

»Nur, wenn ich Ihnen danach nicht den Rücken mit Franzbranntwein einreiben muss«, hatte Cecile geantwortet und damit ihre Beziehung nach wochenlangem Austausch von E-Mails und WhatsApp-Nachrichten auf eine neue Ebene gehoben.

Nein, Cecile hatte aus Verlegenheit über den Heiratsantrag gelacht. Aus Verlegenheit darüber, dass sie nicht sicher war, was sie Jonathan antworten sollte. Sie hatte keine Zweifel daran, dass es absolut richtig für sie wäre, ihn zu heiraten. Das Beste, was ihr jemals passieren könnte. Woran sie zweifelte, war, ob es auch das Beste für ihn sein würde, sie zur Frau zu nehmen. Eine kleine, dürre Inspektorin vom Jugendamt mit Helfersyndrom und platten Brüsten, die gern Telenovelas sah, im Konzert an den falschen Stellen klatschte und mit ihrer Abstammung vom brandenburgischen Dorf auch sonst nicht eben von dem Kaliber war, das ein Doktor Jonathan Dorm aus dem feudalen Westend an seiner Seite erwarten durfte.

»Wir werden uns wiedersehen, Mama. Ganz bald!«

Cecile freute sich, dass ihre Mutter Jonathan an ihrer Seite akzeptierte. Was hätten wohl andere Mütter zu ihren Töchtern gesagt? Er ist zu alt für dich, als Psychologe ist der doch garantiert selbst verrückt, wenn der sich eine andere sucht, dann sitzt du mit dem Kind auf der Straße. Doch so war Ceciles Mutter nie gewesen. Im Gegenteil, es hatte nichts Gutes gegeben, das sie ihrem einzigen Kind nicht gegönnt hätte. Und dann hatte ihre Tochter diese wahrhaft gute Partie gemacht, denn wenn Jonathan auch nicht reich war, so vermochte er ihr doch immerhin ein Leben in bürgerlichem Wohlstand zu ermöglichen. Einem Wohlstand, den ihre Mutter nie erlebt hatte und den sie ihrer kleinen Cecile schon allein deswegen umso mehr und von ganzem Herzen gönnte.

Es war unerträgliche Stille, die sich einen Weg aus Selmas Wiege zu Cecile bahnte.

Hat Jonathan sie vielleicht woanders hingebracht? Cecile wagte es nicht, sich dem Babybett zu nähern. Wie versteinert blieb sie auf der Türschwelle stehen, die das Kinderzimmer vom Schlafraum trennte. Die Tür war seit Selmas Ankunft niemals geschlossen gewesen, noch niemals hatte die Kleine ein Geräusch von sich gegeben, das Cecile nicht mitbekommen hätte. Warum sollte Jonathan sie aus der Wiege nehmen? Und warum sollte ich das nicht merken?

Als läge ein böser Fluch über dem Kinderzimmer, verweilte Cecile noch immer auf der Schwelle, während ihr Puls sich mit jedem Schlag ihres Herzens beschleunigte. Das liebevoll eingerichtete Zimmer mit den lustigen Clownsbildern an der Wand, den Kuscheltieren auf den Möbeln und dem sanften Rosenduft erschien Cecile mit einem Mal so düster und unheimlich wie ein Grabgewölbe. In ihrem hellblauen Trainingsanzug stand sie mit zittrigen Knien da und hoffte entgegen aller Vernunft, dass sie sich nur in einem bösen Traum befand.

Es war erst wenige Wochen her, dass Cecile mit der kleinen Selma nach Hause gekommen war. Ein kerngesundes Mädchen, das jedem, der es zu Gesicht bekam, unweigerlich ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Auch wenn es nicht viele Menschen waren, die das Kind bislang zu sehen bekommen hatten. Cecile und Jonathan hatten Selma noch nicht herumgezeigt, wie andere Eltern es getan hätten. Sie hatten keine Fotocollagen immergleicher Babybilder auf sozialen Netzwerken veröffentlicht, keine Karten an den erweiterten Bekanntenkreis verschickt, die mit einem niedlichen Foto von Selma, erwartbaren Körpermaßen und einem Spruch wie Hier bin ich! bedruckt waren. Und das, obwohl Cecile es eigentlich in die ganze Welt hatte hinausschreien wollen. Seht sie euch an, das ist Selma, das wundervollste Kind auf dem Planeten! Kerngesund, bildschön, ein wahrer Engel!

Doch Jonathan war es mit seiner einfühlsamen Art gelungen, sie davon abzuhalten. Die Geburt war sehr schwer und belastend für euch beide, Schatz. Lass es uns noch nicht an die große Glocke hängen, ihr braucht jetzt erst mal Ruhe. Wenn unsere Familien und Freunde alle ankommen, dann setzen wir Selma nicht nur Stress aus, sondern auch der Gefahr von Infektionen. Ich weiß, du denkst jetzt, dass da der überängstliche Mediziner aus mir spricht. Der in seinem Beruf zu viele schlimme Dinge erlebt hat und jetzt bei seinem eigenen Kind auf Nummer sicher gehen will. Aber wir sollten auf keinen Fall irgendwas riskieren! Lass Selma erst noch ein oder zwei Wochen unser Geheimnis sein. Und dann gibt es eine große Überraschung für alle!

Doch jetzt war es still in der Wiege.

Vielleicht schläft sie nur ganz ruhig? Vorsichtig setzte Cecile den rechten Fuß ins Kinderzimmer. Aber es gibt doch immer ein Geräusch, auch wenn sie schläft! Sie atmet, oder es raschelt. Irgendwas höre ich doch immer. Sie biss die Zähne zusammen und presste sich die Hände auf den Mund. So, als ziehe eine magische Kraft sie an, während ihre Angst versuchte, sie zurückzuhalten, setzte Cecile den zweiten Fuß auf den flauschigen Teppich, der in dem zarten Grün gehalten war, das sie so liebte. Sie atmete flach, und für einen Moment fuhr ihr Blick wirr durchs Zimmer. Über die Poster mit den Bären, Feuersalamandern und Hundewelpen, um sich dann an den wiederkehrenden Mustern auf der lustigen Kindertapete festzuhalten, als habe sie die Orientierung verloren. Also gut. Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht und atmete tief durch. Ich werde jetzt in diese Wiege sehen. Ein letztes Mal schien ihre Angst sie zurückhalten zu wollen, doch schließlich war es die Sorge um ihr Baby, die Cecile mit kleinen, gleichmäßigen Schritten vorangehen ließ. Als sie kurz davor war, in das Babybett hineinsehen zu können, schloss Cecile die Augen. Sie tastete sich die letzten Schritte vor und hielt inne. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, atmete tief durch – und öffnete die Augen wieder.

