Mörderischer Wanderritt - Nicola Norda - E-Book

Mörderischer Wanderritt E-Book

Nicola Norda

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Beschreibung

Die selbstständige Apothekerin Leona fiebert seit langem ihrem geführten Wanderritt durch die Wälder und Seenlandschaften Mecklenburgs entgegen. Doch dieser Traum zerplatzt jäh, als plötzlich die Vertretung für ihre Apotheke ausfällt. Ihr Bedauern darüber wandelt sich jedoch wenig später in Schrecken und Entsetzen. Am dritten Abend der Tour erreicht die siebenköpfige Reitgruppe fernab jeglicher Zivilisation im Niemandsland ihr Quartier auf einer verlassenen Hofstelle, die nur noch aus drei winzigen Blockhütten besteht. Nachdem ein Teil der Gruppe am Lagerfeuer bis in die Nacht hinein gefeiert hat, füttert der Rittführer Marco am frühen Morgen die Pferde. Als er sich darauf in einer der Hütten zu seiner jungen Frau ins Bett legt, spürt er, dass sie eiskalt ist. Ist sie auf natürliche Weise gestorben, oder war es Mord? Der motorradbegeisterte Kommissar Jörn steht vor einem Rätsel. Als Leona sich mit ihm am Schweriner Schloss zum ersten Date verabredet, ahnt sie nicht, dass sie aufgrund ihres Fachwissens in größter Gefahr schwebt...

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Ähnliche


Nicola Norda

Mörderischer Wanderritt

Die Apothekerin

Nicola NordaDie ApothekerinMörderischer WanderrittKriminalroman

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Traum

Danach

Die Änderung

Die Vorbereitung

Der Anfang

Der erste Blick

Die Begegnung

Die Fakten

Der Gutshof

Am Schweriner See

Die Apotheke

Der Ausritt

Der Verdacht

Berauschend

Hamburg

Der Heimweg

Das Geheimnis

Der Hafer

Die Vermutung

Die Fragen

Der Grieche

Der Ärger

Der Kater

Die Freunde

Blitz und Donner

Die Neugier

Die Entwicklung

Aussichtslos

Die Anweisung

Der Parkplatz

Der Goethe

Der Baum

Vermisst

Der Fund

Atropin

Das Dilemma

Danksagung

Quellenverzeichnis:

Impressum

Prolog

Ich mochte seine Haut nie leiden.

Ohne Handschuhe, also völlig ungeschützt, seinen Unterarm mit den bloßen Fingerspitzen zu berühren- wie schrecklich musste sich das anfühlen? Vielleicht wäre es im Sommer besser.

Aber wir trafen uns das erste Mal in einem Mai.

Die Frühlingssonne hatte dafür gesorgt, dass seine Haut mit den planlos versprenkelten Sommersprossen an sprießende Bakterienkulturen auf einer mit rotem Agar gefüllten Petrischale erinnerte.

Wie bei Rothaarigen üblich hatte er grüne Augen, die ihn durch ihre Größe durchaus attraktiv erschienen ließen. Dafür sprach zusätzlich seine Körpergröße, auch hatte er schöne breite Schultern. Die spitze Nase jedoch, natürlich ebenfalls mit dieser untragbaren Haut überzogen, rief in mir die Assoziation vom Naseweis wach.

Und man musste tatsächlich recht klug sein, um den richtigen Umgang mit ihm zu finden.

Ich war immer stolz darauf gewesen, meine kommunikativen Fähigkeiten für die erforderlichen Maßnahmen einsetzen zu können.

Natürlich war Geduld unabdingbar.

Mut, Kraft und Entschlossenheit.

Um ans Ziel zu kommen, kann Entscheidungsfreude nie schaden.

Der Traum

Als Leona Waldhaus kurz nach dreizehn Uhr an diesem Mittwoch ihre Apothekentür hinter sich verriegelte, konnte sie nicht ahnen, dass dies bis auf weiteres ihr letzter guter Tag sein würde.

Heute hätte sie sich selbst sogar als außerordentlichen Glückspilz bezeichnet. Deshalb rannte sie fröhlich die beiden Treppen hinauf zu ihrer Wohnung, die über den Apothekenräumlichkeiten lag, um dort in rasender Hast ihre Reitsachen anzuziehen. Schnell schlang sie noch zwei Käsebrote hinunter und griff sich einen Apfel, bevor sie ihre Wohnung verließ, um mit ihrem roten Kleinbus die paar Kilometer zum Lindenhof zu fahren.

Auf diesem schönen ehemaligen Gestüt hatte die Apothekerin ihr Pferd stehen, mit dem sie gleich einen kilometerlangen Ausritt unternehmen wollte. Da sie sich hier zum Reiten mit ihrer Nichte verabredet hatte, wollte sie gern pünktlich sein. Nachdem sie die holprige, mit altem Kopfsteinpflaster verlegte Auffahrt zwischen den Pferdekoppeln bewältigt hatte, bog sie rechts auf den Parkplatz für die Gäste ein. Da sah sie bereits das Auto ihrer älteren Schwester Viola stehen, aus dem gerade das junge Mädchen sprang.

Leona winkte ihr nur zu, denn sie wusste, dass Hannah mit ihren sechzehn Jahren zurzeit in einer Phase steckte, in der sie Umarmungen oder sonstige Berührungen in der Öffentlichkeit grundsätzlich als peinlich empfand.

Mit Viola verhielt sich das ganz anders.

Leona wurde von ihr gleich kräftig gedrückt und gleichzeitig mit einem lautstarken Monolog überfallen: „Wir haben jetzt die Lieferung mit den teuren Satteltaschen bekommen. 130,-Euro haben die gekostet! Hannah ist ganz durch den Wind und packt schon die ganze Zeit ihre Klamotten ein und aus. Ich weiß nicht, wie sie da all ihr Zeug für acht Tage hineinbekommen soll! Marco hat gesagt, wir sollten unbedingt vorher einige Male üben, mit den Taschen zu reiten, damit das Pferd nicht bockt!“

„Habt ihr die denn jetzt dabei?“ unterbrach Leona ihre Schwester. „Dann können wir sie doch gleich mal auf Flicka schnallen…“

„Nein, haben wir nicht“, schaltete sich nun Hannah selbst ein. „Ich habe sie erstmal ordentlich mit Lederöl eingefettet, das muss erst eine Weile einziehen. Los, Leona, lass uns zur Koppel gehen, um die beiden Ponys zu holen!“ Mit diesen Worten stapfte die Schülerin voran Richtung Sattelkammer, und Leona verabschiedete sich rasch von ihrer Schwester:

„Ich fahre Hannah nach unserem Ausritt nach Hause! Tschüss Viola, genieß deinen Nachmittag!“

Die beiden Kleinpferde ließen sich rasch von der Weide holen und wurden nun von ihren zufrieden schweigenden Besitzerinnen geputzt.

Flicka war eine blonde Haflingerstute mit einem hübschen kleinen Köpfchen, den eine weiße fast gerade Blesse zierte. Leonas Stute Nita hingegen gehörte zur Rasse der Norwegerpferde, ebenfalls von kompakter Größe zwischen Pony und Pferd. Für Ungeübte sahen diese Fjordpferde alle gleich aus: sie waren falbfarben (sozusagen teddybärbeige) mit einer schwarzweißen Mähne und Schweif und einem langen schwarzen Strich über dem Rücken. Vom Aussehen her erinnerten diese Pferdchen mit den Zebrastreifen an ihren Beinen an Wildpferde. Allerdings hatten sie einen grundehrlichen lieben Charakter, der sie bei guter Behandlung in allen Lebenslagen zum Freund machen konnte.

Beide Ponys waren schon fertig gesattelt, als wie rein zufällig der Reitlehrer Marco um die Ecke kam. „Na Mädels, wie ist denn heute euer Plan?“, wollte er sogleich wissen, nachdem er mit schnellem Blick die korrekte Lage der beiden Westernsättel kontrolliert hatte.

