Mörderischer Wein - Der Tote im Weinkeller. Warum musste der Kellermeister des größten Winzerkellers Europas sterben. - Rainer G. Mannich - E-Book

Mörderischer Wein - Der Tote im Weinkeller. Warum musste der Kellermeister des größten Winzerkellers Europas sterben. E-Book

Rainer G. Mannich

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Beschreibung

Ein komplexer Mordfall für Krimifreunde klassischer Ermittlungsarbeit, im Stile des Regiokrimis, bei dem das Lokalkolorit wie bei einem Wimmelsuchbild daherkommt. Hauptkommissar Klaus Kaschupke freut sich auf sein seit Wochen erstes freies Wochenende, da wird er zu seinem Leidwesen mit dem Team schon zum nächsten Tatort gerufen. Im größten Winzerkeller Europas liegt der erste Kellermeister merkwürdig verdreht und tot auf den frisch geputzten Fliesen der Traubenanlieferung. Im Nu laufen dem Kommissar bei der spontanen Teilnahme an einer Kellerführung gleich reihenweise Verdächtige über den Weg. Doch wer ist es gewesen - wer hat ein Motiv, die Gelegenheit und die ungewöhnlichen Mittel! Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen, doch Stück für Stück lüften sich Geheimnisse und bald bekommt nicht nur die scheinbar weiße Weste des Toten hässliche Flecken. Durch die akribische Hartnäckigkeit des Ermittlerteams entblättert sich ein komplexes Beziehungsgeflecht bis tief in die dunkelste Deutsche Vergangenheit. Eine sich durch Generationen ziehende Spirale der Gewalt reißt immer mehr Menschen und schliesslich das Opfer in den Abgrund eines Mordes. Aber wer ist Opfer, wer Täter?

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Seitenzahl: 763

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Über dieses Buch
Über den Autor
Prolog
Zeugenaussage vor Gericht
Kapitel 1 Freitagabend
Büro
In der Anlieferung
Kaschupke und Klara
Aussage der Beklagten vor Gericht
Winzergenossenschaft
Im Filmvorführsaal
Anlieferung
In den Katakomben
Im Irgendwo
Die Burg
Die Ecke
Kapitel 2 Samstagvormittag
Winzergenossenschaft
Kapitel 3 Montag
Dienstbesprechung
In der Rechtsmedizin
Zeugenaussage vor Gericht
Die Friseurin
Im Büro
Wohnung Bachmann
Das Ritual
Kapitel 4 Dienstag
Das Resort Hotel
Im Büro
Der Weg zur Winzergenossenschaft
Im Büro der Frau von Wildenen
Dienstbesprechung am Abend
In der Ecke
Kapitel 5 Mittwoch
Gesindehaus auf Burg Wildenen
1985
Wohnzimmer Gesindehaus
Ottos Privatzimmer
Im Ostflügel
Rückfahrt zum Büro
Im Büro
Die Zweitwohnung
Im Büro
Kapitel 6 Donnerstag
Dienstbesprechung
Gabriela von Hochsteinen
Vernehmungsraum
Sechzehn Monate vorher
Vernehmungsraum
Fünf Monate vorher
Vernehmungsraum
Lina Bachmann
Drei Monate vorher
Vernehmungsraum
Lea Pawlak
Sieben Jahren vorher
Vernehmungsraum
Zwei Monate vorher
Vernehmungsraum
Im Büro
Henriette von Wildenen
Zwei Monate vorher
Im Büro der Frau von Wildenen
In der Ecke
Kapitel 7 Freitag
Dienstbesprechung
Vernehmungsraum 1
Vernehmungsraum 2
Vernehmungsraum 1
Vernehmungsraum 2
Vernehmungsraum 1
Sieben Wochen vorher
Vernehmungsraum 1
Vernehmungsraum 2
Vernehmungsraum 1
Vernehmungsraum 2
Eine Woche vorher Café Porto
Vernehmungsraum 2
Kantine
Im Büro
Kapitel 8 Samstag
Im Zug
Köln
Familie Silberberg
Berlin
Rudolph Schneider
Karl Schneider
Café Bon Dia
Kapitel 9 Montag
Dienstbesprechung
Nach der Pressekonferenz
Einsatz an der Burg
Vernehmung einer Beschuldigten
Kriminaltechnische Abteilung
Kantine
Nächtliche Vernehmung
Sechs Wochen vorher
Vernehmungsraum
Fünf Wochen vorher
Vernehmungsraum
Kapitel 10 Dienstag
Dienstbesprechung
Die dritte Vernehmung
Spezialauftrag
Hinter dem Spiegel
Kantine
Gabriela von Hochsteinen
Personenschützer Georg
Gabriela von Hochsteinen
Henriette von Wildenen
Gabriela von Hochsteinen
Lina Bachmann
Gabriela von Hochsteinen
Kantine
Henriette von Wildenen
Lea Pawlak
Vernehmungsraum 1
Vernehmungsraum 2
Vernehmungsraum
Sechs Wochen vorher
Vernehmungsraum
Freitag
Vernehmungsraum
Dreizehn Tage vorher
Vernehmungsraum
Epilog
Lea
Klara
Kaschupke
Who is Who
Danke!
Impressum

Mörderischer Wein

Kaschupkes vorletzter Fall

R.G. Mannich

Über dieses Buch

Ein komplexer Mordfall für Krimifreunde klassischer Ermittlungsarbeit, im Stile des Regiokrimis, bei dem das Lokalkolorit wie bei einem Wimmelsuchbild daherkommt.

Hauptkommissar Klaus Kaschupke freut sich auf sein seit Wochen erstes freies Wochenende, da wird er zu seinem Leidwesen mit dem Team schon zum nächsten Tatort gerufen.

Im größten Winzerkeller Europas liegt der erste Kellermeister merkwürdig verdreht und tot auf den frisch geputzten Fliesen der Traubenanlieferung.

Im Nu laufen dem Kommissar bei der spontanen Teilnahme an einer Kellerführung gleich reihenweise Verdächtige über den Weg.

Doch wer ist es gewesen - wer hat ein Motiv, die Gelegenheit und die ungewöhnlichen Mittel!

Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen, doch Stück für Stück lüften sich Geheimnisse und bald bekommt nicht nur die scheinbar weiße Weste des Toten hässliche Flecken.

Durch die akribische Hartnäckigkeit des Ermittlerteams entblättert sich ein komplexes Beziehungsgeflecht bis tief in die dunkelste Deutsche Vergangenheit. Eine sich durch Generationen ziehende Spirale der Gewalt reißt immer mehr Menschen und schliesslich das Opfer in den Abgrund eines Mordes. Aber wer ist Opfer, wer Täter?

Über den Autor

R. G. Mannich

war schon viel in seinem abwechslungsreichen Leben. Bankkaufmann, Kriegsdienstverweigerer, politisch bewegter Student, Sozialarbeiter, Jobber, Theaterautor, Regisseur, Theatertrainer, Tänzer, Improspieler, doch vor allem Schauspieler mit Leib und Seele.

Nun auch Buchautor, obwohl das Geschichten erfinden und schreiben eine Leidenschaft ist, die er schon in der Grundschule für sich entdeckte. Diktate waren nicht sein Ding aber das Aufsatzschreiben – wie es zu seiner Zeit noch hieß, eine Passion.

Er lebt heute zusammen mit der Liebe seines Lebens im Münstertal, Schwarzwald.

Prolog

1985

Es ist kühl und feucht. Er fröstelt in seinen Shorts und dem kurzärmeligen Hemd. Die nackten Füße saugen Kälte aus den in Jahrhunderten glatt geschliffenen Steinen, die den Boden bilden. Nur die Striemen auf seinen Pobacken brennen noch pochend heiß.

Er will es nicht, aber jetzt fließen sie doch; die Tränen aus seinen traurigen Augen. Das Schlimmste ist die Dunkelheit, die ihn umfängt, undurchdringlich als sei er gar nicht vorhanden. Aus Erfahrung weiß er – es muss noch einiges an stillstehender Zeit zerfließen, bevor seine Augen sich gewöhnen, und ein kümmerlicher Schimmer Erbarmen zeigt sichtbar zu werden. An der Stelle, wo Boden und Wand sich küssen.

Ein kleines Wenig Licht, welches durch einen schmalen Schacht von weit oben in diese Schwärze fällt. Heute gewiss etwas später wie sonst, da er vor Augenblicken in die grelle, warme Sommersonne geblinzelt hat, das Gras seine Fußsohlen gekitzelt.

Stattdessen kriecht sie an ihn heran – in ihn hinein – mit jedem sich entfernenden, verhallenden Schritt, der zu seinen Ohren dringt. Die Angst, die ihn verschlingen will, starr und stumm werden lässt, wo ihm nach Schreien, Schlagen, Stampfen ist.

So steht er steif wie ein Stock, unfähig sich zu bewegen. Obwohl sie ihn nicht angekettet haben – noch nicht – schleicht sich hämisch durch seine Gedankenfurcht. Haben sie es endlich geschafft, ihn zu bändigen – zu brechen – Neiiin - schreit alles in ihm stumm und dennoch steht er starr.

Bis ein Zittern ihn befällt - erst die Beine, steigt es über das Becken den ganzen Korpus hoch, durch die Arme zu den Spitzen der Finger – den Hals hinan - bis es den Kopf erreicht und pendeln lässt. Ein Grollen zwingt sich die enge Kehle hinauf, wird zu einem für seinen schmächtigen Körper viel zu tiefen unartikulierten Brummen, Grunzen, Brüllen. Die bloßen Füße stampfen sich warm, die Beine drehen ihn wild herum, bis die Arme schwingen, die geballten Fäuste gegen Steinwände sich blutig schlagen.

Lauter! – er will es nicht hören, das knarzende Leder ihrer Schuhe, die hastigen wütenden Schritte draußen im Gang hallend - und dennoch, er weiß, dass sie wieder da sind, dass sie zurückkommen.

Die Tür wird aufgeächst und vier harte Hände an kräftigen Armen fassen ihn stumm und zwingen ihn in die eisernen, schweren Ketten an der Wand. Er sieht nur Schemen in der fahlen Dunkelheit, doch er riecht ihre wohlvertrauten Körper. Den Alten, den er schon lange hasst, den anderen, welchen er liebt, so sehr liebt.

Warum fragt etwas still in ihm - warum! Er kann es nicht begreifen. Warum nur sind sie so stumm, tun mir das an - ohne ein Wort. Später – wenn ich groß bin, werde ich verstehen? – fragt er in seine dunkle Einsamkeit.

Ein bärtiges Gesicht taucht in ihm auf, mit scheuen freundlichen Augen. Der Neue, der ihm manchmal heimlich zuzwinkert und seit Kurzem im Burgpark arbeitet. Auch eben erspähte er die massige Gestalt, verborgen im Schatten der Stämme des Birkenwäldchens. Hat der Mann alles beobachtet?

Er ist so groß, so kräftig wie ein Bär und machte ihm zu Anfang Angst. Juri! In Wahrheit ist er lieb und sanft mit ihm - vielleicht kann der es mir erklären ...

Zeugenaussage vor Gericht

2012

Anwalt:

Sie waren in der fraglichen Zeit der Kellermeister im Weingut Bachmann?

Zeuge:

Ja.

Anwalt:

Wie erklären Sie sich, dass Sie von den Manipulationen nichts bemerkt haben?

Zeuge:

Es ist mir unangenehm, dass so etwas möglich war. Ich habe mich zwar ehrlich gesagt schon gewundert, dass Frau Bachmann meine Arbeit am Fass derart akribisch kontrollieren und überwachen wollte. Das war ich nicht gewohnt, aber sie war die Chefin und bestand darauf.

Ich war verwundert, sie häufig alleine im Keller anzutreffen, und fragte mich - wozu braucht sie eigentlich einen Kellermeister.

Anwalt:

Warum haben Sie dann nicht gekündigt?

Zeuge:

Das Weingut Bachmann hatte eine erstklassige Reputation. Dazu einige herausragende Lagen. Nicht zu vergessen die lange Tradition, die bis ins 17. Jahrhundert zurückging. Das macht sich gut in der Vita. Die Überlegung zu kündigen kam mir leider erst kurz vor dem Skandal, ich zögerte.

