Mörderische Unschuld - Rikje Bettig - E-Book

Mörderische Unschuld E-Book

Rikje Bettig

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Beschreibung

Die junge Rechtsanwältin Josi Berger soll einen mutmaßlichen Mörder verteidigen. Als Wirtschaftsanwältin ist sie von dieser Aussicht alles andere als begeistert. Zu allem Überfluss entpuppt sich ihr neuer Mandant Max Rosing auch noch als überheblicher Macho. Unerwartete Hilfe bekommt Josi vom charismatischen Journalisten Martin Petersen. Während der Ermittlungen kommen sich die beiden näher. Doch auch Rosing träumt von der blonden Rechtsanwältin. Als er seine Angebetete in den Armen des Journalisten sieht, fühlt er sich betrogen. Rosing sinnt auf Rache und ein teuflisches Spiel beginnt.

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Die AutorinRikje Bettig, geboren 1987, studierte Rechts- und Verwaltungswissenschaften und arbeitete als Diplomverwaltungswirtin in einer Behörde. Nach zwei Jahren in Bremen lebt sie mittlerweile mit ihrem Mann in Oldenburg. Sie schreibt schon, seitdem sie denken kann. Das Buch Mörderische Unschuld ist ihr Debütroman. Rikje Bettig ist leidenschaftliche Hobbyköchin und hat ein Faible für Fotografie und Inneneinrichtung.

Das BuchDie junge Rechtsanwältin Josi Berger soll einen mutmaßlichen Mörder verteidigen. Als Wirtschaftsanwältin ist sie von dieser Aussicht alles andere als begeistert. Zu allem Überfluss entpuppt sich ihr neuer Mandant Max Rosing auch noch als überheblicher Macho. Unerwartete Hilfe bekommt Josi vom charismatischen Journalisten Martin Petersen. Während der Ermittlungen kommen sich die beiden näher. Doch auch Rosing träumt von der blonden Rechtsanwältin. Als er seine Angebetete in den Armen des Journalisten sieht, fühlt er sich betrogen. Rosing sinnt auf Rache und ein teuflisches Spiel beginnt.

Rikje Bettig

Mörderische Unschuld

Thriller

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.  Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Januar 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016  Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95819-060-3  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.  Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Ich widme dieses Buch meinem Großvater Erich, der mich zum Schreiben brachte, meinen Eltern, Wolfgang und Isa, die meine aufmerksamsten Zuhörer waren, und meinem Mann Denis, der es erst ermöglicht hat.

»La peste de l’homme c’est l’opinion de savoir.«

- Michel de Montaigne

Prolog

Hamburg, Dezember 2008

Schneeflöckchen, Weißröckchen,wann kommst du geschneit?

Er hätte gerne gewusst, was gestern in ihrem Kopf vor sich gegangen war, als sie gemeinsam die Mönckebergstraße entlanggelaufen waren.

Die Menschen hatten sich geschäftig durch die von kahlen Bäumen eingerahmte Straße mit ihren Konsumtempeln gedrängt.

Stumpfsinnig, in sich selbst versunken, die zuckersüßen Weihnachtswünsche abarbeitend.

Ein Zirkus!

Er hatte den Beobachtenden gegeben, als hätte er in eine Schneekugel geschaut und sich gewundert.

Über diese Menschen, dieses Leben.

Aber heute war nicht gestern. Es war ein neuer Tag voll berauschender Energie.

Frei und verweht.

Wie eine zerrissene Federwolke.

Sie hatte ihn mit ihrem scheuen Lächeln angesehen. Die Tüten im Flur neben der Garderobe abgestellt. Sich über die reiche Ausbeute gefreut, einem Äffchen gleich, das einen Schokoriegel erhascht hat.

Er war melancholisch. Aber er hatte sich entschieden.

Das Äffchen muss jetzt schlafen.

Das Laken, mit dem er sie zugedeckt hatte, war weiß. In nichtssagender Nichtfarbe gehalten. Was sonst – in dieser Tristesse?

Sie wog nur zarte 57 Kilo. Er hatte gelesen, dass Tote schwerer seien als Lebende. Sie war es nicht. Sie fühlte sich so leicht an, dass er nachschauen musste, ob sie sich wirklich noch in ihrem Totenbett befand.

Hinaus in eine andere Welt, meine Kleine. Es war schön mit dir. Aber echt war es nicht.

Schneeflöckchen, du deckst unsdie Blümelein zu,dann schlafen sie sicherin himmlischer Ruh.

Teil 1

1

Bremen, September 2014

Die Jalousie.

Sie brachte Josi Berger um den Verstand. Gerade noch hatte die Sonne das Büro so aufgeheizt, dass sie zu verstehen glaubte, warum die Spanier Siesta machten. Und kaum hatte sie die Lamellen zugezogen, schoben sich schon wieder Wolken vor das Blau. Typisch norddeutsches Mischwetter.

Jetzt war es dunkel und ungemütlich in ihrem Ein-Mann-Büro. Jo konnte nur raten, welchen Namen sie vor einer Minute auf ihre Arbeitsunterlage gekritzelt hatte.

»Herr Be…, Bejagovisch, ich …«

»Beganovic!« Ihr Klient am Telefon betonte die zweite Silbe wie ein Sprachtherapeut, der einen Erstklässler in die hohe Kunst der Phonetik einführen will.

»Ich bin schlecht in Namen.«

»Aber in Paragraphen sind Sie gut?«

»Lassen Sie sich überraschen.«

Vor ihr auf dem Schreibtisch lag ein fetter Kommentar zum Insolvenzrecht. Sie musste ihr Smartphone auf die aufgeschlagene Seite legen, sonst klappte der dicke Wälzer immer wieder zu.

Eins, zwei, drei. Noch mehr als die Paragraphen quälten sie die Zahlen. Dummerweise lauerten sie ihr überall auf. Jo konnte ihnen nicht entfliehen, hatte sie jetzt auch noch zusätzlich zu den Paragraphen an der Backe.

Egal, jetzt galt es ihre mathematische Unzulänglichkeit geschickt zu überspielen. Jo konzentrierte sich.

»Sie haben noch keinen Insolvenzantrag gestellt?«

»Das sagte ich bereits!«

»Und Ihren Gesellschaftern haben Sie den Verlust ebenfalls nicht angezeigt?«

»Ich möchte mich nur ungerne wiederholen.«

»Wenn ich Ihr Altvermögen, Ihre Lebensversicherungen und Grundstücke sowie Ihr sonstiges Vermögen überschlage, müsste sich die Insolvenzmasse mindestens auf 500 000 Euro belaufen. Damit dürfte eine Insolvenz begründet sein.«

Vier, fünf, sechs. Schnell wieder von den Zahlen ablenken.

»Weihen Sie Ihre Gesellschafter ein! Ansonsten machen Sie sich eines abstrakten Gefährdungsdelikts nach Paragraph 823 Bürgerliches Gesetzbuch schuldig.«

»Sprechen Sie bitte Deutsch.«

»Na ja, ich könnte Folgendes für Sie tun, Herr Beganovisch: Ich stelle für Sie den Insolvenzantrag und kümmere mich um das Verfahren. Das ist in Ihrem Fall sicher der einzige Ausweg aus dem Schlamassel. Nicht, dass man Sie auch noch wegen Insolvenzverschleppung belangt.«

»Insolvenz- was?«

»Paragraph 15a der Insolvenzordnung. Wenn Sie zu lange zögern, machen Sie sich einer Straftat schuldig.«

»Ein Insolvenzverfahren ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.«

»Es ist das Beste, was Sie jetzt gebrauchen können.«

»Ich muss das mit meinem Wirtschaftsprüfer absprechen.«

»Sie haben nur drei Wochen.«

»Ich melde mich.«

Kopfschüttelnd lehnte sich Jo in ihrem erst kürzlich erkämpften ergonomischen Schreibtischstuhl zurück und ließ die bewegliche Sitzfläche schaukeln. Im Strafrecht kannte sie sich aus. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, bei einer Kanzlei mit wirtschaftlichem Schwerpunkt anzufangen? Vergangenheit hin oder her. Ihre Entscheidung drohte zum Bumerang zu werden. Sie hatte Eilert vorgewarnt. Mit Insolvenzverfahren, Bilanzen und rechtlichen Problemen aus obskuren Geschäftsgebaren musste man ihr nicht kommen.

Es gab nur zwei Dinge, die ihr über ihre trostlose Situation hinweghalfen. Erstens: Die Kanzlei-Crew mit Wohlfühlfaktor. Und zweitens: Die Hoffnung, dass außer ihr niemand ihre Unsicherheit auf dem feindlichen Terrain bemerkte. Sie besaß dieses einzigartige Talent, sich auch ohne Ahnung schlauzustellen. Mit gefährlichem Halbwissen konnte sie umgehen. Auch wenn das letzte Telefonat nicht zu ihren Glanzleistungen gezählt hatte.

Jo arbeitete nun seit gut einem halben Jahr bei Eilert in der Kanzlei. Aber noch immer landeten nur die Loser-Fälle auf ihrem Schreibtisch.

Insolvenzrecht machte müde. Sie brauchte dringend ein bisschen Sauerstoff. Die Fenster waren schon weit aufgerissen und trotzdem fühlte sie sich wie in einer Waschküche. Warum konnte es an solchen Tagen kein Hitzefrei geben? Wie in alten Schulzeiten, als im Klassenzimmer das örtliche Thermometer über Freizeit oder Büffeln entschieden hatte.

Das waren noch Zeiten.

Ihr wurde ganz anders, als sie den Blick über ihren Schreibtisch schweifen ließ. Um sie herum türmten sich Aktenstapel und die lose Gesetzessammlung, deren schrilles Gelb sie provozierte. Sie hatte bereits mehrere Versuche gestartet, Käthe die Sammlung unterzujubeln. Aber die blieb stur wie ein alter Bock, weigerte sich, die Nachlieferungen einzusortieren.

