Mörderische Schatzsuche - Marina Köglin - E-Book

Mörderische Schatzsuche E-Book

Marina Köglin

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Beschreibung

Im idyllischen Auetal bei Bremen wird ein Geocacher ermordet. Als sie sich undercover unter die modernen Schatzjäger der Gegend mischt, findet die Kriminalkommissarin Paula Winter heraus, dass in der Szene Rivalität und Hass herrschen. Beim Kampf um die begehrten Lost Places zerstört der geheimnisvolle Thanatos, den angeblich niemand kennt, nicht nur die Verstecke anderer Geocacher, sondern geht offenbar sogar über Leichen. Ein weiterer Mord geschieht und auch Paula gerät ins Visier des Täters.

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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Marina Köglin

Mörderische Schatzsuche

Bremen-Krimi

Zum Buch

Bis bald im Wald Im Wald des Schönebecker Auetals wird ein Geocacher erschossen. Die Kommissarin Paula Winter taucht undercover – und zunächst reichlich ungeschickt – in die örtliche Geocaching-Community ein. Zwischen den GPS-gelenkten Schatzjägern scheint es Feindschaften zu geben. Immer wieder stößt Paula auf die Spuren eines Geocachers namens Thanatos, dem noch nie jemand begegnet ist. In den Wäldern der sogenannten Bremer Schweiz gilt er als eine Art düstere Legende. Beim Kampf um die begehrten Lost Places zerstört er nicht nur die Verstecke anderer Geocacher, sondern geht mittlerweile sogar über Leichen. Als zwei weitere Morde geschehen, fürchtet die Mordkommission »Schatzjäger«, es mit einem Serientäter zu tun zu haben. Wer ist Thanatos? Und geht es wirklich nur um ein paar Lost Places im Wald oder steckt etwas anderes hinter den Taten? Als auch noch die kleine Merle verschwindet, muss Paula sich auf ein perfides Spiel mit Thanatos einlassen, um das Leben des Mädchens zu retten.

Marina Köglin studierte Kulturwissenschaften, lebt in Bremen und ist als Journalistin, Archivmitarbeiterin, Fotografin und Autorin tätig. Außerdem ist sie oft beim Geocaching und auf der Theaterbühne zu finden und wirkt gelegentlich in Filmen mit. So war sie unter anderem mehrfach im »Tatort« zu sehen. »Mörderische Schatzsuche« ist ihr erster Kriminalroman.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Buchprojekt wurde gefördert durch das Stipendienprogramm »Neustart Kultur« der VG-Wort.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Ole Schoener / Shutterstock.com

ISBN 978-3-7349-3190-1

Widmung

Für meine Eltern Gisela und Werner Köglin

Danke für alles

1. Kapitel: Der Erste

Der Wald lag still und menschenleer da und wirkte schon nach wenigen Metern wie eine andere Welt. Ein dunkler Morgen, der Regen versprach. Fred-Willi Kaufmann hatte sein Auto am Straßenrand abgestellt und eilte nun durch den Schönebecker Wald. So früh am Tag war außer ihm offenbar niemand hier.

Und das ist gut so, dachte er.

Die Luft roch nach Blättern, feuchter Erde und Harz. Der feine zwischen den Bäumen hängende Nebel machte die Umrisse weicher und gab dem Wald etwas Märchenhaftes. Aber Fred-Willi Kaufmann hatte keinen Blick für die Schönheit um ihn herum. Er hastete durch den dämmrigen Dunst, stolperte über Baumwurzeln und Brombeerranken. Noch 73 Meter. 65 Meter. 57.

Ich bin der Erste, dachte Fred-Willi Kaufmann, und das war das Letzte, was er dachte.

Ein Schuss zerriss die Stille.

2. Kapitel: Tupperdosen im Wald

Auch Kriminalkommissar Lennard Sommer hatte keinen Sinn für die Schönheit der Natur, als er knapp zwei Stunden später den Waldweg entlanglief. Es war Ende September und dieser viel zu frühe Morgen roch nach Regen und fühlte sich schon sehr nach Herbst an. Kühl, trübe, trist. Und so was von morgens. Lennard gähnte und schob sich mit den Händen die Haare hinter die Ohren. Er versuchte seit einiger Zeit, einen Zopf zu züchten, und hatte es mittlerweile auf stolze fünf Zentimeter gebracht. Als er heute so unerwartet früh aus dem Haus musste, hatte er kein Zopfband gefunden und trug die dunkle Haarpracht nun offen.

Zwischen den Bäumen entdeckte er die Kollegen von der Spurensicherung. Natürlich. Alle schon hier und offensichtlich nicht erst seit fünf Minuten. Lennard seufzte. Das würde wieder einen Spruch vom Chef geben. Und da war er auch schon: Kriminalhauptkommissar Harry Meyerdierks. Er erinnerte Lennard immer an einen stämmigen Wikinger mit eisblauen Augen. Obwohl er einen halben Kopf kleiner war als Lennard, schien er dennoch stets alle Umstehenden um Haupteslänge zu überragen. Der kühle Wind brachte Unordnung in Meyerdierks’ ohnehin leicht absurde Frisur. Die graublonden Strähnen wogten in alle Himmelsrichtungen. Manchmal hatte Lennard den Chef im Verdacht, sich selbst die Haare zu schneiden. Vielleicht wollte er das Geld für den Friseurbesuch sparen, um es in seine Krawattensammlung zu investieren. Heute trug Meyerdierks einen Schlips mit grellbuntem Zickzackmuster. Lennard bahnte sich vorsichtig einen Weg um die Kollegen von der Spurensicherung herum, erwiderte deren Grußgemurmel und ging auf Meyerdierks zu. »Moin, Chef!«, sagte er.

»Ah, Kollege Sommer«, dröhnte dieser mit gespieltem Überschwang, »schön, dass Sie’s einrichten konnten.«

Gut, hätten wir das auch hinter uns, dachte Lennard. »Tut mir leid …«, setzte er an.

»Wieder mal der Letzte«, grollte Meyerdierks. »Das muss keine Tradition werden.«

»Der Vorletzte, würde ich sagen«, hielt Lennard dagegen. »Oder wo ist Paula? Immer noch zur Kur?«

»Oha.« Meyerdierks stutzte. »Stimmt. Die müsste heute wieder im Dienst sein. Na, sie kann dann ja Ihren Bericht lesen.« Er schüttelte den Kopf. »Die Paula. So ’ne junge Deern. Kaum 30 und muss zur Kur. Tja. Augen auf bei der Berufswahl.« Er schaute auf den Leichnam zu seinen Füßen. Lennard folgte seinem Beispiel. Der Tote trug eine dunkle Jeans, robuste Sportschuhe und eine graue Jacke.