Anwalt:

Gut und schön, das erklärt aber nicht, dass Sie überhaupt nichts bemerkt haben wollen. Schließlich waren Sie der Kellermeister und haben die Qualität der Weine überwacht, nehme ich mal an.

Zeuge:

Bisweilen habe ich mich schon über die erstaunlichen Qualitätsveränderungen und Reifungsprozesse in kurzer Zeit gewundert. Diese aber auf die außerordentlichen Lagen und das in dem Jahr ideale Mikroklima zurückgeführt. Nicht im Traum habe ich mit der Möglichkeit von Manipulationen durch Frau Bachmann gerechnet.

Anwalt:

Frau Bachmann erklärt das genaue Gegenteil und stellt zum Einen in Abrede, dass sie zu derartigen Eingriffen in den Reifungsprozess der Weine überhaupt in der Lage gewesen wäre, ohne dass Sie als Kellermeister davon etwas bemerken.

Zum anderen widerspricht meine Mandantin vehement Ihrer Aussage, Sie hätten sie ungewöhnlich oft alleine im Weinkeller angetroffen.

Behaupten Sie das nicht, um nicht selbst in den Verdacht der Manipulation zu geraten?

Zeuge:

Diese Unterstellung muss ich entschieden zurückweisen!

Leider kann ich die ungewöhnlich häufige Anwesenheit von Frau Bachmann im Weinkeller nicht belegen. Aus verständlichen Gründen hat sie genau darauf geachtet, dass es niemand außer mir bemerkte.

Vor mir konnte sie es natürlich nicht gänzlich verbergen. Oft hat sie mich früher in den Feierabend geschickt, was mir damals gelegen kam. Ich hatte meine heutige Verlobte Frau Müller kennengelernt und war frisch verliebt - wenn Sie verstehen ...

Anwalt:

Gut, lassen wir das, da Aussage gegen Aussage steht.

Nicht erklärlich ist dennoch für mich, dass Sie gewisse Eintragungen von Frau Bachmann im Kellerbuch angeblich nicht wahrgenommen haben, bzw. ihre Bedeutung nicht richtig eingeschätzt haben wollen.

Zeuge:

Schon wieder unterstellen Sie da was! Mir war der Gedanke fremd, dass in einem solch traditionsreichen Weingut gepanscht werden könnte, um das Unausgesprochene jetzt mal beim Namen zu nennen. Ich habe die Eintragungen meiner Chefin nicht in Zweifel gezogen oder kontrolliert, auch wenn sie mir nicht immer nachvollziehbar schienen.

Anwalt:

Könnten Sie uns erklären, was das hier ist? (Reicht dem Zeugen mehrere, alte Schriftstücke)

Zeuge:

Was soll denn das jetzt!

Anwalt:

Dieses hier sind diverse handschriftliche Entschuldigungen aus dem Jahr, da der Zeuge sein Abitur im privaten Internat Weißensee machte.

Diese lösten seinerzeit einen Skandal aus. Wie sich herausstellte, waren sie nicht von seinem Vater, sondern von ihm selbst mit der perfekt nachgeahmten Schrift desselben verfasst und ...

Staatsanwalt:

Einspruch! Das hat nichts mit diesem Verfahren zu tun!

Richter:

Stattgegeben! Was soll das, Herr Anwalt?

Anwalt:

Meine Mandantin Frau Bachmann bestreitet, die zur Sprache gekommenen Eintragungen in das Kellerbuch geschrieben zu haben.

Daraus folgt, dass der Zeuge selbst diese Eintragungen in betrügerischer Absicht im Kellerbuch durch Nachahmung der Schrift meiner Mandantin ...

Staatsanwalt:

Einspruch! Das hatten wir doch schon! Ein Schriftsachverständiger hat die Eintragungen geprüft und der Frau Bachmann zugeordnet ...

Anwalt:

... der Sachverständige spricht von kleinen Unregelmäßigkeiten ...

Staatsanwalt:

... welche aber durchaus im Bereich der Norm liegen!

Richter:

Ich bitte Sie meine Herren! Bleiben wir bei der Sache. Wenn Sie, Herr Anwalt einen 2. Sachverständigen wünschen, müssen Sie das formal beantragen.

Würden Sie jetzt bitte mit der Befragung des Zeugen fortfahren.

Kapitel 1 Freitagabend

Büro

2017

Ein Wunder! Klaus Kaschupke wagte es endlich, sich auf sein Feierabendbier zu freuen. Heute klappte es wahrhaftig mit dem pünktlichen Feierabend.

Der schöne Kevin ist als Erster entschwunden. Die letzten Protokolle sind geschrieben, gedruckt und abgelegt, womit sich Giesela Kleinle, die gute Seele ihres Teams ebenfalls verabschiedete. Klärchen entließ der Hauptkommissar mit einem, für seine Verhältnisse überschwänglichen - „Na dann bis Montag!“ - ins Wochenende..

Die junge Kommissarin quittierte es grinsend mit kokettem Heben ihrer linken Augenbraue.

„Klar Klaus, mach’s auch gut“.

Im Abgang stopfte sie sich die Airpods in die Ohren, eilte ihrem ersten freien Wochenende des Monats entgegen.

Mit einem tiefen Ausatmen klappte Kaschupke die Akte endgültig zu. Dieser letzte Fall steckte selbst ihm, nach so vielen Dienstjahren, in den Knochen. Die Bilder der grässlich entstellten Leichen erschienen unvermittelt vor seinem inneren Auge. Er war ein visueller Typ. Gleichsam wie unter einem Vergrößerungsglas sah er oft die kleinsten und scheinbar nichtigsten Details und speicherte sie ab. Segen und Fluch zugleich in seinem Beruf.

Doch jetzt - mit dem klappenden Geräusch des Pappdeckels, verblassten die in seine Netzhaut eingebrannten Erinnerungen. Schemen gleich, tauchte dieser Horror in den nebeligen Abgrund seines Unbewussten.

Professionalität nannte sich das. Und doch wusste er genau, die Bilder lebten in seinen Träumen weiter. All die Toten - all diesen gebrochenen Augen, welche er je gesehen, tanzen ihre makaberen Reigen in seiner Nacht.

