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Rebekka Wulff

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Beschreibung

Die Ruhe vor dem Sturm. Saisonende auf einer kleinen Insel im Norden. Beschauliche Herbsttage. Nur einer sucht die Flutlinie ab, späht übers Meer, prüft den Wind, sagt Sturm voraus. Niemand glaubt ihm. Aber die Zeichen mehren sich, wie früher schon, als die Flut kam – und Menschen auf unerklärliche Weise starben. Wird wieder jemand erschlagen gefunden werden? Wird der Mörder endlich sein Gesicht zeigen, wenn der Sturm kommt? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Rebekka Wulff

Mörderische Flut

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Inhalt

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1

Das ablaufende Wasser prägte seine Wellen in den Schlick. Hinter der Ostspitze der Insel tauchte die Sonne auf, streifte die letzten Rinnsale und schwamm in den herbstblauen Himmel. Es war nahezu windstill.

Onno Barghorn ging den Weg an der Binnenseite des Deiches entlang auf den Ort zu. Er wusste, wieviel Kubikmeter Sand und Kleie die pickelige Teerhaut des Schutzwalls umschloss. Unzählige Male hatte er den Besuchern des Küstenmuseums davon berichtet. An den maßstabsgetreuen Modellen, die er selber baute, erklärte er am liebsten, wie die Menschen seit über hundert Jahren versuchten, sich und ihre Habe gegen Wind und Meer abzuschirmen und den Naturgewalten zu trotzen, Wissen, Können und Technik einzusetzen, koste es was es wolle. Und es kostete. Oft auch Leben. Sturmfluten suchten sie heim, heftiger und in kürzeren Abständen als früher. Im Sommer ließen beleuchtete Promenaden und weißgetünchte Hotels die Einheimischen vergessen, dass sie nicht viel mehr als eine Sandbank bewohnten. Aber eine einzige große Welle konnte die Insel überspülen und alles mit sich fortreißen.

Onno Barghorn erreichte den Deichdurchlass beim Ortseingang. Er folgte nicht der gepflasterten Straße zum Fähranleger, sondern ging hinter dem Seglerhafen ins Vorland hinunter. An der Wattkante blieb er stehen, schmeckte die herbe Luft, sog sie tief ein, spürte, wie sie ihn erfüllte. Dann hörte er das leise Sirren und Glucksen und wusste, dass das Wasser von diesem Moment an wieder auflief. Eine leichte Brise aus Südwest strich über sein Gesicht. Sie brachte die Spur eines Geruchs mit: Verwesung.

Gerriet Harms lenkte sein Pferdefuhrwerk auf den Weg vor dem Deich. Als er den Leiter des Inselmuseums entdeckte, hielt er an. Der stand wenige Meter entfernt, reglos. Seine dunklen Locken fielen fast bis auf die Kapuze des blauen Parkas, der über dem breiten Rücken und den langen Beinen zu knapp erschien. Seine Hose steckte in kurzen Gummistiefeln. Was er wohl sieht, fragte sich Harms. Er wusste, dass Onno stundenlang so stehen konnte.

»Moin Onno«, rief er schließlich den alten Gruß hinüber, der hier für jede Tageszeit galt.

Onno Barghorn rührte sich nicht.

»Wie geht’s«, schickte Harms hinterher. Er kam sich wieder vor wie ein Kind, erinnerte sich an die Streifzüge, die er als Junge mit seinen Freunden durch die Dünen unternommen hatte. Manchmal trafen sie dabei unverhofft auf Onno. Er war nicht viel älter als sie, aber immer allein unterwegs. Meistens saß er nur so da und starrte stumm vor sich hin. Sie liefen dann schnell weiter.

»Lasst ihn in Ruhe«, hörte Gerriet Harms seit dreißig Jahren die Mahnung seiner Mutter, »Onno hat schon so viel durchgemacht.«

Jetzt drehte Onno Barghorn sich langsam um. Gegen die Sonne erschien sein Gesicht dunkel. Der Fuhrmann brauchte nicht mehr zu sehen, um zu erkennen, dass der andere ihn noch gar nicht bemerkt hatte. Er hob die Hand zum Gruß. Die Bewegung drang bis zu Onno Barghorn vor.

»Moin Moin«, murmelte er zurück.

Harms hielt das für einen Reflex. Aber Onno kam auf ihn zu. Als er den Pferdewagen erreicht hatte, fragte Harms noch einmal wie es ihm gehe. Der Leiter des Inselmuseums sah ihn mit abwesendem Blick an.

»Es wird Sturm geben«, sagte er schließlich.

»Sturm?«

Onno Barghorn nickte.

Wie viele Einheimische, kannte sich auch der Fuhrmann mit Wetterzeichen aus. Seinem Großvater, der zur See gefahren war, hatte er allerlei abgelauscht. So schickte er seinen Blick übers Watt, den Horizont entlang, über die Insel hinter sich und in den Himmel über sich. Es war außergewöhnlich warm für Ende Oktober, klar, keine Wolkenbildung. Was sollte da in der Luft liegen? Sie hatten so sonnige Spätsommertage gehabt, dass alle Quartiere in den Herbstferien ausgebucht gewesen waren. Ende September hatte Tjark Visser ihn sogar überredet, ihm noch einmal mit den Strandkörben zu helfen. Anfang des Monats hatten sie wie üblich alle bereits in der Halle für den Winter untergestellt. Dann waren die Gäste gekommen und das Wetter hatte sich beständiger gezeigt, als im Juni. Visser zahlte gut und der Fuhrmann hatte versprochen, im Notfall jederzeit zum erneuten Einholen der Körbe wieder bereitzustehen. Selbst bei Vollmond stieg die Flut kaum höher als das mittlere Tidehochwasser, und das ließ jeden Wind- und Sonnenschutz im Trockenen stehen. Keine Zeichen für Unwetter.