»Weiß man schon, wer’s ist?«

»Möglicherweise«, antwortete Rechtsmedizinerin Linda Goltz. »Er hatte einen Führerschein dabei.« Sie hielt einen kleinen Plastikbeutel hoch, in dem sich das Dokument befand. »Fred-Willi Kaufmann, 54 Jahre alt«, las sie vor. »Und das hier haben wir neben ihm gefunden.« Sie hielt einen weiteren Plastikbeutel hoch.

»Was ist das?«

»Ein GPS-Gerät.«

»Wie ist er gestorben?«, fragte Lennard.

»Von hinten erschossen.« Linda schob die offene Jacke des Mannes, der auf dem Bauch lag, ein Stück hoch. Rund um das Einschussloch war das Shirt dunkel gefärbt vom Blut. Die Rechtsmedizinerin richtete sich auf. »Sauber erlegt. Wie es aussieht, mitten ins Herz. Er hat wahrscheinlich gar nichts davon mitbekommen.«

»Schöner Trost für Herrn Kaufmann«, sagte Lennard. »Wer hat ihn gefunden?«

»Die beiden.« Harry Meyerdierks deutete mit dem Kopf nach links. Etwa 20 Meter von ihnen entfernt saßen zwei Frauen nebeneinander auf dem Stamm einer windgefällten Eiche. Sie waren beide um die 70, trugen Regenhosen, Wanderschuhe und Allwetterjacken. Interessiert beobachteten sie das Geschehen. Während die links sitzende Dame einen schneeweißen Kurzhaarschnitt trug, hatte die andere ihren Wust von grauen Locken mit einem geblümten Tuch gebändigt.

»Die zwei?«, fragte Lennard. »Was machen die um diese Zeit im Wald?«

»Das sind Geocacher«, antwortete Meyerdierks.

»Geocaching … Was ist das noch mal?«, fragte Lennard.

»Ach«, Meyerdierks hob den Blick gen Himmel. »Irgend so ’n neumodischer Tünkram. Wenn ich das richtig verstanden habe, suchen die hier im Wald nach versteckten Tupperdosen.«

»Warum?« Lennard sah seinen Vorgesetzten entgeistert an. Der hob die Schultern. »Ich habe mir diesen Sport doch auch nicht ausgedacht. Unterhalten wir uns mal mit den beiden.«

Meyerdierks und Lennard gingen zu den Frauen. Die mit den Locken hatte gerade eine Thermoskanne aus ihrem Rucksack gezogen und schenkte nun ein dampfendes Getränk in zwei Becher.

»Guten Morgen, die Damen«, sagte Meyerdierks.

»Moin«, entgegneten die Damen.

»Sie haben den Mann gefunden?«

»Ja«, sagte die Lockige und pustete in ihren Becher. »Der arme FreWi.«

»Sie kennen ihn?«

»Ja«, sagte die Frau.

»Nein«, sagte ihre Nachbarin gleichzeitig. Die beiden sahen einander an. Meyerdierks stieß seinen Kollegen mit dem Ellenbogen an. Lennard zog sein Notizbuch aus der Jackentasche.

»Also – ein bisschen«, sagte die Dame mit den Locken. »Wir sind ja auch Geocacher, genau wie dieser FreWi. So hieß er als Geocacher. FreWi-123. Seinen richtigen Namen wissen wir nicht. Oder?«, wandte sie sich an ihre Nachbarin.

Die schüttelte den Kopf. »Wir kennen den nur vom Sehen bei Geocacher-Treffen. Hallo und tschüss.«

»Und wie heißen Sie?«, erkundigte sich Meyerdierks.

»In echt oder beim Geocachen?«, fragte Kurzhaarschnitt und lächelte.

»In echt, bitte.« Meyerdierks lächelte ebenfalls.

»Lore Lehmann, das bin ich, und Anne-Sofie Stelljes.« Kurzhaarschnitt deutete auf ihre Nachbarin, die den Kriminalbeamten freundlich zunickte.

»Und wie heißen Sie beim Geocachen?«, wollte Lennard wissen.

»LoreLey und Die Kalte Sofie«, sagte Lore Lehmann würdevoll.

»Ah ja.« Lennard starrte auf LoreLeys militärisch kurzen Haarschopf.

»Und dieses Geocachen – macht man das immer so früh morgens?«, fragte Meyerdierks. »Es war ja noch nicht mal sieben Uhr, als Sie die Polizei gerufen haben.«

»Nun, um diese Zeit sind so angenehm wenige Muggel unterwegs«, erklärte Lore Lehmann mit größter Selbstverständlichkeit. »Sie haben ja sicher gesehen, dass FreWi sein GPS-Gerät dabeihatte. Der wollte bestimmt auch den FTF machen …«

»Äh …« Lennard sah Lore Lehmann ratlos an.

»Halt.« Meyerdierks hob eine Hand. Lore Lehmann schwieg gehorsam.

»Muggel?«, fragte Lennard.

»Leute, die keine Ahnung vom Geocachen haben«, erklärte Lore Lehmann.

»Leute wie Sie.« Anne-Sofie Stelljes nippte an ihrem Becher. »Die Bezeichnung stammt aus diesen Harry-Potter-Büchern. Die kennen Sie aber, oder?«

»FTF?«, fragte Meyerdierks weiter.

»First to find. So nennt man das, wenn jemand einen Geocache als Allererster findet«, erläuterte Lore Lehmann. Meyerdierks fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er musste dieses neue Vokabular offenbar erst einmal verkraften und einordnen. Er warf seinem jüngeren Kollegen einen Hilfe suchenden Blick zu. Aber Lennard schrieb äußerst eifrig in sein Notizbuch. Lore Lehmann und Anne-Sofie Stelljes beobachteten die beiden Männer amüsiert.

»Hm, dascha gediegen, alles in allem.« Meyerdierks war ratlos. »Wissen Sie, ob FreWi das geschafft hat, diesen FTF?«

»Nein, hat er nicht«, antwortete Lore Lehmann zufrieden. »Das waren wir.«

»Erst haben wir den Cache gefunden – und dann ihn«, ergänzte Anne-Sofie Stelljes.