Kaschupke stemmte sich vom Schreibtisch hoch, fuhr den ungeliebten PC herunter und schlenderte sich streckend zum offenen Fenster, um es zu schließen.

Es versprach ein schöner Spätsommerabend zu werden. Eine laue Brise wehte herein und umschmeichelte sein Gesicht. Mit beiden Händen fuhr er sich über die angestrengten Augen, strich seine Falten glatt. Unten trat Klärchen, ihre komischen weißen Stöpsel in den Ohren auf die Straße. Mit Schwung warf sie sich die neonpinke Rucksacktasche über die Schulter und vollführte dabei tänzerisch elegant einen pirouettenartigen Sprung, bevor sie joggend davoneilte.

Der bei den Kollegen als kauziger Griesgram verschriene Klaus Kaschupke lächelte. Vor 40 Jahren hätte ich mich in sie verguckt - sinnierte er - was sie wohl gerade für Musik hört?

Der Kommissar gab sich einen Ruck, um endlich ebenfalls das Büro hinter sich zu lassen, und schloss das Fenster. Auf dem Weg zur Tür legte er die geschlossene Akte in die Ablage für den Staatsanwalt - diese sinnlosen Ritualmorde hatten ihn und sein Team über fünf Wochen nahezu rund um die Uhr beschäftigt.

Da er den altvertrauten Trench vom Haken nahm und überzog, überfiel ihn die Erschöpfung wie ein Keulenschlag. Mit schweren Beinen schleppte er sich den Gang entlang und orderte per Handy seine Feierabendpizza.

Die wohlbekannte Stimme Giovanni Neris schnarrte - „Pizzeria Mia Casa! Was kann ich für Sie ... ah Commissario Kaschupke ... “ - derweil die Bestellung lief, ärgerte sich Klaus, heute Morgen das neue E-Bike statt des guten alten Daimlers gewählt zu haben.

Er passierte den Hof und kurz überkam ihn der Gedanke, aus der Fahrbereitschaft einen Dienstwagen zu nehmen. Kaschupke starrte den dunkelgrauen A 6 an, wischte sich müde über das Gesicht. Melancholie stieg auf. Unvermittelt erschien auf seiner inneren Leinwand das Bild von eben aus dem offenen Fenster. Klärchens gesprungene Pirouette riss ihn aus der düsteren Stimmung und beschwingten Schrittes strebte er seinem neuen Bike zu, schwang sich hinauf, schaltete in die höchste Unterstützungsstufe und radelte los. Der leichte Fahrtwind blies ihm die letzten trüben Gedanken und Bilder aus dem Kopf. Endlich frei - war doch eine gute Idee - dieses E-Bike!

Schnell erreichte er die Abfahrt runter zum Fluss und gab auf dem Uferweg ordentlich Gas. Sein zerschlissener Trenchcoat wehte heftig flatternd hinterher. Ihm entgingen die amüsiert beobachtenden Augen der auf den Uferwiesen Sitzenden, wie der erboste Blick eines korrekt gekleideten Herrn mit Hut und Hund, an dem er dicht vorbei raste. Kaschupke stand der Sinn nur nach dem gekühlten Bierchen, welches gleich seine durstige Kehle hinunterrinnen würde.

In der Anlieferung

Otto von Wilderen hob irritiert das Glas. Virtuos brachte er mit langsamer Schwenkbewegung die blutrote Flüssigkeit darin zum Rotieren, hielt es prüfend schräg gegen das vom Rolltor hereinfallende Licht der tiefer sinkenden Spätnachmittagsonne. Begutachtete routiniert Färbung und sich am Glas zusammenziehende Nymphenschenkel.

Perfekt! Urteilte er mit herablassender Genugtuung - oder war da ein kaum wahrnehmbares Flirren? Er schüttelte leicht den Kopf, was sein Mozartzöpfchen am Hinterkopf in schwingende Bewegung versetzte.

Eine Lichtreflexion der schon niedrig stehenden Sonne? Er hob den Kelch bedächtig seiner klassisch scharf geformten Nase entgegen. Leicht in das Gefäß eintauchend, blähten sich gehörig deren Flügel beim Einsaugen der durch die Rotation entfalteten Aromen. Alles entsprach genau seiner Erwartung.

Er richtete sich auf, wobei ein arrogantes Lächeln seine Mundwinkel in erstaunliche Asymmetrie versetzte. Gnädig schaute er dabei sein nervös wirkendes Gegenüber an, grad so, als wolle er sagen - Was soll das hier. Alles ist vollkommen.

Ottos Hand brachte das Rotweinglas in die ideale Position für einen kleinen Probeschluck, der sich bedächtig in seine Mundhöhle ergoss. Was folgte, verschob die ebenmäßigen Gesichtszüge ins Groteske. Dieses typische Saugen, Gurgeln und Schmatzen bei rotierender Zungenbewegung setzte ein, bevor beim langsamen Abgang rubinrote Flüssigkeit die Kehle hinunter rann. Der Hauch eines Lächelns umspielte Otto von Wildenens Augen. Ein geniales Barrique, im genau richtigen Alter, handverlesen aus bester Lage meisterhaft von mir selbst gekeltert, ausgebaut und ... doch halt! War da ein unpassender Nachgeschmack? Ein zarter Bitterton! Bereits eine zweite Flasche? War die ganze Charge betroffen?

Ein weiterer Schluck musste Klärung bringen! Wieder alles wie es sein sollte - doch dann unverkennbar ein eigenartiger Nachklang vor dem Abgehen, verbunden mit leichtem Bitzeln die Speiseröhre hinunter, untypisches Brennen im Magen. Ein tief stöhnendes Einatmen folgte. Das darf unmöglich sein! Habe ich diese wichtige Verkostung nicht gründlich genug vorbereitet? Heute Vormittag bei den Checks war doch alles perfekt. Verwirrt passierte ein letzter Testschluck seine Lippen.

Kaum, dass seine Wangen sich prüfend zusammenzogen, verschluckte er sich vor Schreck, ob des eindeutigen Missklangs der Komposition. Er hustete. Es mischte sich ein Eisenaroma hinzu. Schmecke ich Blut? Was ist das! Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, betastete mit dem rechten Zeigefinger deren sich taub anfühlende weiche Spitze. Der Finger war rot! Die Taubheit breitete sich in seinem Mund aus, die Zungenwurzel wurde schwer.