»Ich bin doch nicht deine Azubine«, hatte sie mit mürrischem Blick kundgetan und ihre fransige, graue Mähne geschüttelt. »Wenn ich den ganzen Wust«, sie zeigte auf die fünf Blätter, die ihren Schreibtisch zierten, »alleine abarbeiten soll, brauche ich bald ’ne Stresszulage und ein Herztonikum.«

Und schon war sie wieder in vorgetäuschter Geschäftigkeit hinter ihrem Monitor verschwunden und hatte energisch in die Tasten gehauen. Da gab es nichts mehr zu diskutieren. Das Gespräch war beendet.

Solch eine Rechtsanwaltsfachangestellte war Jo zuvor auch noch nicht untergekommen. Als Urgestein in der Kanzlei konnte Käthe sich alles erlauben.

Jetzt lag das neongelbe Ungetüm wieder auf Jos Schreibtisch und das Telefon schien aus unerfindlichen Gründen nicht mit ihr reden zu wollen.

Was soll’s.

Gerade als sie den Ordner zu sich heranzog, um sich widerwillig an das Einsortieren zu machen, flog die Bürotür auf.

»Es gibt ein Problem!«

»Richtig, du musst endlich lernen anzuklopfen.« Sie hörte selbst, wie ironisch sie klang. Die Probleme ihres Chefs kannte sie schon zur Genüge.

»Der Drucker … ich meine, der …«

»Ist der Toner leer?«

»Woher weißt du das?«

»Ich kann deine Gedanken lesen.«

Jo raffte sich aus ihrem Komfortstuhl auf, in dem sie kurz zuvor den perfekten Winkel fürs gemütliche Halbliegen gefunden hatte, und steuerte den Empfang an. Nicht ohne Eilert noch einmal neckisch den Ellenbogen in die Seite zu stoßen.

»Wieso habe ich ständig das Gefühl, du hast mich nicht als Rechtsanwältin, sondern als IT-Spezialistin eingestellt?«

Käthes Schreibtisch war wieder einmal verwaist. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die Sekretärin gerade ein Kaffeekränzchen in einem der anderen Büros abhielt.

»Sollte ich etwa Käthe fragen?«

»Wie wär’s mit dem Handbuch? Man lernt nie aus.«

»Ich musste schon genug lernen in meinem Leben. Das ist das Recht der frühen Geburt.«

Jo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn Eilerts immenser Erfahrungsschatz im Bereich des Wirtschafts- und Presserechts auch Gold wert war, so setzten ihn doch die kleinsten Probleme mit der heutigen Technik außer Gefecht.

»Man ist so alt, wie man sich fühlt. Mein Großonkel ist einundneunzig und hat sich gerade einen neuen Laptop gekauft.«

»Soll das jetzt heißen, dass du mich mit einem Opa vergleichst?« Eilert setzte eine beleidigte Miene auf. »Wenn der noch so fit ist, hätte ich den vielleicht besser gebrauchen können als dich.« Er tippte mit dem rechten Zeigefinger auf seine Armbanduhr. »Schäfer wartet nicht gerne.«

Jo fand den refill pack für den Toner in Käthes Aktenschrank.

»Ach, die Sache, die kein Ende findet. Der wievielte Gerichtstermin ist das?«, fragte sie und sah zu Eilert auf, der entspannt am Schreibtisch lehnte. Das gebügelte, himmelblaue Hemd spannte leicht über seinem Bauchansatz.

»Ich habe aufgehört, zu zählen.«

Eilerts Augen versteckten sich hinter einer Brille mit schmalem Goldrand. Hatte er die eigentlich schon immer getragen? Jo konnte nie sagen, ob jemand Brillenträger war oder nicht. Sie vergaß das Detail noch in dem Moment, in dem sie es entdeckt hatte.

»Ich hasse es, wenn der alte Schäfer sich nicht zu einer Entscheidung durchringen kann.«

Graue Strähnen zogen sich durch das leicht gewellte, immer noch volle Haar. Eilert war das perfekte Beispiel eines in die Jahre gekommenen Karrieremannes. Wäre da nicht ein kleines Detail, das dieses Erscheinungsbild störte.

Eine Sekunde lang überlegte Jo, Eilert auf die misslungene Farbkombination, die seine orangerote Krawatte zu dem blauen Hemd darstellte, hinzuweisen. Doch dann dachte sie daran, dass der hässliche Fetzen vielleicht ein Geschenk seiner Frau war. Die knalligen Farben passten zu Maren. Und Jo beließ es bei einem abschätzigen Blick.

»Schäfer muss nur den Mund aufmachen und ich könnte im Stehen einpennen«, ereiferte Eilert sich.

Jo klemmte den refill pack in das dafür vorgesehene Fach des Druckers und schloss die oberste Klappe.

»Perfekt!« Sie gab dem Gerät einen Klapps. »Noch ein Knopfdruck und es funktioniert wieder.«

Sie zeigte auf das Start-Symbol.

»Glaub mir, du willst nicht, dass ich das erledige. Es genügt schon, das Ding nur lange genug anzustarren, und der Mechanismus versagt. Ich habe hypnotische Fähigkeiten.« Eilert lächelte verschmitzt, bevor er zurück in sein Büro schlenderte. »Die Nadelstreifen-Yuppies mit ihren modernen iPads werden mir gleich noch genug Ärger machen.«

Die ersten Gedanken

Ich suche in Bibliotheken nach Gedanken.

Abgegriffene Klassiker in gotischer Schrift, Aufsätze von naiven Studenten, die meinen, sie hätten die Welt verstanden, und moderne Erörterungen, die köstlich riechen – nach frischem Druckpapier.

Komponiere aus ihnen ein funktionierendes Ganzes. Wie ein Gourmetkoch aus feinsten Zutaten eine soupe de poisson kreiert, so setze ich die Puzzleteile zu meinem – ganz persönlichen – Weltbild zusammen.

Denn darum geht es mir, darum kreisen meine Gedanken. Ich möchte die Welt begreifen. Die Wahrheit ergründen. Mich selbst verstehen.

Eine gewagte Mission.

Immanuel Kant fragt:

Was können wir wissen?

Was sollen wir tun?

Was dürfen wir glauben?

Ich überlege:

Wer bin ich?

Bin ich?

Wer sind die Anderen?

Ich suche nach Antworten.

2

»It’s veggie time!«

Maren Wend häufte ein großes Stück Lauchgemüsequiche mit Räuchertofu auf den Teller und wedelte mit dem dampfenden Essen vor Eilert Wends Nase herum, als wollte sie ihm einen sensationellen, neuen Zaubertrick präsentieren.

»Bon appétit!«

Eilert konnte sich seinen skeptischen Blick nicht verkneifen und rümpfte die Nase. Das Grünzeug roch nach einer Überdosis Vitaminen.

»Merci.«

Gezwungenermaßen ließ er sich auf Marens geträllerten Fremdsprachenmix und den Meat Free Monday – ihren neuesten, weltverbessernden Coup – ein.

Seine Frau konnte sich immer wieder für ein neues Projekt begeistern. War es letztens noch die fixe Idee, sie wolle sich unbedingt einen Langhaarchihuahua anschaffen – Eilert hatte erbittert dafür gekämpft, keine Mini-Ratte Gassi führen zu müssen, und sich dieses eine Mal tatsächlich erfolgreich gegen ihren Dickschädel durchgesetzt –, ließ das nächste Projekt, »Fair essen, gesund bleiben«, nicht lange auf sich warten. Sie hatte überzeugende Argumente. Ihm keine Chance gelassen. Und er hatte verloren. Kläglich.

»Damit schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Du bekommst deine Cholesterinwerte in den Griff und gleichzeitig machen wir die Welt ein bisschen besser. Ist das nicht toll?«, hatte sie ihm vor vier Wochen ins Ohr gesäuselt.

Ja, es war großartig.Praktisch umgesetzt bedeutete das für Eilert, dass jeden Montag nur Gemüse und Soja auf den Tisch kam. Der grandiose Meat Free Monday. Eilert sah Paul McCartney vor seinem inneren Auge besserwisserisch nicken.

»Schmeckt es dir?« Maren begutachtete ihn mit prüfendem Blick, als wollte sie kontrollieren, ob Eilert auch wirklich seinen Teller leer aß.

»Fantastique, mon amour!«

Er ging in Deckung, als Maren eine Serviette nach ihm warf.

»Du verarschst mich!«

»Nein, ehrlich.« Eilert schob sich den letzten Bissen des krümeligen Teigrandes in den Mund. »Gibt’s noch Nachschlag?«

Maren strahlte, nachdem er das zweite Stück verschlungen hatte und ihr den leer gefegten Teller entgegenstreckte.

»Soll ich uns noch einen fairen Sojamilch-Cappuccino machen?«

Sie tänzelte, die Teller in einer Hand balancierend, zurück in die Küche.

»Gerne.«

Seit sechsundzwanzig Jahren waren sie nun verheiratet und Eilert kannte keine Langeweile. Maren war ein Energiebündel. Eine Herausforderung. Aber gerade das machte sie interessant.

Die Nespresso-Maschine brummte, als Maren die Decaffeinato-Kapsel in die Öffnung drückte und den Brühvorgang startete.

So anstrengend ihre Verrücktheiten auch waren: Warum konnte nicht jeder Tag ein Meat Free Monday sein? Eilert wollte sich um einen Chihuahua oder ein durchgeknalltes Bild in seinem Flur streiten. Stattdessen drängte sich die Kanzlei immer wieder mit einer solchen Wucht in sein Leben, dass kaum Zeit für die Liebe blieb. Gemeinsame Abendessen hatten Seltenheitswert.

Heute war es ihm endlich mal gelungen, zu einer arbeitnehmerfreundlichen Uhrzeit zu Hause zu sein. Zwei Stunden hatte er für die Sitzung mit Schäfer eingeplant. Quälte sich sogar extra noch ein trockenes Brötchen vom Bäcker am Steintor rein, damit er die Verhandlung ohne Magenknurren überstehen konnte. Sie dauerte keine Viertelstunde. Er fühlte sich wie ein waschechter Beamter, als er um Punkt 18 Uhr seinen Stift in Marens bunten Marienkäfer-Becher fallen ließ.

»Schau mal!«

Er sah noch, wie sie ihm das Geschenk freudestrahlend in die Hand gedrückt hatte.

