Mörderische Dates - David Cohnen - E-Book

Mörderische Dates E-Book

David Cohnen

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Beschreibung

Rock - der Journalist. Rock - der Mörder. Rock, der charismatische Typ mit den vielen Gesichtern. Charmant, talentiert, kaltblütig. Mühelos schlüpft er in die unterschiedlichsten Rollen: cleverer Journalist, sensibler Freund, einfühlsamer Psychologe, gewiefter Kriminalist, empfindsamer Schöngeist. Alles hat nur ein Ziel: Flucht aus der unerträglichen Einsamkeit einer kranken Seele. Per Kontaktanzeigen sucht er abenteuerlustige Frauen. Immer den gleichen Typ: prollig, blond, üppig, leichtsinnig. Arglos laufen sie ins tödliche Verderben. Rock, der elterlichen Hölle entronnen, zerrissen aber raffiniert mit Menschen spielend, führt ein Leben zwischen einer sich selbst genügenden Medienwelt, zelebrierten Frauenmorden, gesellschaftskritischen Extremismus, platonischer Liebe und hoffnungsloser Verlorenheit. Sein Hauptgegenspieler, Kriminalkommissar Ebert, der den Polizeireporter Rock mag und braucht, ahnt, wer hinter den spektakulären Serienmorden, über die Rock, aus erster Hand von Ebert informiert, steckt.

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Seitenzahl: 330

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Anna Bertold

Eiskalter Engel

Aderlass des Bösen

Kommissar auf Abwegen

Böses Erwachen

Panikattacken

Die Liebe eines Mörders

Verlockende Profile

Grausiger Fund

Katz- und Mausspiel

Blutige Post

Monsterjagd

Reizendes Angebot

Geschäft mit dem Tod

Verhängnisvolles Vertrauen

Mörderische Scherze

Die Hölle auf Erden

Dreckiges Geschäft

Das Zittern bleibt

Impressum

David Cohnen

 

 

Mörderische Dates

Miller E-Books

Anna Bertold

 

Eine tote Frau schwimmt in der Spree. Es ist Anna Bertold. Sechsundzwanzig Jahre ist sie alt geworden, bis zu ihrem Tod im Herbst 2013 hat sie in der Moabiter Turmstraße als Friseuse gearbeitet.

Sie hat ihren Beruf geliebt, sie war fleißig, wurde gemocht. Man vermisst sie. Ihre Mutter vermisst sie, sie ist ihr einziges Kind. Ihr Mann tröstet seine Frau: „Das Mädchen wird wiederkommen, glaube mir“. Seine Frau guckt ihn an, ihre Augen sind verweint. Sie sieht das Unstete in seinem Blick. „Musst nicht weinen“, sagt der Mann mit seiner rauen Stimme.

Sein Gesicht ist sonnengebräunt, von Falten durchfurcht. Er ist Bauarbeiter, seine Frau Kassiererin im Supermarkt. Beide sitzen rauchend am Küchentisch, Tabakqualm erfüllt den Raum. Sie rauchen viel, seitdem ihr Kind verschwunden ist. Sie war so ausgelassen, als sie das letzte Mal bei den Eltern war. Ein fröhliches Mädchen, zu arglos fanden die Eltern. „Du läufst nochmal in dein Unglück“ haben sie gesagt, wenn das Mädchen wieder mal einen neuen Freund hatte und von ihm schwärmte, als wäre er der beste Mann, den sie hätte finden können.

Und wie schnell war wieder alles vorbei. Traurig saß Anna dann bei ihren Eltern, kuschelte sich an ihre Mutter, die sie tröstete. „Bist doch meine Beste“, hat sie dann gesagt, „bist so hübsch, musst nicht weinen, Mädchen, Männer sind dumm, die wissen gar nicht, was sie an dir haben, musst nicht weinen, findest einen Neuen, pass aber das nächste Mal besser auf mein Kind, musst du mir versprechen. Ich hab’ manchmal solche Angst um dich, der Papa auch, stimmt’s Bernd?“.

Der Bauarbeiter nickte dann, er muss oft daran denken, wie die Anna noch klein war, überhaupt an die ganze Zeit, wo sie noch bei ihnen wohnte. Es war die schönste Zeit seines Lebens, denkt er heute. Ja, er liebt seine Frau, sie ist so tüchtig, sie hatte so viel Mühe mit der Anna, sie hat an ihrem Bettchen gewacht, wenn das Mädchen krank war, ach die ganze Zeit, wie oft haben sie um ihre Anna gebangt, wenn sie zu spät zum Abendessen kam, was konnte da nicht alles passiert sein! Dann später, als sie allein ausging, wie oft konnte Mutter dann nicht schlafen, hat sich neben ihm hin und her gewälzt, aber man musste das Mädchen ja lassen. Und eines Tages ist sie ausgezogen, wie still es plötzlich in der Wohnung war, als die Anna nicht mehr da war. Aber es war eine andere Stille als jetzt, es war nicht diese Totenstille.

Eine tote Frau schwimmt in der Spree. Der letzte Tag ihres Lebens war im Spätherbst vorigen Jahres. Nico, hatte sich der Mann vorgestellt, ich bin Nico.

Er war so charmant, er hatte so schöne blaue Augen, er lenkte so sicher und ruhig das Auto. Der Abend begann doch wunderbar. Es war ein Blind Date, im Internet gepostet. Die Fahrt war rasant, man saß bequem im Auto, der Mann roch so gut, seine Hand berührte sie sanft. Und die Villa, ein Traum! Er war lieb, so zurückhaltend, so wie sie sich es immer gewünscht hatte, aber plötzlich, da wurden seine Augen kalt, so kalt, dass Anna einen Schreck bekam. Da blitzte die Klinge des Messers in seiner Hand, ganz dicht vor ihren Augen. Sie spürte die scharfe blanke Klinge an ihrem Hals. Es ist ein kurzer greller Schmerz. Blut spritzt, Anna presst die Hände an ihre durchgeschnittene Kehle.

Anna Bertolt ist tot. Ihr Mörder legt sie in eine Kühltruhe für Großküchen. „Starr mich nicht so an!“ sagt er und drückt ihr die Lider zu, dann schließt er bedächtig die Kühltruhe. Ein paar Stunden und die tote junge Frau ist zu Eis erstarrt. Fast ein Jahr wird Anna dort liegen…

Eiskalter Engel

 

Heute ist Samstag. Rock guckt die Polizeimeldungen durch. Die Stadt hatte eine ruhige Nacht. Viel gibt’s für ihn nicht für die Sonntagausgabe zu tun. Ein paar Zehnzeiler: Ein schwer verletzter Radfahrer liegt im Krankenhaus, eine Messerstecherei – halb so schlimm. Ein Wohnungsbrand – ein Rentner ist mit der Zigarette im Bett eingeschlafen, Nachbarn alarmieren die Feuerwehr, der alte Mann kommt mit einer Rauchvergiftung davon.