Gerriet Harms schüttelte den Kopf. »Du und deine Riesenwelle«, brummte er.

Onno sagte nichts.

Der Fuhrmann setzte sich zurecht. »Ich muss los. Tschüs auch.«

»Tschüs!«, rief Onno Barghorn, als der andere schon seine Pferde antrieb.

 

Vom Giebelfenster ihres Zimmers aus, sah Elisabeth Wiebrand Onno Barghorn über den Deich kommen. Sie brauchte die Schulklasse, die sich für heute vormittag angemeldet hatte, also nicht zu übernehmen. Onno Barghorn liebte es, die Küstenlandschaft mit all ihren Pflanzen und Tieren für die Kinder lebendig werden zu lassen. Er verstand es, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, ihren Sinn für Gefahren zu schärfen, alle ihre Fragen zu beantworten. Elisabeth zog die Arbeit am Schreibtisch vor. Sie hatte schließlich einen Koffer voll Bücher mitgebracht und ihre Zeit hier war begrenzt. Jetzt lief sie hinunter, schloss das Museum auf und hakte die Tür fest.

Früh am Morgen hatte sie gehört, wie Onno das Haus verließ. Er ging oft hinaus und blieb lange weg. Sie überlegte nicht zum ersten Mal, ob sie ihm folgen sollte. Vielleicht würde sie ihn einfach bitten, sie mitzunehmen auf seinen Erkundungstouren, Kontrollgängen, Wanderungen. Sie konnte beobachten, zuhören oder mit ihm schweigen.

Elisabeth öffnete die Fensterläden des Museums. Das Sonnenlicht schwappte herein, floss in die Ecken, stieg in die Schaukästen, gab den Muschelschalen hinter Glas einen Schimmer längst vergangenen Lebens zurück.

Onno kam durch den Garten, vorbei an dem Treibholzstapel, den er im Winkel zwischen Haus und Anbau aufgeschichtet hatte. Er betrat das Museum, tauschte seine Gummistiefel auf dem Rost am Eingang gegen Halbschuhe, erschrak, als Elisabeth ihm »Moin Moin« entgegenrief.

Er hatte diese Elisabeth Wiebrand nicht hergebeten. Er brauchte keine Hilfe. Er wusste nicht mehr, warum er nachgab, als sie herkam, bat, den Winter über hier wohnen zu dürfen und versprach, ihn nicht zu stören. Sie wollte nur ihre Doktorarbeit in Ruhe beenden, sagte sie. Nun lebte sie in seinem Haus, zumindest für diesen Winter. Sie war so blond wie Greetje, ihre Augen so aufwühlend blau, wie er es nur einmal zuvor gesehen hatte. Elisabeth war gut zehn Jahre jünger, als seine Verlobte jetzt gewesen wäre. Er zog seinen Parka aus und trug ihn zu den Garderobenhaken hinüber. Er wollte sich nicht erinnern.

»Die Kinder kommen um elf«, sagte Elisabeth.

»Ich weiß«, gab Onno zurück. Er absolvierte seinen morgendlichen Rundgang durch alle Räume. Die Karten, Modelle, Schautafeln und Präparate brachten ihn hin und wieder auf neue Ideen. Heute blieb sein Kopf leer. Erst als ihn Kinderstimmen und Lachen erreichten ging er zurück. Im Vorraum legten die Schüler gerade ihre Rucksäcke und Jacken ab. Er winkte sie zu sich heran. Elisabeth blieb nicht weit von der Tür entfernt stehen. Sie hörte, wie er muntere Köder auswarf und die Mädchen und Jungen danach schnappten. Dann führte er sie in den Raum mit den Sturmflutfotos und den Deichmodellen. Von dort konnte sie nur noch einzelne Begriffe verstehen. Buschzäune, Helmbepflanzung, Dammkrone. Zauberworte, die er nur für Elisabeth erfunden zu haben schien. Hätte er sie sonst so angesehen, seine hellen Augen nicht von ihren gelassen, als er ihr die Ausstellungsstücke zum ersten Mal gezeigt hatte?

 

Gerriet Harms und Tjark Visser hoben den letzten Strandkorb vom Wagen und trugen ihn in die Halle. Sie setzten ihn ab.

»Das war’s dann wohl«, sagte der Fuhrmann.

»Tja, ist doch noch eine anständige Saison geworden«, meinte Tjark Visser.

»Wenn du das schon von selbst zugibst!«

Der Strandkörbevermieter zählte Harms Geld hin. Der steckte die Scheine ein.

»Falls du vorhast Weihnachten welche rauszustellen, sag rechtzeitig Bescheid.«

Visser grinste den Fuhrmann an. »Unsere Zimmer sind schon fast ausgebucht zum Jahreswechsel.«

»Die stillen Winter sind vorbei.«

»Nur ein paar Tage Trubel. Die meisten Gäste reisen ja gleich nach Neujahr wieder ab.« Visser schloss die Strandkorbhalle zu.

Als sie zum Pferdewagen zurückgingen, kam Kapitän Koolmann den Weg herunter.

»Moin zusammen«, grüßte er die beiden. Dabei tippte er sich mit dem rechten Zeigefinger an den Elbsegler, der mit seinem Kopf verwachsen zu sein schien. Seine Pfeife hing im Mundwinkel. In der linken Hand trug er Eimer und Bürsten. Er steuerte auf seinen Werkzeug- und Geräteschuppen zu. »Gibt’s was Neues?«

Visser und Harms zündeten sich Zigaretten an und schlenderten zu Koolmann hinüber.