»So ein FTF, ist der wichtig? Gibt’s dafür Punkte, gewinnt man da was?«

»Nein.« Lore Lehmann schüttelte den Kopf. »Ein paar Geocacher sind zwar selbsterklärte FTF-Jäger, aber zu gewinnen gibt’s da nichts.«

»Also hat ihn wohl kaum jemand wegen dieses FTFs erschossen«, murmelte Meyerdierks.

Die zwei Geocacherinnen bekamen tellerrunde Augen. Lore Lehmann fand als Erste die Sprache wieder. »Erschossen wegen eines FTF? Vergessen Sie es, so was macht keiner.«

»Wenn Sie wüssten, was Menschen alles machen«, erwiderte Meyerdierks.

»Ich weiß wohl, zu was Menschen in der Lage sind«, sagte Lore Lehmann grimmig. »Aber wegen einer kleinen Plastikdose, die nahezu leer ist, tötet doch niemand. Das ist Mumpitz.«

Anne-Sofie Stelljes beugte sich konspirativ vor. »Womöglich denken Sie, wir hätten den armen FreWi erschossen, weil wir den FTF haben wollten. Haben wir aber nicht!« Sie kicherte. »Wir haben nicht geschossen. Das können Sie ja feststellen. Sie haben doch diese Schwarzpulver-Schnüffelgeräte. Bitte sehr!« Sie streckte den Kommissaren ihre Hände entgegen.

»Und wo sollte die Tatwaffe sein?«, fragte Lore Lehmann.

»Na ja, gute Verstecke kennen wir doch genug!« Anne-Sofie Stelljes kicherte.

»Meine Damen, bitte etwas mehr Ernsthaftigkeit in dieser Situation«, mahnte Meyerdierks. »Wir können das Gespräch auch im Kommissariat weiterführen.«

»Das sollten wir wirklich tun«, entgegnete Lore Lehmann. »Das gibt gleich ordentlich was.« Sie deutete gen Himmel, wo sich anthrazitfarbene Wolken ballten.

Und Lore Lehmann sollte recht behalten. Nur wenige Minuten später pladderte ein Wolkenbruch nieder, der seinesgleichen suchte. Die Befragung der Geocacherinnen sollte am späten Vormittag im Kommissariat fortgeführt werden.

Harry Meyerdierks und Lennard Sommer teilten sich einen völlig durchnässten Regenschirm und stolperten nebeneinanderher durch den Wald zurück zu ihren Autos.

»Was ist das für ein Hobby?«, ereiferte sich Lennard. »Tupperdosen suchen im Wald?« Sie sahen sich um – Wald. Und zwar nichts als Wald. Endlos viele Bäume, und alle tropften.

»Und diese zwei Geocacherinnen – was waren denn das für Vögel?«

»Jo, ’n büschen speziell, die Damen. Hatten vielleicht Rum im Tee«, brummte Meyerdierks. Sein Rücken machte ihm zu schaffen, es fühlte sich an, als würde er jeden Moment in zwei Hälften brechen. Und dieses Gestolper über den unebenen Waldboden gab ihm den Rest.

»Ob andere Geocacher auch so drauf sind?«, überlegte Lennard laut. »Ich meine, wie unerschüttert waren die denn, bitte schön? Wenn ich bedenke, wie das sonst ist, wenn jemand eine Leiche findet; da wird geschrien, gekotzt und in Ohnmacht gefallen. Sie denken doch nicht, die haben den Mann umgelegt? Was ist da überhaupt drin in diesen Tupperdosen?«

»Das werden die beiden Vögel uns nachher alles erklären«, seufzte Meyerdierks.

3. Kapitel: Paula

Vergessen … Paula stand mit verschränkten Armen am Fenster im Kommissariat. Die Straßen glänzten regennass. Der düstere Himmel versprach noch mehr Regen. Vielleicht auch Hagel oder ein Donnerwetter.

Haben die mich wirklich vergessen oder denken die, ich ertrage es nicht, an einem Tatort zu sein? Oder wollten die mich einfach nicht dabeihaben? Wütend starrte sie hinaus. Noch keine 36 Stunden wieder da, und schon sehnte sie sich zurück in den kleinen Kurort an der Ostsee. Keine 36 Stunden, und schon war sie genervt und alles stand ihr bis hier: Oberkante Unterlippe.

Sie blickte vor sich auf die Fensterbank, auf die kleinen Geschenke, die sie Lennard und Meyerdierks mitgebracht hatte. Ein Fläschchen Schlehenschnaps und ein Glas Sanddornbonbons für jeden. »Nervennahrung«, stand auf den Bonbongläsern. Wenn hier jemand Nervennahrung braucht, dann ich. Am liebsten hätte sie die Mitbringsel wieder eingesteckt, dabei hatte sie sogar noch darüber nachgedacht, Meyerdierks einen neuen Schlips zu kaufen. Einen mit knallbunten Seesternen. Aber ihr war nichts Vergleichbares für Lennard eingefallen. Auf maritimen Buddelschiff-Kitsch stand er bestimmt nicht. Außerdem hatte der Chef genug kuriose Krawatten. Und Süßkram passte auf jeden Fall; Meyerdierks kaute oder lutschte quasi pausenlos. In dem Kugelschreiber-Glas auf seinem Schreibtisch steckte grundsätzlich ein Babbeler, auch »der längste Hustenbonbon der Welt« genannt. Der Kriminalhauptkommissar liebte diese nach Pfefferminz schmeckenden braunen Zuckerstangen, die nach Geheimrezept und in Handarbeit traditionell in Bremen gefertigt wurden.

»Wo ist Meyerdierks überhaupt?«, fragte Paula. Im Spiegelbild des Fensters konnte sie sehen, wie Lennard an seinem Schreibtisch zusammenzuckte und sich dann kerzengerade aufrichtete, als habe ihn die Lehrerin in der Schule aufgerufen.

»Der ist noch beim Arzt«, antwortete Lennard. »Als wir vom Tatort wegfahren wollten, hat er beim Einsteigen ins Auto eine Art Hexenschuss erlitten. Der konnte sich kaum noch bewegen, ich habe den fast nicht in mein Auto reinbekommen. Selbst fahren konnte er ja nicht mehr. Ein Kollege von der SpuSi hat Meyerdierks’ Auto hergefahren. Wenn er beim Arzt durch ist, kommt er nach.« Er lachte kurz auf. »Der hat die ganze Fahrt über geflucht, das glaubst du nicht, mir klingeln jetzt noch die Ohren. Und zum Arzt habe ich ihn fast tragen müssen. Den hat’s echt erwischt, der sollte sich mal ’ne Kur gönnen. Eigentlich ist er ja noch gar nicht in dem Alter …« Lennard biss die Zähne zusammen, aber zu spät – der Spruch war schon draußen. Er sah zu Paula. Sie stand noch immer bewegungslos am Fenster und sah hinaus.