»Das wär doch was für die Arbeit.«

Das verspielte Design war ihm peinlich gewesen. Aber ihm blieb keine Wahl. Wenn Maren wollte, dass er diesen Becher mit den rosa Punkten und den lachenden Marienkäfern mit in die Kanzlei nahm, musste er ihn so unauffällig wie möglich in sein Büro schleusen. Ihr Mitbringsel wanderte von einer Ecke in die nächste, bis es schließlich doch auf seinem Schreibtisch landete und seine Stifte darin Platz fanden. Was störten ihn schon die irritierten Blicke seiner Klienten?

Der Duft des frisch gebrühten Cappuccino holte ihn zurück an den Esszimmertisch.

»Cin cin!«

Maren hielt die Tasse in die Höhe.

»Prost!«

Eilert nippte an der heißen Flüssigkeit und verbrannte sich die Zunge.

»Ein Hoch auf den Meat Free Monday.«

»Ah oui.«

Eine halbe Stunde später war er unterwegs zum Tennisclub. Noch eine Biegung und die Plätze lagen vor ihm. Sie waren nur einen Katzensprung entfernt und bequem zu Fuß zu erreichen. Mitten in Schwachhausen gelegen.

Tennis bedeutete für ihn Auspowern und Kraftschöpfen zugleich. Er liebte es, sich nach einem anstrengenden Tag körperlich zu verausgaben. Danach konnte er schlafen wie ein Stein, fühlte sich gesund und nicht so eingerostet wie nach einem bewegungsfreien Tag im Büro.

In seiner Jugend hatte er von einer Tenniskarriere geträumt. Seine Aufschläge waren in Norddeutschland fast so gefürchtet gewesen wie später die von Boris Becker in Wimbledon. Heute kaum vorstellbar. Jetzt war es nur noch wichtig, sich überhaupt zu bewegen.

Eilert hörte schon das Aufprallen der Tennisbälle auf den Ascheplätzen, als er um die Ecke bog.

»Nein«, schallte es über die Hecke, »ich bin so dumm!«

Das klang nach einem verschlagenen Ball.

Arends Kombi stand bereits auf seinem Stammparkplatz, doch ein Blick auf die Uhr verriet Eilert, dass auch er pünktlich war. Er nahm die Abkürzung über den Trampelpfad. Es roch nach frisch gemähtem Rasen und Sommerluft.

»Hallo Eilert!« Arend drückte seine Hand, als er Platz fünferreichte. »Schön, dass du es geschafft hast. Heute wird gepowert.«

»Leider bin ich bis zum Stehkragen mit Tofu vollgestopft«, scherzte Eilert und schmiss seine Tennistasche und Trainingsjacke auf die Bank.

»Hat Maren wieder einen Anschlag auf dich verübt?«

»Ich bin jetzt fleischlos glücklich.«

»Dann pass auf, dass du gleich nicht ins Gras beißt.«

Mit einem Zischen öffnete er seine Wasserflasche.

»Mann, ist das heiß«, stöhnte sein Partner. »Ich schwitz jetzt schon wie ’ne Nutte bei der Beichte.«

»Vor zehn Jahren haben die paar Schritte vom Auto zum Court dich noch kaltgelassen.«

»Vor zehn Jahren musstest du deine Gelenke auch noch nicht bandagieren, als wärst du gerade aus einem Sarkophag gestiegen«, flachste Arend. »Lass uns aufs Einspielen verzichten und gleich loslegen.«

Eilert nahm sein Racket und stellte sich in Position.

»Willst du mal ein Ass sehen?«

Er warf den gelben Ball einen Schritt vor sich in die Höhe und zog den Schläger geschmeidig von hinten schräg nach vorne, traf den Ball genau mittig und ließ ihn gezielt ins Feld schnellen.

Schade! Arend rannte in die linke Ecke und spielte ihn knapp zurück übers Netz.

»Gleich hab ich dich!«, rief Eilert, als er den Tennisball treffsicher zurückschmetterte. Dieses Mal in die entgegengesetzte Ecke des Einzelfeldes.

Arend sprintete dem Ball entgegen. Mit einem lauten Plopp wurde er zurückgespielt. Aber zu schwach. Er eierte zögerlich in der Luft.

Eilert sah seine Chance, diesen Punkt für sich zu entscheiden und setzte auf Risiko. Mit leichtem Unterschnitt spielte er die Filzkugel knapp hinters Netz. Arend, dessen Wangen schon jetzt ein sportliches Rot angenommen hatten, schaffte es nicht rechtzeitig zum Ball.

15:0!

»Ich dachte, du wolltest Gas geben?«, spottete Eilert.

Vierzig Minuten später hatte Eilert den ersten Satz mit 6:4 für sich entschieden. Seine Wasserflasche war fast leer und sein Shirt triefte vor Schweiß. Arend setzte gerade zum Aufschlag an, als neben ihnen ein Handy schrillte.

»Deine Tennistasche klingelt!«, rief er über den Platz und machte sich wieder locker.

Eilert hetzte zur Spielerbank. Kam aber zu spät. Der Anrufer hatte bereits aufgelegt. Gerade wollte er sich umdrehen, um zurück ins Feld zu gehen, da klingelte sein Handy erneut.

»Scheint wichtig zu sein.« Er wühlte in der Seitentasche. Bestimmt war das einer seiner Mandanten, die kannten keinen Feierabend. Halb Bremen schien mittlerweile seine private Nummer zu kennen.

»Ist sicher deine bessere Hälfte. Will dir noch einen Brennnesseltee zur Entschlackung vorbeibringen.«

Eilert starrte auf das vibrierende Handy. Nein, die Anruferin war ganz und gar nicht Maren. Diese Nummer hatte er schon lange aus seinem Gedächtnis verbannt.

»Hallo Hanna«, hörte er sich sagen. Seine Stimme klang fremd.

»Eilert. Es ist lange her.«

Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Seine Kleider klebten an ihm wie Schmutz.

»Wo bist du?«, fragte Hanna.

Nun fasste er sich wieder. »Ich bin … auf dem Rückweg von der Arbeit«, log Eilert.

»Aha.« Mehr sagte sie nicht.

»Es wird immer noch spät in der Kanzlei.«

»Du musst mir nichts vormachen.«

Eilert mochte Hannas Stimme nicht. Hatte er sie je gemocht? Sie war so durchdringend, schneidend.

»Was willst du?«

Er drehte sich zu Arend um, der gerade sein T-Shirt auswrang.

»Warum so kurz angebunden? Ich rufe an, weil du mir einen Gefallen tun musst«, entgegnete Hanna frostig.

»Worum geht es?« Eilert setzte sich.

»Um Max. Er wurde gestern Abend festgenommen.«

Sein Nacken verkrampfte. Er wollte weiterspielen. Nicht mit Hanna reden.

»Dem Haftrichter wurde er bereits vorgeführt. Der zuständige Hauptkommissar hat ihm einen Rechtsvertreter über den anwaltlichen Notdienst vermittelt. Max hat darauf bestanden. Der Einzige, den er noch erreichen konnte, war Jochen Plötz. Kennst du ihn?«

»Ich kenne meine Kollegen.«

»Er ist eine Null.«

Wie immer auf den Punkt. Jochen Plötz war tatsächlich ein verkappter Alkoholiker. In seiner Kanzlei herrschte Chaos. Aber worauf wollte Hanna hinaus?

»Plötz hatte Max versichert, zur Verkündung des Haftbefehls da zu sein, ist dann aber nicht zum Termin erschienen. Nur deshalb sitzt mein Sohn jetzt in Untersuchungshaft.«

Eilert verkniff es sich, Hanna darauf hinzuweisen, dass ein Anwalt bei der Festnahme kaum etwas am Haftbefehl ändern kann.

»Deswegen wirst du Max ab jetzt verteidigen!«

Das ging nicht. Das wollte er nicht.

»Was wird ihm vorgeworfen?«, presste Eilert hervor.

Irgendwo hinter ihm lachten zwei Frauen.

»Mord.«

Er meinte zu hören, dass Hannas Stimme jetzt noch härter klang. War es für sie schwer, diesen Schritt zu gehen?

»Der Fall hat schon Schlagzeilen gemacht. Die Zeitungen sind voll davon.«

Eilerts ungutes Gefühl intensivierte sich. In der Theorie muss ein Anwalt einen Mordprozess kaum gegen seinen Willen annehmen. In seinem Fall war es anders. Drei Worte.

»Ich mache es.«

Das Match war jetzt belanglos.

3

Drei Tage zuvor

Tessa Gedenk war eine gute Studentin. Sie war strebsam. Verbrachte viel Zeit mit englischer und deutscher Literatur. Ihre Klausuren und Hausarbeiten, in die sie mehr Zeit und Energie investierte als ihre Kommilitonen, wurden durchweg mit einer Eins bewertet. Der Bestnote. Das machte sie stolz, aber sie fühlte sich dadurch noch mehr unter Druck gesetzt. Schlechtere Leistungen waren für sie inakzeptabel. Sie konnte es sich nicht erlauben, nachzulassen.

Das Mikrofon kreischte, als Tessa es vorsichtig in eine niedrigere Position verschob.

Erst gestern hatte sie die Mitarbeiterinnen der Zentralen Universitätsverwaltung aufgesucht, um ihnen im Namen des AStA, dem Allgemeinen Studierendenausschuss der Universität Bremen, vorzuschlagen, die technischen Mittel in den Hörsälen aufzurüsten, damit die Studenten auch in den letzten Reihen den Vorträgen ihrer Professoren besser folgen konnten. Es war untragbar, dass die Qualität der Vorlesungen unter der Akustik in den Räumen litt. Wissbegierige Studenten wie Tessa waren unter solchen Umständen kaum in der Lage, jedes einzelne Wort zu verstehen, geschweige denn, sich sinnvolle Notizen zu machen.

»Ich werde zunächst die Besonderheiten mittelalterlichen Erzählens herausarbeiten.«

Die Halterung des Mikrofons klemmte immer noch zu weit oben. Sie musste sich auf Zehenspitzen stellen, damit man sie verstehen konnte.