»Onno Barghorn hat Sturm vorhergesagt«, rief Tjark Visser. »Gerriet hat ihn heute morgen getroffen.«

Der Fuhrmann nickte nur.

Kapitän Koolmann stellte seine Eimer ab. »So, Sturm«, murmelte er.

»Was meinst du dazu, Käpt’n«, wollte Visser wissen.

»Ja nun, ich habe meinen Dampfer geschrubbt, will klar Schiff machen, bevor das Wetter womöglich umschlägt. Heike hat noch gefragt, ob das unbedingt sein muss. Sie wollte, dass ich ihr helfe. Matratzen zum Auslüften in den Garten legen und so’n Kram. Du und dein Kahn, hat sie mir hinterhergerufen, als ich zu meiner ›Lady von Balje‹ bin. Dass mich der Gedanke an Sturm getrieben hat, kann ich nicht sagen.«

Tjark Visser lachte.

»Hast du dich umgesehen«, fragte Harms.

»Nicht besonders«, erwiderte Kapitän Koolmann.

»Es ist nicht erst seit gestern schön«, gab Harms zu bedenken.

»Scheint beständig, aber wir wissen doch alle, wie schnell sich die Lage hier ändern kann.«

»Du meinst, der Wind frischt auf«, wollte Visser wissen.

»Schwer zu sagen.«

»Aber der Onno Barghorn«, drängelte Visser weiter, »wie kann der einfach behaupten, dass es Sturm gibt?«

Gerriet Harms trat seine Zigarette aus, während der Strandkörbebesitzer noch einen Zug nahm und sich fast die Fingerspitzen dabei ansengte.

»Ach Tjark, du müsstest dich doch daran erinnern, was Sturmfluten für unseren Onno bedeuten.« Kapitän Koolmann griff nach seinen Eimern. »Na, nichts für ungut, ihr Zwei, ich halte die Augen offen.«

 

Janna Mommen stellte eine neue Kerze ins Stövchen. Auf dem Herd stieß der Kessel Dampfschwaden aus. Die Porzellankanne mit dem Traditionsmuster ostfriesische Rose stand vorgewärmt bereit, daneben die Dose mit Tee. Janna Mommen maß die Blätter ab, goss etwas von dem kochenden Wasser auf, sah zu, wie der Sud begann sich von unten her dunkel zu färben. Im Dorf wusste jeder, dass es hier immer frischen Tee gab und viele ›ihrer Kinder‹ schauten über den Tag auf eine Tasse vorbei.

Janna Mommen lebte am Ortsausgang, auf dem Weg zur Siedlung, genau in der Mitte des bewohnten Teils der Insel. Der günstigste Platz für das Haus einer Hebamme hatten die Einheimischen vor mehr als fünfzig Jahren gefunden und selbst Hand angelegt. Gleich nach ihrer Ausbildung kam sie als junge Frau vom Festland herüber, half im Eiswinter 1947 den ersten Säuglingen auf die Welt. Mit ihrer Ledertasche am Lenker radelte sie bei Wind und Wetter zu den Geburten. Nur in der Sturmflutnacht im Februar 1962 kämpfte sie vergeblich. Als sie die Gebärende endlich erreichte, war es für Mutter und Kind zu spät.

Janna Mommen legte ihre schmalen, faltigen Hände um die Teekanne. Mit der Wärme stieg die Erinnerung an den Empfang zu ihrer Pensionierung in ihr auf. Alle Mädchen und Jungen, die sie nicht nur in ihren ersten Lebensminuten begleitet hatte, versammelten sich, um sie zu verabschieden. Der Älteste war vierzig Jahre, das Jüngste noch nicht einmal vier Tage alt. Längst lebten nicht mehr alle auf der Insel, einige reisten ihr zu Ehren von weit her an. Über der Kommode in der guten Stube hing seitdem ein gerahmtes Bild, das sie im Kreise aller ›ihrer Kinder‹ zeigte. Oft blieb sie davor stehen, suchte nach jemand Bestimmten oder sah einfach nur von einem zum anderen. Seit fast zehn Jahren genoss sie ihren Ruhestand. Dazu zählte auch, dass ab und zu das Telefon klingelte und eine Schwangere ihre Hilfe brauchte. Dann griff sie ihre Tasche und stieg auf ihr Fahrrad, egal wie spät es gerade war. Die Stelle der Inselhebamme war nicht neu besetzt worden. Frauen, die kurz vor der Entbindung standen, sollten aufs Festland gebracht werden. Aber Babys hielten sich nun mal nicht an Termine, und Wetter und Wasserstand kannten keine Rücksicht.

Janna Mommen goss den Rest des kochenden Wassers auf den dunklen, öligen Sud. Dann trug sie Teekanne und Stövchen in die Stube. Auf dem mächtigen runden Holztisch mit der bestickten Decke stellte sie beides ab. Sie sah zu der Standuhr in der Ecke, deren Messingpendel hinter der Glasscheibe unermüdlich hin und her schwang. Die ziselierten Zeiger bewegten sich auf vier Uhr zu. Heike Koolmann würde jeden Moment an der Tür klingeln. Sie war immer die erste beim Dienstagskränzchen, vielleicht als Ausgleich dafür, dass sie damals ›nur‹ das zweite Kind war, dem Janna Mommen ins Leben geholfen hatte.