»Machst du das extra oder passiert’s dir einfach?«, fragte sie nach einer Weile.

»Tut mir leid, das war doof«, murmelte Lennard.

»Ja«, sagte Paula.

Lennard sah Paula zerknirscht an, wusste offenbar nicht, was er sagen sollte, und seufzte. Ab sofort jedes Wort auf die Goldwaage, schien er zu denken.

»Wie geht’s dir denn eigentlich?«, fragte er schließlich.

»Gut. Sieht man das nicht?« Paula wandte sich zu ihm um. »Ich bin wieder da, und ich bin in der Lage, meinen Job zu machen. Aber dazu müssten mich die Kollegen entsprechend informieren.«

»Mensch Paula, es tut mir leid! Habe ich doch schon fünfmal gesagt.«

»Dreimal.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, ohne ihn anzusehen.

Lennard kratzte sich verlegen am Kinn. »Wir dachten, du wärst diese Woche noch weg.«

»In solchen Situationen kann der Dienstplan weiterhelfen«, zischte Paula und wusste gleichzeitig, dass es ungerecht war, ihre gesamte Wut ausgerechnet an Lennard auszulassen. Immerhin gab er sich Mühe, nicht ständig ein Trottel zu sein.

Besorgt beobachtete Lennard, wie Paula in ihrem Kaffee rührte. Sie rührte so wütend, dass es wahrscheinlich nicht lange dauern würde, bis der Becherboden durchgerührt war. Ob noch ein Hauch ihres Humors übrig war, den er so mochte? Zeit für einen Themenwechsel, beschloss Lennard.

»Gleich kommen die beiden Frauen, die den Toten im Wald gefunden haben«, sagte er und grinste. »Auf die zwei kannst du dich schon mal freuen. Geoketscher. Oder so.«

»Cacher?«, fragte Paula.

»Ja, so ähnlich. Waldläufer, die Dinge suchen. Und Kampfnamen haben die auch! Diese beiden nennen sich Loreley und die alte Soffi.«

»Die Kalte Sofie, wenn’s recht ist.« In der Türöffnung standen Lore Lehmann und Anne-Sofie Stelljes.

Wir sollten uns angewöhnen, die Bürotür zu schließen, dachte Lennard. Schnell warf er einen Blick auf seine Notizen. »Frau Lehmann und Frau Stelljes, immer herein mit Ihnen, und verzeihen Sie bitte vielmals«, er lächelte gewinnend. »Ich fürchte, montags bin ich manchmal ein bisschen uncharmant.«

»Genau. Alle Schuld dem Montag. Für dieses Wetter ist der bestimmt auch verantwortlich!«, sagte Anne-Sofie Stelljes, während die beiden Frauen ins Zimmer stiefelten. Paula musterte die Kleidung der beiden. Regenfeste Hosen, regenfeste Schuhe, Allwetterjacken.

»Sie sind jedenfalls bestens gerüstet für dieses Montagswetter«, bemerkte Paula.

»Ich bitte Sie – wir sind in Bremen«, sagte Lore Lehmann. »Hier regnet’s immer.«

»Breem is’ nun mal ’ne nasse Stadt, wie unser Chef zu sagen pflegt.« Paula lächelte. »Setzen Sie sich doch bitte. Ich bin Paula Winter. Den Kollegen Sommer kennen Sie ja schon.«

»Sommer und Winter – wie schön!« Anne-Sofie Stelljes war entzückt. »Das sind ja eigentlich zwei Jahreszeiten, die sich nie begegnen.«

Lennard räusperte sich und wurde offiziell. »Sie kannten den Toten also wegen Ihres gemeinsamen Hobbys.«

»Geocachen, richtig.« Lore Lehmann nickte. »Wobei kennen eigentlich schon zu viel gesagt ist. Wir haben ihn bei Geocacher-Treffen gesehen und wussten, dass er sich FreWi-123 nennt. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Wie genau läuft dieses Geocachen ab?«, fragte Paula.

»Viele beschreiben Geocaching als eine Art moderne Schatzsuche mit GPS-Geräten, und das trifft’s auch ganz gut«, sagte Lore Lehmann. »Einige Geocacher verstecken irgendwo einen Geocache, also einen Behälter, und veröffentlichen die Koordinaten dieses Verstecks im Internet. Andere Geocacher gehen dann mithilfe dieser Koordinaten und eines GPS-Geräts auf die Suche nach diesem versteckten Behälter.«

»Und was ist drin in diesen Behältern?«, wollte Lennard wissen.

»Ein Logbuch«, sagte Lore Lehmann. »Also ein Büchlein oder ein Papierstreifen. Da trägt man seinen Namen und das Datum ein, an dem man den Cache gefunden hat.«

»Mehr nicht?«, fragte Lennard.

»Manchmal gibt es kleine Tauschgegenstände, aber die interessieren uns nicht«, sagte Anne-Sofie Stelljes.

»Das ist alles?«, erkundigte sich Paula. »Man … gewinnt nichts, oder so?«

Die beiden Frauen sahen Paula belustigt an. »Nein.« Lore Lehmann schüttelte den Kopf. »Man sucht. Man findet. Man trägt seinen Namen ein. Und dann geht’s weiter.«

»Und was sind das für Behälter?«, fragte Paula.

»Tupperdosen«, brummte Lennard.

»Ja, auch Tupperdosen«, bestätigte Lore Lehmann geduldig. »Es gibt aber auch winzige Verstecke, in künstlichen Tannenzapfen zum Beispiel. Kleine Plastikröhren. Oder flache, magnetische Kästchen. Munitionskisten. Telefonzellen. Oder ganz was anderes. Manchmal ist es gar nicht so einfach, ein Versteck auch als Versteck zu erkennen – das ist ja das Interessante.«

»Guten Morgen allerseits.« Harry Meyerdierks betrat das Büro. Er nickte allen zu. »Willkommen zurück an Bord«, sagte er zu Paula und setzte sich dann behutsam auf seinen Schreibtischstuhl.

»Entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Ich hatte einen Hexenschuss.«

»Wir waren’s jedenfalls nicht«, sagte Anne-Sofie Stelljes.