„Schade, die Hütte ist nicht abgefackelt“, denkt Rock, als er die Meldung liest.

„Öde Nachrichtenlage“, sagt er zum Chef, der vorbeikommt, ihn an seinem Schreibtisch lümmeln sieht.

„Passiert. Schreib deine Geschichten und mach dich vom Hof“, sagt der Chef mit einer Handbewegung zur Tür, „falls es doch noch knallt, macht’s der Spätdienst.“

Rock überlegt, dann hat er eine Idee wie man die schlappen Polizeimeldungen aufpeppen kann. Er steht auf, geht zum Chef, sagt: „Ich mach noch ‘ne Geschichte über Taschendiebe, ein paar Anzeigen hab’ ich noch aus vergangenen Tagen auf dem Tisch, dann die Statistik. Hübsche Steigerungsrate. Taschendiebe sind immer gut, regt die Leute auf.“

Der Chef guckt Rock an, breitet die Hände aus und sagt: „Na bitte, mach das“.

*

Als Rock aus der Tiefgarage des Verlagshauses fährt, ist der Abendhimmel blutrot.

„Könnt’ mir mal wieder n‘ Stadtmagazin leisten“, denkt er, als er an einem Zeitungsladen vorbeifährt, grient, hält nach dem nächsten Kiosk Ausschau, bremst, holt sich ein Heft, steigt in den Wagen und fährt weiter.

„Oben mache ich mir erstmal einen Drink“ sagt er ins Lenkrad.

Als er die Wohnungstür abgeschlossen hat, hängt er sein Jackett an die Garderobe und geht ins Bad, wäscht sich die Hände. Das macht er immer zuerst, wenn er nach Hause kommt. Rock drückt aus dem Spender ordentlich Flüssigseife auf die Hand, dreht den Hahn auf, lässt warmes Wasser laufen und reibt heftig die eingeseiften Hände aneinander. Schaut in den Spiegel, sagt: „Muss sein, man fasst überall so viel Scheiße an.“

Er geht ins Zimmer, lässt sich in den Sessel fallen, knipst die Stehlampe an und blättert von hinten im Magazin Privatanzeigen durch, verfolgt mit dem Marker die Rubrik Lust & Liebe. “Vielleicht finde ich eine Blöde, die annonciert”.

„Du könntest das Glückshuhn sein“, sagt er und tippt mit wippender Hand auf den knapp formulierten Anzeigentext: Junge Frau hat Lust auf einen Mann. Trau dich – Jasmin. Dahinter steht die Handynummer.

„Hoffentlich keine Professionelle“ denkt er und sagt melodisch: „Was du gutes kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“.

Mit einem Prepaid-Handy wählt er die Telefonnummer. Eine leicht nervöse Frauenstimme meldet sich.

„Hi“, sagt Rock, „hier ist Nico, ein Mann, der Lust auf eine Frau hat, die Lust auf einen Mann hat“.

Die Frau am anderen Ende kichert.

„Was gibt’s da zu lachen?“

„Nichts. Aber du klingst so lustig“.

„Ich klinge nicht nur so“.

„Das heißt?“

„Ich bin’s“.

„Ein Witzbold?“

„Ich könnt’ einer werden“.

Bevor Rock auflegt, verspricht er, wieder anzurufen.

Ein Mann und eine Frau haben miteinander telefoniert. Eben wusste noch keiner vom anderen.

Es gibt ja so viel Geschäftsmodelle, Anzeigen, Portale, Dating-Apps, die von der Sehnsucht nach Zweisamkeit leben, es werden immer mehr und die Menschen werden immer einsamer.

Ein paar Mal telefonieren die beiden noch miteinander, dann sind sie verabredet.

*

Es ist ein verregneter Frühlingsabend. Die Luft ist feucht und kühl. Jasmin streift ihren weinroten Bademantel ab, lässt ihn im Korridor auf den Dielenboden fallen. Als sie im Bad aus ihren silbernen Pantoffeln schlüpft, spürt sie an ihren nackten Füßen die steinig-glatte Kälte der Fliesen. Schnell tritt sie auf den plüschigen rosa Vorleger, dreht den Heißwasserhahn zu und gleitet mit der Hand über das frisch eingelassene Badewasser. „Huch ist das heiß!“ sagt sie, zieht die Hand zurück, lässt kaltes Wasser zulaufen. Dann prüft sie noch mal die Temperatur. „Jetzt geht’s.“ Ihr Rubenskörper gleitet in die Badewanne.

„Ach, tut das gut“, stöhnt sie wohlig, als sie ausgestreckt daliegt. Auf dem breiten Wannenrand hat sie Kerzen hingestellt und angezündet, das flackernde, milde Licht gibt ihrem Gesicht einen seidigen Glanz. Sie liebt diese Badezimmerromantik.

Jasmin ist verabredet. Ein One Night Stand mit einem Unbekannten. Aber vielleicht wird mehr draus. Wer weiß?

Seit drei Monaten ist mit Patrick Schluss. Die große Liebe war’s sowieso nicht. Beide hatten einen unterschiedlichen Humor. Da hat man wenig zu lachen. Außerdem war ihr Patrick zu klein und hager, sie musste flache Schuhe anziehen, sonst war sie größer als er. Und wie er vor ihr rumhampelte, wenn er mit ihr redete!

Heute hat sie ein Date mit Nico. „Die Stimme, eine Stimme hat dieser Nico, da bekommt man Gänsehaut, die macht einen verrückt, so eine sonore erotische Männerstimme“.

Und wenn er auch so aussieht, wie er sich beschrieben hat, als Jasmin danach fragte, dann war es die beste Idee, die sie hatte, als sie die Anzeige im Stadtmagazin aufgegeben hat: Junge Frau hat Lust auf einen Mann. Und, wenn schon denn schon, sie hat gleich ihre Handynummer mit reingesetzt – die von ihrem alten Prepaid-Handy, das sie im Schubfach beim Aufräumen gefunden hat. Ein paar Idioten haben angerufen – dann Nico. Jetzt geht sie nur noch ran, wenn sie seine Nummer auf dem Display sieht.

Erzählt hat sie niemandem was, nicht mal ihrer besten Freundin. Was soll man von ihr denken!

Leichtsinnig sei sie, haben oft ihre Eltern gesagt. Blödsinn. Einfach mal was Neues ausprobieren, ein Blind Date, das hatte sie noch nie! Einfach krass, so was mal zu tun, aufregend, sich mit einem Kerl treffen, den man nicht kennt.