Die pensionierte Hebamme dachte an Heike als kleines Mädchen zurück. Wenn sie mit fliegenden Zöpfen angelaufen kam, gab es Neuigkeiten. Beim Erzählen verschluckte sie Vorsilben und Endungen. Als Heike später ihren Schatz kennenlernte, fehlten ihren Mitteilungen sogar ganze Worte. Alle, die sie kannten, fragten sich, ob sie bei der Trauung mit dem Kapitän wohl ein ›Ja‹ herausbringen würde.

Janna Mommen nahm die dünnwandigen kleinen Tassen aus der Vitrine.

»Ist offen«, rief sie, als sie jemanden an der Tür hörte.

»Moin Moin«, grüßte Heike noch vom Flur aus, dann stand sie auch schon in der Stube. »Janna, wie geht’s, bin ich zu früh? Was riecht das hier wieder lecker, Butterkuchen?«

»In der Backröhre«, bestätigte die alte Hebamme. Sie stellte Teller auf den Tisch, schüttete Kandiszucker in eine Schale und nahm das Rahmkännchen mit in die Küche. Heike Koolmann lehnte schon an dem weißgestrichenen Büfett mit den Blümchengardinen hinter den Glasscheiben der obersten Türen. Janna Mommen nahm ein großes Messer aus der Schublade und reichte es ihrem Gast. »Hilfst du mir mit dem Kuchen, Heike?« Sie selbst füllte flüssige Sahne um und hängte den Löffel mit dem gebogenen Stiel ein. Dabei überlegte sie, ob sie ihr die Freude machen sollte, jetzt schon zu fragen, was es Neues gibt. Durch das Küchenfenster sah sie, wie Kea Griese, Theda Visser und Insa Meminga den Vorgarten betraten.

»Die anderen«, sagte Heike Koolmann, ihre Stimme verriet Bedauern.

Janna Mommen ging ihren Besucherinnen entgegen. Sie wusste nicht mehr genau, wie lange sie sich schon regelmäßig dienstags bei ihr trafen, die Verabredung ging aber weit in die Zeit zurück, zu der sie immer erreichbar sein musste. Keine der Frauen versäumte ein Treffen freiwillig. Selbst wenn sie in der Saison das eigene Haus voller Feriengäste hatten, mussten die Teestunden bei Janna Mommen sein. Wie sie sich als kleine Mädchen unter die Schürze der Mutter oder Großmutter flüchteten, kamen sie heute hierher. Sie konnten reden, lachen, schweigen und gemeinsam weinen, wie damals, nach der Sturmflut von 1990, als Kea Grieses Mann sich von einer Böe erfasst, den Kopf an einem angeschwemmten Holzbalken eingeschlagen hatte. Der Rentner, der das Zimmervermieten seiner Frau überlassen hatte, war wacklig auf den Beinen gewesen, und niemand verstand, was er bei solchem Wetter am Strand zu suchen gehabt hatte. Sie hatten bis in die Nacht beim Tee gesessen, der Witwe zugehört. Das Spinnrad war stumm geblieben und Theda Visser, die den ganzen Winter über Pullover für das Geschäft ihrer Schwester strickte, hatte die dicken Nadeln im Wollknäuel stecken lassen.

Heike Koolmann trug die Platte mit dem Butterkuchen herein, als die anderen Frauen ins Wohnzimmer kamen.

»Ach, du bist schon da«, rief Insa Meminga.

»Ich muss nicht um Erlaubnis fragen, bevor ich das Haus verlasse«, gab Heike Koolmann zurück.

Sie setzten sich auf ihre gewohnten Plätze rund um den Tisch. Eine nach der anderen legte einen Brocken Kandis in ihre Tasse. Der heiße Tee, den Janna Mommen aufgoss, brachte die Brocken zum Bersten. Das Rahmkännchen wurde herumgereicht, jede gab mit dem eingehängten Löffel eine Sahnewolke auf ihren Tee, sah den hellen Schlieren zu, wartete bis sie sich ganz durch die Tässchen zogen. Der erste, herbe Schluck erinnerte Janna Mommen an Zeiten, in denen nicht einmal auf dem Festland guter Tee zu bekommen gewesen war. Der zweite, besonders sahnige Schluck schmeckte für Insa Meminga nach dem Wohlstand, den ihr Komforthotel ihr und ihrem Mann einbrachte. Den dritten, richtig süßen Schluck genoss Theda Visser am meisten, und manchmal ließ sie von den anderen unbemerkt, wie sie meinte, einen weiteren Kandisbrocken in ihre Tasse rutschen. Die Gastgeberin schenkte neu ein und forderte die Frauen auf, beim Kuchen ordentlich zuzulangen. Noch warm verströmte er den Duft von Hefe, Mandeln und geschmolzener Butter.

Witwe Griese fragte endlich, was es denn Neues gebe. Heike Koolmann würgte an Krümeln. Seit sie vorhin das Haus betreten hatte, wartete sie auf diesen einen Satz, ihren Einsatz gewissermaßen, in dem Konzert für fünf Teetrinkerinnen. Der aufkommende Hustenreiz trieb ihr Tränen in die Augen. Sie sog Luft durch die Nase ein, versuchte das Kratzen in der Kehle genauso niederzukämpfen wie ihre Wut darüber, dass ihr das schon wieder passierte. Dabei hatte sie sich alles so schön ausgemalt, vorhin beim Mittagessen, nachdem ihr Mann nach Hause gekommen war und von Onno Barghorns Prophezeiung erzählt hatte. Am liebsten wäre sie gleich nach Tisch zu Janna Mommen gelaufen, um zu erkunden, was sie davon hielt. Als Kapitän Koolmann aber nicht wie geplant zu seinem Schiff zurückging, sondern auf der Eckbank in der Küche sitzen blieb, die Zeitung aufschlug und sie um einen Kaffee bat, verschob Heike ihr Vorhaben.