»Es unterscheidet sich in vielen Aspekten von neuzeitlichen Erzählkonventionen.«

Tessa bemerkte zufrieden, dass ihre Stimme den Hörsaal ausfüllte. Ihre Worte waren klar. Keine zittrige Aussprache oder zu hohe Tonlage. Es klang nach Selbstbewusstsein.

Also weiter im Text.

»Danach verdeutliche ich meine Thesen anhand des mittelhochdeutschen Artusromans Erec von Hartmann von Aue, der viele dieser Phänomene beispielhaft bündelt. Auf Basis einiger Textpassagen möchte ich abschließend mit euch diskutieren, welche Aspekte des Erzählens als spezifisch mittelalterlich gelten können. Dabei werdet ihr in die Erzähltheorie aus mediävistischer Perspektive eingeführt.«

Tessa nahm eine Bewegung neben sich wahr. Sie konnte erahnen, dass ihr Professor zufrieden nickte.

»Ich bitte euch jetzt, den Erec aufzuschlagen.«

Aus den Zuschauerbänken schwappte ein raschelndes Geräusch von durchblätterten Büchern hinunter zum Rednerpult. Tessa spürte, wie Adrenalin in ihre Adern schoss. Sie liebte sie – diese Momente, in denen ihr Wissen sie kitzelte. In denen sie zeigen konnte, was in ihr steckte.

»Ihr gebt das Thema vor.«

Sie erhaschte neugierige Blicke. Das hier war ihre Bühne.

»Sagt mir: Was fällt euch als Erstes auf, wenn ihr den Text überfliegt?«

Tessa blickte erwartungsvoll in die Runde. Sie ahnte schon, wer sich im nächsten Moment melden und die ersehnte Antwort geben würde.

Ihr Konzept sollte doch aufgehen? Noch immer hatte sich keiner gemeldet. Es war eine leichte Frage. Anne hätte auch eine schwere beantworten können.

Aufgeregt wanderte Tessas Blick durch die Reihen der Zuhörer.

Anne.

Sie hörte, wie sich der Professor neben ihr räusperte, als würde er ihr damit einen Anstoß geben wollen.

Wo war Anne?

Angst kroch in ihr hoch. Das gab bestimmt schon Punktabzüge. Was, wenn das hier ihre erste Zwei werden würde?

Im Hörsaal wurde es unruhig. Tessa wollte etwas sagen, aber sie wusste nicht, was. Sie hatte nur diesen einen Plan. Und der funktionierte nicht.

»Ähm.«

Sie spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. Unsicher schielte sie zur Seite. Der Professor nickte ihr aufmunternd zu. Sie musste es alleine packen!

»Ich …« Wie improvisierte man? »Hat denn niemand von euch eine Idee?« Ihre Frage verebbte im Hörsaal. Die Studenten flüsterten mit ihren Sitznachbarn. Sie interessierten sich nicht mehr für Tessa.

»Muss ich Ihnen etwa erst auf die Sprünge helfen?« Die angenehme Stimme des Professors hallte durch den Raum und ließ das Publikum aufhorchen. »Die Frage ist so simpel, dass mir ernste Zweifel an Ihrer intellektuellen Befähigung für diesen Studiengang kommen, wenn Sie nicht langsam ein bisschen Elan zeigen und Ihre Kommilitonin unterstützen.« Er zeigte auf Tessa und lächelte ihr freundlich zu. »Es ist das Offensichtliche. Sie müssen nicht einmal zwischen den Zeilen lesen.«

Die ersten Arme streckten sich bereits in die Höhe. Der Professor benötigte kein Mikrofon, um das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Er besaß diese natürliche Autorität, an die sie nie heranreichen würde. Sie fühlte sich bloßgestellt.

»Ich verstehe nur Bahnhof«, grölte Alex in die Menge und hatte die Lacher auf seiner Seite. Warum gerade er? Warum musste er überhaupt in dieser Vorlesung sitzen?

»Und das ist das Stichwort. Oder können alle anderen unter Ihnen etwa fließend Mittelhochdeutsch sprechen?« Der Professor rüttelte an der Halterung und schob das Mikrofon vor Tessa auf die ideale Höhe. »Möchten Sie jetzt fortfahren, Frau Gedenk?«

»Ja.« Tessa nickte. Doch sie fühlte sich miserabel. Sie hatte versagt. Und all das verdankte sie lediglich ihrer Freundin Anne.

4

Die Möwen kreischten, als die Fähre in Farge mit einem dumpfen Poltern ablegte. Jo stand rücklings an der Reling und beobachtete das Schauspiel.

Sie genoss diese Augenblicke. Liebte den warmen Wind, der sie umspielte, und das Wasser, das in ruhigen Wellen gegen den Bug klatschte, während das Schiff sich mit dröhnendem Motorengeräusch auf die andere Seite der Weser zubewegte.

Wenn sie dann ihren Gedanken nachhing, hatte sie das Gefühl, dass sie alles schaffen konnte. Die drängenden Wiedervorlagen, die Suche nach dem Mr. Right, das Umstyling ihres Karriereplans. Sie brauchte nur diese kurze Zeit am Wasser und schon war sie voller Energie.

Hinter der Steuerkabine tat sich der Blick auf den Horizont und weites Blau auf. Hier war die Weser besonders breit. Fast so, als würde der Fluss in das Meer übergehen.

Um die Postkartenidylle perfekt zu machen, reckten sich am anderen Ufer drei rot-weiß gestreifte Leuchttürme in den Himmel. Vereinzelte Spaziergänger mit Hunden, die im weißen Sand herumtollten.

Aber Jo wusste, dass ein Blick zurück diese romantische Wahrnehmung als Illusion entlarven würde. Dort verschandelten ein Steinkohlekraftwerk und Maschinenbaubetriebe die Umgebung. Hoffentlich pumpten sie ihre Abwässer nicht in den Fluss. Umweltsünden, die die Regierung noch nicht in den Griff bekommen hatte. Die vielen Reformen verstand keiner mehr. Auch wenn es offiziell hieß, dass der Müll umweltschonend wiederaufbereitet wurde, glaubte Jo nicht daran. Im gegenwärtigen Deutschland wurde viel gelogen.

Noch einmal inhalierte sie die frische Luft und die Sonnenstrahlen, die ihre Wangen streichelten. Die Fähre hatte das andere Ufer schon fast erreicht und das Strandcafé, ein beliebtes Ausflugsziel für Familien, war jetzt zum Greifen nahe.

Jo lächelte in sich hinein. Hatte man sie vergessen? Sie öffnete ihren Mini schon im Laufen. Aber kaum hatte sie ihr Fahrzeug erreicht, rief ihr der Kontrolleur doch noch hinterher.

»Moin! Einmal Fahrer mit Auto?«

Diesmal hatte sie das Spielchen verloren.

»Ja.«

Sie fischte ihre Zehnerkarte aus dem klobigen Portemonnaie und sah dem Fährmann dabei zu, wie er sie entwertete.

»Alles klar. Schönen Tag noch!«

»Ihnen auch!«

Der Mini stand auf der mittleren Parkspur, eingepfercht zwischen einem Transporter und einem schwarzen Audi.

Jo startete den Motor und ließ die Fenster herunterfahren, damit ein wenig Luft ins Auto strömen konnte. Als sie hinausschaute, bemerkte sie, dass der Audifahrer sie beobachtete.

Mit einem Ruck legte die Fähre an. Der junge Fährarbeiter löste das Absperrseil und gab das Zeichen zum Losfahren. Die linke Spur setzte sich in Bewegung und leerte sich. Dann fuhr das Auto vor ihr auf die Rampe.

Jo blickte noch einmal nach rechts. Aber der Audi-Fahrer hatte offensichtlich das Interesse verloren. Sie ließ ihren Mini vorsichtig von der Fähre rollen und trat aufs Gaspedal.

Im Rückspiegel sah sie den schwarzen Audi. Doch kurze Zeit später bog er ab.

Jo passierte die Landstraße im Eiltempo, erreichte das lang gezogene, rote Backsteinhaus ihres Vaters bereits zehn Minuten später. Ein Gefühl von Geborgenheit und Vertrautheit durchströmte sie. Bunte Blumenbeete rahmten das alte Gemäuer und gaben ihm eine einladende Note. Es war ihre Mutter, der sie ihre behütete Kindheit auf dem Land zu verdanken hatte. Jos Vater, durch und durch ein Stadtmensch, wirkte seit ihrem Tod manchmal regelrecht verloren in dieser Weite.

Sie parkte ihr Auto und ging durch die mit Efeu umrankte Holztür hinter das Haus. Das wildromantische Grün verzauberte sie. Hier war es noch wie früher. Derselbe ländliche Geruch, die uralten Kastanien und ungebändigten Apfelbäume. Wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten hing sogar die Schaukel, die mittlerweile morsch sein musste, noch an einem knorrigen Ast.

Aber der Schein trog.

Jo hörte laute Schimpftiraden aus dem Fernsehzimmer, als sie ihr Elternhaus betrat. »8,50 Euro für alle vernichtet Arbeitsplätze«, dröhnte es durch die Räume, »und Befristungen ohne sachliche Begründung zukünftig zu verbieten, ist unverantwortlicher Leichtsinn!« Die Bundestagsdebatte auf Phönix. Daran hätte sie denken müssen.

»Hallo Papa!« Jo versuchte lauter zu sprechen als der CDU-Politiker, der auf seinem Rednerpodest gerade so richtig in Fahrt gekommen war. »Wie geht’s dir?«

Ihr Vater saß in Gammelklamotten und dicker Weste in seinem riesigen, braunen Fernsehsessel und starrte auf den Flimmerkasten. Wie konnte er bei dieser Hitze so dick angezogen sein? Es war ihr ein Rätsel.

»Pssst!«, machte er und wedelte abwehrend mit einer Hand.

»Deutschland ist eine Ausbeuternation!«, rief ein Linker aus dem Publikum. »Wir müssen Vorbild sein!« Gemurmel, irgendwo dezentes Klatschen.

Diese Lautstärke!