Überraschung!

Und wenn er einem nicht gefällt, tschüss, umdrehen, nichts wie weg. Schließlich trifft man sich ja nicht nachts im Wald.

Nico holt sie von Zuhause ab.

„Punkt Acht stehe ich unten, vor deiner Haustür“, hat er gesagt, „ein schwarzer BMW, da sitz ich drin, warte auf dich, wir fahren zu meinem Lieblingsitaliener und dann gucken wir mal, o.k. Mädchen?“

Jasmin ist gespannt, ach, aufgeregt: verrücktes Gefühl!

„Welches Baujahr?“ ist ihr noch rausgerutscht.

Nico lachte, sagte: „Ist ein neues Modell.“

Jasmin hat das Fenster zur Straße hin offen gelassen, es nieselt, direkt vor ihrem Haus steht eine Laterne, in deren Schein das Pflaster feuchtnass glänzt.

Nun ist sie mit Ankleiden und Schminken fertig, ihre vollen Lippen leuchten rot. Seidig fällt ihr blondes Haar auf ihre kräftigen Schultern. Sie hat sich für schwarze Leggins und ein rotes Longshirt entschieden, dazu ihre roten Lack High Heels. Noch einmal vor dem großen Spiegel im Wohnzimmer betrachtet, den Mund gespitzt: „Sehe ich nicht sexy aus!“

Es ist kurz vor acht. Jasmin hört unten ein Auto einparken.

„Das ist er“, flüstert sie ihrem Spiegelbild zu, geht zum Fenster, lehnt sich hinaus. Ein schwarzer BMW mit abgeblendeten Scheinwerfern steht vor ihrer Haustür.

„Klappt ja wunderbar“, sagt sie, „und ein Parkplatz gleich hier vorm Haus ist frei. Wenn das kein gutes Omen ist“.

Noch schnell den schwarzen Blazer vom Garderobenhaken geschnappt, schon fällt die Wohnzimmertür ins Schloss.

Flink läuft sie die Treppe hinunter. Im Hausflur hält sie inne. Bloß keine Hektik, ganz ruhig. Sie öffnet die schwere Eichentür – „verdammtes Ding!“ –, trippelt auf die Straße.

Rock hat Modern Talking eingelegt: „Das mögen solche Weiber“.

Cheri Cheri Lady läuft, er hat die Scheibe heruntergelassen, so dass die Musik auf der Straße zu hören ist. An seinen BMW gelehnt, sieht er die junge Frau auf sich zukommen.

Kurz vor ihm bleibt sie stehen. Beide mustern sich.

„Mann, sieht der Kerl gut aus!“ schießt es Jasmin durch den Kopf.

Rock, groß, durchtrainiert, nach hinten gekämmtes dunkles Haar, hat sich rausgeputzt: Schwarzes Polohemd, dezent gepunkteter Seidenschal, schwarzer Anzug, dunkle Sonnenbrille im gebräuntem Gesicht.

„Alles vom Feinsten“, denkt Jasmin, „ein Traumtyp“.

Rock ist mit sich zufrieden – er merkt, er macht Eindruck.

„Einen Moment, Lady“, begrüßt er Jasmin, die immer noch wie angewurzelt vor ihm steht, dreht sich um, langt durchs offene Autofenster, greift nach einem weißen Rosenstrauß mit einem großen roten Herz in der Mitte herausragend.

„Für dich, Jasmin“, sagt er und streckt ihr den üppigen Blumenstrauß entgegen.

„Du bist verrückt“, sagt Jasmin und strahlt.

„Stimmt“, antwortet Rock, „nach dir.“

„Der Rosenstrauß ist wunderbar.“

„Ich bin Nico.“

„Und ich die Jasmin.“

Beide geben sich die Hand.

„Darf ich bitten“, sagt Rock und nimmt ihr den Blumenstrauß ab, öffnet die Autotür, Jasmin steigt ein, den Strauß legt er auf den Rücksitz, der Motor heult auf, der BMW gewinnt schnell an Tempo.

„Lady – wie find’ ich denn das! – hat noch nie jemand zu mir gesagt“.

Rock nimmt die Sonnenbrille ab, für Jasmin die nächste Überraschung. Stahlblaue Augen gucken sie einen Moment an, als er zur Seite schaut und sich ihre Blicke treffen.

„Schöne Augen hast du“, sagt Jasmin und lächelt.

„Und du einen schönen Mund“.

Rock blickt nach vorn, dann wieder zur Seite, küsst Jasmin flüchtig.

Den Bruchteil einer Sekunde regt sich in Jasmin Empörung über die unverhoffte Berührung der Lippen mit dem fremden Mann, dann denkt sie an den Grund der abendlichen Verabredung und eine angenehme Erregung durchflutet ihren Körper.

„Wenigstens hab’ ich das Nummernschild ausgewechselt“, denkt Rock, „und das Handy samt anonymer SIM-Karte, mit dem ich telefoniert habe, ist entsorgt. Aber ich hätte mich nicht auf die Nummer einlassen sollen, sie von Zuhause abzuholen. Der Rosenstrauß, auch zu auffällig, hätte im Auto sitzen bleiben sollen. Bist eben ein verdammter Hasardeur. Nächstes Mal treffe ich mich an einem neutralen Ort, das schwör’ ich!“

„Wo ist denn der Italiener?“ unterbricht Jasmin Rocks Gedanken.

„Überraschung!“ sagt Rock.

Jasmin winkelt die Beine an, kuschelt sich tief in den Autositz. Der BMW rauscht auf der regennassen Straße durch die Stadt. Sie sind jetzt auf dem Kurfürstendamm. Die monoton-rhythmische Musik der HiFi-Anlage, die vorbei fliegenden hell erleuchteten Luxusgeschäfte, die bequeme dunkelgrüne Polsterung, der mondäne Duft von teurem Herren-Eau de Toilette. Der schöne fremde Mann, der sanft und sicher das Auto durch den Verkehr lenkt, die prickelnde Erregung in Erwartung des nächtlichen Abenteuers, die Fahrt ins Unbekannte, ein wachsendes Gefühl von Lust und Freiheit, all das bringt Jasmin in eine Stimmung, die das Blut heißer durch die Adern fließen lässt. Sie spürt ein leichtes Puckern der Schläfen, die Aufregung. Ihr ist, als würde ein Roman Wirklichkeit werden, als würde sie dieser Mann neben ihr in eine erregende, schöne, erträumte Welt entführen. In vollen Zügen genießt sie die Fahrt durch die Stadt.

Plötzlich fährt der Wagen langsamer, so als würde Nico einen freien Platz suchen, wo er einparken kann.