Jetzt stürzte sie einen Schluck Tee hinunter und räusperte sich. »Habt ihr schon gehört«, brachte sie schlicht heraus, »es soll Sturm geben.«

Kea Grieses Hand begann zu zittern, so dass sie mit ihrer Teetasse gegen den Teller stieß. Sonst war es still in der Stube.

Bevor das Ticken der Standuhr unerträglich werden konnte, sagte Theda Visser: »Ja, Tjark hat auch so eine Bemerkung gemacht. Sie haben’s wohl von Onno Barghorn.«

»Ach, dem Museumsheini spukt wohl wieder seine Riesenwelle durch den Kopf«, meinte Insa Meminga. Als sie die Blicke der anderen auf sich spürte, fing sie an, sich auf die Lippen zu beißen, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte.

Janna Mommen griff nach der Teekanne. Reihum hoben die Frauen ihr ihre Tassen entgegen und ließen von Insa ab.

Witwe Griese schluchzte. Die Gastgeberin, die neben ihr saß, streckte den Arm aus und strich ihr über den knochigen Rücken.

»Jedes Unwetter fordert seine Opfer«, hielt Theda Visser fest, »erwischen kann es jeden. Nenn mir nur eine Familie, die noch nicht betroffen ist.«

»Früher«, versuchte Insa Meminga, »früher hat so eine Flutwelle gleich hunderte Menschen weggerafft.«

»Und wenn es auch nur ein einziger ist«, warf Janna Mommen ein, »ist es für uns einer zu viel.«

»Früher sind die Sturmflutopfer auch ertrunken«, rief Heike Koolmann, »heute werden sie erschlagen.«

»Eine Heimsuchung«, jammerte Kea Griese, »eine wahre Heimsuchung.«

»Ach was«, murmelte Insa Meminga. Sie saß an Kea Grieses rechter Seite und traute sich nun auch, die Hand auszustrecken und über den Arm der Witwe zu streicheln.

»Ein Unfall«, sagte Theda Visser, »Unfälle passieren.«

»Ja«, fuhr Heike Koolmann dazwischen, »aber nicht regelmäßig.«

 

Bole Meminga saß auf seinem Lieblingsplatz, hinter der Theke aus poliertem Holz. Die Zapfanlage mit den Messinghähnen vor sich, das Bord mit den Flaschen hinter sich, gaben ihm das Gefühl bestehen zu können, auch wenn er die Namen auf den feinen Etiketten nicht richtig aussprechen konnte. Der Schankraum war leer und das Hotel hatte zur Zeit keine Gäste. Er strich sich über seinen nahezu kahlen Schädel, überlegte, ob er sich ein Bier genehmigen sollte. Seine Frau war schon am Nachmittag zu ihrem Teekränzchen bei der alten Hebamme gegangen, und wenn die Weibsen erst mal ins Klönen kamen …

Die Tür mit den Butzenscheiben, die direkt auf die Straße führte, wurde geöffnet. Kapitän Koolmann trat ein, und hinter ihm wurde wie immer der Strandkörbebesitzer Tjark Visser sichtbar. Der Kapitän tippte sich an die Mütze und grüßte, ohne seine Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

»Moin Bole«, ließ sich Tjark Visser vernehmen, nachdem er die Tür geschlossen hatte.

»Moin Moin«, lachte der Gastwirt, denn er wusste, dass die beiden nur bei ihm einkehrten, weil ihre Frauen auch zum Tee aus waren. »Bier oder Schluck?«

»Beides«, brummte der Kapitän.

Bole Meminga drehte drei Biergläser um, stellte das erste unter den Hahn, die anderen daneben, begann zu zapfen. Außerhalb der Saison ließ er den Gerstensaft nur rechts fließen. Während der Schaum sich setzte, holte er die Flasche mit dem Klaren aus dem Eisfach und goss ein. Die Stamper beschlugen, noch bevor er sie seinen Besuchern hinüberschieben konnte. »Der geht auf mich«, fügte er hinzu. »Na dann prost!«

Sie leerten ihre Gläser in einem Zug. Da das Bier noch auf sich warten ließ, begann Kapitän Koolmann seine Pfeife zu stopfen. Tjark Visser suchte nach seinen Zigaretten. Erst als er aufstand, um zum Automaten zu gehen, der im Durchgang zu den Toiletten aufgestellt war, fand er die Packung in der Innentasche seiner Jacke. Dorthin steckte er sie sonst nie.

»He Tjark, was is?«, wollte Bole Meminga wissen. »Hast du deinen Anteil am Strandkorbgewinn schon wieder verjubelt und bringst jetzt den von Theda unter die Leute?«

Visser, der sich gerade eine Zigarette anzündete, schüttelte den Kopf. Er stieß den Rauch aus. »Ach was.«

»Aber irgendetwas beschäftigt dich doch«, hakte der Gastwirt nach. Dabei zapfte er die letzten Tropfen Bier, achtete darauf, dass der Schaum über den Rand stieg, aber nicht überlief. Zwei Gläser platzierte er auf den Deckeln, die bereits auf dem Tresen lagen, das dritte behielt er in der Hand. »Auf einen ruhigen Winter!«

»Erzähl du, Käpt’n«, sagte Tjark Visser, nachdem sie ihre Gläser abgesetzt hatten.