Kapitel 2
Jonathan

»Wann bescheinigen Sie mir denn endlich meine Diensttauglichkeit und beenden diesen Mist hier?«

Jonathan Dorm antwortete nicht sofort darauf, und das nicht nur, weil dieser große, viel zu muskulöse Kerl mit den kurz geschorenen Haaren und dem Stoppelbart einfach nicht davon ablassen wollte, sich gegen seine Traumatherapie zur Wehr zu setzen. Es hatte fast einen Monat gedauert, bevor er überhaupt kooperiert hatte, und selbst jetzt, da er kurz vor der entscheidenden Beurteilung stand, hatte er offenbar noch immer kein volles Vertrauen in seinen Therapeuten gefasst. Schon wieder eines dieser armen Schweine, die in ihrem inneren Gefängnis hocken und lieber darin verrecken, als sich einzugestehen, dass sie nicht perfekt sein können.

   Jonathan war nicht Psychotherapeut geworden, weil er, wie viele seiner Kommilitonen, von den Lehren Sigmund Freuds wahlweise begeistert oder gegen sie eingenommen war. Auch nicht, weil ihm diese Wissenschaft gleichermaßen Macht und Verantwortung über die Menschen verlieh, die sich ihm anvertrauten. Er hatte seinen Beruf erlernt, weil er die Menschen liebte. Und weil es ihm Unbehagen bereitete, wenn er erkannte, dass jemand aufgrund eines Traumas oder einer unglücklichen Entwicklung in seinem Leben daran gehindert war, die Zeit, die er auf der Erde hatte, genießen zu können. Ein großer Anspruch, ich weiß, hatte er seinem Professor bereits im zweiten Semester erklärt. Aber würden Sie einen Therapeuten wollen, der nur seine Quartalsabrechnung im Sinn hat?

Der Professor hatte süffisant gelächelt und mit einer gewissen Ironie in der Stimme erwidert: Mit dieser Einstellung wird der weite Weg zu Ihrem eigenen Seelenheil Sie aber nicht reich machen. Dorm hatte nicht lange überlegen müssen, was er darauf antworten sollte: Das Seelenheil selbst ist der Reichtum! Und wenn ich mein eigenes nicht finde, dann will ich zumindest dafür kämpfen, dass es möglichst vielen anderen gelingt.

»Also gut, Justin, Sie fühlen sich immer noch schikaniert. Sie sehen die vergangenen Wochen als Zeitverschwendung an. Sehe ich das richtig?«

Dorm saß vorgebeugt in seinem Sessel. Hätte er sich entspannt zurückgelehnt, was ihm aufgrund der kurzen Nächte, die Selma ihm bereitete, eigentlich lieber gewesen wäre, hätte dies desinteressiert auf seinen Patienten wirken können. Auch die zerschlissene Jeans und den alten Wollpullover mit den abgenutzten Stellen am Ellbogen hätte er normalerweise nicht bei der Arbeit angezogen, doch Justin Hollstein entstammte einer ehrlichen Arbeiterfamilie und würde sich von einem zurechtgemachten Schnösel in frisch gebügeltem Hemd und Bundfaltenhose ganz sicher nichts sagen lassen. Schließlich war der bullige Polizist nicht freiwillig zu ihm gekommen, was üblicherweise die Grundvoraussetzung für eine Erfolg versprechende Psychotherapie war. Der zuständige Amtsarzt hatte dem Beamten die Sitzungen mit Dorm verordnet und zur Voraussetzung für seine Wiederaufnahme in den Polizeidienst gemacht. Umso mehr war sich Jonathan bewusst, dass jeder Blick, jede Geste, jedes Wort sich darauf auswirkte, ob sein Patient entschied, mit ihm zu kooperieren oder sich ihm zu verweigern.

»Ich habe diesen Typen nun mal erschossen, was soll ich denn jetzt noch machen? Ihn wieder aufstellen?«

Dorm hatte viele Polizisten wie Justin erlebt. Viele dieser testosterongeladenen, aufgepumpten Jungs aus den Plattenbauten, die zur Polizei gegangen waren, weil sie von ihrer jungenhaften Vorstellung fasziniert waren, frei zu sein und über den Gesetzen zu stehen, Macht auszuüben, zu schnell fahren und schießen zu dürfen. Sonderrechte zu haben und ihre Gegner vermöbeln zu können, wenn sie einen falsch angingen – und das auch noch vollkommen legal auf der richtigen Seite des Gesetzes. Auch Justin war eins dieser Alphatiere, die ihrer Frau und ihren Kindern am Abend voll Stolz davon berichten wollten, wie sie mit ihrer Einheit ein Waffenlager gestürmt, ausgehoben und wie viele Verbrecher sie dabei festgenommen hatten. Ein großer, bulliger Kerl, der im Grunde das Gute wollte, aber niemals wirklich verstanden hatte, was das Gute eigentlich war.

»Sie haben einen schizophrenen Mann erschossen, der zwei Frauen mit einer Machete abschlachten wollte.« Dorm fixierte seinen Patienten. »Und seitdem sehen Sie ihn jedes Mal vor sich, wenn Sie die Augen schließen. Wieder und wieder, er verfolgt Sie.«

»Herrgott noch mal, hätte ich Ihnen das bloß nicht erzählt!« Hollstein schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Warum denn? Weil so ein Trauma schon wieder weggeht, wenn man es bloß allen verschweigt? Oder weil ein Indianer keinen Schmerz kennt?«

»Was labern Sie da, Mann? Ich hab keinen Bock mehr auf diesen Scheiß hier, wir machen das schon ewig. Bescheinigen Sie mir einfach meine Diensttauglichkeit, wenn ich mit der Supervisionstante komme!« Justin erhob sich.

»Sie beenden die Sitzung?« Dorm lehnte sich jetzt doch zurück, aber nur, um der Aufbruchsbewegung seines Patienten etwas entgegenzusetzen. »Was würde Ihre Mutter Ihnen jetzt wohl raten? Gehen oder bleiben?«

»Meine Mutter würde nie im Leben zu einem Psychodoktor gehen. Schon gar nicht zu einem, der so was da spielt.« Justin Hollstein deutete auf das Schachbrett, das auf dem kleinen Glastisch in der hinteren Ecke des Raumes aufgebaut war.

»Was hat Ihre Mutter denn gegen Schach?«

»Sie hat was gegen Leute, die das Leben nicht kapieren! Glauben Sie etwa, so funktioniert die Welt da draußen? Ich einen Zug, du einen Zug? Schön fair, möge der Bessere gewinnen? Am Arsch!«

»Also, als ein großes Schachbrett, auf dem jeder Mensch erfolgreich sein kann, wenn er nur mit Klugheit und Bedacht die richtigen Züge macht, habe ich die Welt bisher noch gar nicht gesehen. Aber der Gedanke interessiert mich.«

»Was labern Sie, Mann? Wenn da so ein Penner mit seiner verschissenen Machete steht, dann wägst du nicht in aller Ruhe deinen nächsten Zug ab. Dann musst du reagieren, aber sofort! Auge um Auge, der oder ich, das ist keine bekackte Zielscheibe auf dem Schießstand!«

Dorm schloss kurz die Augen und kratzte sich am Kopf.