Der Kellermeister fasste sich an den Hals, schluckte reflexartig, würgte. Lähmung erfasste den Brustkorb, Krämpfe befielen ihn - er krümmte sich zusammen, versuchte, sich aufzurichten, doch torkelte nur unbeholfen nach vorne. Sein Gegenüber wicht vor ihm zurück.

Ottos Augen nahmen alles, wie durch Nebel war, ein grässliches Stöhnen quälte sich die Kehle hinauf. Taube Unbeweglichkeit erfassten immer weitere Teile seines Körpers - er brach auf die Knie. Den heftigen Schmerz in den ungebremst auf dem ockergelb gefliesten Betonboden aufschlagenden Kniescheiben spürte er nur dumpf - den Knall des zersplitternden Weinkelches hörte er nicht. Alles schien in Zeitlupe abzulaufen.

Kniend kämpfte der Kellermeister verzweifelt um Luft. Seine Organe, sein Blut, jede Zelle gierten nach Sauerstoff, doch die Lungenflügel - genau genommen die Muskulatur, welche den Vakuumraum normalerweise dehnte und zusammenzog, bewirkte nicht mehr, was sie sollte. Röchelnd, von eigentümlichen Pfeiftönen durchbrochen, brach der Körper endgültig zu Boden. Krampfte und zuckte minutenlang mit den äußeren Gliedmaßen. Wobei der Torso in merkwürdigem Kontrast dazu, in eine tiefe Entspannung gesunken schien.

Das Gesicht blähte sich auf, wurde rot, um dann ins Bläuliche - Violette zu changieren. Wie bei einem Fisch auf dem Trockenen öffnete und schloss sich der Mund mechanisch lahm, die Zunge hing unnatürlich heraus.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, brach der Blick der herausgequollenen Augen. Der letzte, kaum wahrnehmbar gehauchter Seufzer wurde von geräuschvoll dem Darm entweichenden Gasen übertönt, ein breiiges Schmatzen. In die eintretende Stille breitete sich ein dunkler Fleck im teuren Cashmerestoff des Hosenschritts aus.

Sein Gegenüber ließ den schmerzhaft angestauten Atem fahren, die Schultern der Gestalt sanken kurz ein, dann nahm sie die geöffnete Weinflasche an sich, schlich nervös umherschauend davon ...

Kaschupke und Klara

Der Hauptkommissar saß in seinem Lieblingssessel. Eines dieser Relaxmodelle in Leder mit Motor. Den hatte er sich vor fünf Jahren nach einem schnell und erfolgreich abgeschlossenen Fall gegönnt und würde ihn nie wieder hergeben.

Sein Test im Möbelgeschäft war seinerzeit umfassend und ausgiebig ausgefallen. Am Ende schlug die endlos scheinende Geduld des Möbelverkäufers von wachsender Ungeduld in Resignation um. Klaus Kaschupke wäre schon damals am Liebsten gar nicht mehr aufgestanden.

Jetzt sank er immer tiefer in die dunkelbraunen Lederpolster, die im Laufe der Jahre reichlich Patina angenommen hatten, griff sich die Flasche des süffig-dunklen Klosterbräus und ließ es kühl seine Kehle hinunterlaufen. Neben ihm, auf dem zum Sessel passenden Beistelltischchen, seine vorhin bestellte Lieblingspizza Picanto mit doppelt Ziegenkäse. Stilecht arrangiert, im Pizzakarton mit dem lächelnden Pizzabäcker vor malerischer Caprikulisse.

Die Pizzeria Mia Casa war praktischerweise genau schräg rechts gegenüber seiner Wohnung auf der anderen Straßenseite.

Wie es der Zufall wollte, gab es schräg links auf der gegenüber liegenden Seite von Klara Gelders Apartment im Stühlinger gleichfalls eine Pizzeria - Di Mario.

Ohne dass sie es voneinander wussten, war Klaras Lieblingspizza ebenso die Picanto wenn auch ohne doppelt Ziegenkäse.

Zwei Pizzakartons in der Linken jonglierend und eine Flasche Chianti im Rucksack über der Schulter, schloss sie mit der Rechten die Wohnungstür auf.

„Überraschung! Wir haben ein ganzes Wochenendeee!“, rief sie bester Launen bereits im kleinen Flur. Keine Antwort ... Sie tippte auf die AirPods, um Lana del Rey zum Schweigen zu bringen. Ein Moment Stille - dann gedämpftes Keuchen und Grunzen von rechts aus dem Hintergrund.

Klara erstarrte mitten in der beschwingten Bewegung hinein in ihr Nest, wie sie es nannte und lauschte. Das kommt eindeutig aus Richtung Schlafzimmer!

Ungläubig vernahm sie jetzt verräterische, spitze Schreie und kurz darauf ein wohlbekanntes bassiges - Aahhh! Die Pappschachteln flogen nach links auf das zierliche Garderobenschränkchen, der neonpinke Rucksack knallte unsanft auf das Dielenparkett. Zum Glück befand sich das iPad in der gepolsterten Extratasche, auch die Weinflasche blieb stabil.

Klara Gelder öffnete mit der rechten Hand die sich ebenfalls zu ihrer Rechten befindliche Tür zum Badezimmer, ihre Linke schnappte sich das Mitbringsel ihres gemeinsamen Londontrips von vor zehn Wochen aus dem Schirmständer. Schon war sie im Bad und starrte durch die zweite geöffnete Badezimmertür ins Schlafzimmer, direkt auf ihr geliebtes Wasserbett.

Erschrockene Blicke aus weit aufgerissenen Augen flogen ihr entgegen. Merkwürdig, beide im gleichen intensiven Graublau - schoss es Klara unpassend durch den Kopf, bevor sie wutentbrannt mit markerschütterndem Schrei vorstürmte.

Wie eine Kriegskeule prasselte der robuste Holzgriff des echten englischen Regenschirms auf die im Doggystyle erstarrten nackten Körper ein.