„Hey Marco“, übernahm Leona die Konversation. „Wir haben vor, jetzt nochmal zwanzig Kilometer zu machen. Ich habe mein GPS bereits programmiert, denn ich habe vor, den alten Postweg zu reiten, danach an der Wildbahn entlang Richtung Hasenberg und schließlich durch den Knorpeldorfer Wald am Bahnwärterhäuschen vorbei zurück.“

„Oh ja, das ist eine schöne, lange Strecke. Da könnt ihr auch sehr gut mal galoppieren. Geht es nicht zu langsam an, ihr könnt den beiden Ponnies ruhig einiges abverlangen!“

„Ist es nicht schon fast zu warm dafür?“ fragte Hannah besorgt nach.

„Ach nein, auf unserem Wanderritt kann es ja schließlich auch durchaus warm werden. Ihr habt schon ordentlich trainiert, die beiden Pferdchen sehen mit ihren Muskeln ja beinahe aus, als wollten sie zur Olympiade! Weiter so. Euer Ziel soll sein, dass ihr einen Sechser-Schritt hinbekommt.“

„Wie, Sechser? Im Lotto?“ fragte Hannah verständnislos.

Der freundliche Reitlehrer lachte, so dass seine strahlend weißen Zähne sichtbar wurden.

„Nein, es ist wichtig, dass eure Pferde sechs Kilometer in der Stunde schaffen, auch wenn wir nur Schritt reiten. Dann sind sie wirklich fit für unseren Wanderritt!“

Und dieses Ziel verfolgten die beiden Reiterinnen bereits seit mehreren Wochen. Der geplante Wanderritt war für Leona ihr Traumurlaub, auf den sie nun schon sehr lange hingearbeitet hatte. Das war der Grund, weshalb sie so glücklich, voller Vorfreude und Aufregung war.

Jahrelang hatte die Apothekerin neidvoll Berichten von Reiterinnen aus ihrem Stall gelauscht, die mit dem Reitlehrer Marco bereits solch einen Urlaub gemacht hatten. Im Netz gab es endlose Berichte und Fotos über diese einzigartige Art des Reisens.

Sie wäre bereit, alles dafür tun, damit sie und ihr Pferd fit genug für die außergewöhnliche Anstrengung sein würden. Die Vorstellung, bis zu acht Stunden täglich im Sattel zu sitzen, eine ganze Woche lang in unterschiedlichen Quartieren zu schlafen und durch fremde Gegenden reiten zu dürfen, bereitete ihr höchstes Vergnügen. Nur noch drei Wochen, dann würde es endlich losgehen!

Heute brauchten Tante und Nichte für die zwanzig Kilometer tatsächlich nur etwas über drei Stunden. Sie hatten viel Spaß dabei, loteten aus, wie lange sie und die Tiere am Stück galoppieren konnten, und wurden immer sicherer darin, auch unbekannte Situationen zu meistern.

Zutiefst befriedigt, aber körperlich tatsächlich ziemlich am Ende kamen sie gegen achtzehn Uhr wieder am Stall an. Nachdem Leona das Mädchen wohlbehalten bei deren Eltern abgeliefert hatte, fuhr sie zurück in ihre Wohnung. Was für ein herrlicher Tag! Nach einem schnellen Abendessen fiel sie bereits auf ihrem Sofa in einen tiefen und entspannenden Schlaf.

Nichts hätte sie warnen können, dass das Gefühl der Freude und Sorglosigkeit nun für sie beendet sein sollte.

Pünktlich um zehn vor acht am nächsten Morgen öffnete Leona ihrer PTA-Praktikantin Celine Behrens die Tür des Treppenhauses und schloss dann die Hintertür zur Apotheke auf. Direkt im Flur befand sich hier der Schalterkasten mit der gesamten Elektrik sowie der Hebel für die Alarmanlage, die die Apothekenleiterin sofort deaktivierte.

Dann liefen die beiden Frauen über die Apothekentreppe nach oben in den ersten Stock, um sich im Personalaufenthaltsraum ihre weißen Apothekenkittel anzuziehen. Zurück im Erdgeschoss schalteten sie dann sämtliche Lampen, Rechner und Kassencomputer ein. Es war Punkt acht.

Die Praktikantin machte sich sofort ans Auspacken und Einscannen der Großhandelslieferung, während Leona die Eingangstür öffnete, vor der schon eine ältere Dame mit ihrem Rollator wartete.

„Guten Morgen Frau Krüger, kommen Sie mal gleich herein“, wurde die Stammkundin von der Chefin begrüßt.

„Ach guten Morgen Frau Waldhaus, Sie wissen ja gar nicht, was ich wieder für eine fürchterliche Nacht gehabt habe.“

„Konnten Sie etwa wieder nicht gut schlafen?“ Leona wusste, dass diese Frau seit langem unter schweren Schlafstörungen litt, den Gang zum Arzt aber scheute.

Auch heute ließ sie sich nicht dazu von Leona überzeugen, da sie unbedingt das neueste Mittel aus der Werbung ausprobieren wollte. Wider besseren Wissens verkaufte Leona ihr dieses pflanzliche Präparat, obwohl Frau Krüger diese Art von Mitteln schon in rauen Mengen zuhause haben musste.

Schlag auf Schlag trudelten nun die ersten Patienten ein. Die meisten kamen von den beiden gegenüberliegenden Arztpraxen und wollten ihre Rezepte einlösen. Um halb neun erschien Anja Klinkert, die erste ihrer Pharmazeutisch-Technischen Assistentinnen, abgekürzt PTA. Sie unterstützte Leona im Handverkauf, bis um neun die junge Apothekerin Maria Wegener sowie die PTA Melanie Buschmann hinzukamen. Nun war das Team für heute komplett, und Leona ging wie üblich nach oben in ihr Büro, um sich um den stetig wachsenden Verwaltungskram zu kümmern.

Kaum hatte sie sich an ihren Schreibtisch gesetzt, klopfte es auch schon an ihre Tür. „Darf ich Sie mal einen Moment sprechen, Frau Waldhaus?“

Leonas Magen antwortete sofort mit einem scharfen Grummeln. Wenn ihre Mitarbeiterinnen so förmlich wurden, konnte einfach nichts Gutes dahinterstecken.

„Na klar- was haben Sie denn auf dem Herzen?“

Die Vorwarnung ihrer Bauchorgane hatte berechtigte Gründe.

Schwanger war Maria, die Leona vor etwa einem halben Jahr frisch nach deren Staatsexamen eingestellt hatte, zwar nicht. Sie war nun bereits so gut eingearbeitet, dass sie neben der Vertretung der Chefin auch einen Teil der Nacht- und Notdienste übernehmen konnte. Nur deshalb war es Leona überhaupt erst möglich geworden, einmal Urlaub zu planen. Ihren langersehnten, heiß erträumten Wanderritt mit Nita, der ja in drei Wochen beginnen sollte.

Und jetzt eröffnete diese Mitarbeiterin ihr also, dass sie ihren Traummann gefunden und heiraten wollte und deshalb zu ihm nach Rostock ziehen würde. Wie schön für sie - es hatte dort sogar schon mit einer neuen Stelle geklappt. Da Maria noch einige Wochen Resturlaub hatte, müsste sie ihrer Chefin nun leider mitteilen, dass inklusive der Kündigungsfrist ihre Arbeit hier am Ende der nächsten Woche bereits beendet sei.

Träume dein Leben- lebe deinen Traum. Oder lass es bleiben.

Als selbstständige Apothekerin war man allein verantwortlich für seinen Betrieb und seine Mitarbeiterinnen und dazu verpflichtet, nach Recht und Gesetz zu handeln zum Wohle des Patienten. Neben der riesigen Verantwortung hatte man grundsätzlich keine Zeit für andere Dinge zu haben. Und das spürte Leona jetzt schmerzlich.