»Stimmt«, bekräftigte Lore Lehmann. »Wir schießen grundsätzlich nicht. Wenn überhaupt, dann mit Worten. Geht’s denn wieder?«

»Nein«, sagte der Hauptkommissar. »Aber den Auftakt der Ermittlungen in einem Mordfall lasse ich mir nicht entgehen. Ist ja sonst keiner da, der so was kann.«

Lennard und Paula sahen einander an und verdrehten dezent die Augen. Lore Lehmann und Anne-Sofie Stelljes lächelten.

»Diese Geocaches sind gar nicht alle in Tupperdosen versteckt«, brachte Lennard seinen Vorgesetzten auf den neuesten Stand der Ermittlungen, »sondern auch in Munitionskisten.«

»Ach was«, sagte Meyerdierks.

»Kann es sein«, wandte Paula ein, »dass die Kollegen vor ein paar Wochen drei von diesen Geocachern bei der alten Turmruine neben dem Vegesacker Hafen hochgenommen haben, weil sie dachten, die haben da ein Drogenversteck?«

»Genau«, gluckste Anne-Sofie Stelljes, »das waren Zimtstern 2.0, Rommy und Floxxx. So was ist schon öfter vorgekommen. Drogenverstecke …« Sie kicherte.

Meyerdierks sah die beiden Frauen ratlos an. »Als Geocacher läuft man also frühmorgens durch den Wald oder treibt sich in verlassenen Gebäuden herum?«

»Unter anderem«, bestätigte Lore Lehmann.

»Warum machen Sie das?«, fragte Meyerdierks. Den Zusatz »in Ihrem Alter« verkniff er sich. Lore Lehmann und Anne-Sofie Stelljes hoben unisono die Augenbrauen.

»Was sollen wir denn sonst machen?«, fragte Lore Lehmann erstaunt zurück. »Deckchen häkeln? Kaffeekränzchen veranstalten? Andere Leute mit Fotos von unseren Enkelchen belästigen? Pff!« Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre ja der Anfang vom Ende! Damit fange ich an, wenn ich 90 bin. Vielleicht.«

»Ich kann auch gar nicht häkeln«, stellte Anne-Sofie Stelljes fest.

»Aber um Ihre Frage zu beantworten, warum wir das machen …« Lore Lehmann beugte sich ein Stück vor. »Man ist draußen. Wir nennen es ›Spazierengehen mit Ziel‹. Und manche Geocaches sind so fantasievoll gestaltet, da kann man nur staunen. Was einige Leute sich so ausdenken, ist einfach fabelhaft. Manchmal muss man auch Rätsel lösen, um Informationen über das Versteck zu erhalten. Damit hält man seine grauen Zellen in Bewegung. Oft ist die Suche faszinierender als das Finden. Und man entdeckt Orte und Stellen, die man ohne das Geocachen nie gesehen hätte. Einsame, verlassene Orte, die schon fast von allen vergessen sind. Lost Places.«

»Ganz Bremen-Nord ist ein Lost Place«, rutschte es Paula heraus.

Lore Lehmann lächelte. »Tatsächlich sind die Wälder hier oben bekannt für ihre Lost Places. Es gibt mehrere Bunker. Und Ruinen. Einige der Caches sind fast ein bisschen berühmt und ziehen Leute von anderswo an. Sie müssen nicht denken, dass hier nur Tupperdosen hinter irgendwelchen Baumstümpfen liegen. Es gibt Kletter-Caches, Caches im Wasser, für die man eine Wathose braucht, für andere benötigt man einen Magneten oder UV-Licht.«

»Wirklich?« Paula rührte mit dem Kugelschreiber den Kaffee um.

»Siehste«, sagte Lennard und lachte. »Bremen-Nord hat doch mehr zu bieten als Wieselweitwurf und Nacktboßeln. Die Kollegin ist nämlich der Meinung, dass Bremen nur ein Dorf mit Straßenbahn ist.«

»In Bremen-Nord gibt es nicht mal eine Straßenbahn!«, erwiderte Paula.

Meyerdierks klopfte ungeduldig auf die Tischplatte. »Wir haben hier einen Mord aufzuklären. Frau Lehmann, Frau Stelljes – gibt es in der hiesigen … Cacher-Gemeinschaft Feindschaften, Rivalitäten oder Missliebigkeiten?«

Lore Lehmann hob die Schultern. »Nicht mehr und nicht weniger als in anderen Gruppen. Die meisten sind einfach nette Menschen, einige sind regelrecht zauberhaft, und ein paar harmlose Idioten sind natürlich auch dabei. Aber dass da einer den anderen erschießt …« Sie sah Anne-Sofie Stelljes an. Anne-Sofie Stelljes sah Lore Lehmann an. Dann sahen beide die drei Kripobeamten an und schüttelten die Köpfe.

Meyerdierks seufzte. Die Befragung der kuriosen alten Damen hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er verabschiedete die zwei Geocacherinnen. »Falls noch Fragen auftauchen, melden wir uns. Ihre Kontaktdaten haben wir ja.«

Paula geleitete die Frauen zur Tür. Lore Lehmann lächelte sie an. »Wenn Sie mal sehen möchten, was alles zu einer Geocacher-Ausrüstung gehört, dürfen Sie gerne einen Blick in unser Auto werfen.«

»Klar«, sagte Paula und ging mit den beiden Geocacherinnen hinaus.

Auf dem Parkplatz öffnete Anne-Sofie Stelljes die Heckklappe eines hellgrünen Suzuki Jimny.

»Das braucht man alles zum Geocachen?«, fragte Paula verblüfft.

»Am Anfang erst mal nicht«, entgegnete Lore Lehmann. »Da reicht ein GPS-Gerät oder ein Mobiltelefon mit einer Geocaching-App. Aber wenn man anspruchsvollere oder abenteuerlichere Caches angehen möchte, dann müssen schon ein paar Hilfsmittel her.«

Das Auto war ein Zweisitzer und bestand beinahe zur Hälfte aus Kofferraum, der trotzdem fast zu wenig Platz für die Geocaching-Ausrüstung der beiden Damen bot. Paula sah zwei Wathosen, mehrere Gummistiefelpaare, diverse Seile, eine Teleskopleiter, einen kleinen Karton mit Taschenlampen und einen Schuhkarton voller Arbeits- und Gartenhandschuhe.

»Für Caches, die in Hundepinkel-Höhe versteckt sind, oder für andere suspekte Stellen«, erläuterte Lore Lehmann.