Hilflos versuchten sich Peter Gräser und Anjy Jankowski, mit erhobenen Armen vor den wuchtigen Schwingern zu schützen, was Anjy wegen ihrer Stellung auf allen vieren deutlich schlechter gelang, wie dem hinter ihr knienden Peter. Schließlich kippten sie in Zeitlupe ungelenk zur rechten Seite um, wobei sie sich mit einem vernehmlichen Schmatzer auseinander lösten.

Das Ganze war ein derart bizarres urkomisches bewegtes Bild, dass Klara der Schirm entglitt und sie heftig gackernd in die Knie ging. Die angestaute Spannung der letzten Wochen löste sich jetzt in ihr und sie wälzte sich, giggernd, kichernd und prustend auf dem flauschigen Berberteppich ihres Schlafzimmers.

Hektisch bemühte Anjy sich an ihr vorbei ins Bad zu schieben, wo ihre Klamotten neben der Dusche auf dem Hocker lagen und nuschelte ein atemloses - „Sorry, das wollte ich nicht, weiß nicht wie ... sorry ich wollte ... tut mir so leid ...“ Ausgerechnet meine bis heute beste Freundin Anjy - schüttelte Klara den Kopf und musste sich wegen der nächsten Lachsalve erneut den schmerzenden Bauch halten.

Peter saß zusammengesunken auf dem zerwühlten Wasserbett, das ihn leicht hin und her schaukeln ließ und starrte Klara fassungslos an. Anjy zog sich ihr Sommerkleid über, schlich stumm davon. Die hat keinen Slip drunter – schoss Klara durch den Kopf. Leise klickend fiel die Haustür ins Schloss, doch genügte das Geräusch, Peter aus der Schockstarre zu wecken. Er huschte zum Wohnzimmer, wo seine Sachen auf dem Boden verstreut lagen. Klaras Lachkrampf ging in ein schluckaufartiges Schluchzen über, bevor sie hemmungslos weinte.

Peter Gräser quälte sich in seine knallenge Slimfit-Jeans, knöpfte das kurzärmeliges, blau gestreiftes Hemd zu und schlüpfte in seine geliebten, dazu passenden hellblauen Flipflops. Sein Schädel ratterte! Scheiße, Scheiß, Scheiße, ausgerechnet heute muss sie früher Feierabend machen! Wie kriege ich das wieder hin. Warum hat sie bloß so eine verfickt sexy beste Freundin, die viel mehr Zeit hat wie Frau Kommissarin! Verdammt!

Er strich sich die dichten, widerborstigen strohblonden Haare aus der Stirn und lugte um die Ecke in ihr Schlafzimmer. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Berber und heulte Rotz und Wasser.

Oh, oh ... Peter versuchte sein jungenhaft spitzbübisches Lächeln, was die kleinen Grübchen erscheinen ließ, die sie so liebte.

Vorsichtig ging er vor ihr in die Hocke und legte sanft und leicht seine rechte Hand auf ihren Scheitel mit den pinken Strähnchen im 20er-Jahre Bob. Wie eine gespannte, jetzt aufschnellende Stahlfeder schoss Klara athletisch in den Stand.

„Fass mich nicht an - Du Dreck!“, fauchte sie. Die Wucht der Reaktion warf ihn überrumpelt auf den Rücken. Wie ein hilfloser Käfer alle viere in die Luft gestreckt, blickte er etwas dümmlich zu ihr auf, unfähig nur ein Wort herauszubekommen.

„Pack Deine verdammten Sachen und verschwinde!“

Da er nicht gleich reagierte und nur so unmöglich dalag, schoss ein schneidendes - „Sofort!“ - hinterher.

Peter Gräser rappelte sich auf und brachte seine wohlproportionierten 187 Zentimeter voll zur Entfaltung, Wut stieg auf einmal in ihm auf.

„Seit einem Monat bekomme ich Dich kaum zu Gesicht! Wenn dann fantasierst Du von irgendwelchen schrecklichen Leichen und anderem Mist. Oder fällst gleich wie tot neben mir ins Bett und sägst drei Minuten später wie ein Waldarbeiter. Doch ausgerechnet heute kommt Frau Kommissarin auf einmal pünktlich wie der Maurer von der Schicht nach Hause, wie wenn nix wär. Verflucht, es tut mir echt leid, aber ich habe eben auch Bedürfnisse. Anjy hat mich verstanden und …“

„Lass meine Freundin Anjy aus dem Spiel! Dieser Begründungsversuch ist ja wohl das Letzte! Hau endlich ab!“

Klara Gelder funkelt Peter hasserfüllt an. Schaute in diese, in seiner Wut einen Hauch dunkler gewordenen graublauen Augen, auf die sie sich vor zehn Minuten so höllisch gefreut hatte, mit Pizza und Chianti und ... wie bei ihrem ersten Treffen vor zwei Jahren. Jäh tauchte schmerzhaft das Bild im Schlafzimmer auf. Das zerwühlte Bettzeug, die verschwitzten nackten Körper in einer ihrer Lieblingsstellungen und der entsetzte Blick aus eben diesen Augen! Das werde ich nie wieder vergessen. Es ist vorbei!! Verdammter – gottverdammter Job.

Einen Moment hielt Peter ihren Anblick aus, dann spürte er Tränen aufsteigen, und wandte sich mit gesenktem Kopf ab, damit Clare, wie er Klara zärtlich nannte, es nicht sah.

In Trance bewegte er sich ins Wohnzimmer, um die Sporttasche aus dem Schrank zu holen. Wahllos warf er Sachen hinein. Resignation befiel ihn. Soll es wirklich so enden? Er packte weiter, kämpfte mit den Tränen, lauschte auf ein Geräusch. Kommt sie vielleicht zu mir?

Nein, niemand kam. Er blieb einsam, trat mit erneut aufflackernder Wut gegen seine lieblos gefüllte Tasche und stöhnte auf. Er hatte eine seiner fünfzehn Kilo Hanteln voll mit dem Fuß erwischt. Gottverdammter Mist! Ein Unglück kommt selten allein.

Er hörte ihre Schritte - doch sie entfernten sich, die Küchentür wurde geöffnet, klappte zu. Peter schlich zurück zum Schlafzimmer und ins Bad, um seine Sachen dort einzusammeln. Immer wieder drückte er die Tränen weg, traute nicht, sich im Spiegel anzuschauen. Er schnappte sich die prall gefüllte Tasche, floh zum Flur.