Wie sie die Fassung bewahren und ihrer untreuen Apothekerin noch von Herzen zu deren Glück gratulieren konnte, war Leona im Nachhinein noch schleierhaft. Sie habe eben ein Pokerface, behauptete ihre Schwester immer gern.

Mit einem lauten Knall warf Leona hinter Maria die Bürotür zu, um sofort die Stellenbörse der Apothekerkammer zu durchforsten. Sie brauchte dringend eine Vertretung für ihren Betrieb, denn eine Apotheke durfte nur geöffnet sein, wenn auch Apotheker anwesend waren. Obwohl sie von vornherein wusste, dass es reine Illusion wäre, so schnell eine passende Mitarbeiterin zu finden.

Leise klopfte es und Anja steckte ihren Kopf durch den Türspalt. Sie war eine hübsche Frau Anfang dreißig mit mittelblondem Haar, das sie durch blonde Strähnchen aufgepeppt hatte.

„Alles in Ordnung, Chefin?“

Leona drückte ihren dicken Kloß im Hals runter und versuchte ein klägliches Lächeln.

„Maria hat es uns allen eben erzählt“, begann Anja. „So ein Mist! Zwei Jahre lang hast du eine Apothekerin gesucht und warst dir ja anfangs nicht sicher, eine Berufsanfängerin zu nehmen. Und nun haben wir den Salat!“

„Naja- Berufsnachwuchs ist doch wohl für uns alle wichtig. Es hätte ja auch sein können, dass sie eine lange Zeit bei uns geblieben wäre. Unsere Kunden haben sie doch schon richtig ins Herz geschlossen.“

„Und leider halt auch der nette junge Apotheker aus Rostock!“

Nun begann Leona, sich richtig zu ärgern. Regelmäßig schickte sie ihr Team zu Fortbildungen, die meistens in der Landeshauptstadt, dem schönen Schwerin stattfanden, aber manchmal eben auch in Rostock an der Ostsee. Und auf solch einer Schulung hatte das Mädel also ihren künftigen Ehemann kennengelernt.

Ihre PTA wollte nun beschwichtigend eingreifen: „Du weißt doch, dass du dich immer auf unser Team verlassen kannst! Wir stehen das zusammen durch, glaub mir einfach. Ich rede mit den anderen und dann kannst du bestimmt auch mal freimachen. Und mittags gehst du immer für zwei Stunden nach oben in deine Wohnung. Wenn dann was Wichtiges ist, rufen wir dich schnell!“

„Anja, du weißt genau, dass es nicht darum geht!“ fauchte Leona und war selbst über ihre heftige Reaktion erschrocken. Die ersten drei Jahre nach Übernahme ihrer Stern-Apotheke hatte sie bis auf einen einzigen Urlaub mit ihrem Chat-Freund Klaas durchgearbeitet. Dieser Internet- Bekannte, ein Gynäkologe aus Hamburg, hatte schon kurz nach dem ersten richtigen Date darauf gedrängt, gemeinsam auf den Kanaren der Januarkälte zu entfliehen. Damals hatte sie nur mit großer Mühe einen Vertreter für die Apothekenleitung finden können. Diese Suche hatte sich als vermeintlich schwieriger erwiesen als die Suche nach einem männlichen Lebensbegleiter.

Mit Klaas war sie also nach Gran Canaria in ein ganz neu eröffnetes Fünf-Sterne-Hotel geflogen, in dem die Großspurigkeit ihres neuen Partners extrem ans Licht kam. Bereits am dritten Urlaubstag konnte Leona diese nicht mehr ertragen. Das Thema Klaas hatte sich damit erledigt.

„Wie lange träume ich schon davon, mit Nita einen Wanderritt zu machen?!“

„Ich weiß nicht- ich bin ja erst seit etwa drei Jahren bei dir. Aber so viel wie du von deinem Pferd erzählst…“

Leona war doch so dicht davor gewesen, sich ihren Traum zu verwirklichen! Und das sollte nun alles umsonst gewesen sein?

Danach

Zwei Leute warteten noch vor ihm an der Kasse, und er begann bereits in seiner Lederkombi zu schwitzen. Sein Smartphone vibrierte in der Innentasche, was ihn nicht weiter aus der Ruhe brachte. Trotzdem pulte er es unter Verrenkungen heraus und riskierte einen Blick darauf.

Ein verpasster Anruf, drei Whatsapp- Nachrichten. Der Sonntagmorgen ging ja gut los.

„Einmal die 5, Herr Kommissar?“

„Ja bitte.“

„Das macht dann 13,48! Und die Quittung wie immer?“

Der rote Kittel von Tina, der etwa fünfzigjährigen Tankstellenmitarbeiterin, klaffte am Oberkörper weit auf und gab den Blick frei auf ihr sonnengebräuntes Dekolletee.

Mit einem Grinsen verabschiedete Jörn sich mit den Worten: „Nee, fürs Motorrad kann ich leider nichts absetzen!“

Als er den Tankstellenshop auf dem Weg zu seiner BMW verließ, fiel sein Blick auf die herrlichen Rapsfelder hinter der Bundesstraße. In seiner Phantasie kam es ihm vor, als wären gelbe Wellen unterwegs von der Ostsee bis nach Schwerin. Die Vögel zwitscherten im heftigen Wettstreit miteinander, der Himmel war schon jetzt von einem zarten Blau überzogen, eine Libelle von der nahegelegenen Warnow segelte dicht an ihm vorbei.

Der Mai war Jörns absoluter Lieblingsmonat, der ihn seit jeher zu poetischen Ergüssen angeregt hatte. Gut für seine Mitmenschen, zumindest für die Ehrlichen, dass er sich anstelle seiner Schriftstellerkarriere aus Vernunftgründen doch für einen bodenständigen Beruf entschieden hatte.

Er würde sich selbst niemals als arrogant oder eingebildet beschreiben. Aber stolz durfte man doch wohl sein, wenn man wie er auf eine langjährige und größtenteils so erfolgreiche Laufbahn zurückblicken konnte. Seit zwei Jahren war er nun Hauptkommissar und einem achtköpfigen Team vorgesetzt.

Eine seiner Kolleginnen hatte scheinbar schon die ganze Fahrt lang keine Ruhe gegeben, da sie ihn unbedingt erreichen wollte.

„Jörn wo bist du? Todesfall auf einem Bauernhof. Junge Frau. Ruf mich zurück. Smily“. Seine burschikose Kollegin Eva setzte anstelle ihres Namens grundsätzlich den Smily hinter ihre Nachrichten, was er wirklich kindisch fand. Überhaupt war dies Whatsapp-Getue nicht seins. Er rief sie also zurück.

„Eva, wo muss ich hin? Kann ich dich irgendwo aufsammeln?“

„Guten Morgen Boss, sind wir denn ausgeschlafen? Mann, es ist gleich halb elf und ich habe dich schon dreimal angetickert. Hast du wieder keinen Empfang bei dir da oben?“

Eine Frechheit, was er sich da anhören musste. Als würde er wer weiß wo leben und nicht am Stadtrand von Wismar. Von hier aus konnte er in knapp einer halben Stunde im Präsidium in Schwerin sein. Die A 14 war eine reine Rennstrecke und meist völlig ausgestorben. Gas war schließlich rechts.