Anne-Sofie Stelljes hob den Deckel einer Schachtel und ließ Paula hineinblicken. »Magnete, Pinzetten und zwei Teleskopspiegel«, zählte sie auf. Dann hielt sie einen Stoffbeutel hoch, in dem es metallisch klimperte. »Steigeisen für Kletter-Caches. Zu Hause habe ich auch noch ein Kanu, für Paddel-Caches.«

»Meine Güte.« Paula war beeindruckt. »Und was ist das? Eine Angel?«

»Ja, eine Stipp-Rute. Die kann elf Meter weit ausgezogen werden. Für Angel-Caches.«

»Sie sehen mich sprachlos.«

»Es ist einfach ein schönes Hobby«, sagte Anne-Sofie Stelljes und zwinkerte Paula zu. »Vielleicht fangen Sie auch noch damit an.«

»Das glaube ich nicht.« Paula lachte. »Mein Kofferraum wäre auch viel zu klein.«

Harry Meyerdierks und Lennard Sommer saßen oben im Büro vor ihren Computern.

»Ist der Bericht aus der Rechtsmedizin schon da?«, erkundigte sich Meyerdierks.

»Frühestens morgen früh«, antwortete Lennard.

»Wie geht’s unserer Paula denn so?«, fragte Meyerdierks nach einer kurzen Pause.

Lennard atmete tief ein. »Sie ist sauer, weil sie wegen des Leichenfunds nicht benachrichtigt wurde.«

»Soll sich doch freuen«, knurrte Meyerdierks. »Fast zwei Stunden länger schlafen.«

»Sie ist im Moment aus etwas empfindlichem Stoff«, sagte Lennard.

»Weiß man eigentlich, was da los war?«, wollte Meyerdierks wissen.

Lennard zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein Nervenzusammenbruch. Oder so was Ähnliches. Mehr weiß ich nicht.«

»Der Flurfunk hat auch schon mal besser funktioniert«, stellte Meyerdierks fest.

Lennard zog einen Mundwinkel nach oben. »Fragen Sie sie doch einfach. Und nein – ich frag sie nicht. Ich trau mich nicht. Bestimmt guckt sie dann wieder so. Kennen Sie diesen Paula-Blick?«

»Unter diesem Blick wirst du schneller welk als jede Primel«, bestätigte der Hauptkommissar. »Und nun dieser tote Geocacher.« Meyerdierks neigte zu abruptem Themenwechsel. »Geocaching – wassas all’ns gibt! Was war da los? Hat das was mit diesem Hobby zu tun oder ergab sich einfach eine gute Gelegenheit, früh morgens allein im Wald? Persönliche Motive? Eine Beziehungstat? Gibt es einen Zusammenhang zum Job des Mordopfers? Da gibt’s noch viel herauszufinden.« Meyerdierks stand auf und ging – sehr langsam, sehr vorsichtig – zum Fenster.

Lennard zuckte mit den Schultern. »Paula scheint diesen Geocache-Kram interessant zu finden.«

»Jo.« Meyerdierks sah aus dem Fenster. Auf dem Parkplatz standen Paula und die beiden Geocacherinnen und schauten in den Kofferraum eines kleinen, kantigen Geländewagens. Jetzt verabschiedeten sie sich. Hände wurden geschüttelt, die Damen lachten.

Meyerdierks verschränkte seine Hände hinterm Rücken und hob in regelmäßigen Abständen die Hacken vom Boden. Meyerdierks’ Denkerpose. Heute hielt er nicht lange durch. Er sog die Luft zwischen den Zähnen ein, fasste sich an den Rücken und ging langsam zurück zu seinem Stuhl und setzte sich wie in Zeitlupe.

»Ich habe eine Idee«, verkündete er. »Wir sollten Paula darum bitten, sich unter diese Geocacher zu mischen.«

Lennard grinste. »Als Undercover-Geocacherin?«

»Genau«, bestätigte Meyerdierks. »Da ist sie an der frischen Luft, und wer weiß, vielleicht findet sie wirklich was heraus. Wir müssen ihr das nur so ’n büschen behutsam beipulen.«

»Aber wenn da wirklich was im Busch ist, begibt sie sich vielleicht in Gefahr«, gab Lennard zu bedenken.

Meyerdierks antwortete etwas, was so ähnlich klang wie »Nnnach«.

»Sie glauben eher nicht an tödliche Missliebigkeiten unter Geocachern?«, fragte Lennard.

»Nee.« Meyerdierks wandte sich wieder seinem Computer zu. »Ich denke, das war ein übereifriger Jäger, der diesen Geocacher mit einem Wildschwein verwechselt hat.«

»Dann sollten wir alle unsere Daumen drücken, dass dieser Jäger nicht auch Paula für ein Wildschwein hält«, murmelte Lennard.

»Also echt, Kollege Sommer«, sagte Meyerdierks, »unsere Paula verwechselt doch keiner mit einer Wildsau.«

»Na, wenn das nicht das Netteste ist, was ich hier seit langer Zeit gehört habe«, sagte Paula, die gerade wieder hereinkam.

So viel zum Thema »behutsam beipulen«. Wir sollten uns wirklich angewöhnen, die Tür zu schließen, dachte Lennard.

4. Kapitel: Zieht euch warm an …

Der erste Arbeitstag nach der Kur war überstanden, und sie hatte sogar einen Spezialauftrag bekommen.

»Halleluja«, murmelte Paula. Sie ging in die Küche und öffnete die Kühlschranktür. »Hallo!«, rief sie in den Kühlschrank hinein. »Ist da was?«

Der Kühlschrank gähnte ihr fast leer entgegen. Immerhin – der Käse hatte während ihrer Abwesenheit ungefähr drei neue Lebensformen hervorgebracht. »Halleluja, Teil 2«, sagte Paula und versenkte den Käse mit spitzen Fingern im Mülleimer. Sie nahm eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank, ging zum Telefon und bestellte sich eine Pizza. 20 Minuten später saß Paula in dem voluminösen Ohrensessel, der früher ihrer Oma gehört hatte. »Mein Denk-Sessel«, pflegte Paula das Möbelstück zu nennen. Auf dem Tisch neben ihr: eine fast noch warme Pizza Funghi, eine halbtrockene Weißweinschorle – und der aufgeklappte Laptop. Sie hatte wenig Lust auf Meyerdierks’ Spezialauftrag. Aber sie beschloss, die Sache nicht noch länger vor sich her zu schieben und wenigstens guten Willen zu zeigen. Und sie hoffte insgeheim, dass sich morgen oder übermorgen ein reumütiger Jäger im Kommissariat meldete und gestand, versehentlich einen Geocacher erlegt zu haben.