„Sind wir schon da?“ fragt Jasmin.

Rock hält den Zeigefinger vor dem Mund. Schmunzelt über ihren neugierigen Blick, als würde er ihr bedeuten, dass sie sich noch einen Moment gedulden müsse, bis er ihr ein süßes Geheimnis eröffnen würde, das er, ihr zur Freude, gleich verraten wird. Rock biegt in die Schlüterstraße ein und hält in zweiter Spur. Leise läuft der Motor weiter. Rock wendet sich zu ihr, legt ihr die Hand leicht auf die Schulter und sagt: „Hier gehen wir essen, bei Adnan, ich hab’ einen Tisch für uns bestellt“.

Jasmin guckt zu dem Promi-Restaurant, sie kennt es – aus der Zeitung. Sie fühlt Unsicherheit. Rock merkt es, sein Kalkül. Er will aussteigen, Jasmin fasst seine Hand, hält ihn zurück.

Rock drückt ihre Hand: „Bei mir Zuhause ist auch eingedeckt. Champagner, Austern, Kaviar – alles, was das Herz begehrt“.

Jasmin schaut Rock an, dann schaut sie aus dem Auto neugierig zu dem feinen Restaurant, hinter den bis zur Erde gehenden großen Fensterscheiben sitzen die Gäste, essen, lachen, plaudern.

„In so einem vornehmen Laden war ich noch nie“, sagt sie zu Rock gewendet.

„Warum?“ fragt Rock leicht amüsiert, genau damit hat er gerechnet. Schon am Telefon hat er bemerkt, das Mädchen kommt aus schlichten Verhältnissen – dieses Berlinern, wenn sie zu schnell redet, dieser etwas gewöhnliche Ton schon in der Stimme.

„Lass uns woanders essen gehen, bitte.“

Der Motor heult auf, als wolle er sie erschrecken, schnell gewinnt der Wagen an Fahrt.

„Also zum Dinner zu mir“, sagt Rock mit leicht öliger Stimme und schaut sie mit einem offenen Blick lächelnd an.

„Wir wollten doch…“

„…ein Abenteuer erleben“, beendet Rock den Satz.

Jasmin geniert es, dass sie das schicke Restaurant abgelehnt hat. Sie will jetzt nicht wieder nein sagen und alles vermasseln.

„Und wo wohnst du?“ fragt sie, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen.

„Ich hab’ ein Haus, nicht weit, knappe halbe Stunde mit dem Auto.“

Er sagt es unbefangen, freundlich, aber mit einem Hauch spöttischer Überlegenheit. Versucht, das Mädchen noch ein bisschen zu drücken.

Jasmin spürt sich kleiner werden, richtet sich auf, sagt: „Und, sind wir da allein?“

„Denke ja, die Dienstboten haben schon Feierabend“.

„Was, du hast Bedienstete! Das muss ja ein großes Haus sein, eine richtige Villa!“

„Klein ist es nicht“, antwortet Rock, „aber ich kann dich auch Nachhause fahren.“

„Das habe ich nicht gesagt“, antwortet Jasmin, sie will cool bleiben, fragt leicht pikiert, einfach um etwas zu sagen und aus plötzlicher Angst, der erst begonnene Abend könnte plötzlich zu Ende sein: „Du hast tatsächlich Champagner, welche Marke denn?“

„Mädchen, verarsch mich nicht, als wenn du was von Champagner verstehst, du merkst sicher nicht mal was, wenn man dir billigen sauren Wein serviert, dann lächelst du noch dankbar den Kellner an“, denkt Rock und sagt: „Moet, Lady.“

Er drückt aufs Gaspedal. Jasmin, die sich aufgerichtet hat, fällt in den weichen Sitz zurück.

„Dann fahren wir!“ sagt sie mit einem schnell aufgesetztem Lächelt, das verheißungsvoll aussehen soll.

„Schon dabei“, antwortet Rock, Jasmin findet die knappe Antwort bissel frech.

„So sind solche Typen“, denkt sie, „kriegen was sie wollen. Und so einen, dazu reich, den hatte ich noch nie! Anderes Kaliber als Patrick, der immer gefragt hat, immer gemacht hat, was ich will, der hier, das ist ‘n Typ! Ein richtiger Kerl“.

Die Straßen werden einsam. Die ersten Reihenhäuser mit kleinen Gärten tauchen auf.

„Diese spießige Muffigkeit, dieses öde, stille, bescheidene Glück“, denkt Rock, als er aus dem Fenster die Häuserreihen sieht, mit ihren geduckten Dächern und abgezirkelten Erdfleckchen.

„Schön ist es hier“, sagt Jasmin und seufzt.

„Ja, seeehr schön“, antwortet Rock betont, spürt kurz aufflammende Wut über die Spießigkeit des Mädchens, ermahnt sich: „Junge, reiß dich zusammen! Lass die Schlampe quatschen!“

„Sind wir bald da?“ fragt Jasmin vor sich hin träumend.

„Noch zwanzig Minuten“.

„Aber wir sind doch schon bald eine halbe Stunde unterwegs!“

Rock antwortet nicht. Jasmin wird unruhig, was ihn nervös macht.

Nach fünf Minuten Schweigen fragt er: „Als was arbeitest du eigentlich?“

„Ich?“

„Ja“.

„Ich mache die Buchhaltung im Autohaus.“

„In welchem?“

„Auto König.“

„Hmm. Und, hast du Kinder.“

„Hast du mich doch schon am Telefon gefragt, nein.“

„Ach so, niemand wartet auf dich.“

„Nein, ich lebe allein, weißt du doch, hast du mich auch schon am Telefon gefragt.“

Die Stimmung droht zu kippen.

Rock packt das Lenkrad fester, schluckt, als müsse er etwas Unangenehmes herunter würgen. Plötzlich aufgeräumt sagt er: „Wir sind gleich da, dann bist du, ganz herzlich, willkommen in meinem Märchenschloss.“

„Da hab‘ ich mir ja einen Prinzen geangelt“, lacht Jasmin.

„Tja, so ist es: man muss viele Frösche küssen, ehe man einen Prinzen küsst“.

„Stimmt“, sagt Jasmin.

„Du bist heut‘ meine Prinzessin“ sagt Rock, und lächelt wie ein Verliebter. Herzlich lächeln, verliebt gucken, das kann er, innerlich kalt.

„Das bin ich gern“, antwortet sie und kuschelt sich an ihn.

„Kaum sagst du was Nettes, rückt dir die Schlampe auf die Pelle“, denkt Rock. Und wird wieder sauer, denkt: „Dir reiß ich den Arsch auf“.