„Eva, heute ist Sonntag! Ich habe meine Maschine poliert und wollte gerade an der Küste lang Richtung Darß. Kannst echt froh sein, dass ich erst noch tanken musste, sonst hätte ich erst heute Mittag deine Meldungen entdeckt. Hast du mal rausgeguckt und gesehen, wie genial das Wetter ist? Du weißt doch, wie selten ich zum Fahren komme. Die Straßen sind heute gerade recht, wunderbar trocken, und außerdem ist es auch noch nicht zu heiß.“

„Ja ja, du Wintertyp, ich weiß Bescheid! Ab zwanzig Grad hört deine Wohlfühltemperatur auf, oder wie war das?“

„So ist das mit Menschen aus dem Norden eben. Was ist nun passiert und wo muss ich hin?“

„Tote Frau auf einsamen Hof, Todesursache unklar, wir sollen kommen.“

„Und wohin?“

„Soll ich dir die Beschreibung tickern?“

„Nee lass man, die Adresse reicht mir. Ich werde es ins Navi eingeben und gut.“

„Lieber nicht! Die meinten, es wäre beim Deibel up de rill, wenn du verstehst was ich meine. Also du musst die B 104 fahren und dann…“

„Lass gut sein, Eva! Die Adresse!!!“

Das Telefonat wurde abrupt abgebrochen, stattdessen kam Sekunden später die Nachricht: „Silberborn Ausbau. Bei Crivitz, nicht bei Kassel. Dann den Sandweg bis zur Schweinekoppel. Dahinter Holzhäuser. Smily“.

Sein Navi fand das nicht witzig. Auch nicht gut. Es fand das, ehrlich gesagt, gar nicht.

Innerhalb der ersten halben Stunde kam er in Crivitz an. Die nächste halbe Stunde verbrachte Jörn damit, das winzige Örtchen Silberborn zu finden. Dort gab es augenscheinlich überhaupt keine Bewohner mehr. Er sah zwar Türen zuklappen und sich bewegende Gardinen. Und ein Huhn. Sonst aber gar nichts.

Doch schließlich entdeckte er tatsächlich einen winzig kleinen Friedhof, auf dem eine Frau mit einer Gießkanne hantierte.

Er hastete zu ihr und rief ihr schon von weitem zu: „Wo geht es denn zum Ausbau?“

Die Frau drehte sich auf dem Absatz um und vergrößerte rasch den Abstand zwischen ihnen. Wahrscheinlich dachte sie, ein Rocker wolle sie kaltmachen. Da hatte er nun gar keine Lust drauf. Er stieg wieder auf seine Maschine und ließ den E-Starter an.

Mittlerweile lief ihm der Schweiß schon in die Augen. Die Lederkluft war zum Fahren zwar sehr bequem, insbesondere wenn man jenseits der 200 Km/h-Grenze unterwegs war, was bei ihm gern mal vorkam. Aber sie war definitiv zu sperrig, zu schwer und schlichtweg nicht ausreichend atmungsaktiv, um damit an einem warmen Maimorgen durch ein ödes Dorf zu rennen auf der Suche nach der von ihm zu bearbeitenden Leiche.

Er versuchte nacheinander mehrere Einfahrten, landete auf einem heruntergekommenen Hof und wurde dort von einem laut kläffenden Riesentier verjagt. Er holperte auf schmalen Asphaltwegen durch tiefe Schlaglöcher zwischen streng riechenden Rapsfeldern und stellte fest, dass er die Federung der Maschine nicht optimal eingestellt hatte.

Nun war es endgültig vorbei mit der Zivilisation und spärlichsten Hinweisen auf irgendeine Art von Besiedlung.

Ein Gefühl tiefer Verlassenheit durchdrang ihn, namenlose Einsamkeit holte ihn ein, nur verdrängt von der Gewissheit, seinen Job gerade nicht optimal zu erledigen.

Zehn Minuten später schlingerte er noch immer im Nichts auf einem staubigen Sandweg durch ein dichtes Fichtendickicht, als dieses sich endlich am Horizont öffnete und seinen Blick auf eine riesige Grasfläche mit lauter kleinen Häuschen freigab. Da konnte aber doch niemand drin wohnen- die waren ja viel zu niedrig und bestanden im Grunde nur aus Dächern.

Er hielt an und sah sich das Ganze in Ruhe an. Ach so - davor lagen dunkelgraue Schweine mit vielen kleinen Ferkelchen. Es schien sich hier um eine Art von Garagenschweinchen zu handeln, dachte er amüsiert.

Von dieser Art der Landwirtschaft hatte er tatsächlich keine Ahnung, obwohl er in einem kleinen Dorf am Rande von Wismar aufgewachsen war.

Also fuhr der Kommissar weiter und stieß hinter der nächsten Kurve tatsächlich wieder auf Anzeichen menschlichen Daseins, die doch eher seiner beruflichen Lebenswirklichkeit entsprachen:

Mehrere Fahrzeuge parkten vor drei buntbemalten Holzhäuschen, die aus dem Baumarkt zu stammen schienen. Jörn registrierte einen Kleinbus und einen PKW der Polizei, mehrere Personen, davon einige in Uniform, einen dezentgrauen Leichenwagen sowie zwei zivile Autos. Eins davon musste Evas dunkelblauer Golf sein.

Rechts neben der blauen Holzhütte waren einige Koppeln mit weißen Elektrobändern abgezäunt, auf denen mehrere Pferde grasten.

Er stellte die BMW ab, öffnete den Reißverschluss des Tankrucksacks und zauberte einen roten Plastikuntersetzer hervor. Den ließ er neben seinem linken Fuß in den Sand fallen und platzierte den Ständer des Motorrads darauf. Sonst wäre der Ständer hier eingesackt und die Maschine umgekippt- wie peinlich wäre das denn wohl?

Handschuhe und Helm legte er auf die Sitzbank und ging auf die Gruppe der Kollegen zu. Eva kam ihm gleich mit wichtiger Miene entgegen. Und schüttelte ihm förmlich die Hand.

„Tag Boss, ich hab alles im Griff. Hat ja doch länger gedauert, was? Dein Moped sieht ja aus, als wärst du die Rally Paris-Dakar gefahren, ha ha!“

Manchmal hätte er nicht übel Lust, Evas leicht speckigen Hals zu packen, einfach nur um seine Ruhe zu haben. Aber zu neunzig Prozent hatte er seine Kollegin ganz gern. Sie war eine klassische Ulknudel, nicht besonders groß, durch ihren übertriebenen Hang zu Süßigkeiten leicht übergewichtig, was ihr aber gut stand. Ihre wunderschönen braunen Augen harmonierten sehr gut mit ihrem brünetten Haar und wurden durch die große schwarzumrandete Brille noch mehr betont.

Jetzt blitzten sie vor Aufregung, als sie begann, ihn ins Bild zu setzen.

„Der Bus mit den Polizeischülern ist vor einer halben Stunde eingetroffen, sie werden das Gelände umstellen. Wir wissen nicht, ob wir die Spusi informieren sollen. Die Gruppe wartet in dem blauen Häuschen der Mädchen, das heißt der Ehemann sitzt zusammen mit der POW auf seinem Bett in seiner Hütte. Der ist völlig fertig. Wir haben auf dich gewartet, eben weil wir nicht wissen, ob die Spusi kommen muss. Ist vielleicht ein normaler Todesfall. Denke ich. Aber der Arzt ist schon hier.“

„Nun mal langsam- wer ist überhaupt tot?“

„Die Ehefrau des Anführers der Gruppe- Wanderrittführer nennt er sich. Sie lag heute Morgen tot im Bett.“ „Weshalb? Krank? Ermordet? Worum geht es hier?“ Eva schaute ihn kläglich an. „Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Also Mord. Aber du bist ja jetzt da!“

„Wo ist der Arzt?“

Nachdem sich Jörn kurz mit dem Mediziner besprochen hatte, gingen sie gemeinsam über den sandigen Platz, um den die drei Holzhütten aufgestellt waren. In dessen Mitte stand ein wackliger Zehn-Euro-Grill, auf dem noch ein verkohltes Stück Fleisch lag. Mehrere kleine Heuballen und zwei weiße Plastikstühle standen im Kreis um den Grill herum. Es musste ein ordentliches Gelage gewesen sein, das hier stattgefunden hatte. Auf den ersten Blick erkannte der Kommissar einige leere Getränkedosen, zwei angetrunkene Sektflaschen sowie eine halbvolle Schnapsflasche und benutztes Einmalgeschirr, was so gar nicht zu dieser Cowboy- Romantik passen wollte.