Paula dachte an den Kofferraum der beiden älteren Damen, der vor Ausrüstungsgegenständen überquoll, und auch an die Begeisterung, mit der LoreLey und Die Kalte Sofie vom Geocachen gesprochen hatten.

Als sie am Vormittag ins Büro zurückgekehrt war, hatte sich Meyerdierks mit einer behutsamen Vierteldrehung seines Bürostuhls zu Paula umgewandt und gesagt: »Wunderbar, Frau Kollegin – ich sehe, dass Sie sich schon ein bisschen mit der Materie vertraut gemacht haben. Weiter so! Schauen Sie sich mal ein bisschen in dieser Geocacher-Szene um.«

Und von dem Moment an hatte das Schicksal seinen Lauf genommen. »Gibt’s so was überhaupt – eine Geocacher-Szene?«, fragte Paula und setzte sich an ihren Schreibtisch. »Laufen die nicht eher allein oder zu zweit in der Gegend rum?«

»Sie werden es herausfinden«, entgegnete Meyerdierks.

»Und wie?«, fragte Paula argwöhnisch. Sie hatte eine gewisse Ahnung, und richtig:

»Sie werden selbst eine Geocacherin«, verkündete Meyerdierks. »Gehen Sie auf diese Treffen und hören Sie sich um, was da so los ist.«

Großartig, dachte Paula. Eine Versammlung von Freaks, die sich über UV-Lampen, versteckte Tupperdosen, Steigeisen und elf Meter lange Angeln unterhalten. So hatte sie sich ihren Wiedereinstieg nicht vorgestellt. Wie ihre furiose Rückkehr genau hätte aussehen sollen, wusste sie zwar auch nicht so richtig, das fiel ihr aber erst auf, als sie Meyerdierks ein paar Gegenargumente um die Ohren feuern wollte und keine fand. Da hatte sie aber schon angefangen zu sprechen: »Wenn ich aber … Also, ich würde ja lieber … Ich könnte doch …«

»Könnte. Würde. Wenn und Aber«, unterbrach Meyerdierks sie. »Ich möchte, dass wir in dieser Angelegenheit an alles denken und keinen Aspekt unbeachtet lassen. Sie gehen geocachen.«

»Was ist denn mit Lennard?«, wagte Paula einen letzten Versuch.

»Viel zu viel zu tun. Leider«, sagte der und grinste.

»Richtig«, bestätigte Meyerdierks ungerührt. »Der Kollege Sommer wird sich nämlich um die Jägerschaft kümmern. Kalibervergleich, Kontrolle der Waffenbesitzkarten und so weiter. Die freuen sich bestimmt schon.«

Lennard freute sich offenbar nicht. Sein Grinsen war verschwunden. »Ich kann gerne dieses Geocachen übernehmen«, sagte er.

»Nein«, sagten Paula und Meyerdierks gleichzeitig.

»Und nun, verehrte Jahreszeiten«, so nannte Meyerdierks seine Kollegen Lennard Sommer und Paula Winter gerne, »ran an die Arbeit. Ich möchte, dass wir diesen Mordfall schnell aufklären. Wir brauchen keine weiteren Cold Cases. ’n büschen awangs jetzt!«

Paula und Lennard hatten auf ihre Computerbildschirme geschaut und sich ihren Teil gedacht.

»Ach so«, hatte Meyerdierks noch hinzugefügt, »falls Sie in nächster Zeit etwas über die Mordkommission ›Schatzjäger‹ hören – das sind wir.«

Nun saß Paula zu Hause in ihrem Denk-Sessel. Sie hatte den Laptop auf ihre angewinkelten Beine gestellt und schaute sich auf der Geocaching-Website um. Es gab ein kurzes Video, in dem gezeigt wurde, was Geocaching war. Im nächsten Schritt sollte sie ein Benutzerkonto einrichten.

»Kostenlos – das ist ja mal was«, murmelte Paula, dann hielt sie inne. Wie sollte sie sich nennen? Offensichtlich gab man sich als Geocacher so eine Art Spitznamen. Aber alle Namen, die Paula einfielen, waren schon vergeben. Klar, sie hätte ein paar Zahlen an ihr Pseudonym hängen können wie der glücklose FreWi-123, aber Paula wollte einen zahlenlosen Namen.

Ach, was soll’s, sagte sich Paula nach dem zweiten Glas Weißweinschorle und entschied sich für »Kullerküken«. Nun gelangte sie zu einer Landkarte, die ihren Wohnort und die nähere Umgebung zeigte. Außerdem entdeckte sie viele kleine bunte Symbole – die Geocaches, die in der Region versteckt waren. Wenn sie die Symbole anklickte, erschienen nähere Informationen zu dem jeweiligen Cache: sein Name, die Koordinaten, wer ihn versteckt hatte, der Schwierigkeitsgrad, manchmal eine Beschreibung, zusätzliche Hinweise zum Schwierigkeitsgrad und das Online-Logbuch, in das sich die bisherigen Finder eingetragen hatten. Paula surfte ein wenig auf der Karte ihres Wohnviertels herum – und stellte fest, dass keine 400 Meter von ihrer Wohnung entfernt ein Geocache versteckt war. Der Cache hieß »einfach mal so«, und das – fand Paula – klang doch nach einem nicht allzu schwierigen Versteck. Die anderen Geocacher, die den Cache bereits gefunden hatten, hatten Kommentare im Online-Logbuch hinterlassen wie »Klassiker! Da reicht ein einziger Griff« und »Total easy peasy, hatte ihn sofort« oder auch »Ruckzuck gefunden, danke für den Cache«.

Paula trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Ein Blick aus dem Fenster – kein Regen.

Also gut, dachte sie, dann gehe ich nun diesen Cache suchen.Ich komme mir ja fast ein bisschen doof dabei vor, aber ich will das jetzt ausprobieren.

Sie griff nach ihrem Handy und lud eine Geocaching-App herunter. Wie schon die Internetseite war auch die App sehr nutzerfreundlich gestaltet, übersichtlich und selbsterklärend. Auch hier entdeckte Paula den Geocache namens »einfach mal so« auf der Karte. Sie tippte auf ein kleines Symbol, und ein Kompass erschien auf dem Display. 376 Meter. »Na dann«, sagte Paula.