Der Wagen biegt von der Landstraße, ein schmaler Weg führt durch einen Erlenwald, ein Stück, dann beiderseits Wiesen, gesäumt von kräftigen Linden, eine typische märkische Lindenallee.

„Im Sommer muss es hier wunderschön sein“, sagt Jasmin schwärmerisch, obwohl ihr die dunkelnde Einsamkeit des Weges unheimlich ist.

„Im Frühling auch“, antwortet Rock, „und wir haben doch Frühling“.

„Ja, aber er beginnt doch gerade“.

„Vieles beginnt gerade“.

Jasmin lächelt in sich hinein: „Was meint er nur damit?“

Unter den Rädern knirscht der Schotter. Im hellen Scheinwerferlicht wirken die noch blätterlosen Zweige bizarr. Ein schwarzes schmiedeeisernes Tor erscheint.

„Ist das dein Märchenschloss?“

„Heute ist es unser Märchenschloss“.

Jasmin schaut zur Seite, sieht das ebenmäßige Profil. „Nur die Nase, die ist etwas groß“ denkt sie, „aber das kann ja bei Männern nichts schaden“.

Der Wagen hält, Rock steigt aus, geht zum Tor, schließt auf, öffnete es mit lässigen Handstößen. Jasmin schaut erwartungsvoll zu ihm hin.

Rock steigt wieder ein, fährt den Wagen durch das Tor, hält, steigt aus und verschließt es wieder.

„Damit keiner kommen kann und dich mir wegnimmt“, sagt er, dreht sich um und droht spaßig mit der Faust zum Tor hin.

Ein Stück weit fahren sie noch, dann sieht Jasmin das Haus auftauchen, sie sieht die Terrasse aus dem Dunkel hervortreten, sie sieht die breiten, die hohen Fester und den barocken Stuck der Fassade.

Der Wagen hält, Rock steigt aus, geht um das Auto herum, öffnet ihr die Tür und sagt: „Belieben Lady bitte auszusteigen“. Er streckt ihr beide Hände helfend entgegen, als wolle er sie auf den Händen in sein Heim tragen.

„Aussteigen kann ich allein“, sagt Jasmin schnippisch; sie findet die Art des Kavaliers jetzt doch etwas übertrieben.

„Natürlich“, sagt Rock und geht voran.

Jasmin beißt sich auf die Unterlippe und holt ihn schnell ein.

Rock hat ihren flinken Schritten gelauscht und sagt entschuldigend: „Sorry! War nett gemeint von mir“.

„Weiß ich doch“, antwortet Jasmin mit einem Augenaufschlag.

Rock klimpert mit den Schlüsseln, schließt auf, beide gehen ins Haus.

Im Flur geht das Licht an und als sie das Wohnzimmer betreten, ist es gleich hell erleuchtet.

„Wow! Schicke Einrichtung“, staunt Jasmin überrascht bewundernd.

„Gib mir deinen Blazer“, sagt Rock.

Sie streift ihn von den Schultern, und fasziniert von dem erlesenen aber kühlen Geschmack, der hier waltet, wäre ihr der Blazer auf den blank polierten hellgrauen Steinfußboden gefallen, wenn Rock, hinter ihr stehend, ihn nicht aufgefangen hätte.

Er wirft sich den Blazer über die Schulter, umschlingt fast unmerklich ihre Taille und gleitet zu ihren Schenkeln hinunter, so als wolle er mit den Händen ihre Silhouette zeichnen.

Jasmin dreht sich zu ihm um, die Gesichter kommen sich vorsichtig näher, als wären sie sich noch nicht schlüssig, ob es passieren soll, dass sie sich küssen.

Plötzlich ergreift Jasmin die Initiative, es muss die ganze Atmosphäre sein, die prickelnde Fahrt mit dem Auto, das luxuriöse Haus, der fremde schöne Mann, sein frischer, süßlich-orientalischer Duft, sie umschlingt seinen Hals, zieht sein Gesicht an sich und küsst die festen Lippen so leidenschaftlich, wie sie nur kann.

Rock lässt ein leises, sinnliches Stöhnen hören, das von Jasmin mit einem flinken Stoß ihrer Zunge in seinen Mund, der sich geöffnet hat, beantwortet wird.

Als sie sich voneinander lösen, schaut Jasmin ob ihrer unverhofften Leidenschaftlichkeit mit dem Unbekannten einen Augenblick zu Boden.

„Möchtest du was trinken?“, hilft ihr Rock aus der Verlegenheit.

„Gute Idee“, sagt sie und schaut ihn dankbar lächelnd an.

Rock geht zur Glasvitrine, in der die Hausbar steht, nimmt zwei Champagnergläser galant zwischen Zeige- und Mittelfinger und stellt sie auf den Clubtisch.

„Bin gleich wieder da“, sagt er und geht aus dem Zimmer.

Plötzlich allein in der Stille der fremden Umgebung, der glanzvollen Eleganz der hellen Chippendale-Möbel wird ihr unheimlich zumute; zu schön erscheint ihr dieser Traum, den sie gerade erlebt, um wahr zu sein. Sie beginnt zu frösteln, trotz der angenehmen Wärme in dem weit ausladenden Zimmer. Sie kommt sich unbeholfen und verloren vor, ihre unbekümmerte Sicherheit scheint sich zu verflüchtigen, ihr weiblicher Instinkt sagt ihr: „Wärst du bloß nicht mit hierher gefahren, dumme Gans!“

„Champagner für die Lady“ kommt Rock im singenden aufgeräumten Ton ins Zimmer und deutet mir der linken Hand auf den silbernen Champagnerkübel, den er in der rechten Hand vor sich her trägt

Er stellt ihn auf dem Vertiko ab, nimmt die Flasche heraus und hält sie ihr in beiden Händen wiegend entgegen: „Moet recht?“

„Meine Marke“, antwortet Jasmin, obwohl sie ihn noch nie getrunken hat, und ist erleichtert, dass Rocks muntere Art ihr die eben noch bedrängenden düsteren Gedanken vertreibt.

„Dann lassen wir die Korken knallen“, ruft Rock, gibt der Flasche von unten mit der flachen Hand einen Stoß – und mit einem lauten Knall fliegt der Korken aus dem Flaschenhals.

Den übersprudelnden Champagner schwenkt Rock über die Gläser, reicht eins Jasmin, nimmt das andere, beide halten die Gläser zueinander, stoßen an und Rock sagt: „Auf das Leben, auf die Liebe, auf dich, schöne Frau!“

„Auf den schönen Abend“, sagt Jasmin.

Die Gläser klingen, jeder nimmt einen guten Schluck des kühlen, prickelnden Getränks.