»Ja nun, was gibt’s da viel zu erzählen? Tjark hat sich heute früh mit Gerriet Harms getroffen. Der hatte zuvor Onno Barghorn im Watt gesehen, und der hat Sturm vorhergesagt.«

»Ja und?«

»Weißt du denn nicht mehr, was bei der letzten Sturmflut passiert ist?«

»Doch doch«, erwiderte Bole Meminga, »Dierk hat’s erwischt. Keine viertel Stunde, nachdem er unseren Posten am Deichdurchlass verlassen hatte. Dabei warf einen Kerl wie unseren Wattführer so leicht nichts um.«

»Eben, eben.« Tjark Visser zerdrückte den Stummel seiner Zigarette im Aschenbecher. »Diese Holzplanke lag doch auch viel zu weit weg. Wenn sich einer so den Schädel einschlägt, dann rafft er sich nicht noch einmal auf.«

»Was willst du machen«, sagte der Gastwirt, »die Ermittlungen sind eingestellt.«

»Für die vom Festland vielleicht. Aber was wissen die schon?«

»Du glaubst doch nicht etwa, dass einer von uns Einheimischen etwas damit zu tun haben könnte.«

Tjark Visser schwieg.

»Und du, Fokko?«, wandte sich der Gastwirt an Kapitän Koolmann.

Würzige Rauchwolken stiegen aus dessen Pfeife auf, bevor er sich zu einem »Ich weiß nicht« hinreißen ließ.

»Das ist doch … Ihr seid ja …« Rote Flecken erschienen auf Bole Memingas Hals, brachten sein Gesicht und den Schädel bis zu dem spärlichen Haarkranz, der sich von einem Ohr zum anderen zog, zum Erglühen. Er trank sein Bier in einem Zug aus und stellte das Glas auf seiner Seite des Tresens hart ab. »Sicher habt ihr auch schon einen Verdächtigen.«

»Eigentlich nicht«, gab Tjark Visser zu. »Man müsste erst mal Überlegungen anstellen. Vielleicht gibt es Zusammenhänge … Unser Käpt’n wäre der richtige Mann dafür. Der kennt sich aus in der Welt und hat schon so manches für uns geregelt.«

Kapitän Koolmann sagte nichts dazu.

»Mit wem habt ihr darüber geredet?«

»Nur mit dir. Bisher.«

Bole Meminga langte erneut nach der Flasche im Eisfach. Ohne zu fragen schenkte er nach. Fast gleichzeitig schütteten die Drei den Klaren hinunter. »Und wen wollt ihr einweihen«, fragte der Gastwirt dann.

»Die Unwetterwächter«, antwortete der Kapitän und nahm dazu sogar die Pfeife aus dem Mund.

»Jeder von uns kann der Nächste sein«, ereiferte sich Tjark Visser. »Wir sind doch die einzigen, die noch draußen herumlaufen, wenn Wind und Wellen die Musik machen. Wenn richtig aufgespielt wird, haben sich die anderen längst in ihre Häuser verkrochen, und das ist auch gut so. Wir bewachen schließlich den Deich und sind nicht Begleitschutz für die weniger Standhaften.«

Bole nickte. »Du hast ja recht, Tjark.«

»Dann müssen wir Melf herrufen.«

»Der zählt sicher mit Gesche gerade seine Tageseinnahmen.«

»Darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Und Gerriet Harms fehlt auch noch.«

»Du weißt ja, wo das Telefon steht«, sagte der Gastwirt zu Tjark Visser. »Ich lass uns inzwischen noch ein Bier einlaufen.«

Als die Tür zur Hotelhalle hinter dem anderen zugefallen war, wandte er sich an Kapitän Koolmann: »Was denkst du, Fokko, übertreibt er nicht ein bisschen? Es geht doch nicht darum jemanden zu ertappen, der einen Strandkorb nutzt, ohne die Miete dafür bezahlt zu haben.«

»Ja. Aber ich habe mir auch meine Gedanken gemacht, damals, als es Dierk erwischt hat. Selbst einen wie mich lässt so etwas nicht so leicht los. Ich habe überlegt, ob das ein unglücklicher Zufall war oder nicht, ob einer zugeschlagen haben könnte, ob die Unfälle bei den Sturmfluten davor womöglich auch keine Unfälle waren und ob das vielleicht System hat.«

Bole Meminga sah den Kapitän an. »Du hast nie …«

»Ist nicht meine Art darüber zu reden.«

Der Gastwirt schob abwechselnd die Gläser unter den Zapfhahn. »Und jetzt?«

»Abwarten, ob es wirklich eine Sturmflut gibt.«

»Und seelenruhig zusehen, wer diesmal Opfer wird? Das nächste Bier zapft euch dann meine Witwe Insa!«

»Bole, Bole.«

Tjark Visser kam zurück, setzte sich wieder auf seinen Hocker an der Theke. »Gesche hat das mit der Sturmflut für eine Ausrede gehalten. Sie wollte Melf nicht gehen lassen.«

Die Drei lachten.

»Wenn er sie nicht immer so einspannen würde, im Supermarkt und mit der Buchführung nach Feierabend, würde sie ihm auch mal ein Bier außer Haus erlauben«, bemerkte Bole Meminga.

»Du musst es ja wissen.«

 

Onno Barghorn trug Eimer mit Sand und Kleie über die Terrasse in sein Arbeitszimmer. Im Erdgeschoss des Wohnhauses gelegen, war es früher ein Teil der großzügig bemessenen guten Stube gewesen. Er hatte es abgetrennt und leer geräumt. Eine nahezu quadratische Spanplatte auf zwei Böcken stand in der Mitte des Raumes. Hier baute er seine Modelle. In einem Regal, das fast bis an die Decke reichte, lagen Werkzeuge in allen Größen. An der Wand daneben lehnten Bretter. In einer Plastikwanne lagen dünne, abgebrochene Zweige, und in einer zweiten Stücke vom Treibholz, die Onno auf dem Hauklotz hinterm Haus zerhackt hatte.