Jede der drei Hütten besaß eine winzige Veranda, auf deren Geländer verschwitzte Satteldecken, Windjacken und Handtücher hingen. Davor lagen wild durcheinander mehrere Sättel und Stiefel.

Jörn bahnte sich den Weg hindurch zur Tür der roten Hütte und öffnete sie.

Sofort sah er den zusammengekauerten Mann, der leise in sich hinein zu weinen schien. Die Polizistin saß neben ihm auf dem unteren von einem der beiden Etagenbetten und fuhr ihm tröstend mit der Hand über die Schulter. Sie schien erleichtert, als der Kommissar ihr zunickte und damit zu verstehen gab, dass sie den Platz räumen durfte. Sie schob sich an ihm vorbei zur Tür und verschwand sehr schnell.

Er betrachtete den kleinen Raum. Es gab nur ein Fenster gleich auf der rechten Seite, dessen rotkarierte Gardinen zugezogen waren, so dass es hier drinnen nicht besonders hell war. Darunter stand ein eckiger kleiner Kieferntisch mit zwei dazu passenden Stühlen, die mit Klamotten belegt waren. In der Ecke gegenüber wies auf einer zweiten kleineren Tür ein Emailleschild mit der Aufschrift „Stilles Örtchen“ auf das beruhigende Vorhandensein einer Nasszelle hin.

Neben der Eingangstür befand sich das zweite Etagenbett. Auf dem oberen lagen einige Kleidungsstücke, eine Bluse, eine Reithose, ein T-Shirt sowie ein zerknüllter Schlafsack.

Dann fiel sein Blick auf das untere Bett. Ein sehr blasses, wunderschön symmetrisches Gesicht mit sinnlich geschwungenen Lippen. Rote Locken lagen ausgebreitet auf dem weißen Kopfkissen. Sie schien zu schlafen.

Doch der Stahlsarg, der aufgeklappt neben ihrem Bett für sie bereitstand, verriet sie.

Die junge Frau war tot.

Die Änderung

„Musst du bei Nita nachgurten?“ Marcos braune Augen blitzten Anja verschmitzt unter seinem Cowboyhut an, seine Hand griff nach ihrem Wanderstiefel und zog ihn aus dem Steigbügel. Sie strahlte ihren Rittführer vom Pferd aus an und nickte eifrig, während Nita die kurze Unaufmerksamkeit ausnutzte und sofort ihren dicken Kopf nach unten zog.

„Lass das!“ schrie Anja und zerrte energisch am Zügel. Marco packte ihre Hand und hielt sie fest. Tausend Blitze schossen durch sie hindurch direkt in ihren Unterleib. „Tu ihr nicht weh“, murmelte er und zog das komplizierte Knotenkonstrukt des Lederriemens fest, der den Sattel auf dem dicken Pony hielt. Schon war er beim nächsten Pferd und half dessen Reiter. Anja wickelte das lose Zügelende um den Sattelknauf, so dass es der Fjordstute nicht mehr gelingen konnte, nach dem frischen Gras zu schnappen. Ponys waren aber auch wirklich unmöglich!

Drei Tage waren sie nun schon unterwegs, und Anja musste leider feststellen, dass ihre anfängliche Skepsis, als Erwachsener auf Ponys zu reiten, sich von Stunde zu Stunde verstärkte.

Sie galten gemeinhin als Reittiere für Kinder, obwohl die sich doch noch nicht durchsetzen konnten, da ihnen die Kraft und die Körpergröße fehlten. Außerdem waren Ponys immer verfressen, und Leonas Nita war eine von der schlimmsten Sorte. Wenn Marco nicht hinsah - und da er vorne ritt, war das zwangsläufig der Fall, obwohl die beiden mitreitenden Mädchen überzeugt waren, dass er auch hinten Augen hatte - setzte Anja das lose Zügelende gern ein, um dem dummen Pony eins über das Maul zu ziehen.

Das war wirklich anstrengend. Ein schreckliches Tier. Ansonsten konnte sie nicht behaupten, dass sie durch diese mehrstündigen Tagesritte körperlich arg strapaziert wurde.

„Alles gut bei dir?“ Ein fuchsbrauner Pferdekopf zog an Anjas rechtem Auge vorbei, dann stach ihr das Lächeln ins Auge, das nur falsch sein konnte. Biancas ebenmäßiges Gesicht war umrahmt von Locken, die genauso schimmerten wie das fuchsrote Fell ihres schicken Pferdes. Genauso offensichtlich waren aber ihre kleinen Speckröllchen oberhalb des Hosenbundes zu sehen. Anja war sich sicher, dass auch das ein Grund war für Marcos wachsende Unzufriedenheit mit seiner Ehe.

Wie stolz war dagegen sie selbst auf ihre eigene durchtrainierte Figur! Sie ging gewöhnlich dreimal in der Woche ins Fitness-Center und fuhr am Wochenende sehr viel Fahrrad. Ihre Oberarme waren noch sehr fest, von Winkeärmchen keine Spur, obwohl doch auch ihr nur noch zwei Jahre blieben bis zu ihrem gefürchteten Shutdown, also ihrem Vierzigsten. Obwohl es ihr auf Dauer unangenehm kalt an den Nieren wurde, knotete sie doch ihr schickes Cowgirl-Hemd oberhalb des Bauchnabels zusammen. Mit Käse fängt man Mäuse.

Heute waren Marco und sie noch nicht dazu gekommen, sich in Ruhe austauschen zu können. Vielleicht schöpfte Bianca schon Verdacht?

Anja war immer wieder erstaunt, wie leicht alles ging. Fast schon könnte sie sich beleidigt fühlen, dass sie leider immer nur auf Menschen traf, die zu gutgläubig waren und sich viel zu leicht manipulieren ließen. Der Kitzel war dann nicht so richtig wie er sein sollte.

Vorhersehbarkeit- das machte die Leute unheimlich langweilig. Wie der Herr- so das Gescherr. Dieses Pony ähnelte seiner Besitzerin ohne Frage. Seine Handlungen waren vorhersehbar, es selbst leicht zu händeln und es tat genau das, was Anja wollte.

Sie hatte Zeit, ihre Gedanken schweifen zu lassen, während sie gemütlich im bequemen Westernsattel durch die wunderschöne mecklenburgische Landschaft schaukelte.

Als sie an dem Montagmorgen vor drei Wochen gemeinsam mit Leona die Apotheke aufgeschlossen hatte und zunächst die HV-Tische desinfizierte, sah sie, dass ihre Chefin wirklich schlecht aussah. Ihre normalerweise adrett gestylten dunkelblonden Haare waren heute nur zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. Die blauen Augen waren trotz eines fehlgeschlagenen Schminkversuchs rot umrandet und sahen aus, als hätten sie eigentlich aus dem Kopf herausgeweint sein sollen. Von ihrer fröhlichen Art war nichts zu spüren.

Oh je, heute sollten sie sie lieber im Hintergrund agieren lassen und unbedingt verhindern, dass sie auf die Patienten losgelassen wurde!

„Sag mal Leona, im Labor häufen sich in der Quarantäne die Ausgangsstoffe, die noch geprüft werden müssen. Wer soll das heute machen?“ fragte die PTA beiläufig.

„Wie sind wir denn heute besetzt?“

Anja erkannte den flehenden Blick ihrer Chefin.

„Willst du das nicht erledigen? Wir schaffen das hier unten schon, und wenn Privatrezepte oder so was kommen, holen wir dich einfach. Ich kann dir nachher bestimmt beim Protokoll-Schreiben zur Hand gehen, Celine und Melanie kommen um halb neun dazu und Bettina um neun."

Dankend nahm Leona dieses Angebot an, hatte sie sie doch richtig eingeschätzt.

So konnten Anja und ihre Kolleginnen einen gemütlichen, stressfreien Vormittag verbringen ohne das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Gegen halb zwölf wies sie die anderen an, möglichst nicht zu stören und ging eine Treppe nach oben, wo sich neben dem Büro, den Personalräumen und dem Notdienstzimmer auch das Labor befand.