Dort blieb er lauschend vor dem Kücheneingang stehen. Hörte Clare leise weinen. Soll ich zu ihr gehen und noch einen Versuch wagen? Automatisch wanderte seine Hand zur Türklinke, berührte sie sacht - der Mut verließ ihn. Bloß jetzt kein weiterer Streit! Lass ihr Zeit. Sein Blick fiel auf die Pizzaschachteln und er schluckte. Ich bin echt ein Idiot - durchfuhr es ihn. Zögerlich öffnete er die Wohnungstür ...

„Die Schlüssel!“

Wie ein Peitschenhieb trafen ihn ihre kalt und schneidend gerufenen Worte. Kraftlos nestelte er die zwei Sicherheitsschlüssel aus seinem Bund, warf sie auf die Pizzen und zog langsam die Tür hinter sich zu. Trostlos stand Peter da und schaute die ausgetretenen Treppenhausstufen des Altbaus hinunter. Soll es das gewesen sein? Er wollte es nicht glauben - hoffte - doch in der Wohnung rührte sich nichts und schließlich trottete er die Stufen hinab.

Klara Gelder zuckte bei dem Geräusch der knarrenden Stiegen zusammen. Ihr tränengetrübter Blick hob sich und wanderte durch das Küchenfenster zur prächtigen Kastanie im Hinterhofcareé.

In dem Moment ließ die Spätnachmittagssonne die Blätter der Krone gelbgrün leuchtend aufflammen. Verloren blieben ihre Augen an dem Baum hängen, den sie so liebte. Er spendete ihr auch jetzt ein wenig Trost.

Mit einem Ruck glitt sie vom Barhocker an der Frühstückstheke, nahm die in den Ohren vergessenen In-Ears raus und warf sie auf die Theke. Mechanisch trottete sie über den Durchgang ins Wohnzimmer, schloss die offengelassene Schranktür. Am Eingang zum Schlafzimmer ging sie in die Hocke, angelte, ohne es zu betreten, den englischen Regenschirm heraus und schlug die Tür zu. Traurig blieben beim Umwenden ihre Augen an dem gewaltigen Bretzsofa hängen. Ich werd fürs Erste im Wohnzimmer auf meinem Mammut schlafen.

Zurück zum Flur. Schirm in den Ständer. Vom Badeingang fiel ihr Blick unweigerlich auf das geliebte Wasserbett, die zerwühlten Laken. Knallend schloss sich auch vom Bad aus die Tür zum Ort des Geschehens.

Ihr Blick streifte den Spiegel. Die pinken Strähnchen müssen weg! Gleich Montag würde sie die Haare passenderweise komplett schwarz färben lassen. Den Bob behalte ich! Er gefiel ihr zu gut.

Wieder im Flur schnappte sie sich die Pizzen, wobei die einsamen darauf liegenden Schlüssel achtlos hinter die Kommode rutschten und auf den Holzdielen darunter klackerten. Aus dem pinken Rucksack griff Klara sich den Chianti, schob ihn kurz in das Gefrierfach, die beiden Pizzen verschwanden im Umluftherd. Zum Glück stand Peter ebenfalls auf Picanto. Bloß nicht ins Grübeln kommen!

Sie brauchte jetzt Action, Bewegung tat ihr gut. Teller aus dem Schrank, Rotweinschwenker aus der Vitrine, Tischchen auf dem Minibalkon abgewischt, Campingsessel zurechtgerückt.

Kurze Zeit später war die gekühlte Flasche entkorkt und sie hielt den Schwenker mit dem darin schaukelnden blutroten Chianti in die letzten Strahlen der über dem Nachbardach entschwindenden Sonne.

Ein erster kräftiger Schluck in der, dank Eisfach, genau richtigen Trinktemperatur von 17 Grad rann Klaras Kehle hinunter, ein heller Glockenton kündigte die gewärmten Pizzen an.

Schon war sie am Herd und schob beide auf den Teller. Es würde ihr gleich eine diebische Freude bereiten, Peters Anteil mit zu verschlingen. Trotz des Dramas hatte sie mächtig Kohldampf. In ihren bequemen Campingstuhl gefläzt, griff sie sich das erste der von Mario höchstpersönlich vorgeschnittenen Dreiecke und biss herzhaft hinein. Dazu ein weiterer Schluck des leckeren Chianti, der Blick ruhte auf ihrer Kastanie ... Klaras Welt war dank gnädiger Verdrängung für einen zeitlosen Augenblick wieder in Ordnung.

Klaus Kaschupke schwebte gesättigt und zufrieden in den Polstern seines Wundersessels. Endlich mal wieder richtig Feierabend. Sein Blick fiel auf den mit Fettflecken übersäten Pizzakarton auf dem Beistelltischchen. Der störte gewaltig seinen Sinn für Ästhetik. Weg damit! Eigenartigerweise erging es ihm mit der daneben stehenden Bierflasche nicht so. Ist ja noch nicht leer.

Er grinste, erhob sich, um den Karton fachgerecht im Papiermüll zu entsorgen. Wieder in Ruheposition rückte er die braune Flasche nahe an die Tischmitte. Es liegt am selig feixenden Mönchlein mit dem runden Bauch auf dem Etikett, dass meine Harmoniesucht nicht tangiert wird - sinnierte Kaschupke.

Er nahm einen kräftigen Schluck des süffigen Gebräus und hätte sich fast verschluckt, da sein Mobil das vertraut verhasste - Highway to hell ertönen ließ.

Das ist nicht wahr! Der Kommissar verkrampfte sich trotz Entspannungsliege schlagartig. Erstarrt hing er im Sessel, bemüht die Störung zu ignorieren. Die Gitarrenklänge erstarben. Kurze Zeit breitete sich trügerisch himmlische Ruhe aus. Sekunden tickten stumm, wurden zu Minuten und Klaus entkrampfte sich etwas. Der letzte Schluck rann aus dem Flaschenhals in seine Kehle.

Highway to hell - von Vibrationen des iPhones begleitet, zerstörte die kurze Hoffnung und schwerfällig quälte Kaschupke sich von seinem Lieblingsplatz.