»Das Leben ist für Sie also keine Schachpartie, na gut. Was denken Sie, Justin, würden Sie die Welt eher als einen Boxring bezeichnen, in dem jeder auf jeden einprügelt und der Stärkste am Ende gewinnt?«

Hollstein lachte auf, und Dorm konnte nur erahnen, welche Erlebnisse aus seinem Berufsalltag in den Gettos von Berlin aus diesem bitterbösen Lachen klangen.

»Das kommt der Sache schon näher!«, sagte er und wollte sich zur Tür umdrehen.

»Also gut! Dann schlage ich Ihnen jetzt was vor.« Dorm stand auf und trat an den kleinen Holzschrank, auf dem er Wasser, Halsbonbons und Taschentücher für seine Patienten bereitstellte. »Wir tragen es einfach auf Ihre Weise aus.« Unter den verdutzten Blicken seines Patienten holte er zwei Paar abgenutzte Boxhandschuhe aus dem Schrank, von denen er eins Justin reichte.

»Was soll der Scheiß?«

»Nur ein kleines Sparring, Sie sind ja gut im Training.«

Dorm streifte sich sein Paar Boxhandschuhe über. Es war etwas zu klein für seine Hände, aber er hatte das größere Paar seinem Patienten geben müssen, dessen Pranken wahrhaft Ehrfurcht gebietend waren. »In drei Tagen steht ja endlich Ihr Termin mit Ihrem Supervisor an. Wir machen es so: Sie versuchen, meine Deckung zu treffen. Wenn Sie das drei Mal schaffen, erkläre ich Sie bei dem Treffen wieder für dienstfähig.«

Und da sind sie wieder.Die Fragezeichen in den Augen eines Hünen mit überbordenden Kräften, der jetzt, vollkommen mit der Situation überfordert, am liebsten in sein Kinderzimmer laufen und die Tür hinter sich zuknallen würde.

»Ich will Ihnen nicht wehtun!«

Justin Hollstein wirkte auf Dorm mit einem Mal wie ein Teenager, dem seine erste Freundin beim Besuch auf dem Rummelplatz vorschlug, Hau den Lukas zu spielen. Er hatte dabei nichts zu gewinnen. Würde er fest genug schlagen, dass die Glocke ertönte, hätte er nichts weiter erreicht, als die Erwartung seiner Freundin zu erfüllen. Aber wehe ihm, wenn etwas schiefginge. Wenn er danebenschlug oder – Gott bewahre! – seine Kräfte nicht so groß waren, wie er vermutete.

Immerhin, abgesehen von seiner beachtlichen Statur war Justin ein ausgebildeter Schutzpolizist mit guter Kondition und besten Kenntnissen im Nahkampf. Den sein blöder Seelenklempner von Ende vierzig allen Ernstes aufgefordert hat, gegen ihn zu boxen. Und das noch nicht einmal in einem Boxring, sondern in einer spartanisch eingerichteten psychotherapeutischen Praxis mit niedriger Decke und Laminatfußboden.

»Sie tun mir schon nicht weh.« Dorm hob seine Hände vor das Gesicht und begann, über den Boden zu tänzeln. »Immer auf die Deckung!«

Justin rührte sich noch immer nicht. Aus seinem Berufsalltag war er daran gewöhnt, von Schwächeren provoziert zu werden, und es war sein täglich Brot, sich darauf nicht einzulassen.

»Ist das echt Ihr Ernst?«

»Mein völliger Ernst! Drei Treffer, und Sie können nächste Woche wieder zum Dienst antreten. Los, machen Sie schon!«

Dorms Bewegungen verrieten seinem Patienten anscheinend, dass jener zumindest über gewisse Grundkenntnisse im Boxsport verfügte. Nach weiteren Sekunden des konsternierten Abwartens zog sich der Polizist schließlich seine Boxhandschuhe über und beugte sich leicht vor. Halbherzig und kraftlos schob er seine Rechte in Richtung des Therapeuten, doch Dorm wich dem Schlag mit derselben Leichtigkeit aus, mit der eine Katze wohl dem Hieb eines Faultiers entkommen wäre.

»Mehr haben Sie nicht drauf?«

Immer schneller und wendiger tänzelte Dorm um seinen Patienten herum, und allmählich schien diesen der Ehrgeiz zu packen. Sein zweiter Hieb kam bereits deutlich schneller und kräftiger daher, doch wieder wich Dorm ohne Schwierigkeiten aus.

»Kommen Sie schon, Sie wollen Ihr Trauma doch so gern mit sich allein ausmachen. Ohne einen blöden Psychoheini, der sowieso keine Ahnung hat, wie es da draußen wirklich zugeht. Ich verbessere mein Angebot: Ein Treffer auf meine Deckung reicht, und Sie bekommen Ihre Bescheinigung!« Damit ließ Dorm nun selbst seine Faust ansatzlos vorschnellen. Nur wenige Zentimeter vor Hollsteins Kinn bremste er den Schlag ab, der in einem echten Boxkampf ein Wirkungstreffer geworden wäre.

»Alter, echt jetzt?« Der Polizist hob seine Fäuste endlich mit voller Entschlossenheit und sah Dorm mit strengem Blick in die Augen.

»Dieser Kerl mit seiner Machete ist schuld daran, dass Sie jetzt immer wieder sein Bild sehen müssen, wenn Sie die Augen schließen. Los schon, stellen Sie sich vor, ich wäre dieser Kerl. Hauen Sie mich um!«

Justin Hollstein tänzelte auf einmal überraschend gekonnt um Dorm herum, fixierte ihn und holte aus. Dorm analysierte die Bewegung und duckte sich vor dem Schlag weg. Zwei Mal kurz nacheinander trafen nun Dorms Fäuste auf die Deckung des Polizisten, der seine anfänglichen Hemmungen abstreifte und sich dem Duell endlich mit Ernsthaftigkeit stellte. Immer wieder versuchte er, Dorms Deckung zu treffen, doch der ließ ihm keine Chance. Schließlich trat Dorm einen Schritt zurück und streifte die Boxhandschuhe ab. Sein Patient hatte ihn nicht ein einziges Mal getroffen.

»Justin, Sie können diesen Kerl vor Ihrem inneren Auge nicht einfach umhauen. Indem Sie ihn getötet haben, ist er ein Teil Ihres Lebens geworden. Und wenn Sie nicht wollen, dass er Sie und alle, die Sie lieben, wie ein böser Geist verfolgt, dann müssen Sie sich ihm stellen. Je früher, desto besser.«

Der Polizist schwitzte und atmete schnell. Er ließ seine Fäuste sinken und sah Dorm an. Aber nicht einfach nur irgendwie, sondern mit diesem ganz bestimmten Blick, den Jonathan schon so oft bei seinen Patienten gesehen hatte. Aus Was soll diese Scheiße hier? war Danke für Ihre Hilfe! geworden.

»Versuchen Sie doch mal, sich umzudrehen, wenn Sie den Kerl mit seiner Machete sehen.«

»Was?«

»Sie blicken immer nur auf den Mann, den Sie getötet haben. Aber wenn Sie sich in Gedanken umdrehen, dann sehen Sie stattdessen die beiden Frauen.«

»Die Frauen, die der Kerl umlegen wollte?« Hollsteins Stimme wurde brüchig.