Die meisten der Kunden wussten nicht, dass in jeder Apotheke in Deutschland sämtliche Ausgangsstoffe zunächst geprüft werden mussten, die man für die Herstellung von individuellen Rezepturen benötigte. Solche Salben, Kapseln, Säfte oder auch beispielsweise Zäpfchen, die häufig von Hautärzten oder Kinderärzten speziell für einen einzigen Patienten verordnet worden waren, mussten direkt in der Apotheke hergestellt werden. Dafür wurden verschiedene Ausgangsstoffe zusammengefügt, je nachdem, was der Arzt verschrieben hatte.

Anja empfand diese erforderlichen Überprüfungen immer als überflüssige Schikane, da der Hersteller der Substanzen dies ja auch schon mehrfach getan hatte. Sie stellte sich das genauso idiotisch vor, als müsste man, bevor man einen Vanillepudding kochen wollte, zunächst chemisch untersuchen, ob die Milch auch wirklich Milch enthielt und ob das Puddingpulver nicht vielleicht doch Schokoladenpuddingpulver war. Es ging unheimlich viel Zeit damit verloren. Zeit, die viel sinnvoller genutzt werden könnte.

Aber ihre Chefin meinte, das sei schließlich eine ganz ursprüngliche Aufgabe von Apotheken und notwendig für die Sicherheit der Arzneimittelherstellung. Deshalb könnten die Patienten den Apotheken vertrauen.

Vertrauen…

Anja öffnete die schwere Labortür, griff sich einen Stuhl und setzte sich.

„Was ist los mit dir Leona? Du siehst heute wirklich nicht gut aus. Geht es immer noch um deinen Urlaub?“ So einfühlsam hörte sie sich an.

„Ach Anja…“, Leona stellte den Bunsenbrenner ab und legte das Magnesiastäbchen zur Seite, mit dem sie eigentlich gerade die Flammenprobe auf Natrium durchführen wollte. Dann schloss sie die Abzugstür und setzte sich auf den freien der beiden Laborstühle.

„Erzähl mal!“

„Es ist ganz einfach- nichts geht!“ Heiße Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln, wie es so schön hieß.

Stockend und schluchzend berichtete sie von ihrem scheußlichen Wochenende. Als sie Freitagabend spät in dem Stall angekommen war, wo sie ihr Pferd eingestellt hatte, waren ihre Schwester und deren Tochter sofort über sie hergefallen.

Die drei hatten schon seit Wochen geplant, dass Leona mit ihrer Nichte zusammen Urlaub mit dem Pferd machen sollte. Die Nichte hatte dort auch ein Pferd stehen und der Reitstallbesitzer würde zusammen mit seiner Gattin die Gruppe anführen. Drei oder vier andere Reiter wollten ebenfalls mitkommen.

Anja verstand folgendes:

Leona war nun wohl zu feige gewesen, die Tour abzusagen. Sie selbst hatte sich angeblich auch schon seit Jahren auf so einen Ritt gefreut und wollte es scheinbar nicht wahrhaben, dass das Ganze ins Wasser fallen müsste. Die größte Angst hatte sie davor, ihrer Schwester zu erklären, dass sie aufgrund des Personalmangels in ihrem Betrieb nicht die Verantwortung für deren Kind übernehmen konnte. Die Schwester war vermutlich eine dieser Helicopter-Mütter, die ihre Brut nicht einfach mal sich selbst überlassen wollten. Für Anja war so eine Einstellung nicht nachvollziehbar, aber Leona hatte nun wirklich ein Problem.

Ihre Nichte sei gerade sechzehn geworden und läge ihrer gesamten Familie seit Monaten in den Ohren, gemeinsam mit ihrer Freundin diesen achttägigen Wanderritt durch die schöne mecklenburgische Landschaft zu machen. Die Bedingung der gluckenhaften Mutter sei, dass Leona als Erwachsene und vertraute Tante mitkäme.

Und darum hätte Leona gar nicht gebeten werden müssen! Pferdeverrückt wie sie sich selbst beschrieb, wäre das schon immer der größte Traum ihres Lebens gewesen.

Kein Wunder, dass es kein Mann bei ihr aushielt, dachte Anja. Dessen Chancen waren vermutlich gegen die Konkurrenz eines großen, warmen, wohlriechenden und immer verfügbaren Wesens einfach zu gering.

„Was soll ich denn nur machen?“ jammerte Leona, die Tränen tropften auf ihren weißen Kittel. Wie gut, dass es der Laborkittel war, denn immer montags wurden frische Kittel angezogen. Um deren Reinigung kümmerte sich die Chefin. Wäre wohl auch noch schöner, wenn Anja und ihre Kolleginnen das auch noch selber machen sollten.

Es war oft für Anja selbst erschreckend, wie klar die Dinge sich auf einmal vor ihr ausbreiten konnten. Dies geschah häufig- sie ahnte nichts Böses, und auf einmal ergab sich das Beste. Ein Plan ließ den nächsten wie auf einer Perlenkette aufgefädelt folgen, so dass ein großes Ganzes entstehen konnte und die neuen Möglichkeiten ihr zu Füßen lagen, von denen sie zuvor keine Ahnung gehabt hatte.

Es war ganz einfach.

„Wie soll ich das meiner Schwester und der armen Hannah denn bloß erklären? Sie meinen ja sowieso immer, dass ich viel zu viel Zeit mit Arbeiten verbringe! Bitte sag das den anderen Mädels hier nicht! Aber ich kann hier doch nicht fehlen ohne Vertretung! Und die finde ich niemals in der kurzen Zeit! Mein Ex hatte also doch recht, dass ich mich mit der Apotheke vollkommen übernehmen werde!“

„Ach, so ein Quatsch Leona! Du hast doch alles immer prima im Griff. So etwas konnte doch niemand vorhersehen. Da werden deine Verwandten doch Verständnis haben.“

„Nein, niemals! Du kennst meine große Schwester nicht. Sie hat mir immer vorgeworfen, ich habe ihre Tochter mit dem Pferdevirus infiziert. Keiner aus unserer Familie hatte bisher irgendetwas mit Tieren am Hut, schon gar nicht mit Pferden. Und nun habe ich Hannah den Floh mit dem Wanderritt ins Ohr gesetzt und springe plötzlich ab!“

Leona stand auf und riss ein großes Stück Küchenkrepp von der Rolle, die über der Spüle hing, um sich kraftvoll die Nase zu putzen. Dann sagte sie mit fester Stimme:

„Ohne mich lässt meine Schwester die arme Hannah nie im Leben mitreiten!“

Anja zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen und schaute Leona gerade in die Augen.

„Bist du da ganz sicher?“

Die Vorbereitung

Anjas Plan schien aufzugehen.

Logisch, dass Leona als Apothekenleiterin zuhause zu bleiben und ihren Betrieb zu leiten hatte. Unvorstellbar, ihrer Nichte Hannah, die gerade erst sechzehn geworden war und sich seit Wochen auf diesen Wanderritt freuen durfte, einen Strich durch die Rechnung zu machen. Erfreulich, Anja auf diese Weise eine zusätzliche Woche bezahlten Urlaub zu bescheren. Kost, Logis und Pferdebenutzung inclusive.

Die einzige Bedingung, die Leona gestellt hatte, war die, dass Anja gut mit ihrer Stute zurechtkommen musste.

Die beiden Frauen hatten verabredet, sich am Sonnabend nach Feierabend auf dem Lindenhof zu treffen, um dies auszuprobieren. Leona wollte sehen, wie Anjas Reitkünste aussahen und ob sie auch mit der Westernreitweise zurechtkommen würde.

Fest entschlossen klingelte Leona noch am selben Abend an der Haustür des Einfamilienhauses, in dem ihre Schwester mit Mann und Tochter wohnte. Es war ein warmer Maiabend, die Amseln sangen um die Wette, gelbe Schmetterlinge- gab es eigentlich noch andersfarbige?- flatterten vor den ordentlich gepflegten Rabatten am Eingangsbereich des schmucken weißen Hauses.