Sie trat vor die Haustür und atmete tief ein. Es roch nach dem letzten oder dem nächsten Regen. Aber die Luft war mild. Es waren diese Wochen, die sich nicht entscheiden konnten: Bin ich noch Sommer oder schon Herbst? Paula ging los, den Blick auf das Handydisplay gerichtet. Noch 200 Meter. Noch 100 Meter, noch 50.

Paula wurde langsamer. Der Hinweis lautete »Zaun«. Zäune gab es auf beiden Straßenseiten. Zehn Meter, fünf Meter, und dann hatte sie den Nullpunkt erreicht, das Versteck musste sich direkt vor oder neben ihr befinden. Unschlüssig betrachtete Paula den Zaun, neben dem sie stand. Ein Jägerzaun. Sie beugte sich darüber und betrachtete ihn von der Rückseite. Nirgendwo eine Tupperdose. Und auch sonst nichts, was nach Geocache aussah. Aber wie sahen die eigentlich aus, wenn sie keine Tupperdose waren? LoreLey hatte von Telefonzellen und Munitionskisten gesprochen. Und von magnetischen Kästchen. Das konnte an dieser Stelle alles nicht sein. Paula beugte sich noch weiter vor und bog behutsam die Zweige eines kleinen Strauches zur Seite, der direkt hinter dem Zaun stand. Aber auch da war nichts, was ein Geocache hätte sein können.

»Total easy peasy – alles klar«, murmelte Paula angesäuert.

»Entschuldigung«, ertönte eine Stimme aus dem Garten. »Geht’s noch?«

Erschrocken richtete Paula sich auf und dachte an das, was sie vorhin gelesen hatte. Oberstes Gebot beim Geocachen: unauffällig sein!

Das hat ja schon mal richtig gut funktioniert, dachte sie. Etwa drei Meter von ihr entfernt stand, auf eine Harke gelehnt, ein Mann. Er hatte das Laubharken unterbrochen, um sie bei ihrer vergeblichen Suche zu beobachten.

»Was suchen Sie denn da?«, fragte er.

Paula kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Das weiß ich, ehrlich gesagt, selbst nicht so genau.«

Der Mann lächelte. »Sie sind wohl auch so ’ne Geocacherin, was?«

»Noch nicht so richtig. Ich fange grad erst an.« Paula lächelte zurück.

Der Mann mit der Harke kam ein paar Schritte näher. »Ich weiß ja nicht, was Sie da suchen, aber Ihre Kollegen krabbeln immer auf der anderen Seite rum, bei dem Zaun da drüben.« Er deutete mit der Harke auf die gegenüberliegende Straßenseite.

»Aber hier ist doch null.« Paula zeigte ihm ihr Smartphone. Ratlos betrachteten beide einen Moment lang den Kompass auf dem Display.

Schließlich zuckte der Harkenmann mit den Schultern. »Vielleicht spinnt Ihr Gerät ein bisschen, soll vorkommen. Gehen Sie mal zu dem Zaun da drüben.«

Gehorsam wechselte Paula die Straßenseite und näherte sich dem dortigen Metallzaun.

»Perfekt, Sie steuern genau drauf zu«, rief der Harkenmann wenig geheimnisvoll. »Lauwarm, richtig warm und heiß! Sehen Sie diesen Pfostendeckel da oben auf dem Pfeiler? Heben Sie den mal an!«

Paula sah sich verstohlen um, dann zog sie die Plastikkappe vom Zaunpfeiler und schaute in die Öffnung. Darin befand sich eine kleine Plastikdose, in der normalerweise eine 35-mm-Filmrolle steckte. Paula öffnete den Dosendeckel und entdeckte eine kleine Papierrolle – das Logbuch. Sie rollte den Papierstreifen auseinander. Er war dicht beschriftet mit Namen, Daten und sogar einigen Stempelabdrücken. Paula rollte das Papier wieder zusammen und kehrte zurück zum Jägerzaun, hinter dem ihr Kurzzeit-Verbündeter schon wieder harkte.

»Entschuldigung«, sagte Paula. »Haben Sie zufällig einen Kugelschreiber da?«

Der Harkenmann hörte auf zu harken und beklopfte seine Hemdtasche. »Sie haben Glück!«, sagte er, kam zum Zaun und überreichte Paula einen Bleistiftstummel.

»Danke!« Paula schrieb »Kullerküken« und das Datum auf den Papierstreifen und gab den Bleistift zurück.

»Sie fangen wirklich gerade erst an, oder?«, fragte der Harkenmann. »Nicht mal einen Stift dabei.«

»Mein Erster«, sagte Paula entschuldigend und betrachtete die kleine schwarze Filmdose. Völlig unspektakulär, und trotzdem freute sie sich auf eine etwas alberne, aber gleichzeitig wohltuende Art über den Fund.

»Na, dann viel Spaß weiterhin.« Der Mann winkte kurz, harkte weiter und schüttelte dabei grinsend den Kopf, als ob er sich dachte: Wieder eine Verrückte glücklich gemacht.

Paula legte den Cache in sein Versteck, setzte die Zaunkappe zurück auf den Pfeiler und ging nach Hause. Auch sie grinste, schüttelte den Kopf. Sonderbares Hobby, aber irgendwie lustig.

Was schreibe ich denn jetzt, überlegte Paula, als sie kurze Zeit später wieder vor ihrem Laptop saß und den Fund ins Online-Logbuch eintragen wollte. Du liebe Zeit, fast wie früher in der Schule, wenn ihr kein Anfang für ihren Aufsatz einfallen wollte. Sie schaute sich die Einträge der anderen Finder an. »DfdC«, schrieben einige. Sollte wohl »Danke für den Cache« heißen, aber das fand Paula zu kurz.

»Hallo, ich bin die Neue«, schrieb sie schließlich, »und dies war mein erster Cache. Mit Tipp dann doch schnell gefunden. Danke.«

So. Paula trank noch einen Schluck Weißwein. Zieht euch warm an, ihr Geocacher – Kullerküken is in the house!

5. Kapitel: Schau genau

Am nächsten Morgen war die kleine Euphorie des vergangenen Abends schon wieder spurlos verschwunden.

Erst vergessen sie, mich zum Tatort zu rufen, und jetzt schicken sie mich in den Wald. In den Wald! Um »was rauszufinden«! Wie lachhaft ist das denn! Die wollen mich echt aus den Ermittlungen raushalten.