»Die unschuldigen Frauen, die noch am Leben sind, weil Sie den Kerl erschossen haben, der ihnen gerade die Köpfe abhacken wollte. Wenden Sie dem Täter den Rücken zu und sehen Sie zu den Opfern. In ihre dankbaren Augen. Und in die dankbaren Augen der Familien dieser Frauen.«

»Okay ...« Justin lief eine Träne über das markante Kinn, bis sie sich in seinem Stoppelbart verlor.

»Sie haben diese Therapie viel besser gemeistert, als Sie denken, Justin. Und wenn Sie ehrlich zu sich sind, dann wissen Sie auch, dass Sie echte Fortschritte gemacht haben. Ich freue mich schon auf das Gespräch mit Ihrem Supervisor!«

Hollstein legte seinen Kopf leicht schräg und sah Dorm mit erwartungsvollem Blick an. »Eine Frage hätte ich noch.«

»Schachboxen!«

»Was?«

»Sie wollten doch sicher fragen, warum ich das so gut kann. Ich mache Schachboxen, schon seit fünf Jahren. Mann gegen Mann, immer abwechselnd eine Runde Schach und eine Runde Boxen. Das war vom Erfinder ursprünglich mal als Kunstperformance gedacht, aber mittlerweile ist es ein echter Sport geworden. Verstand, Strategie, Beweglichkeit und körperliche Kraft vereinen sich zu einer Disziplin. Wer gewinnen will, muss gleichermaßen schlau sein und sich seiner Haut wehren können. Was denken Sie, könnten Sie sich mit so einem Bild von der Welt anfreunden?«

»Vielleicht habe ich Sie unterschätzt!«

Dorm genoss die Anerkennung, die aus Hollsteins Blick sprach. Er zuckte mit den Schultern und lächelte verschmitzt, als er antwortete:

»Ach, das tun viele. Aber die meisten nur ein Mal!«

Kapitel 3

Kaum, dass er seinen Patienten verabschiedet hatte, war Jonathan auch schon in seine Pantoffeln geschlüpft. Endlich raus aus diesen verdammten muffigen Turnschuhen mit den abgetretenen Sohlen, die er ebenso ungern trug, wie er das steife Hemd und die Krawatte getragen hatte. Damals, als er noch hauptberuflich in der Klinik gearbeitet hatte. Ein weiterer Vorteil der Selbstständigkeit. Ein paar Notizen wollte er sich noch machen, auch wenn die Sitzung mit Justin eher nicht zu denen gehörte, deren Verlauf und Ergebnis er bis zum nächsten Termin vergessen haben könnte. Doch er hatte noch zwei weitere Patienten gehabt, und die Dokumentation des Therapieverlaufs gehörte nun mal zu seinen Aufgaben. Jonathan gähnte. Drei Sitzungen in Folge, und nicht mal eine einzige Tasse Kaffee habe ich bisher trinken können.

Luisa, die schon seit einem Jahr zu Jonathan in die Therapie kam, hatte am Abend zuvor einen unerwarteten Anruf von diesem Kerl bekommen, der sie erst geliebt, dann betrogen, sich anschließend mit ihr verlobt und sie dann wegen ihrer eigenen Schwester verlassen hatte. Luisa war außer sich gewesen und hatte nicht damit aufhören wollen, abwechselnd wie ein Wasserfall zu reden und zu weinen. Jonathan war froh gewesen, dass er seine Patientin zumindest so weit stabilisieren konnte, dass er sie ohne Medikamente hatte gehen lassen können.

Danach war Kurt zu seinem Termin gekommen, der als Kind versehentlich einen tödlichen Verkehrsunfall verschuldet hatte. Kurt hatte mal wieder in den schillerndsten Farben von seiner Studienkollegin erzählt, mit seinen schwärmerischen Worten aber offenkundig deren älteren Bruder gemeint. Nur, dass er sich dies selbst noch nicht eingestanden hatte.

Lediglich die Sitzung mit Justin Hollstein war für Jonathan an diesem Tag ein Erfolgserlebnis gewesen.

Dann wollen wir mal! Gerade, als Jonathan seinen Kugelschreiber auf den Notizblock gesetzt hatte, wurde er von einem lauten Geräusch aus seinen Gedanken gerissen.

»Sie ist weg!«, schallte es von oben, und hektische Schritte bewegten sich in Jonathans Richtung.

Sofort ließ er seinen Notizblock fallen, sprang aus dem Sessel auf und eilte in den Flur.

»Schatz? Was ist denn los?«

Cecile war schon am oberen Treppenabsatz angekommen und stürzte die Wendeltreppe zu Jonathan hinunter.

»Selma! Sie ist weg, ihre Wiege ist leer. Und überall ist Blut!«

»Was?!«

Cecile hatte das Souterrain erreicht. Mit ungebremstem Schwung warf sie sich Jonathan in die Arme und umklammerte ihn so fest, dass er sich kaum noch bewegen konnte.

»Schnell, wir müssen sie finden! Bitte, Jonathan, mach was!«

»Okay, warte hier!«

Damit löste sich Jonathan aus der Umklammerung und rannte die Treppe in den Wohnbereich hinauf. Oben angekommen, riss er die Tür zum Wohnzimmer auf, in dem Cecile um diese Zeit sonst immer mit Selma im Arm auf der Couch lag und eine der Kinder-CDs hörte, die das Baby noch gar nicht verstehen konnte, die Cecile aber ein wohliges Gefühl bereiteten. Die Wolldecke, die sie sich dabei gern über die Beine warf, lag noch genauso zerknüllt über der Sofalehne, wie sie am Abend zuvor dort liegen geblieben war. Von Selma war weder etwas zu sehen noch zu hören.

Zurück also in den Flur. Jonathan wollte gerade in den ersten Stock, als sein Blick auf die Küchentür fiel. Aber wie sollte die Kleine denn da hingekommen sein? Es war egal, er würde jeden Winkel des Hauses nach Selma absuchen. Doch auch die viel zu kleine und viel zu altmodisch eingerichtete Achtzigerjahre-Küche war menschenleer, und nichts deutete darauf hin, dass hier etwas Ungewöhnliches geschehen wäre.

»O Gott, Cecile ...«, hauchte er, leise genug, damit sie es im Souterrain nicht hören konnte.

Jonathan rannte aus der Küche, hastete die Wendeltreppe in den ersten Stock, stürzte ins Kinderzimmer und beugte sich schwer atmend über die Wiege.

Nein, das darf nicht wahr sein! Wo kommt das Blut her? Verdammt, bitte nicht!

Hastig warf er einen Blick ins angrenzende Schlafzimmer, in dem aber auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu sehen war. Er überprüfte das Badezimmer und sah nach oben zum Dachgeschoss, in dem sich früher seine Praxis befunden hatte. Mit einem Kontrollgriff an seine Hosentasche vergewisserte er sich, dass er den Schlüssel für den Raum noch bei sich trug.

Den habe nur ich, da kommt außer mir niemand rein.

Auf einmal hörte Jonathan, wie seine Frau in den Flur im Erdgeschoss trat. Offenbar hatte es sie nicht länger unten in seiner Praxis gehalten.