»Papa, ich hab dir eine Schüssel Nudelsalat mitgebracht. Der hat dir doch das letzte Mal so gut …« »Der Mittelstand braucht das Instrument für Befristungen!«, schnitt ihr der Politiker das Wort ab. »… geschmeckt!«, brüllte Jo ärgerlich.

Jetzt sah der alte Griesgram kurz vom Fernseher zu ihr auf. »Ich musste nachwürzen. Senf, Honig. Jede Menge Zwiebeln. Nachdem ich der Rezeptur den letzten Pfiff gegeben hatte, war’s annehmbar.«

Jo verdrehte die Augen.

»Was macht Hilde? Kümmert sie sich noch um den Haushalt oder hast du sie auch schon wieder vergrault?«

»Hilde?« Er starrte auf den Bildschirm. »Eine nervige Tante ist das. Wie diese Frau, die neuerdings die 11-Uhr-Nachrichten auf NDR Kultur spricht. Auch so eine schrecklich quäkende Stimme. Hab ich dir erzählt, dass ich einen Brief an den Radiosender geschrieben habe? Mit der Bitte, die Schreckschraube durch einen vernünftigen Sprecher zu ersetzen.«

Das sah ihrem Vater wieder ähnlich. Wahrscheinlich hatte er einen zweiseitigen Aufsatz in geschliffenem Deutsch und gespickt mit Fremdwörtern verfasst, den kaum jemand überhaupt verstehen konnte.

Ihr Vater: Richter a. D., Pensionär aus Leidenschaft. Ein echtes Original. Ihm schien es nie langweilig zu werden. Er kannte sowohl den Duden als auch das französische und englische Wörterbuch nahezu auswendig, verpasste keine Politsendung im Radio oder im Fernsehen. Ob die Presseschau, die Bundestagsdebatten und stündlichen Nachrichten oder Polittalkshows – sie alle standen auf seiner bis in die letzte Sekunde durchgeplanten Agenda.

Gereizt schaute Jo sich im Raum um. Er hatte offensichtlich gerade seinen 18-Uhr-Tee zu sich genommen. Das fleckige und mit Sicherheit nicht minder klebrige Plastiktablett stand noch immer mitsamt Teekanne auf dem Tisch, und das verschmierte Glas mit Wasser, aus dem die Kohlensäure bereits entwichen war, wackelte auf der Kante des Sets.

»Meine Güte, ich kann das Gekreische dieser Fregatte nicht ertragen.« Seine Arme ruderten in der Luft. »Ich pfeif auf Befristungen!«

Auf den Bildschirm starrend, kippte er den Inhalt eines Schnapsglases in Jamaika-Farben in seinen Mund.

Jo hatte ihm das Gläschen, auf dem ein Rasta-Mann mit Dreadlocks abgebildet war, als Gag aus einem Karibikurlaub mitgebracht. Aber ihr Vater nutzte es tatsächlich für seine tägliche Tablettenration, mit der er sich schon seit Jahren vollpumpte. Anscheinend hatte er vor, sein Immunsystem auszutricksen.

»Herrgott noch mal!«

Er knallte das Schnapsglas so unwirsch auf den Tisch, dass sie meinte, es müsste im nächsten Moment in tausend Stücke zerspringen. Es ging gut.

Jo kapitulierte.

Stöhnend sackte sie in den freien Stuhl vor dem Fernseher. Sie hatte keine Lust auf dieses Polit-Gequatsche. Aber Hauptsache, die wichtigste Person in ihrem Leben leistete ihr Gesellschaft.

Sie musste genügsam sein.

5

Fünfzehn Jahre war es jetzt her.

Fünf, in denen Hanna Rosing sich verkroch.

Weitere fünf, in denen sie versuchte, wieder zu sich zurückzufinden.

Und schließlich fünf Jahre, in denen sie erkannte, dass Selbstmitleid ihr nicht weiterhelfen würde.

Eilert!

Damals mochte sie ihn sehr.

Als ihre Welt noch in Ordnung war. Sie ein normales Leben führte.

Er spielte eine wichtige Rolle.

Doch entpuppte er sich als Statist. War zu feige, ein Opfer für sie zu bringen.

Sie konnte es nicht leugnen. Er hinterließ ein Vakuum.

Aber jede Lücke ließ sich wieder schließen. Und so auch diese.

Der Statist wurde ersetzt. Durch den Mann, der sowieso schon eine Dauerrolle in ihrem Leben innehatte.

Hannas Alltag lief schnell wieder in gewohnten Bahnen. Sie war eine starke Frau, die sich nicht so einfach kleinmachen ließ. Ihr Stolz erlaubte es ihr nicht.

Doch sie musste noch einen weiteren – schlimmeren – Schicksalsschlag verschmerzen.

Damals vor fünfzehn Jahren.

Als ihr Leben in Scherben zerbrach, wie eine zarte Porzellanvase, die den Sturz auf den Boden nicht überlebte.

Fünfzehn Jahre.

Sie hatte sie alle drei verloren.

Hanna stand am Fenster, blickte auf die Schwärze des Waldes, der ihre Villa umgab.

Was draußen war, interessierte sie nicht. Die Welt lag ruhig da. Sie stellte sich schlafend.

Aber gab es nicht immer noch Hoffnung? Einen Ausweg?

Hanna wusste, was zu tun war.

Endlich.

Der Weg formte sich klar vor ihrem inneren Auge.

Zielstrebig. In ein neues Leben.

Einen Neuanfang.

Sicher würde es dauern.

Sie musste geduldig sein, konnte nur behutsame Schritte wagen. Einen Fuß vor den anderen setzen. Langsam.

Doch sie wusste, dass Stolpersteine sie nicht aufhielten.

Jetzt nicht mehr.

Zu viel war in ihrem Leben passiert.

Eilert!

Wie ironisch das Schicksal doch manchmal sein konnte.

6

Nur wenige Anwälte werden jemals mit einem Tötungsdelikt konfrontiert. Die Leute fragen sich: Wie schafft man es, für einen mutmaßlichen Mörder Partei zu ergreifen? Wie können mögliche Vorbehalte ausgeblendet werden, um dem Mandanten trotz widerwärtiger Taten die bestmögliche Verteidigung zu bieten?

Doch ein Anwalt muss objektiv sein. Seine Aufgabe ist es, für die Rechte des Angeklagten einzutreten. Er muss das Geschehene in keiner Weise billigen, denn er vertritt das Gesetz. Nicht die Straftat.

Artikel Sechs der Europäischen Menschenrechtskonvention eröffnet dem Bürger das Recht auf ein faires Verfahren und die Unschuldsvermutung. Danach gilt jeder Angeklagte so lange als unschuldig, bis seine Schuld auf dem gesetzlichen Weg bewiesen ist.

Es ist ein Job! Und nicht die Welt der Rosamunde Pilcher!

Eilert presste sich gegen die Rückenlehne seines Schreibtischstuhls und versank in schwarzem Leder.

Sein Büro lag noch im Schatten der mächtigen Kastanien, die am Stadtgraben ein dickes, fast undurchdringliches Geäst bildeten. Doch schon bald sollten die Sonnenstrahlen den Weg in seine noch im Halbdunkel liegenden Kanzleiräume an der Contrescarpe gefunden haben.

Die Wettervorhersage prophezeite einen weiteren heißen Tag. Drei Wochen dauerte die Hitzewelle nun schon an und mittlerweile sehnte Eilert sich nach Regen.

Die unruhige letzte Nacht machte ihm zu schaffen.

Hannas Anruf.

Verschwitzt hatte er sich nach dem Training mit Arend vom kühlen Wind und dem satten Grün des Bürgerparks einlullen lassen, bevor er den Heimweg antrat. Noch immer gedankenschwer.

Er blickte aus dem Fenster. Ab und zu passierte ein Fahrradfahrer die Straße. Ansonsten war es noch ruhig in der Stadt.

Er musste Max Rosing verteidigen. Wenn Hannas kalte Stimme nicht noch präzise in seinem Ohr nachhallte, wäre es für ihn kaum vorstellbar gewesen. Aber er hatte diesen Spuk über Nacht nicht aus seinen Gedanken verbannen können.

Wie vermutlich die meisten Zeitungen in Deutschland, war auch im Weserkurier detailliert über den Mordfall in Bremen berichtet worden. Die Presse riss sich um makabre Fälle. Und dieser Mord war für die sensationslüsternen Schlagzeilenjunkies ein gefundenes Fressen.

Man konnte dem Artikel entnehmen, dass die Frauenleiche von einer Freundin in der Wohnung gefunden wurde. Mit einem präzisen Schnitt war die Kehle des Opfers durchtrennt worden. Die junge Frau war eine ehrgeizige Studentin mit ausgezeichneten Noten und bestem sozialen Umfeld gewesen. Auch das wusste er aus der Zeitung. Namen wurden keine genannt. Eilert hoffte, dass es dabei blieb.

Die schwere Haustür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Im Empfangsraum tobte ein Orkan. Dem Krach nach zu urteilen, hatte Käthe soeben die Kanzlei betreten. Niemand sonst schaffte es, alleine solch einen Lärm zu verursachen.

Das war’s mit der morgendlichen Ruhe.

Seine Vermutung bestätigte sich im nächsten Moment, als die Bürotür aufgerissen wurde und ein wuscheliger, grauer Kopf hereinlugte.

»Morgen Chef. Auch schon da?«, krächzte Käthe. »Wie wär’s mit ’nem Kaffee?« Sie rieb sich ihre verschlafenen Augen. »Ohne meinen Zaubertrank geht bei mir heute gar nichts. Ich hab saumäßig schlecht geschlafen. Wenn du ein wirksames Pestizid gegen plärrende Nachbarskinder kennst, gib mir Bescheid.«

Sie gähnte laut. Dann verschwand sie wieder, ohne eine Antwort abzuwarten, im Empfangsraum. Die Bürotür ließ sie offen stehen.

Eilert verschluckte einen Fluch, als das Geblubber der Kaffeemaschine aus der Küche bis zu seinem Schreibtisch drang. Dabei konnte sich doch kein Mensch konzentrieren. Dass sie auch nicht einmal eine Tür hinter sich schließen konnte!