„Das tut gut“, sagt Rock und betrachtet die junge Frau, sieht den unter ihrem Shirt sich üppig abzeichnenden Busen, die prallen Schenkel und muskulösen Waden in den schwarzen Leggins. Dann geht sein abtastender Blick direkt in ihr Gesicht. Die breiten slawischen Wangenknochen, der volle üppige Mund, die großen grüngrauen Augen, die dünn gezupften Brauen, die wallenden blonden Haare, die weiße Haut, die vom Champagner geröteten Wangen, der süßliche Frauengeruch, den sie ausströmt, ihr naiv-freundlicher Blick. Rock spürt Macht, die er über die Frau hat, gefühlsmäßige, geistige, körperliche Überlegenheit. Ihre weiblichen Formen erregen ihn erst, dann kippt sein Gefühl, Wut flammt auf, wie ein beginnender Wahn funkeln seine Augen kalt.

Jasmin lässt sich das Abtasten ihres Körpers, ihres Gesichts gefallen, guckt ihn dabei, im Bewusstsein ihrer Wirkung auf Männer, auffordernd an. Sie bemerkt die Veränderung in Rocks Blick, der zunehmend härter wird, seine blauen Augen treffen sie immer eisiger.

Jasmin spürt Unbehagen in sich aufkommen, das sie unterdrückt. Um sich abzulenken, hält sie das Glas hoch und guckt scheinbar belustigt den aufsteigenden feinen Luftbläschen zu.

„Schmeckt wie Sekt“, sagt sie und trinkt das Glas leer. „Gib mir noch einen Schluck.“

Rock gießt nach. Dann gehen beide wie auf Verabredung zum Sofa und setzen sich. Jasmin legt den Kopf weit zurück und betrachtet den Stuck an der Decke. Rock dreht sich zu ihr und betrachtet die durch die Biegung des Halses deutlicher durch die Haut schimmernden zartbläulichen Adern.

Plötzlich ist ein leises Summen vom Fenster her zu hören.

Jasmin richtet sich auf, fragt: „Was ist das?“

„Jalousien“ antwortet Rock.

Jasmin schaut zum Fenster, sieht, wie langsam von der Decke herunter weiße Lamellen die Sicht in die dunkle Nacht verschließen.

„Damit uns niemand beobachten kann“, sagt Rock.

Jasmin bleibt aufrecht sitzen, guckt Rock fragend an. Rock bemerkt ein Flackern in ihren Augen, das seine kalte Erregung steigert.

„Ich will nach Hause“, sagt sie plötzlich und weiß selbst nicht, wie diese Worte aus ihr herausgekommen sind, lacht übertrieben und sagt: „Nein, nein, war‘n dummer Scherz, ist schön bei dir.“

Und wie um es wieder gut zu machen, sagt sie leise: „Du gefällst mir auch.“

Rocks Gesichtszüge entspannen sich einen Moment. Er greift zur Fernbedienung. Musik erklingt. Ein Walzer.

„Magst du Walzer tanzen?“

„Sehr gern“.

Rock steht auf, reicht ihr die Hand und sagt: „Darf ich bitten?“

Wie erlöst steht Jasmin auf, Rock umfasst ihre Taille, nimmt ihre große, schwere Hand und beide drehen sich im Walzertakt. Fest hält er das Mädchen im Arm, schaut ihr lächelnd ins Gesicht, in den Augen ein merkwürdiger Glanz. „Bist ein guter Tänzer“, sagt sie und biegt den Kopf wie voll Freude und Vertrauen in seine Führung nach hinten, um seinem Blick zu entkommen.

Die fremde Frau im Arm, die Einsamkeit des Hauses, der wirbelnde Tanz, mit jeder Drehung flammt in Rock Wut auf diese alberne Komödie auf, die er hier spielt und die ihm zunehmend auf die Nerven geht.

Er will nichts von dieser Frau, nicht was sie denkt. Er will nicht mit ihr tanzen, er will nicht mit ihr reden.

„Schluss“, denkt er, „Schluss jetzt damit!“

Plötzlich bleibt er stehen.

„Was ist?“ fragt Jasmin, „warum tanzt du nicht weiter?“

Rock antwortet nicht. Er starrt sie nur an. Seine Lippen werden schmal, er öffnet und schließt den Mund und atmet dabei heftig, als hätte ihn der Tanz zu sehr angestrengt.

„Ist dir nicht gut, haben wir zu schnell getanzt?“ fragt Jasmin.

„Mir wird gleich besser“, hört sie ihn noch gepresst antworten.

Rocks rechte Faust schießt von unten hoch und trifft Jasmin direkt unterm Kinn.

Ohnmächtig sackt die junge Frau zusammen.

Als sie aufwacht, sitzt sie, mit Paketklebeband die Arme mit den Handflächen nach oben an den leicht geschwungenen Lehnen gefesselt, auf einem antiken Bürostuhl. Nackt, die Schenkel gespreizt, die kräftigen Waden ebenso mit Paketklebeband fest an die zum Sitz hin geschwungenen Stuhlbeine gezurrt.

Sie fühlt sich schwach, wie nach einer Narkose. Rock sitzt vor ihr auf der Couch. Erst flimmernd in Umrissen, dann schärfer werdend sieht sie sein Gesicht, blickt in seine Augen, die ihr jetzt nicht mehr stahl-, sondern himmelblau erscheinen.

„Nico“, flüstert sie, will sich ins Gesicht fassen, die Nase abwischen, weil sie glaubt, es laufe ihr etwas Wässriges aus den Nasenlöchern in den Mund, sie schmeckt Blut, aber sie kann die Arme nicht bewegen. Sie schaut auf ihre Hände um sich zu vergewissern, sie spürt ihren Pulsschlag, sieht ihre Handflächen und aus den aufgeschlitzten Pulsadern pulsiert im Rhythmus ihres Herzschlags Blut, es läuft die seitlich geschwungene Holzlehne, die eine längliche Vertiefung hat und nach vorn leicht abfällt, herunter zu den an den Füßen des Bürostuhls stehenden Champagnerkübeln, in die das Blut im Moment schnell tropfend fließt – und hat in den silbernen Kübeln jeweils eine nass schimmernde dicke dunkelrote Lache gebildet.

Langsam begreift Jasmin, was geschehen ist. Nicht erschrocken, nicht böse, hilflos, bittend, ja wie ihn um Verzeihung bittend, schaut sie Rock an. Sie spürt, wie sie schwach und schwächer wird, mit jedem Pulsschlag.

„Nico, hilf mir“, sagt sie, „was habe ich dir getan, sag, was?“

Rock antwortet nicht, er beobachtet sie wie ein Insekt, das um sein Leben kämpft, das nicht mehr weg kann, weil ihm die Flügel ausgerissen wurden, das nicht mal mehr wegkrabbeln kann.