»Wie ist der Code für das Handy? Ich muss sofort die Polizei rufen!«

Ceciles Worte ließen Jonathan aufhorchen. Eilig stürmte er wieder nach unten.

»Was hast du da?«

»Das lag in deinem Sprechzimmer, war ans Ladegerät angeschlossen.« Cecile hielt ein altes iPhone aus der ersten Generation in der Hand.

»Leg das bitte weg.« Jonathan sprach schlagartig ruhiger und verlangsamte seine Schritte.

»Was redest du da? Die Polizei muss sofort kommen und uns helfen!«

»Nein, das muss sie nicht! Leg einfach das Handy wieder weg.« Jonathan sprach mit Cecile, wie er auch mit einer Frau gesprochen hätte, die im Begriff war, sich von einem Hausdach zu stürzen.

Doch ungeachtet seiner Worte aktivierte sie das Mobiltelefon und stellte dabei fest, dass sie gar keinen Pin benötigte, um zumindest die Leitstelle der Feuerwehr anzurufen.

»Stopp!« Jonathan rief so laut, dass Cecile zusammenzuckte. »Du wirst jetzt sofort das Handy weglegen, ich sage es dir zum letzten Mal!«

Sie sah ihn an, als sei er ein Fremder. So, als sei er soeben in einer dunklen Gasse aus einem Versteck hervorgeschossen und hielte ihr ein Messer an die Kehle. Bereit dazu, ihr jeden Augenblick die Kehle aufzuschlitzen. Nur dass hier nicht ihr Leben in Gefahr war, sondern das von Selma.

»Aber ... das ist doch wohl nicht dein Ernst!?«

»Cecile, du darfst mit niemandem außerhalb dieses Hauses über das Baby sprechen!«

»Außerhalb dieses Hauses?« Cecile sah Jonathan entgeistert an. »Bist du völlig ...?«

Und noch bevor Jonathan hätte antworten können, hatte Cecile auch schon den Notruf betätigt. Das Freizeichen war aus dem Telefon zu hören. Jonathan schüttelte ungläubig den Kopf und fuhr sich mit zittriger Hand durchs Haar. Dann sah er Cecile mit einem Blick an, als zerreiße es ihm das Herz, bevor er ihr kalt und tonlos entgegnete:

»Es tut mir leid, aber ich werde nicht zulassen, dass du Hilfe rufst!«

Kapitel 4
Cecile

Cecile sah Jonathan betont ruhig auf sich zukommen. So, als hätte sie sich auf einmal in eine giftige Schlange verwandelt, die in sein Haus gekrochen war und die er fangen musste, ohne sie dabei aufzuschrecken. Der Anblick erschien ihr beängstigend absurd und irreal, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Denn absolut alles, was Cecile gerade wahrnahm, erschien ihr irreal. Das dumpfe Summen, das in ihrem Kopf klang, seit sie in die leere Wiege gesehen hatte, wollte nicht verstummen, und ihr Körper fühlte sich an, als könne er sich jeden Augenblick in die Luft erheben, so leicht und bedeutungslos schien er zu sein.

Verzweifelt und verloren stand Cecile in ihrem rot befleckten Morgenmantel mit blutigen Händen zwischen den Töpfen mit Zimmerpflanzen, den überall wild im Flur abgestellten Schuhen und den auf dem Boden herumliegenden Spielsachen, für die es nun vielleicht niemals mehr Verwendung geben würde.

»Schatz, bitte leg auf!« Jonathan kam immer näher.

»Das werde ich nicht tun! Mein Baby braucht meine Hilfe, und die wird es bekommen!«

Ceciles Blick und der Klang ihrer Stimme schienen Jonathan klargemacht zu haben, dass er nicht die geringste Chance hatte, sie von dem Notruf abzuhalten. Jedenfalls bemerkte sie, dass sich etwas an seiner Körperhaltung veränderte.

»Notruf Berliner Feuerwehr, wo genau ist der Notfallort?«, klang es aus dem Handy.

»Hilfe, mein Baby ist weg. Hier ist nur ... Blut ...!« Cecile sprach so klar, als sei sie ein Roboter.

»Bitte bewahren Sie Ruhe, wo ist der Notfallort?«

Cecile wollte gerade antworten, als Jonathan ansatzlos auf sie zustürzte und versuchte, ihr das Handy aus der Hand zu reißen. Reflexartig zog sie das Telefon weg, wobei es zu Boden fiel. Als Jonathan sich eilig danach bückte, fiel Ceciles Blick auf die blaue Vase, die eingestaubt auf dem Schuhschrank direkt vor ihr stand. Intuitiv griff sie danach und schlug sie Jonathan auf den Hinterkopf.

Mit einem hellen Aufschrei ließ er von dem Handy ab und fasste sich an seine Wunde. Cecile griff sich das Telefon vom Boden, atmete tief durch und lief auf die Schiebetür zu, durch die sie in den Garten gelangen würde. Doch sie benötigte kostbare Sekunden, um die schwergängige Tür aufzuschieben, sodass Jonathan ihr nun wieder dicht auf den Fersen war. Im Laufen nahm sie das Handy ans Ohr.

»Mein Baby ist weg. Überall ist Blut! Sie müssen mir helfen!«

»Das habe ich verstanden. Wo ist der Notfallort?«

Während Cecile zu antworten versuchte, hatte Jonathan sie auch schon erreicht. Sie spürte den Ruck, mit dem er sich von hinten auf sie stürzte. Ohne, dass sie sich dagegen hätte wehren können, stürzte sie zu Boden, das Handy noch immer fest umklammert. Die Stimme des Mannes von der Leitstelle drang noch zu ihr vor, als Jonathan das Telefon an sich riss. Noch einmal versuchte sie mit aller Kraft, dem Mann vom Notruf etwas zu sagen, als Jonathan schließlich das Telefonat beendete, das Handy deaktivierte und es in seine Hosentasche steckte.

»Warum?« Cecile wimmerte, während sie noch immer mit aller Kraft versuchte, sich ihrem Mann zu entwinden.

»Vertrau mir einfach!«

Jonathan, dessen Kräften Cecile nichts entgegenzusetzen hatte, fasste sie und zog sie vom nasskalten Boden hoch. Jonathans fester Griff umklammerte ihre Handgelenke wie ein Schraubstock.

»Was passiert denn hier bloß?« Cecile liefen Tränen über das Gesicht.

»Ich bringe dich nach oben in die alte Praxis. Da ist alles vorbereitet.«

»Vorbereitet?«

»Du wirst es verstehen, wenn es so weit ist.«

Bitte, lass das alles nur einen bösen Traum sein!

Cecile schloss die Augen, als würde sie dies aus einem Schlaf erwecken, den sie gar nicht schlief. Noch einmal versuchte sie sich loszureißen, doch die trainierten Boxerhände ihres Mannes ließen ihr keine Chance. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis Jonathan sie ins Dachgeschoss getragen hatte. Im Flur setzte er sie ab, ohne sie eine Sekunde loszulassen, zog mit einer Hand den Schlüssel zu seiner ehemaligen Praxis aus der Hosentasche und stieß die Tür mit dem rechten Fuß auf.