Er schaute auf die Uhr.

7:30.

Burma war ein Frühaufsteher und nutzte die Gleitzeit erbarmungslos aus, um früh in den Feierabend zu starten.

Eilert wählte seine Nummer.

»Landeskriminalamt. K 33. Frank Burma am Apparat.«

»Hallo Frank, hier ist Eilert.«

»Mensch, Eilert! Lange nichts von dir gehört. Rufst du in dienstlicher oder privater Mission an?«

»Ich vertrete voraussichtlich bald einen Mandanten, der dir nicht unbekannt ist.«

»Aha. Um wen geht’s? Soll ich dich zur Wirtschafts- und Vermögenskriminalitätdurchstellen?«

»Max Rosing.«

»Jetzt bin ich überrascht. Sicher, dass du diesen Fall übernehmen willst? Das ist doch sonst nicht gerade deine Stammklientel.«

»Es wird eine Ausnahme bleiben. Ich kenne die Familie.«

»Wenn das so ist.« Frank räusperte sich. Sein lockerer Tonfall klang eine Spur reservierter.

»Wir haben Rosing vorgestern Abend festgenommen. Hat sich ziemlich quergestellt.«

»Hat er geredet?«

»Nein, eingelassen hat er sich nicht. Kein Kommentar ohne einen Anwalt. Du weißt schon. Er kennt die Spielregeln. Er ist nicht gerade das, was man ein unbeschriebenes Blatt nennen würde.«

Interessant. Das wusste Eilert noch nicht.

»Ist er vorbestraft?«

»Ja. Sogar in drei Fällen. Wegen sexueller Belästigung.«

Das hörte sich nicht gut an.

»Weswegen wurde Haftbefehl erlassen?«

»Es gibt einige Verdachtsmomente. Wir werden dir nichts schenken. Rosing ist bereits so gut wie überführt.«

»Darf ich fragen, was ihr gegen ihn in der Hand habt?«

Eine kleine Pause trat ein.

»Du erwartest ganz schön viel von mir. Es ist doch klar, dass wir in diesem Fall unterschiedliche Interessen haben – Freundschaft hin oder her.«

Erneute Pause.

Eilert wartete ab, bis Frank sich wieder zu Wort meldete.

»Aber ich werde mal eine Ausnahme machen, weil du es bist. Bald wirst du ja sowieso über alles informiert sein.«

Eilert wusste schon, warum er Burma angerufen hatte.

»Der Beschuldigte ist in der Nähe des Tatorts von der Freundin des Opfers gesichtet worden, bevor diese die Leiche fand. Er lungerte vor dem Haus herum. Sie sagt, dass er sie beobachtet habe, als sie hineinging. Auf dem Handy der Ermordeten waren außerdem Nachrichten von Rosing gespeichert, denen man entnehmen kann, dass die beiden in einer sexuellen Beziehung zueinander standen. Das Opfer muss den Täter gekannt haben, da es keinerlei Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen gab. Des Weiteren haben wir DNA-Spuren in der Wohnung und sogar auf der Leiche sicherstellen können, die in dreizehn Punkten mit Rosings DNA übereinstimmen. Aufgrund seiner Vorstrafen war der Abgleich unproblematisch, wie du dir sicher denken kannst.«

»Alle Achtung! Ihr seid doch sonst nicht so schnell.«

»Unter Druck geht alles. Die Sache wird hier sehr ernst genommen. Der ganze Medienrummel sitzt uns im Nacken. Selbst das LKA will den Fall offensichtlich so schnell wie möglich abschließen. Nur so ist es zu erklären, dass ich das Gutachten aus dem Labor schon vorgestern auf dem Tisch liegen hatte. Ich muss gestehen, ich war selbst überrascht.«

»Wann wurde die Leiche denn gefunden?«

»Vor drei Tagen, am Samstagmorgen. Die Freundin hatte sich Sorgen gemacht, weil das Opfer bereits einen Tag zuvor nicht zu den Vorlesungen an der Uni erschienen war. Nachdem sie mehrmals vergeblich versucht hatte, die Ermordete telefonisch zu erreichen, besorgte sie sich einen Ersatzschlüssel von einem hilfsbereiten Wohnungsnachbarn. Was sie vorfand, muss schlimm gewesen sein. Das war ein verdammt kaltblütiger Mord. Dem Opfer wurde die Kehle durchgeschnitten. Das Bett war blutüberströmt und die Leiche durch die Hitze in der Wohnung in keinem guten Zustand. Das war wie in einer Sauna, sag ich dir. Mir selbst ist schlecht geworden, als wir den Tatort in Augenschein nahmen.«

»Das klingt furchtbar. Habt ihr schon die Tatwaffe?«

»Leider nicht.«

»Und die Zeugenaussage der Freundin hat sich bestätigt? Sie hat den Beschuldigten tatsächlich am Tatort gesehen?«

»Meinst du die Personenidentifizierung? Die Sachlage ist eindeutig.«

Das war eine schwammige Auskunft. Vielleicht gab es ja doch noch ein Fünkchen Hoffnung, dass Max gar nicht der Täter war. Zumindest bot die Personenidentifizierung eine mögliche Angriffsfläche.

»Vielen Dank, Frank. Wird Zeit, dass wir bald wieder in der Mittagspause einen Kaffee miteinander trinken«, säuselte Eilert. Diesen Kontaktmann musste er sich warmhalten.

»Gerne. Aber momentan wird’s erst mal nichts. Ich hab kaum Zeit für ein Brot am Schreibtisch.«

Natürlich.Seine Mitteilsamkeit am Telefon schien das dennoch nicht zu beeinträchtigen. Burma gab gern den Gestressten.

»Brauchst du noch die Tagebuchnummer?«, fragte Frank.

Das hätte Eilert fast vergessen.

»Ja bitte. Ich bin dir wirklich was schuldig.«

Eilert notierte sich die Ziffern auf dem Notizblock, der ihm letzte Woche als Werbegeschenk zugeflogen war.

»Eine letzte Frage noch: Wer ist der zuständige Staatsanwalt?«

»Staatsanwältin!«

»Bitte?«

»Eine Frau. Bente Ambrosseling ist die zuständige Sachbearbeiterin für Kapitaldelikte bei der Staatsanwaltschaft.«

Ambrosseling. Das fehlte ihm noch.

»Danke, Frank. Du hast mir wirklich sehr geholfen.«

»Gern geschehen. Wir sehen uns.«

Eilert legte den Hörer zurück auf die Station. Das Telefonat war erfolgreicher verlaufen, als er vermutet hatte. Jetzt war er schon im Besitz einiger wichtiger Informationen zum Fall. Er selbst hätte sich an Franks Stelle etwas mehr zurückgehalten.

Bente Ambrosseling.

Eilert massierte seine kribbelnden Schläfen und dachte nach. Die konnte verdammt ungemütlich werden. Er brauchte erst einmal einen starken Kaffee, um diese Frau ertragen zu können. Es duftete schon im ganzen Büro nach Käthes Wundertrank.

Käthe nippte gerade an ihrem Becher, als Eilert das Vorzimmer betrat. Sie lehnte gemütlich in ihrem Gesundheitsschreibtischstuhl, den er allen Mitarbeitern nicht ganz freiwillig – Jo konnte manchmal wirklich nerven – spendiert hatte und durchstöberte ihre Mails. Auf dem Bildschirm posierte ein braungebrannter Schönling, der seine Muskeln spielen ließ. Darunter stand in leuchtendem Rot:

»Have a good day, girls!«.

Eilert sah geflissentlich darüber hinweg. Sonst bestünde Käthe womöglich noch darauf, ihren Schreibtisch so zu platzieren, dass keiner mehr einen Blick auf ihren Monitor erhaschen konnte.

»Hast du einen Schluck für mich?«

Er setzte sich auf einen der Besucherstühle gegenüber von seinem Kanzleidino.

»Klar, Chef, für dich immer«, griente sie und goss die heiße Plörre in einen Becher, auf dem das englische Prinzenpaar, Kate und William, abgebildet war.

»Du bekommst sogar meinen Lieblingsbecher. Den Original-Verlobungsbecher von den zwei Süßen. Hat mir meine Nachbarin neulich geschenkt.«

Sie grinste frech, als sie ihm den dampfenden Kaffee reichte, den Eilert zögerlich entgegennahm. Er konnte nur mit dem Kopf schütteln über derartige Kuriositäten.

»Chef, wo du gerade da bist, schau doch mal kurz über diesen Text.«

Käthe hielt ihm ein Blatt Papier mit seinem Briefkopf und einem Zweizeiler hin.

»Kann ich das so schreiben?«

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit möchte ich meinen Vertrag über die Versorgung mit Strom zum schnellstmöglichen Zeitpunkt kündigen.

Ich bitte Sie daher, ab sofort nicht mehr den monatlichen Betrag in Höhe von 50,00 Euro bei mir abzubuchen.

Mit freundlichen Grüßen,

Käthe Janssen.

Unglaublich!

»Hast du dir etwa hier im Büro ausgerechnet, welcher Anbieter günstiger für dich ist?«

Käthe riss den Zettel wieder an sich und guckte beleidigt.

»Und du kannst deine privaten Mitteilungen doch nicht unter meinem Briefkopf schreiben!«

»Das ist doch nur ein Entwurf. Das wollte ich eh noch ändern«, entgegnete Käthe giftig. »Ist das jetzt der Dank für all die Jahre, die ich dir treu zur Seite gestanden habe? Ich frag dich nie wieder was, Chef!«

Diese Frau machte ihn wirklich fertig. Sie plusterte sich wütend vor ihm auf.

»Nimm deinen Kaffee und verzieh dich wieder in deine Luxussuite! Hier gibt’s nichts mehr für dich zu sehen!«

Mit ihren ein Meter achtzig war sie fast so groß wie Eilert. Im Körperumfang übertrumpfte sie ihn noch. Er flüchtete in sein Büro.

Nachdem Eilert sich und seinen Kaffee vor Käthe in Sicherheit gebracht hatte, trank er einen großen Schluck, atmete tief durch und wählte die Nummer der Staatsanwältin.