Seine nächste Arbeit sollte der verkleinerte Nachbau des Deiches werden, den die Insulaner 1925 bis 1930 an der Nordseite des Binnensees, am ehemaligen Durchbruch der Insel, errichtet hatten. Dabei blieb jedes Element der Konstruktion ein Stück weit sichtbar. Die Bodenplatte war bereits vorbereitet. Onno schüttete Zweige auf den Tisch, zog sie auseinander, sortierte. Die stabileren steckte er in die Löcher, die er am Tag zuvor parallel in zwei Reihen, in die Bodenplatte gebohrt hatte. Die längeren, biegsameren wand er dann wie ein Korbflechter um die stehenden Stecken herum. Am Ende sollten zwei Buschzäune in einigem Abstand nebeneinanderher laufen. Gewöhnlich arbeiteten Onnos kräftige Finger ruhig und sicher. Heute zerdrückte er so viele Äste, dass der Nachschub ausging. Nicht einmal eine Reihe bekam er fertig. Seine Hände begannen zu zittern. Er stand auf. Wenn er jetzt noch irgendetwas anfassen würde, müsste er morgen ganz von vorne beginnen.

Onno löschte das Licht, ging hinaus, schloss die Terrassentür ab. Im Garten blieb er stehen, sah sich um. Haus und Museum lagen im Dunkeln. Eine schwache Brise strich über die Blätter. Ihr leichtes Wiegen im Wind hörte sich für ihn wie Seufzen an. Er ging zur Straße vor, entschloss sich dann aber nicht weiter zum Deich zu gehen. Das Wasser lief wieder auf. Er wusste, dass die Wellen langsam anrollten. Die Strandseite der Insel erreichten sie zuerst. Dort würde er sich den Spülsaum ansehen müssen. Früh, wenn die Flut noch nicht allzu lange auf dem Rückzug war.

 

Melf Christophers schlich sich durch den Hintereingang seines Hauses, der vom Garten aus in die Küche führte. In der Diele zog er seine Schuhe aus. Ohne Licht einzuschalten stieg er die Treppe hinauf. Pie dritte und die siebente Stufe ließ er aus, weil sie knarrten. Im Badezimmer legte er seine Kleider ab, klinkte die Tür nicht ein. Zwei Schritte über den Flur und auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer. Kaum war er über die Schwelle, knipste Gesche die Nachttischlampe an.

»Glaubst du, ich kann einschlafen, solange du unterwegs bist?«

Melf schwieg. Er griff nach seinem Schlafanzug. Dann sah er auf seine Frau. Nein, die Gelegenheit war nicht günstig. Sie konnte es nicht leiden, wenn er nach Bier, Schnaps und Tabaksqualm roch. Dabei hatte er gar nicht viel getrunken, wollte einen klaren Kopf behalten. Übel war ihm eher von dem Gerede über Mord und Totschlag. Zuerst glaubte er, dass die anderen Unwetterwächter einfach schon zu viel aus Bole Memingas Schnapsflasche genossen hatten. Aber dann hörte er, wie ernsthaft Kapitän Koolmann die Sache betrachtete.

»Und was ist nun mit der Sturmflut«, fragte Gesche, als er sich aufs Bett setzte.

»Der vom Museum hat gesagt, da braut sich was zusammen.«

»Was können Männer doch hysterisch sein.« Sie schaltete das Licht aus.

Melf schlüpfte unter die Decke und schob sich bis zur Mitte des Bettes vor. »Ich weiß nicht«, flüsterte er.

»Ich bitte dich, Melf, aus heiterem Himmel?«

»Das wäre ja nicht das erste Mal.«

»Ihr hättet euch lieber wegen der Vorräte für den Winter absprechen sollen. Wenn das wieder so kalt wird und wir vom Festland abgeschnitten sind … Du hast ja gesehen, dass wir uns auf die Versorgung aus der Luft auch nicht verlassen können. Oder hast du schon vergessen, dass bei gefrierendem Nebel gar nichts läuft?«

»Nein«, gab Melf zurück. Er ärgerte sich, dass sie davon anfing, ihn ausgerechnet jetzt daran erinnerte. Die Einheimischen regten sich Jahr für Jahr darüber auf, dass er im Herbst, wenn längst alle Touristen wieder Festlandsboden unter den Füßen hatten, die Preise im Supermarkt nicht senkte. Dabei musste er das ganze Jahr über diesen horrenden Aufschlag für den Transport der Lebensmittel auf die Insel zahlen. Es gab keine Ermäßigung für mehr oder weniger Container. Seine Nachbarn verdienten doch gut an ihren Gästen. Ohne den Laden hätte er drei bis vier Ferienwohnungen, die er zusätzlich vermieten könnte. So kamen seine Haupteinnahmen eben aus dem Geschäft. Dafür saß er auch von morgens bis abends, in der Haupturlaubszeit sogar sonntags, an der Kasse und Gesche verkaufte an der Wurst- und Käsetheke, während sich die Vermieter hinter ihren Häusern im Garten ausstreckten.