Hannah öffnete ihr mit strahlenden Augen.

„Marco hat gesagt, ich habe ganz toll trainiert und die neuen Taschen passen richtig gut an Flickas Sattel!“ Eifrig plappernd führte das schlanke junge Mädchen ihre Tante ins Wohnzimmer.

„Guten Abend Leona- alles gut?“ Schwager Hendrik sah nur kurz von seinem Tablet auf und vertiefte sich dann wieder in einem Artikel, den er gerade am Esstisch gelesen hatte.

„Nee- ehrlich gesagt gar nicht. Ich muss euch etwas sagen.“

Viola kam mit drei Weingläsern in der Hand aus der Küche.

„Setz dich erstmal, Leona. Wie immer ein Glas Rotwein?“ „Ja gern, ich kann es gebrauchen.“

Stockend begann Leona, von ihrem Elend mit der gekündigten Mitarbeiterin und der daraus entstandenen Misere zu berichten. Sie schonte sich dabei nicht, gab zu, damit nicht gerechnet zu haben und schluckte ihre Traurigkeit herunter.

Hendrik klappte sein Ipad zu und setzte sich mit zu ihnen an den Wohnzimmertisch. Hannah sagte gar nichts. Viola übernahm.

„Was heißt das jetzt für uns? Du kommst nicht mit?! Obwohl du seit Wochen von nichts anderem mehr gesprochen hast? Du hast die Mädchen verrückt gemacht mit diesem Wanderritt! Und jetzt fällt alles ins Wasser!“

„Nein!“ Hannah schrie auf. Sie sprang vom Sofa hoch und schleuderte das Kissen, das sie sich eben noch vor den Bauch gehalten hatte, auf den Parkettboden.

„Viola, es stimmt, ich kann nicht mit, aber die Mädchen…“

„Papperlapapp“, unterbrach die Schwester, „du hast geschworen, dass du mitkommst und als Erwachsene die Aufsicht übernimmst. Hannah und Fabienne sind minderjährig! Ich lasse sie doch nicht allein mit wildfremden Menschen los!“

„Marco und Bianca sind doch nicht fremd!“ schrie Hannah wütend. „Natürlich reiten wir!“

„Das entscheidest nicht du mein Schatz!“ Viola verschränkte demonstrativ die Arme und starrte ihren Mann an. „Sag du doch auch mal was, Hendrik!“

Ehe der Arme zu Wort kam, setzte Leona mit ihren weiteren Erklärungen an.

„Nun wartet doch mal ab, ich habe doch eine Lösung gefunden. Kennt ihr meine PTA, die Anja? Die ist doch von Anfang an bei mir in der Apotheke. Sie ist total nett und hat mir angeboten, an meiner Stelle mit Nita den Ritt zu machen.“

„Du meinst, wir überlassen einer unbekannten Frau unser Kind?“

„Mama! Jetzt hör doch auf! Ich bin fast erwachsen!“ Laut aufheulend rannte Hannah aus dem Zimmer, Leona wäre ihr so gerne gefolgt.

„Nun mach mal halblang, Viola,“ Hendrik schaltete sich nun endlich in die Diskussion ein. „Lass deine Schwester doch mal in Ruhe erklären, wie sie sich das vorstellt. Wir kennen doch beide die Reitlehrer schon seit mehreren Jahren, Fabienne ist schließlich auch dabei und wenn eine vertrauenswürdige Person mitkommt… Ich sehe da eigentlich keine Schwierigkeiten.“

Nun begann das altbekannte Gezeter zwischen den Eheleuten. Leona beschloss, dem schnell zu entfliehen, sagte ihrer aufgebrachten Nichte auf Wiedersehen und war froh, als sie wieder in ihrem VW-Bus saß und zurück zu ihrer Wohnung über der Apotheke fuhr.

Trotz allem war sie ganz zuversichtlich. Schließlich hatte Hendrik bisher immer das letzte Wort bei den Entscheidungen im Hause Hagedorn gehabt, das würde auch diesmal so sein. Dafür bewunderte Leona ihren Schwager sehr.

Und sie sollte richtig liegen, am nächsten Tag kam das „Go“ von ihrer Schwester. Die Mädchen durften tatsächlich mit.

Anja nutzte diesen Tag für ihre Zwecke, ohne Leona darüber zu informieren. Keinesfalls wollte sie die Chance für diesen Urlaub auf Chefin-Kosten vermasseln.

Sie wusste, wo der Lindenhof lag, etwa zehn Kilometer von der Kleinstadt Holstenow entfernt, in der sie in der Nähe ihres Arbeitsplatzes wohnte. Eine lange mit Kopfsteinpflaster verlegte Auffahrt führte zwischen weißen Zäunen direkt auf ein gelb gestrichenes altes Gutshaus zu. Links befand sich eine Reithalle, vor der mehrere Transporter standen. Auf der rechten Seite erkannte sie ein Stallgebäude, vor dem ein Besucherparkplatz ausgeschildert war. Drei Autos parkten hier bereits, als sie ihren Opel dort abstellte.

Eine gemütlich aussehende Frau Anfang sechzig kramte gerade eine mit Lebensmitteln voll gefüllte Klappbox aus dem Kofferraum eines der Wagen. Sie bemerkte, dass Anja sich suchend umschaute und sprach sie freundlich an: „ Guten Tag, ich bin die Hilda, wie kann ich Ihnen helfen?“

Anja antwortete zögernd: „Guten Tag, mein Name ist Anja Klinkert und ich suche den Reitlehrer.“

„Marco? Ich glaube der müsste hinten auf der Koppel sein, Zäune kontrollieren. Gehen Sie ruhig dorthin!“ Etwas zweifelnd sah sie auf Anjas auf Hochglanz polierte Reitstiefel und ihre weiße Reithose. Dann wies sie ihr den Weg.

Anja ging am Stall vorbei hinter das Gutshaus. Dort befand sich ein großer, mit gelbem Sand ausgestreuter Reitplatz, dahinter ein runder eingezäunter Pferch, in dem ein Pferd frei im Kreis um ein Mädchen trabte. Anjas Stiefel saßen schlecht, am rechten Hacken begann es bereits zu brennen. Zuletzt hatte sie diese vor etwa zehn Jahren getragen. Auf einem Springturnier. In einem anderen Leben.

Ihr Blick schweifte über die Wiesen, die sich weit hinter dem Reiterhof erstreckten.

Etwa zwanzig Pferde verschiedenster Größe und Farben standen auf drei abgeteilten Koppeln, die Köpfe im Gras. Ganz hinten erkannte Anja zwei Männer, die irgendwelche Arbeiten erledigten.

Sie winkte und machte sich lautstark bemerkbar.

Die Männer schienen sie nicht zu hören. Anja blieb unschlüssig am Zaun stehen und wartete.

Schließlich machte einer der beiden Zeichen, dass sie zu ihnen kommen sollte.

Unbehaglich öffnete Anja die Pforte der Koppel und schlich in weitem Abstand an den Pferden vorbei - man konnte ja nie wissen!

Beim Näherkommen steckte der Jüngere, ein vielleicht knapp dreißigjähriger Blonde, sein Werkzeug in seine Kiste und nickte Anja höflich zu.

Der andere, braunhaarige große Mann guckte freundlich von seiner Arbeit auf und streckte ihr die Hand entgegen. „Moin moin, ich bin Marco, und das ist Johannes. Was können wir denn für dich tun?“

Wow, was für ein Bild von Mann. Groß, starke Muskeln, braune blitzende Augen in einem schönen Gesicht, dazu ordentliche Umgangsformen- nicht schlecht! Anja ließ sofort ihren Charme spielen und schilderte in kurzen Worten ihr Anliegen.

Natürlich gelang es ihr, den Mann um den Finger zu wickeln.