»Was ist das denn?« Cecile riss die Augen auf, als ihr Blick in das Zimmer fiel.

Der Raum unter dem Dach hatte bei Jonathans Patienten noch vor wenigen Wochen eine behagliche Therapieatmosphäre verbreitet. Jetzt war er auf einmal wie ein morbides Behandlungszimmer eingerichtet. Ausgelegt mit kühlem Laminat, in beruhigendem Blau gestrichen und mit Bildern von Blumen und Seen an den Wänden. Kein Tageslicht fiel mehr in den Raum, vor die Fenster waren Metallplatten geschraubt. Es roch nach Desinfektionslösung und Wandfarbe, und das gedämpfte Licht der Energiesparlampen flackerte leicht; ein leises Surren kam von dem Kühlschrank neben der Badezimmertür. Cecile sah die Kisten mit den Wasserflaschen, die Mikrowelle, das IKEA-Regal mit den Lebensmitteln darin und das Geschirr. Dann zog Jonathan sie vom Flurboden hoch, und trotz ihrer unverminderten Gegenwehr zerrte er Cecile in den Raum. Ihr Blick fiel auf Puppen und Kuscheltiere, ihren Bademantel, die Körperpflegeartikel und den Kleiderständer, an dem die Sachen hingen, die sie nach Selmas Geburt in die Säcke für die Altkleidersammlung gegeben hatte. Er hat das hier alles von langer Hand geplant und vorbereitet!

Ein gedämpfter Schrei riss Cecile aus ihren Gedanken.

Erst jetzt wendete sie ihren Blick auf etwas in diesem unheimlichen Raum, das ihr bislang noch gar nicht aufgefallen war. Auf jemanden, der ihr bislang nicht aufgefallen war!

»Aber das kann doch nicht ...« Ihr blieben die Worte im Hals stecken.

In einem Krankenbett, das ganz hinten im Raum unter der Dachschräge stand, lag jemand. Ein Mensch, den Cecile nur allzu gut kannte. Und den sie seit ihrer Hochzeit nicht gesehen hatte.

»Mama? Was machst du denn hier?«

Doch Ceciles Mutter antwortete nicht. Sie lag an Händen und Beinen gefesselt auf dem Bett und starrte an ihrer Tochter vorbei mit angsterfülltem Blick auf Jonathan.

»Was hast du mit meiner Mutter gemacht?«

»Um die geht es hier nicht!«

Cecile sah noch einmal in die verängstigten Augen ihrer Mutter, bevor sie ebenso bang wie nachdrücklich fragte:

»Wo, verdammt, ist mein Baby?«

Endlich ließ Jonathan die Handgelenke seiner Frau los. Mit einem Blick, als sei er zu Eis gefroren, und einer Klarheit in der Stimme, die Cecile zum letzten Mal an ihm wahrgenommen hatte, als er ihr vor dem Standesbeamten das Jawort gegeben hatte, sagte er:

»Begreif es doch endlich: Du hast kein Baby!«

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Michael Tsokos

Abgefackelt

Ein Paul-Herzfeld-Thriller
True-Crime-Thriller
erscheint am 03.02.2020

Die Handlung dieses Buches beginnt nur wenige Tage nach den Ereignissen in »Abgeschlagen«. Paul Herzfeld ist sechsunddreißig Jahre alt und Assistenzarzt am Institut für Rechtsmedizin in Kiel.

***
Prolog

Der hagere Mann in dem dunkelblauen Sakko riss die Fahrertür des blauen Mercedes auf, kaum, dass dieser ausgerollt war. Sie hatten alles durchwühlt, die Akten waren verschwunden und der Laptop natürlich auch. Er hatte keine Zeit gehabt, zu prüfen, was sie sonst noch alles mitgenommen hatten, aber er vermutete, dass sie gründlich gewesen waren. Das hier war seine letzte Chance zu retten, wofür er monatelang gearbeitet hatte, und der Grund dafür, warum er in den letzten beiden Wochen nachts kaum noch ein Auge zugemacht hatte. Die einzige Möglichkeit, ihnen noch zuvorzukommen. Aber nur, wenn er sich jetzt beeilte.

Das fahle Licht der Straßenlaternen zeichnete harte Schatten auf sein kantiges Gesicht, als er hastig aus dem Wagen stieg. Sofort wurde er von dem eisigen Regen in Empfang genommen, der seit dem Nachmittag ununterbrochen niedergegangen war.

Vom Schwung seiner allzu eifrigen Bewegung mitgetragen, rutschte er im losen Schotter der nassen Einfahrt aus, strauchelte, doch er konnte sein Gleichgewicht im letzten Moment noch wiedererlangen.

Er eilte in großen Schritten um den Wagen herum, dessen Motor immer noch lief. Er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihn auszuschalten. Jetzt zählte jeder Augenblick. Der Mann öffnete den Kofferraum und entnahm zwei große, dunkle Sporttaschen. Auf dem Weg zum Eingang des dunkelroten Backsteingebäudes, einem Flachdachbau aus den 1950er-Jahren, zerrte er eine Keycard aus der Innentasche seines für die nächtlichen Wintertemperaturen viel zu dünnen Jacketts.

Im Licht der Scheinwerferkegel probierte er mehrfach vergeblich, die Keycard in die richtige Position vor dem elektronischen Türschloss zu positionieren, bis sich endlich mit einem metallischen Klacken die Verriegelung des Schlosses öffnete. Der Mann lehnte sich gegen die schwere Metalltür und drückte mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Als er sich umdrehte, um die schwergängige Tür wieder zu schließen, glaubte er für einen Moment, einen Schatten zu sehen, hinter den flachen Büschen, dort, wo ein Weg zum zweiten Gebäudeflügel der Klinik führte. Sind sie etwa schon hier?

Er sah noch einmal hin.

Nein. Da ist niemand. Niemand weiß, was ich vorhabe. Oder? Sind sie mir etwa gefolgt? Habe ich sie schon wieder unterschätzt?, ging es ihm panisch durch den Kopf. Ich muss mich beeilen, die Unterlagen und die Proben …

Eilig drückte er die Tür von innen ins Schloss und betätigte den Lichtschalter neben dem Türrahmen. Die Neonröhren an der Decke des einzigen Raumes in dem eingeschossigen Gebäude erwachten summend nacheinander zum Leben und verbreiteten ihr unangenehm flackerndes bleiches Licht in den Gängen zwischen Hunderten von offenen Metallregalen. Zielstrebig ging er an den bis knapp unter die Decke reichenden Regalen vorüber, vorbei an endlosen Reihen von Aktenordnern voller Patientendaten, Untersuchungsbefunden und weiterem Archivmaterial in den Regalen, weiter zu seinem eigentlichen Ziel, den großen Metallschränken am Stirnende des Raumes. Auch diese schritt er mit schnellen Schritten ab, bis er schließlich vor dem richtigen Schrank angekommen war, der, wie auch die zahlreichen übrigen Metallschränke daneben, aus aufeinandergetürmten Stahlblechboxen bestand. Hier waren allerdings keine Akten verstaut, sondern Pappmappen mit hauchdünnen Schnitten menschlicher Organe, aufgezogen auf gläserne Objektträger, sowie Hunderte von menschlichen Gewebeproben, eingegossen in kleine Paraffinblöcke und damit haltbar gemacht für die Ewigkeit ­– bestimmt für die Untersuchung durch den Pathologen am Mikroskop.