Und im Winter stellten sie Ansprüche. Witwe Griese wollte zweimal in der Woche ihr Achtel feine Leberwurst, fragte sich nicht, was mit den restlichen drei Vierteln geschah. Und wer kam nicht alles mit Sonderwünschen, wollte kaum akzeptieren, dass er dieses Gebäck oder jene Sauce nicht im Sortiment führte. Umso schwieriger war es die Vorräte abzuschätzen. Frischwaren konnten sowieso nicht gelagert werden. Einiges an Obst, Gemüse, Wurst und Fleisch ließ sich durch Konserven ersetzen. Tiefkühlgut wurde zwar von den Kunden bevorzugt, aber seine Kapazität für Gefrorenes war begrenzt. Trocken- und Fertigprodukte in großer Zahl ergänzten die Auswahl, und manchmal wünschte sich der Kaufmann, dass seine Kunden beim Einkauf flexibler reagierten.

Melf streckte seine Hand aus, legte sie vorsichtig auf Gesches Bettdecke und wartete. Als er angespannt lauschte, merkte er, dass ihre Atemzüge tief und gleichmäßig waren. Er drehte sich auf die Seite, versuchte ihr Profil zu erkennen, aber es war zu dunkel. Seine Gesche. Vielleicht hatte sie sich ihr Leben mit ihm anders vorgestellt. Sie waren seit fünfzehn Jahren verheiratet, kannten sich länger. Sie war vom Festland gekommen, um die Saison über im Supermarkt zu arbeiten. Er hatte sie gleich gebeten zu bleiben. Sie hatte den Winter über Bedenkzeit gefordert, dann aber schon nach Weihnachten mit größerem Gepäck die Fähre bestiegen. Melf hatte nichts auf den Inselklatsch gegeben und ihr das schönste Zimmer in seinem Haus hergerichtet.

In diesem Frühjahr wurde ihr Sohn vierzehn. Es machte ihm Spaß im Laden mitzuhelfen. Geschwister bekam Jan nicht. Nachdem Gesche zwei Fehlgeburten erlitten hatte, musste er als Einzelkind aufwachsen. Melf glaubte nicht, dass ihm das schadete. Der Kaufmann freute sich, dass er sich in der ruhigeren Jahreszeit mehr um seine Familie kümmern konnte. Mal sehen, ob nicht ein paar Tage Urlaub möglich waren. In den Bergen, wo Schnee und Kälte Vergnügen bedeuteten, oder weit im Süden, wo die Sonne selbst im Dezember brannte. Er würde sich erkundigen. Gleich morgen, würde Gesche und Jan mit seinem Vorschlag überraschen.

2

Elisabeth sah auf ihren Wecker mit den roten Leuchtziffern. Drei Uhr neunundfünfzig. Sie rieb sich die Augen. Die Anzeige sprang auf vier Uhr um. Sie hörte Schritte auf dem Flur, auf der Treppe. Vielleicht wollte Onno heimlich seinen eigenen Kühlschrank plündern. Elisabeth überlegte, ob sie ihn vor offener Tür in grellem Licht stellen sollte. Da fiel ihm der Schlüsselbund auf die Fußbodenkacheln in der Diele.

Sie setzte sich im Bett auf. Um diese Zeit hatte Onno noch nie das Haus verlassen, jedenfalls nicht solange sie hier war, und das waren immerhin schon acht Wochen. Das Schloss schnappte ein. Sie stand auf, tappte die paar Schritte barfuß zum Fenster. Im Aufschein des Bewegungsmelders sah sie Onno durch den Garten gehen. Er verließ das Grundstück, nahm den schmalen Weg am Zaun entlang, der bald sandig wurde, in die Dünen und zum Strand führte. Elisabeth stieg wieder zurück ins Bett. Sie dachte daran, ihn beim Frühstück zu fragen, was es vor Sonnenaufgang draußen zu erkunden gab.

Onno sackte mit den Gummistiefeln im losen Sand ein. Es ärgerte ihn, dass seine Füße dadurch nicht so schnell vorwärts kamen, wie sein übriger Körper es gerne wollte. Er nahm die Schultern etwas zurück, ging aber immer noch vornübergebeugt, als ob er sich gegen starken Wind lehnen müsste. Sobald die Laternen der Straße außer Sicht waren, war es dunkel. Aber Onno hätte sein Ziel auch blind gefunden.

Als er vorhin erwachte, wusste er, dass Hochwasserzeit war. Er stand auf, ohne weiter darüber nachzudenken. Die Flut zog ihn an. Er erreichte den Spülsaum. Die ruhigen Wellen schafften es schon nicht mehr bis zum höchsten Punkt. Fein Zermahlenes knirschte leise unter seinen Stiefeln. Tang legte sich auf seine Schuhspitzen, Muschelschalen zerknackten unter seinem Gewicht. Er hockte sich hin, befühlte mit der flachen Hand den Boden. Das Treibgut von gestern Nachmittag und das von heute früh lag etwa vierzig Zentimeter weit auseinander. Größere Brocken schienen noch nicht dabei zu sein.

Er ging ein paar Schritte den Strand hinauf, setzte sich in den Sand. Die durch die Körner strömende Kälte nahm er nicht wahr. Bleib!, schienen ihm die Wellen zuzurufen, obwohl sie sich immer weiter von ihm zurückzogen.

»Bleib«, hatte damals seine Mutter gefordert, und die Kraft mit der ihre heiße Hand die des Siebenjährigen drückte, ließ ihn gehorchen. Er setzte sich neben ihrem Bett auf den Fußboden. Eigentlich wäre er lieber hinausgegangen. Nicht weit, nur bis vor die Tür. Weiter wäre er sowieso nicht gekommen. Dieser Sturm hätte ihn einfach weggeweht, wie eine Strohpuppe durch die Luft gewirbelt. Aber er wollte ihn fühlen. Wollte wissen wie es war, wenn er durch die Kleider drang, an ihnen zerrte und fetzte, ihn schauern ließ.