Binnen kurzer Zeit waren die beiden auf dem Weg in den Stall, wo sie Sattel, Trense und Putzzeug für ein Schulpferd holten. Begleitet von witzigen Wortspielchen wurde das Pferd bereitgemacht für Anjas erste Reitstunde nach vielen Jahren.

Anja fühlte, dass die Chemie einfach stimmte. Es gab so etwas. Zwei Menschen trafen sich und es war nichts mehr so wie vorher. Sie war sich sicher, dass es dem Reitlehrer genauso erging. Sonst hätte er nicht so oft das Pferd angehalten, ihre Hände gepackt, am Knöchel gewackelt und ihr einmal sogar ans Knie gefasst, um die richtige Position festzulegen.

Selbst ihre Kleidung hatte er kommentiert- sie musste also wirklich sein Interesse geweckt haben!

„Auch wenn dein Outfit auf dem Springplatz bestimmt super aussieht- hier pflegen wir eine andere Reitweise. Vielleicht wären beim nächsten Mal Jeans und Boots oder sowas besser, was meinst du?“

Natürlich, in einer Designerjeans würde sie sicherlich noch knackiger aussehen, den Gefallen würde sie ihm gern tun!

Am Ende dieser aufregenden Stunde verabredeten sie sich für weiteren Reitunterricht während Anjas Freizeit in dieser Woche. Marco musste ihr versprechen, Leona kein Sterbenswörtchen zu sagen, da es eine Überraschung für diese werden sollte, wie sicher Anja die altkalifornische Reitweise bereits beherrschte.

In diesen Tagen lernte Anja auch die anderen Bewohner des Lindenhofes kennen:

Hilda gehörte als Haushälterin und Nanny sozusagen zum lebenden Inventar des Lindenhofes. Als Alleinerziehende war sie mit ihrem Baby Angie damals auf den Hof gekommen und nie wieder gegangen. Und Angie hatte es ihrem großen Vorbild Bianca nachgemacht und sich ebenfalls zur Reitlehrerin ausbilden lassen. Zusammen mit ihrem Mann Johannes, den Anja bereits am ersten Tag auf der Koppel getroffen hatte, lebte sie in einer kleinen Wohnung über dem Stall mit Blick auf die Reithalle. Angie unterstützte Marco und dessen Frau Bianca bei der Arbeit mit den Pferden, während Johannes alle schweren handwerklichen Arbeiten übernahm.

Bianca hatte den Hof vor ungefähr fünf Jahren von ihren Eltern geerbt, nachdem beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie hatte vorher eine Ausbildung zur Pferdewirtin absolviert und mehrere Trainerscheine gemacht. Gemeinsam mit Marco hatte sie dann den Pensionsstall in eine artgerechte Offenstallhaltung umgestaltet. Es musste herrlich sein, so leben zu dürfen!

Die Probestunde am Sonnabend mit Leonas Fjordpferd unter deren kritischen Augen war ein Klacks. Marco achtete darauf, dass Anja nicht zu schwierige Manöver vorreiten musste. Er hielt sein Wort und verriet nichts von den Übungsstunden.

Der Plan ging auf.

Der Anfang

„Was hast du getan?!!!“ Die kreischende Stimme ihrer Schwester schrillte durch Leonas Festnetztelefon. Vorbei war es mit ihrem sonntäglichen Mittagsschlaf. Schuldbewusst rieb sie sich die Augen. Viola schien schlecht drauf zu sein, da waren Schuldeingeständnisse geboten. Auch wenn Leona sich dieser nicht bewusst war und sowieso keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging.

Doch das sollte sie sofort erfahren.

„Ich habe dir vertraut! Du hast gesagt, alles im Griff zu haben! Du hast geschworen, dass das vertrauenswürdige Leute sind. Dass die sich gegenseitig die Kehle durchschneiden, hast du nicht gesagt! Mein armes Kind…“ der Rest ging in lautem Schluchzen unter.

Leona sprang von ihrer Couch auf, verhedderte sich in ihrer Kuscheldecke, die Fernbedienung, ihr Smartphone und die halbe Tafel Schokolade flogen auf den Teppich.

„Was ist passiert??? Wie geht es Hannah???“

Schwager Hendrik übernahm.

„Ihr geht es gut, mach dir keine Sorgen. Aber es ist etwas Furchtbares passiert und du musst Nita und Flicka mit dem Anhänger abholen kommen!“

„Was ist mit Nita?“ wagte sie zu fragen.

„Nichts- alles gut.“ Pure Erleichterung machte sich in ihr breit, die Schreckensbilder von toten Nichten, zermalmt von Lieblingstraumpferden mit gebrochenen Beinen lösten sich auf und hinterließen ein großes Fragezeichen in ihrem überarbeiteten Hirn.

Hendrik wusste auch nicht viel. Es habe einen Todesfall gegeben, die Polizei wäre eingeschaltet und nun sei der Wanderritt der Mädchen beendet. Sie müssten zusehen, wie die Reiter und die Pferde jetzt wieder nach Hause kämen.

„Hast du mit Hannah gesprochen? Wer ist denn gestorben?“

„Nein, die hocken da in so einem verdammten Funkloch und wir können sie nicht erreichen. Auch Fabienne nicht. Ihre Eltern werden uns gleich abholen. Wir werden unseren Anhänger mit deren Transporter ziehen und die beiden Pferde der Mädchen damit abholen. Du müsstest bitte deinen Pferdehänger mit dem VW-Bus mitbringen. So kommen wir schon mal alle nach Hause.“

„Meinst du dass…“ sie schluckte schwer, „dass Anja noch lebt?“

„Ich weiß es nicht, Leona. Der Polizist hat von einer toten jungen Frau gesprochen. Ich weiß es nicht.“

Gut dass heute Sonntag war. Das war ihr erster Gedanke und sie schämte sich sofort dafür. Aber nur so hatte sie die Möglichkeit, ihre Wohnung über der Apotheke zu verlassen und sich auf den Weg zu machen. Morgen früh um acht müsste sie wieder hier sein und für ihre Patienten aufschließen. Das war ihre Verpflichtung. Auch wenn jemand gestorben war.

Anja, Bianca oder ihre Freundin, deren Namen sie vergessen hatte. Anja, Bianca oder ihre Freundin.

Wie ein Mantra sagte sie sich das auf dem ganzen Weg zum Lindenhof vor.

Es war ein wunderschöner Reitstall, sehr gepflegt, mit weißen Holzzäunen um die Koppeln und die Reitplätze. Als sie auf den gekiesten Parkplatz links vor der großen Reithalle einbog, sah sie dort eine kleine Menschenansammlung stehen. Viola lief ihr gleich entgegen.

„Bianca ist tot!“ rief sie und fiel ihrer Schwester weinend in die Arme.

Hilda hatte den Anruf von Marco bekommen. Sie sollte keine Fragen stellen, sondern organisieren, dass die Pferde und die Reiter so schnell wie möglich von der Silberborn-Ranch abgeholt werden konnten. Mehr hatte er ihr nicht gesagt. Hilda war daraufhin zusammengebrochen, ein Arzt war bereits bei ihr und hatte ihr nun eine Sedierung gegeben.

Zum Glück waren ihre Tochter Angie und ihr Schwiegersohn ja vor Ort und hatten die gesamte Rückholaktion der Truppe in die Hände genommen.

Nun waren die beiden mit zwei Autos mit Pferdehängern schon losgefahren, wie Viola kurz berichtete.

Leona begrüßte schnell ihren Schwager Hendrik und die Schröders, die Eltern von Hannahs Freundin Fabienne, die im Gegensatz zu Viola gefasster mit der gesamten Situation umzugehen schienen.

„Tag Frau Waldhaus, schlimme Geschichte. Wollen sehen dass wir die Mädchen schnell nach Hause kriegen.“ Das war der einzige Kommentar von Fabiennes Vater.

---ENDE DER LESEPROBE---