Schlimmer konnte es jetzt nicht mehr werden.

Das Freizeichen ertönte so lange in seinem Ohr, dass er schon auflegen wollte. Dann vernahm er doch noch ein gehetztes Schnaufen aus dem Hörer.

»Ja, hallo?«

Das war unverkennbar Ambrosselings grelle, durchdringende Stimme.

»Hallo, Wend hier. Von Wend Rechtsan…«

Seine Tür ging auf und Käthe warf einen bösen Blick ins Zimmer, bereit ihm einen Vortrag zu halten. Eilert winkte hektisch ab.

»Aha.«

Die Staatsanwältin klang abweisend.

»Selbstverständlich weiß ich, wer Sie sind. Der spektakuläre Betrugsfall. Was kann ich für Sie tun? Ich bin gerade erst hereingekommen!«

Stimmt. Es war noch ziemlich früh für einen Anruf bei der Staatsanwaltschaft.

Eilerts Bürotür stand wieder sperrangelweit offen.

»Ich benötige eine Besuchserlaubnis von Ihnen. Zwecks Mandatsanbahnung.«

»Ja?«

»Im Fall Max Rosing.«

Ein erneutes Schnaufen.

»Jetzt erzählen Sie mir nicht, dass Sie als Wirtschaftsrechtler in einem Kapitalverbrechen verteidigen wollen?«

Eilert stockte.

Ein Arzt handelt fahrlässig, wenn er eine Tätigkeit vornimmt, obwohl er weiß, dass ihm die dafür erforderlichen Kenntnisse fehlen.

Wie war es bei einem Rechtsanwalt?

Eilert brauchte Verstärkung.

Und er wusste auch schon, wen er darum bitten würde.

»Ich bin nicht alleine«, hörte er sich mit fester Stimme sagen. »Stellen Sie mir bitte zwei Formulare aus.«

7

Drei Tage zuvor

Wieder keine Reaktion. Verdammt! Tessa wollte Anne ins Gesicht sagen, was für eine miese Freundin sie war. Wütend starrte sie auf ihr Handy. Kein Rückruf. Keine Nachricht.

»Ja bitte?«, brummelte es leidvoll aus der Sprechanlage rechts neben der Tür, nachdem sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, bei Annes Nachbarn zu klingeln.

Erst in diesem Moment bemerkte sie den Schatten hinter sich.

»Hallo, Herr …«, sie warf einen Blick auf das Klingelschild. »Hinrichs. Ich möchte Sie nicht lange stören, aber dürfte ich kurz zu Ihnen hochkommen? Ich bin eine Freundin von Anne, Ihrer Nachbarin.«

Nur eine flüchtige Bewegung. Schritte, die leiser wurden. Sie wollte rein.

»Natürlich. Ich mache Ihnen auf.«

Der Alte schien schon lange keinen Besuch mehr gehabt zu haben. Seine Stimme überschlug sich fast, er klang jetzt wesentlich vitaler.

Tessa öffnete die Tür und betrat das dunkle Treppenhaus, drehte sich dann aber einem Impuls folgend zur Straße um. Gerade noch konnte sie erkennen, wie ein mittelgroßer Mann mit braunen Haaren und breiten Schultern um die Ecke bog. Die Sonne reflektierte seine goldene Halskette, als würde sie in diesem Moment Feuer fangen.

Tessa war, als hätte sie diesen Mann schon einmal gesehen. Doch sie konnte nicht sagen, ob ihre Erinnerung ihr einen Streich spielte. Er war zu weit entfernt.

Annes Nachbar wartete bereits vor seiner Wohnungstür auf sie.

»Ach, Sie sind das. Was für eine schöne Überraschung. Kommen Sie, mein Mädchen«, strahlte er und präsentierte seine gelblichen Zähne.

»Ich wollte mich eigentlich gar nicht großartig bei Ihnen aufhalten«, beeilte sich Tessa zu sagen, bevor sie die kleine Wohnung betreten musste und dann vielleicht nicht mehr so schnell die Gelegenheit fände, sie wieder zu verlassen.

»Ach so.« Der Alte wirkte enttäuscht. »Womit kann ich Ihnen denn dienen?«

Tessa überlegte, wie sie dem Nachbarn am besten ihr Anliegen näherbringen sollte.

»Können Sie mir sagen, wann Sie Anne das letzte Mal gesehen haben?«

Er sah verdutzt aus, hakte aber nicht weiter nach.

»Mal überlegen. Ich glaube, das war vorgestern. Sie war so freundlich, meine Einkaufstasche für mich die Treppe hochzutragen. Wissen Sie, die alten Knochen wollen nicht mehr so recht. Mein Sohn wohnt leider so weit entfernt, dass ich meine Enkel kaum sehe und da bin ich auf jede Hilfe …«

»Hat Anne Ihnen irgendetwas anvertraut? Wollte sie vielleicht zu ihren Eltern?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

Tessa beobachtete, wie sich seine Augen weiteten. Er hatte sicher auf ein nettes Pläuschchen gehofft, verstand nicht, was die Fragen bedeuten sollten. Sie musste Tacheles reden.

»Anne war gestern nicht in der Uni. Und sie reagiert auch auf keine meiner Anrufe, geschweige denn auf das Dauerklingeln an der Tür.«

Er zögerte, dann: »Nun, das soll vorkommen bei Freundinnen. Muss auch schon eine Weile her sein, dass Sie bei ihr zu Besuch waren.«

Tessa traute ihren Ohren nicht.

»Im Moment stehen Prüfungen an. Anne lernt viel. Und ich auch.«

»Ach so?«

In seinem Blick lag mit einem Mal etwas Süffisantes.

»Hören Sie, ich mache mir ernsthaft Sorgen um Anne. Können Sie mir nicht einfach sagen, ob sie hier ist?«

Noch während die Worte aus ihr heraussprudelten, kam ihr die Situation reichlich absurd vor.

Plötzlich war der Alte in seiner Wohnung verschwunden. Die Tür schwang unschlüssig in ihren Angeln.

Zeit, wieder nach Hause zu fahren. Tessa wollte auf dem Absatz kehrtmachen, nicht weiter wildfremde Menschen belästigen.

»Hier!«

Der Nachbar stieß die Wohnungstür zur Seite. Er streckte ihr einen Schlüssel entgegen. Ein rosafarbenes Bändchen war durch das Loch gefädelt.

Tessa schaute fragend.

»Der Ersatzschlüssel zu Annes Wohnung. Ich habe ihn vom letzten Blumengießen zurückbehalten.«

Stolz wedelte er mit dem Ding vor ihrer Nase.

Die Tür öffnete sich knarrend. Drinnen war es stickig. Als hätte Anne schon seit einer Weile nicht mehr gelüftet.

Tessa warf einen Blick über die Schulter und konnte erkennen, wie der Nachbar noch immer im Hausflur stand und ihr neugierig nachschaute. Doch das hier ging den Opa von gegenüber nichts mehr an!

Sie bekämpfte eine plötzliche Hemmung, die sie davon abhielt, in die Wohnung zu treten.

War sie alleine?

Leise fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

An der Garderobe reihten sich Jeansmantel, Annes Lieblingsparka und das rote Regencape nebeneinander auf. Alles war an seinem Platz. Anscheinend hatte Anne das Haus ohne Jacke verlassen. Aber das musste bei dem Wetter nichts heißen.

Tessa begutachtete die Schuhe, die sorgfältig ausgerichtet unter dem Garderobenspiegel standen. Kein Paar fehlte. Seltsam.

Zögerlich setzte sie einen Schritt vor den anderen. Schwere Luft presste sich in ihre Lungen, als würde sie in eine Plastiktüte atmen.

Warum war die Stubentür verschlossen?

Sie drückte die Klinke herunter und betrat den Raum. Gleißendes Sonnenlicht strahlte durch die Fenster und blendete sie.

Es war ordentlich. Anne musste aufgeräumt haben. Keine aufgeschlagenen Wälzer, keine angebrochenen Kekstüten, nicht einmal ihre heißgeliebten Notfall-Globuli, die sie sich bei ihren Lernexzessen in regelmäßigen Abständen reinpfiff, lagen auf dem Boden verstreut.

Erneut schlich sich Enttäuschung in Tessas Gedanken. Sie vertraute Anne. Sie waren beste Freundinnen. Beste Freundinnen hauten nicht einfach ab.

Ihr Blick schweifte umher. Keine Kekse, keine Krümel, keine … Sie erstarrte.

Ihre Hände zitterten, als sie Annes Handy vom Sideboard fegte und es auf den Boden knallte.

Das Display leuchtete. Dreizehn Anrufe. Fünf SMS. Alle von Tessa.

Schlagartig wurde ihr klar, dass sie noch nicht im Schlafzimmer nachgesehen hatte.

Die Hitze schoss ihr in den Kopf. Sie jagte über den Flur. Stieß die Tür auf.

Und dann …

Eine Welle süßlichen Geruchs.

Ein Anblick, der so irreal war, dass ihr Verstand sich weigerte, das Gesehene zu akzeptieren.

Tessa wollte schreien, doch es kam kein Laut über ihre Lippen.

Gedanken über Gedanken

Ich habe mich gefragt, warum ich meine Gedanken überhaupt zu Papier bringe, warum sie weitergetragen werden sollen. Es gibt für mich keine endgültige Antwort darauf.

Vielleicht möchte ich einfach ein kleines Türchen zu meinem Bewusstsein öffnen – dich teilhaben lassen an meinen Gedanken. Vielleicht ist das Wissen nur schwer zu ertragen, dass die Welt, wenn ich zu Nichts werde, ohne mich weitergeht. Oder stirbt sie dann mit mir?

Vielleicht ist es auch nur das Verlangen, Reaktionen auszulösen, um weitere Erkenntnisse zu erlangen.

Denn mich treibt eine Idee von der Welt an, ohne das Ziel wirklich zu kennen.

Doch zunächst möchte ich Verständnis für meine Theorie schaffen. Dich einbeziehen in meine Betrachtungsweise des Menschen und der ihn umschließenden Welt.