Mit weichem Blick schaut sie Rock an. Immer wieder streift sein Blick von ihrem Gesicht über ihre schweren Brüste nach unten zwischen ihre Schenkel.

Er hört Jasmins Stimme. Sie klingt bittend: „Hilf mir, ich verblute, ich will nicht sterben“.

Dann wieder Stille.

Rock beobachtet das aus den Pulsadern rinnende Blut der jungen Frau.

Plötzlich erklingt Walzermusik, Rock hat die HiFi-Fernbedienung in der Hand, es ist der Walzer, nach dem beide getanzt hatten.

Jasmin hebt den Kopf, ihr Blick ist glasig, als würde er langsam verlöschen.

„Mama“, sagt sie und schaut wie in ein fernes Licht. „Mama, ich sterbe, dein Mädchen stirbt“.

Rock Gesicht belebt sich, er lächelt.

„Hast du die Nummer von deiner Mutter?“

„Ja“, sagt sie und schaut Rock an. Leise kommt die Nummer über ihre Lippen.

Er tippt die Nummer ein und hält Jasmin das Handy, das er laut gestellt hat, ans Ohr.

Eine Stimme meldet sich.

„Schütte!“

„Mutti, ich bin‘s, Jasmin“, sagt sie kaum hörbar.

„Ja, Mädchen, was gibt‘s?“

„Ich blute“.

„Du blutest, hast du dich geschnitten?“

Jasmin schaut zu Rock hoch, wie fragend, was sie antworten soll. Rock lächelt.

„Ja“.

„Wo?“

„An den Armen“.

„Wo?!“

„An den Pulsadern“.

„Waaas!? Bist du wahnsinnig?!“

„Ich verblute, Mama, ich muss sterben“.

Sie sagt es mit heller Stimme, sie spricht zu ihrer Mutter wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war.

„Kind, wo bist du, bist du Zuhause?“

„Nein, ich bin bei einem Mann“.

Rock nimmt ihr das Handy weg, das Gespräch ist beendet.

Jasmin schaut ihn bittend an. Dann besinnt sie sich und ihr Gesicht zeigt so etwas wie Dankbarkeit.

Jasmin zittert, ihr ist kalt geworden, sie friert.

„Hast du eine Decke für mich?“ sagt sie.

Rock geht zum Sofa und bringt ihr eine warme sonnengelbe Wolldecke. Er wirft sie ihr über die Schultern, setzt sich wieder vor ihr und beobachtet sie.

Jasmin schaut ihn an, lächelt, dann verliert sie das Bewusstsein.

*

Ein paar Minuten später ruft eine Frau den Notruf der Polizei an. Hysterisch schreit sie ins Telefon: „Meine Tochter, meine Tochter, kommen Sie, Hilfe! Schnell!“

Der Diensthabende in der Notrufzentrale sagt mit beruhigender, beinahe lächelnder Stimme: „Was ist passiert? Wo sollen wir hinkommen?“

„Ich weiß es nicht. Meine Tochter. Sie hat mich eben angerufen. Sie verblutet. Die Pulsadern“.

„Wo ist ihre Tochter – bei Ihnen?“

„Bei einem Mann, hat sie gesagt.“

Der Beamte wird ungeduldig, härter, zupackender fragt er nach: „Und wo ist das, wo wohnt der Mann?“

„Ich weiß nicht, das hat sie nicht gesagt, sie hat aufgelegt“.

Einen Moment denkt der Polizist: Das ist ein Fake. Oder eine Verrückte und ich soll hier den Psychiater spielen!

Aber die Frau hört nicht auf zu reden, ihre Stimme klingt völlig aufgelöst:

„Kommen Sie, Sie müssen meine Tochter retten!“

Der Polizist verzieht das Gesicht.

„Aber vielleicht macht sich ihre Tochter einen verflucht hässlichen Scherz mit ihrer Mutter, will Ihnen einen tüchtigen Schrecken einjagen“.

„Nein, nein!“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich bin ihre Mutter. Ich weiß es bestimmt, sie ist in furchtbarer Not.“

„Aber Sie wissen nicht, wo ihre Tochter ist!“

„Bei einem Mann.“

Der Polizist stöhnt, denkt: „Eine Verrückte, vielleicht tut die sich was an“.

„Kommen Sie schnell“, schreit die Frau ins Telefon.

Der Polizist will das Gespräch beenden.

„Also passen Sie auf, ich schicke ihnen einen Streifenwagen rum. Wie heißen Sie, wo sind sie wohnhaft?“

*

Rock steht neben Jasmin und fühlt ihren Puls.

„Nichts“, sagt er, „da tut sich nichts mehr“.

Er wischt sich mit einer Serviette Blut von den Fingern, geht zum Clubtisch, gießt sich Champagner nach, dreht sich zu der toten jungen Frau um, prostet ihr zu: „Auf ihr Wohl, schöne Frau“.

Die CD läuft immer noch. „Wiener Blut, Wiener Blut“ klingt durch das Zimmer.

„Hast du Lust zum Tanzen“, fragt er die Tote und dreht sich mit dem Champagnerglas im Takt der Musik. Ganz gelöst kann er sich jetzt bewegen, so als schwebe er. „Es ist so herrlich zu tanzen“, flüstert er, „man fühlt sich so leicht, so frei. Es ist, als würde man fliegen“.

Rock, der Journalist. Rock, der Mörder. Ein ungeheurer Druck ist von ihm abgefallen, ein Druck, den er seit der Pubertät verspürt, der im Laufe der Jahre stärker geworden ist. Die innere Erregung, er weiß nicht, wie er ihrer Herr werden soll, die ihm von der Brust in den Kopf steigt, den ganzen Körper erfasst, die Schläfen fangen an zu puckern, er fühlt, er weiß, dass es eine Erlösung gibt, er muss sie spüren, er muss sie erleben, diese totale Macht über eine Frau, die Angst in ihren Augen, die Hilflosigkeit... Mit ihrem Sterben strömt der Druck aus seinem Körper, Stille, endlich Stille.

Damals schon, er ging noch auf das Gymnasium: Er denkt an eine junge Frau aus der Straße, in der er wohnt, er sieht ihren wippenden Gang als er sie von seinem Fenster aus beobachtet, wie sie an seinem Haus vorbei geht. Er sieht ihr nach, ihre Silhouette zeichnet sich in hautengen Jeans und T-Shirt ab. Für andere Jungs gibt es eine Erlösung. Aber für ihn?!

Das Bild der Mutter drängt sich dazwischen, wie sie mit Vater nackt vor ihm steht, er sieht, er riecht seine Mutter, er liegt mit dem Gesicht zwischen ihren massigen Schenkeln, schaut hoch, sieht Vaters strafenden Blick.