Gehetzt wischte sich der Mann die vom Regen nassen Haare aus der Stirn und riss die metallenen Schubfächer auf, wobei er sich systematisch von unten nach oben vorarbeitete, bis er schließlich fand, was er gesucht hatte. Er warf einen prüfenden Blick auf die Beschriftung der in Paraffin gegossenen Gewebeproben. Jeder Block enthielt eine sechsstellige Ziffernfolge sowie eine Jahreszahl, was ihn einer bestimmten Krankenakte und somit einem Patienten zuordnete.

Hastig arbeitete er sich durch die Schubladen und zog dabei mit geübten Griffen Objektträger und Paraffinblöcke heraus, die er, nach einem kurzen, prüfenden Blick, in die beiden Sporttaschen packte, bis diese zum Bersten gefüllt waren.

Er packte die Tragegriffe der prall gefüllten Taschen, die er nun kaum noch vom Boden hochheben konnte, und schleifte seine Beute zurück in Richtung Eingangstür, als es mit einem Schlag dunkel wurde. Alle Neonleuchten in dem fensterlosen Gebäude hatten gleichzeitig, mit einem letzten bedrohlichen Summen, ihren Geist aufgegeben.

Das passierte nicht zum ersten Mal, einige der altersschwachen Deckenlampen in diesem Gebäude fielen in unregelmäßigen Abständen immer wieder aus – allerdings hatte er noch nie einen solchen kompletten Stromausfall hier im Archivgebäude erlebt.

Die Taschen im Schlepptau, stolperte der Mann die letzten Meter durch die Dunkelheit, bemüht, sich nicht an einem der Regale zu stoßen – oder sich in den stockfinsteren Gängen zu verlaufen.

Er hatte Glück. Schon nach wenigen Schritten bemerkte er am Ende des Ganges einen Lichtschimmer am Boden. Ein schwacher Lichtschein, der von draußen unter dem Türschlitz der schweren Metalltür hindurchfiel und von den eingeschalteten Scheinwerfern seines Wagens stammen musste, der immer noch mit laufendem Motor vor dem Archivgebäude stand.

Der Mann stellte schnaufend die schweren Sporttaschen neben sich auf dem Boden ab und tastete in der Dunkelheit nach der Türklinke. Irritiert stellte er fest, dass seine Schritte leise platschende Geräusche verursachten.

Eine Pfütze. Verdammter Regen. Vermutlich steht das Wasser draußen inzwischen derart hoch, dass es schon ins Gebäude eindringt. Auch hier ist mal wieder am falschen Ende gespart worden, dachte er bitter. Und jetzt nichts wie raus hier.

Er drückte die Türklinke herunter, doch die schwere Metalltür ließ sich nicht öffnen.

Er drückte die Klinke noch einmal.

Nichts.

Da diese Tür den einzigen Fluchtweg aus dem Gebäude darstellte, sollte sie sich eigentlich problemlos von innen öffnen lassen. Aus diesem Grund gab es hier am Ausgang auch kein Lesegerät für die Magnetkarte, die das elektronische Türschloss öffnete, wie an der Außenwand des Gebäudes.

Der Mann rüttelte erneut an der Türklinke und drückte von innen gegen die Tür, aber sie ließ sich keinen Millimeter weit bewegen.

Verdammter, beschissener Stromausfall!

Ärgerlich stemmte er sich jetzt mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen, aber es war nichts zu machen. Die massive Stahltür blieb verschlossen. Einen Fluch unterdrückend, überlegte der Mann fieberhaft, wie er sich aus seinem Gefängnis befreien konnte.

Wenn das elektronische Schließsystem des Gebäudes an demselben Stromkreis hing wie die Neonlampen an der Decke und das Regenwasser tatsächlich einen Kurzschluss im Sicherungskasten verursacht hatte, war er hier eingesperrt. Mindestens so lange, bis irgendwer im Zentralgebäude der Klinik den Kurzschluss feststellen würde. Je nachdem, ob noch mehr Gebäudeteile von dem Stromausfall betroffen waren, konnte das allerdings ziemlich lange dauern.

Aber das ging nicht. Er durfte nicht noch mehr Zeit verlieren.

Ich muss raus hier, sofort!

Die Panik brach über ihm zusammen wie die Brandung über einem unglücklichen Schwimmer. Seine Gedanken begannen hektisch zu kreisen, während er von der Metalltür zurücktaumelte und an einem Hindernis hängen blieb, das er zu spät als eine seiner beiden Sporttaschen erkannte. Er ruderte mit den Armen in der Luft, suchte verzweifelt nach Halt, fand ihn für einen Moment zu seiner Rechten – dann riss er ein paar Aktenordner aus dem Regal direkt neben ihm mit sich zu Boden. Er versuchte, mit den Händen den Sturz abzufedern, doch vergeblich. Seine rechte Hand rutschte in der Flüssigkeit weg, und er schlug hart auf. Fluchend rieb er sich sein schmerzendes Gesäß, bis er die Feuchtigkeit bemerkte, die jetzt den Stoff seiner Hose durchnässte. Kein Wunder, er war direkt in die verdammte Pfütze gefallen.

Verfluchter Mist!

Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Er musste erst einmal hier rauskommen. Das vor allem anderen.

Da nahm er den Geruch wahr. Er roch angewidert an seiner Hand. Ein beißender, irgendwie chemischer Geruch, der ihn an die kleine Jolle seines Vaters denken ließ und das gleichmäßige Tuckern des kleinen Außenbordmotors, in dessen Nähe er immer am liebsten gesessen hatte, wenn sie gemeinsam auf Bootstour gegangen waren. Der Geruch kam ihm mit jedem Atemzug immer intensiver vor.

Das hier ist kein Regenwasser. Verdammt, es ist …

Während sein Gehirn mühsam versuchte, diese Eindrücke in die richtige Beziehung zueinander zu setzen, sah er eine Bewegung in dem schmalen Lichtspalt unter der Tür. Ein Schatten, Schritte.

Da ist jemand auf der anderen Seite der Tür!

»Hallo?«, rief der immer noch in der Pfütze am Boden sitzende Mann und ärgerte sich darüber, wie schwach und brüchig seine Stimme plötzlich klang. Wie seine Angst förmlich darin mitschwang. Er versuchte es noch einmal, lauter: »Hallo? Hören Sie mich? Ich bin hier eingesperrt. Sehen Sie das Schloss? Neben der Tür, ein Metallkasten. Sie müssen …«

Er brach ab und starrte auf den Lichtspalt unter der Tür.