Sollten deine bisherigen Vorstellungen ad absurdum geführt werden, folge meinen Thesen trotzdem und versuche, zu verstehen.

Ich selbst fühle mich wie ein Astronaut, der die Welt von oben gesehen hat. Unfähig, ein normales – kleines – Leben zu führen.

Deshalb brauche ich dich. Ich bin allein.

Philosophische Gedanken können in der Welt nur Wirkung hinterlassen, wenn sie die Einzelnen erreichen.

Ich lade dich deshalb ein, mir in meine Gedankenwelt zu folgen.

Hellhörig. Entspannt.

Und offen.

Denk an das Meer.

An das Wasser.

Wie seine sanften Bewegungen die Sonnenstrahlen reflektieren und dich blenden.

Wie du es mit deinen Fingern vorsichtig durchkämmst und dich an seiner klaren Kühle erfreust.

Wie das Wasser dich ruhig und nachdenklich werden lässt.

Und du dich lebendig fühlst.

Treiben lässt.

Wie in Trance durch das Leben spazierst.

Ich liebe die Natur. Bin ich ein Teil von ihr? Oder ist sie ein Teil von mir?

Was ist es, womit sich Philosophen heute beschäftigen und gestern beschäftigt haben?

Die Antwort darauf lautet: Mit allem.

Mit allem, was das Leben für uns ausmacht.

Vom Größten bis zum Kleinsten. Vom Wichtigsten bis zum Unbedeutendsten.

Denn was ist bei tieferem Denken noch unbedeutend?

Von Entstehung und Aufbau der Welt bis zu Verhaltensregeln im täglichen Leben.

Von den existenziellen Fragen nach Freiheit, Tod und Unsterblichkeit bis zu den Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken.

Das alles kann Bestandteil philosophischer Überlegungen sein.

Das Weltganze? Ein Thema der Metaphysik.

Das Sein in seiner Gesamtheit? Die Ontologie.

Die Lehre vom richtigen Denken und von der Wahrheit ist die Logik.

Richtiges Handeln – die Ethik.

Die Erkenntnistheorie handelt vom Erkennen und seinen Grenzen. Die Ästhetik vom Schönen. Die Naturphilosophie von der Natur. Die Kulturphilosophie von der Kultur. Die Gesellschaftsphilosophie von der Gesellschaft. Die Geschichtsphilosophie von der Geschichte. Die Religionsphilosophie von der Religion. Die Staatsphilosophie vom Staat. Die Rechtsphilosophie vom Recht. Die Sprachphilosophie von der Sprache.

Und das ist nur der Anfang.

Doch all diese verschiedenen philosophischen Richtungen haben eine gemeinsame Grundlage: Sie suchen nach Antworten auf die Fragen des Seins.

Nach der Wahrheit unseres Lebens. Unserer Welt.

Ich bin ein belesener Mann. Wie viele Bücher und Abhandlungen von Denkern der unterschiedlichsten Zeitalter ich mir schon einverleibt habe, kann ich nicht sagen. Es waren viele. Ich habe jeden Tag ein neues Buch verschlungen. Bereits als Zwölfjähriger war ich fasziniert von dieser Tiefgründigkeit. Diesem Drang, die Welt verstehen zu wollen.

Ich war anders, wurde von Fragen gequält und jagte den Antworten nach. Studierte die abgewetzten Bücher, die mein Großvater mir in die Hand drückte, mit einer Wissbegierde, die kein Maß kannte. Es war schon damals wie ein Zwang.

Das Gefühl, alleine zu sein. Keinen Seelenverwandten in dieser oberflächlichen Welt zu finden. Ja, gar nicht in diese Welt hineinzugehören. Das habe ich nie verloren.

War ich zu sehr darauf fixiert? Ich hinterfragte alles, was sich in mein Leben drängte. Auch das, was mir fernblieb. Oft endeten meine Gedanken in Sackgassen, im Sumpf unerklärlicher Paradoxien. Zu viel Bewusstsein kann krank machen. Dabei sollte ich wissen, dass 2×2=4 ist.

Dieses Brodeln in mir. Diese Bewegung.

Wie das Wasser, das mich umspielt.

Wenn ich in ihm gleite und mich von ihm tragen lasse.

Alleine mit mir. Und diesem allgegenwärtigen Medium.

Das so lebendig ist.

Meine Haut streichelt und mich berührt.

Das ist echt. Das ist das Leben.

Fühle das Wasser.

Wie es glitzert.

Wie es dich liebt.

Nur dich.

Wie es plötzlich dunkler wird.

Seine Farbe verändert, wenn die Sonne sich hinter den Wolken versteckt. Und ein Sturm aufzieht.

Wie es Wellen schlägt. Kälter wird.

Dich mit einem Sog in die Tiefe zieht. Und du in seinem Strudel versinkst.

Unendlich. Und so lebendig.

8

Die Gröpelinger Rotziegelbauten rauschten an ihnen vorüber, als Jo und Eilert die Heerstraße im Eiltempo entlangfuhren.

»Was sollte das gerade?«

Jo war ungehalten. Sie war mir nichts, dir nichts aus dem letzten Mandantengespräch herauszitiert und ins Auto verfrachtet worden. Eilert hatte einen solchen Zahn drauf, dass sie in der Linkskurve mit Wucht in den kalten Ledersitz gedrückt wurde. Heimlich klammerte sie sich an der Armlehne fest.

»Ist dir etwa Marens Meat Free Monday auf den Magen geschlagen?«

Wenn Eilert weiter so raste, würde die Ledergarnitur gleich womöglich in einem ganz neuen Farbspektrum erstrahlen. Sie hatte Müsli mit Obst gefrühstückt. Mal sehen, wie lange sie ihre Mahlzeit noch bei sich behalten konnte.

»Oder bist du einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden?«

Eilert warf ihr einen beleidigten Blick zu.

»Weder noch.«

Er stieg abrupt in die Bremsen, als die Ampel vor ihnen auf Rot schaltete. Jos Magen rebellierte.

»Aha.«

Sie wartete auf Informationen.

Nichts passierte.

»Und weiter?« So langsam riss ihr der Geduldsfaden.

»Ich muss unsere Vereinbarung brechen.«

Die Ampel schaltete auf Grün und Eilert drückte das Gaspedal durch.

»Was soll das heißen?«

Er bog nach links in die nächste Straße ab. Jo kannte diesen Weg. Sie fuhren zur Justizvollzugsanstalt Oslebshausen.

»Wir haben einen neuen Klienten.«

»Weswegen sitzt er?«

»Ihm wird vorgeworfen, eine junge Frau umgebracht zu haben.«

»Was? Wie?«

»Mit einem Kehlschnitt.«

»Ist das dein Ernst? Seit wann verteidigen wir denn Schwerverbrecher?«

Eilert antwortete nicht. Hinter ihm konnte sie die grauen Hallen der Waterfront ausmachen – ein riesiger Shoppingtempel, der aussah wie die meisten Center dieser Art in Deutschland. Vor dem Eingang tummelten sich ganze Heerscharen von Menschen, beladen mit den obligatorischen Primark–Tüten. Alle Welt liebte ja neuerdings diesen Einheitsbrei, der in unpersönlichen Ladenketten angemischt wurde.

»Eilert?«

Im Radio plapperten die Moderatoren der Morgenshow.

»Es wird eine Ausnahme bleiben, das schwöre ich.«

Jo wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte.

Sie hatte schon Erfahrungen mit Schwerverbrechern gesammelt. Sogar mit Totschlägern. Damals bestimmten staatsanwaltliche Ermittlungen ihren Tätigkeitsbereich.

»Hast du denn gar keine moralischen Bedenken?«

»Mit uns macht arbeiten Spaß!«, lachte der Radiosprecher.

»Ich dachte, es war klar, dass ich solche Klienten nicht verteidigen würde.« Ihre Gedanken überschlugen sich. »Auf keinen Fall«, ergänzte sie.

»Ja, das war es auch.« Eilert schaute stur geradeaus. Offensichtlich traute er sich nicht, Jo anzusehen. »Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«

Sie hatte sich nie wieder einer solchen Situation aussetzen wollen.

Jetzt drehte Eilert sich zu ihr um.

»Wie soll ich ohne dich ein Kapitalstrafverfahren überstehen?«

Stille.

»Kannst du den Auftrag nicht ablehnen? Einen Fachanwalt für Strafrecht zu konsultieren wäre sicher auch für den Beschuldigten die geeignetere Alternative.«

»Das geht leider nicht.« Er bedachte Jo mit einem flehentlichen Blick. »Ich brauche dich!«

Seine ehrlichen Worte überraschten sie. Dennoch behagte es ihr nicht, ihre Mitarbeit bei diesem Fall zuzusagen.

»Bitte, Jo.«

Ihre Hilfe schien ihm wichtig zu sein. Wie sollte sie Eilert diesen Gefallen abschlagen?

»Du würdest ja eh nicht locker lassen.«

»Danke.« Er wirkte erleichtert.

Jo schaute aus dem Beifahrerfenster. Eine dichte Wolkendecke lag über der Stadt und erzeugte eine trübe Atmosphäre. Das erste Mal seit Wochen.

»Ab sofort übernimmst du das Kommando.«

»Na klar.«

Sie spürte, wie Nervosität in ihr aufstieg.

»Wie heißt der Mann?«

Eilert fummelte unsicher an seiner Brille herum. Er schaute ihr nicht in die Augen.

Als würde er sich schämen, schoss es Jo durch den Kopf.

»Max Rosing.«

Zumindest hatte sie nun schon mal einen Namen.

Nachdem sie einen Parkplatz gefunden hatten, der nur ein paar Schritte vom Haupteingang der JVA entfernt lag, verstauten sie ihre Handys im Handschuhfach und stiegen aus dem Auto.

Es war kühl. Jo bekam eine Gänsehaut, als der Wind ihren Körper streifte.

»Moment.« Eilert holte die Papiere vom Rücksitz und wollte ihr gerade sein Jackett umhängen.

»So weit kommt’s noch.«

Der erste Eindruck ihres Mandanten sollte nicht sein, dass sie ein kleines Mäuschen war, das gewärmt werden musste.

»Wie du willst.«