Er flieht in Phantasien. Seit jenen Nächten löst er sich von sich selbst. Sein Knabenkörper liegt wie gestorben im Bett der Eltern, seelenlos, denn seine Seele ist geflohen in eine Welt, die es nicht gibt. Die Jahre vergehen. Keine Befriedigung nach einer ihn durchflutenden Lust entspannen Körper und Seele. Der Druck schmilzt, wenn er die Angst in den Augen der Frauen sieht. Er will Blut fließen sehen, Blut aus den Adern von Frauen, damit sein aufgestautes Blut fließen kam. Es ist der Aderlass des Bösen.

*

Rock tanzt nicht mehr, plötzlich steht er still. Die Musik scheint ihm lächerlich angesichts des ermatteten Körpers der Toten. Er sieht auf den spiegelglatten Steinfußboden, plötzlich hat er Lust Anlauf zu nehmen und über ihn hin zu schlittern wie ein kleiner Junge im Winter auf der Schlitterbahn.

Die Musik verklingt. Totenstill ist es in dem einsamen Haus. Rock lauscht, als könne er aus der Stille eine Antwort vernehmen, was er jetzt tun soll, er schaut zu dem Bürostuhl, in dem die Tote zusammengesackt sitzt, geht zur Couch, lässt sich entspannt fallen und schielt mit zufriedenem Lächeln zu der Toten.

„Danke Jasmin“, sagt er, „danke für den Frieden in meinem Herzen“.

Fast eine Stunde sitzt er so da, döst gedankenlos vor sich hin.

Dann wacht er auf.

„So Schätzchen, jetzt kommst du zu deinen Freundinnen. Du bist nicht einsam, ihr könnt miteinander plaudern, ja, ihr ward zu geil für diese Welt, zu heiß, deshalb muss ich euch ‘n bissel abkühlen, kalt machen, wie man in Gangsterkreisen sagt.“

Rock muss lachen über sein Wortspiel.

Er steht auf, geht zur Toten, befreit mit einem Messer Arme und Schenkel von dem Paketklebeband, hebt den Leichnam, der schlaff nach vorn fällt, aus dem Bürostuhl, schiebt ihn sich über die Schulter, stöhnt: „Man ist das Aas schwer“.

Dann geht er das Volkslied „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle“ summend mit der Leiche aus dem Zimmer zur Kellertür, öffnet sie, schaltet das Licht ein, steigt vorsichtig die ausgetretenen Steinstufen hinunter und setzt die Tote in einen barocken Sessel, der vor einer für Großküchen gedachten Kühltruhe steht. Der Kopf der Leiche fällt zur Seite.

„Na Mädchen, nicht schlapp machen“.

Rock geht zur Kühltruhe, hebt den langen Deckel hoch, schaut hinein, grüßt lässig militärisch, indem er die rechte Hand mit spitzen Fingern an die Schläfe führt, sagt: „N‘Abend, die Damen, wünsche wohl geruht zu haben“.

Er dreht sich um, geht zur Toten, nimmt sie auf die Arme, trägt sie zur Kühltruhe, legt sie, dank seiner Kräfte, vorsichtig, als wenn er ein Kind ins Bettchen bringen würde, in die eisige Truhe, sagt: „Träume süß, Baby“. Und schließt sanft, beinahe feierlich den Deckel.

„Eigentlich, Mädchen, tue ich euch einen Gefallen, dass ich euch aus dieser Scheiß Welt befreie und eurem Elend ein Ende mache.“

Aderlass des Bösen

 

Als Kommissar Ebert morgens ins Büro kommt, sitzt sein Assistent Hinze am Laptop, guckt mit zur Seite geneigten Kopf auf den Bildschirm, hält den Kaffeebecher in der Hand und nippt daran.

„Na Hinze, was gibt‘s Neues?“, begrüßt ihn der Kommissar.

„Sie werden lachen, schon wieder eine neue Vermisstenanzeige, wie beim letzten Mal“.

„Das Lachen ist mir bei euch vergangen“, scherzt der Kommissar und gibt Hinze kollegial einen leichten Schlag auf die Schulter.

„Im Ernst Chef, ich vergleiche hier gerade die Anzeige mit ein paar ähnlichen der vergangenen Zeit. Zum zweiten Mal dasselbe Muster: Eine Mutter wird von ihrer Tochter angerufen, welche sagt, sie wird sterben und dann legt sie auf“.

„Und wann ist es diesmal passiert?“

„Gestern gegen 23 Uhr. Jasmin Schütte hat ihre Mutter mobil angerufen, gesagt, ihre Pulsadern wären aufgeschnitten, sie verblute und sei bei einem Mann“.

„Und weiter?

„Nichts weiter, dann war das Gespräch unterbrochen“.

„Wo ist die Mutter?“

„In der Wohnung ihrer Tochter, sie wartet, dass sie nach Hause kommt“.

„Bringen Sie mir mal die anderen Fälle“.

„Hab ich auf dem Schirm“.

Der Kommissar rollt sich einen Bürostuhl heran, setzt sich und schaut sich die Fälle an.

„Ist die vierte Anzeige seit vorigem Jahr“, sagt Hinze.

„Das sehe ich!“

Ebert vergleicht die Anzeigen. Das eine Mädchen sagte am Telefon, jemand hält ihr einen Dolch zwischen die Beine und würde sie gleich aufschlitzen.

„Und gestern sollen einer jungen Frau die Pulsadern aufgeschnitten worden sein“, sagt Ebert in den Bildschirm, „schöne Sauerei, was Hinze?“

„Vor allem dauert‘s, bis man stirbt, der Täter scheint sich zu einem Gourmet-Mörder zu mausern“.

Hinze fährt sich mit seiner Zunge über die Lippen.

Ebert dreht sich zu ihm um, guckt ihn hart an und sagt: „Sagen Sie mal, sind Sie am Verblöden, bekommt ihnen der Job im Morddezernat nicht?“

Hinze guckt beleidigt, schüttelt den Kopf und denkt: „Der Chef soll sich nicht so haben, hab’ hier ganz andere Belustigungen über unsere Mordopfer gehört, da ist selbst mir übel geworden“.

Ebert wartet keine Antwort ab, dreht sich wieder zum Bildschirm und starrt hinein.

„Alles junge Frauen, alles Berlinerinnen, zwei haben mit ihrer Mutter telefoniert – und keine ist bis jetzt wieder aufgetaucht“.

„Wir müssen was tun, Chef!“

„Hinze, Hinze, das weiß ich selbst, bloß was?“

„Wir müssen die Berlinerinnen warnen!“

„Wovor?“