Der Schatten bewegte sich für einen kurzen Moment erneut, dann nicht mehr. Wer immer da draußen ist, er hätte mich hören müssen. Er hätte …

Seine Gedanken kehrten zurück zu dem Geruch. Der ganze Raum war jetzt davon erfüllt. Seine Lunge schmerzte, als er die Luft mit dem nächsten Atemzug tief in seine Atemwege einsog.

Und dann wurde es ihm schlagartig klar.

Benzin!

Draußen bewegte sich der Schatten wieder.

»Hallo!«, schrie der Mann, und diesmal lag echte Verzweiflung in seiner Stimme. »Hallo! Hier ist überall Benzin! Ich brauche Hilfe! Hilfe!«

Von draußen erklang ein metallisches Klacken, dann ein Knistern. Das elektronische Türschloss, dachte der Mann, erhob sich und hämmerte gegen das massive Metall, doch die Tür blieb verschlossen. Die Benzindämpfe waren jetzt überall. Seine Augen begannen zu tränen, sein Hals brannte, seine Schläfen hämmerten.

Er schnappte nach Luft und saugte dabei noch mehr giftige Dämpfe in seine brennenden Lungen. Von einem Hustenanfall geschüttelt, sank er verzweifelt an der Tür herab, während die Welt vor seinen Augen in einen rasenden Taumel geriet.

Ich muss aufstehen. Ich muss mich in Sicherheit bringen, zur anderen Seite des Raumes gelangen. Ich muss …

Bevor er den Gedanken beenden konnte, schoss eine gewaltige Stichflamme unter der Tür hindurch und tauchte alles in gleißendes Licht und brüllende Hitze. Als die Flammenzunge die benzindurchtränkte Hand des Mannes und fast augenblicklich auch den Rest seines Körpers erfasste, gab er markerschütternde Schreie von sich, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Aber der Mann schrie nicht lange. Er war zu einer lebenden Fackel geworden.

***
1
24. Januar, 9.29 Uhr
Kiel. Institut für Rechtsmedizin der Universität

Paul Herzfeld knotete die durchsichtige Plastikschürze, die seine blaue Sektionssaalkleidung vor Durchfeuchtung durch Blutspritzer und anderen Körperflüssigkeiten am Sektionstisch schützen würde, hinter seinem Rücken zusammen. Dann streifte er sich die blauen Latexhandschuhe über, welche der Sektionsassistent Heinrich von Waldstamm zusammen mit dem Diktafon neben der Organwaage auf einem Sideboard für ihn bereitgelegt hatte. Am Nebentisch stand Doktor Andreas Fleischer, der Herzfeld beim Betreten des Sektionssaales mit einem fröhlichen »Guten Morgen« und einem freundlichen Zwinkern durch seine Nickelbrille begrüßt hatte. Er war bereits seit etwa einer Stunde mit der Obduktion eines jungen Mannes beschäftigt. Doktor Fleischer war mittlerweile dreiundsechzig Jahre alt und nur noch wenige Tage pro Woche im Institut, da er seit einigen Monaten in einem Altersteilzeitmodell arbeitete.

Herzfeld kannte zwar die Umstände des Falles nicht, aber der Tote vor Fleischer hatte offensichtlich direkt vor seinem Ableben ein massives Polytrauma erlitten – so zumindest Herzfelds erste Blickdiagnose, als er bei der Erwiderung von Fleischers Gruß einen flüchtigen Blick auf die zahlreichen dunkelroten und feucht glänzenden Rippen- und Extremitätenfrakturen erhaschte. Fleischers Sektionsassistentin Annette Bartels präparierte diese gerade frei, indem sie die um die Frakturenden gelegene Muskulatur mit einem stabilen Sektionsmesser von den Knochen des Leichnams herunterschälte.

Herzfeld hatte sich nach seiner Ankunft im Institut vor einer halben Stunde in seinem Büro kurz mit dem Inhalt der polizeilichen Ermittlungsakte des Falles vertraut gemacht, der ihn an diesem Tag im Sektionssaal erwartete, und warf jetzt einen ersten Blick auf den unbekleideten Toten auf dem blanken Stahl des Sektionstisches vor ihm. Der aus Flensburg stammende, und dort auch noch polizeilich gemeldete, zweiundzwanzig Jahre alt gewordene Sven Theissen war erst vor wenigen Wochen nach Kiel gezogen, weil er hier bei einer Reinigungsfirma einen Job bekommen hatte. Er war am Abend seines Todes im Kieler Hauptbahnhof zur Reinigung der Oberlichter der Bahnhofshalle eingesetzt gewesen. Um die in zehn Meter Höhe im Dach der Bahnhofshalle eingelassenen Fenster zu erreichen, hatte sich Theissen einer dafür von seinem Arbeitgeber vorgesehenen Teleskopstange aus leichtem Aluminiumrohr bedient, an dessen Ende ein überdimensionierter Wischmopp befestigt war, den er über seinem Kopf balanciert hatte, um so die Oberlichter zu erreichen. Nur wenige Minuten nach Beginn der Reinigung der Oberlichter hatten im Hauptbahnhof anwesende Zeugen gehört, wie der junge Mann plötzlich einen markerschütternden Schrei ausgestoßen hatte, und dann beobachtet, dass er »kurz wie erstarrt« erschien, »den Rücken gerade durchgestreckt« – wie die Zeugen es später zu Protokoll gaben –, und dann zusammengebrochen war. Ein zufällig im Bahnhof anwesender Arzt hatte sofort mit der Reanimation des bewusstlosen Theissen begonnen und war schon nach wenigen Minuten von einem Notarzt und einem Rettungsassistenten abgelöst worden. Allerdings waren alle Bemühungen, den jungen Mann ins Leben zurückzuholen, vergeblich gewesen.

Nach Kenntnis der bisherigen Ermittlungsergebnisse aus der Akte war Herzfelds derzeitige Arbeitshypothese, dass Theissen möglicherweise an einer von ihm selbst und seinem persönlichen Umfeld bisher unbemerkten schweren inneren Erkrankung gelitten haben könnte – vielleicht einer Herzmuskelentzündung oder einer pathologischen Gefäßwandaussackung der Brustschlagader, die bei der anstrengenden Oberlichterreinigung plötzlich dekompensiert war. Davon ging Herzfeld aus, weil sich weder Hinweise auf ein Unfallgeschehen, eine Einwirkung von fremder Hand noch Drogenkonsum in den Ermittlungsunterlagen fanden.

Herzfeld ergriff das Diktafon und begann mit der äußeren Leichenschau. Er bedeutete dem korpulenten Sektionsassistenten von Waldstamm mit einem stummen Nicken, den Körper anzudrehen, damit er die Körperrückseite des Toten in Augenschein nehmen konnte.

»An der Körperrückseite auf kräftigen Fingerdruck hin eben noch zur Abblassung zu bringende Totenflecken, hellviolett, ausgespart im Bereich der Aufliegeflächen«, sprach Herzfeld in das kleine Mikrofon des Diktafons.

Mit einem weiteren Nicken bedeutete er von Waldstamm, dass er den toten Theissen wieder in seine ursprüngliche Position auf den Sektionstisch bringen konnte.