Klara Gelder rülpste herzhaft, war pappsatt und ein wenig angetüddelt. Der Rotwein in Kombination mit Pizzakäse war einfach unwiderstehlich. Sie füllte erneut ihr Glas, wollte es in die Sonne halten, aber die war nicht mehr da. Melancholie schlich sich an sie heran.

Born to die erklang von ferne aus ihrer pinken Rucksacktasche. Lana del Rey rettet meinen Tag! Es gibt was zu tun! Klara sprang auf und war schon dabei ihr iPhone aus der Seitentasche zu zerren. Action, Action, Action! Sie atmete zweimal tief durch, um den Kopf etwas klarer zu bekommen, drückte den grünen Hörer.

„Kommissarin Gelder, ja?“, tönte es erwartungsfroh aus ihr heraus.

„Klaus hier, verdammt Klärchen! Alles in Ordnung bei Dir? Du scheinst es ja kaum erwarten zu können Dein freies Wochenende zu ruinieren. Warum bist Du so gut drauf?“

Solch einen Wortschwall, dazu am Telefon, war Klara von Klaus nicht gewohnt und schmunzelte.

„Lassen wir das besser Klaus, was’n los?“

„Ein Toter in der Winzergenossenschaft Breisach. Koordinaten schicke ich Dir gleich. Ortspolizei und Spusi sind schon vor Ort beziehungsweise auf dem Weg. Den verdammten Böhler, der mit seinen Leuten eigentlich die Bereitschaft hat, kann man angeblich nicht erreichen. Und da haben sie nach einigem Zögern doch gewagt, mich zu betrauen, schöne Kacke! Dem Böhler werde ich den Marsch blasen, dem faulen Hund.“

Klaus ist ja richtig in Fahrt - stellte Klara beeindruckt fest. Sie war froh, dass es einen neuen Toten gab und Kollege Böhler abgetaucht. Es bedeutete Ablenkung von ihrer privaten Misere, zumindest für ein paar Tage. Sie war gespannt, wer die Leiche ausgerechnet in einer Winzergenossenschaft ist.

Aussage der Beklagten vor Gericht

2012

Staatsanwalt:

Stimmt die Aussage des Zeugen Otto von Wildenen, dass Sie ihm nachgestellt haben?

Beklagte:

Vielleicht hätte er das ja gerne gehabt!

Staatsanwalt:

Bitte beantworten Sie meine Frage.

Anwalt:

Einspruch. Das tut nichts zur Sache.

Richter:

Was bezwecken Sie mit dieser Frage Herr Staatsanwalt?

Staatsanwalt:

Ich möchte mögliche Motive beleuchten, die Frau Bachmann dazu veranlasst haben, ihre Vergehen dem Kellermeister anzulasten.

Richter:

Einspruch vorerst abgelehnt.

Staatsanwalt:

Also Frau Bachmann.

Beklagte:

Ich sage mal so, wegen der Übernahme des Weinguts nach dem Tod meiner Eltern hatte ich wenig Zeit mich um einen rechten Mann zu bemühen. Da hätte ein Kellermeister schon gut gepasst und Kinder zum Erben hätt ich irgendwann auch gebraucht.

Staatsanwalt:

Ich deute das jetzt mal als ein - Ja. War Ihnen bekannt, dass Herr von Wildenen verlobt ist?

Beklagte:

Nicht bei seiner Einstellung - später dann schon.

Staatsanwalt:

Das hat Sie aber nicht abgehalten?

Beklagte:

Na ja verlobt, was heiß das heute schon.

Winzergenossenschaft

2017

Als Klara Gelder mit ihrem pinken Twingo das ellenlange Rolltor an der Einfahrt zur Winzergenossenschaft erreichte, war schon der Teufel los.

Ein ihr Unbekannter stürmte armeschwingend und kopfschüttelnd auf sie los.

„Zurück! Hier dürfen se nich dursch!“

Geduldig zückte Klara ihren Dienstausweis.

„Ich gehöre zum Verein.“

Der Ausweis wurde einer eingehenden Prüfung unterzogen, bevor der Torwächter sie mit wichtiger Geste durchwinkte. Sie stellte ihren Wagen auf dem geräumigen Parkplatz ab. Kurz meldete sich, wie zu Beginn der Fahrt das schlechte Gewissen wegen der halb leeren Flasche Chianti. Sie schob sich einen weiteren Streifen Pfefferminzgum rein und eilte in Richtung der Absperrbänder. Bevor das gleiche Spiel von vorne losging, zückte sie fix ihren Ausweis. Die Kollegen von der Bereitschaft aus Breisach kannten sie ja nicht.

So näherte sie sich endlich dem Tatort. Auf dem Weg dahin schlüpfte sie in die von der Spurensicherung bereitgehaltene Schutzkleidung. Die Kolleginnen und Kollegen waren bereits vor Ort, und wenn sie sich nicht täuschte, stand der Wagen von Dr. von Wahlshausen, dem König der Gerichtsmediziner schon auf dem Parkplatz. Nur von ihrem Chef fehlte jede Spur.

Klara verspürte keine Lust zu warten und stieg die kurze Eisentreppe hinauf, welche auf die Rampe der Anlieferung führte. Schon von Weitem sah sie die Leiche hinter dem Absperrband auf den ockerbraunen Fliesen liegen. Auf ein Nicken von Meisner, dem Chef der Spusi kam sie näher.

Die Lage des Toten irritierte sie. Einerseits wirkte seine Haltung verkrampft, unterstrichen durch die vorquellenden Augäpfel, den verzerrten Mund, die grotesk blaue, heraushängende Zunge. An der Unterlippe hing ein blutiger Faden. Ein rotes Rinnsal ergoss sich auf die Kacheln. Insgesamt aber wenig Blut.

Die Hände zu Krallen erstarrt, lagen andere Körperteile, wie Schulter und Oberarme seltsam entspannt da. Der Korpus auf der rechten Seite, das Becken locker und flach auf dem gekachelten Boden. Irgend wie yogimässig der Torso - dachte Klara. Die Beine wiederum in fötaler Anwinkelung verkrampft. Bis auf das bisschen Blut aus dem Mund war keine äußerliche Verletzung zu erkennen.

„Ah, Klärchen da bist Du ja. Sogar schon im Ganzkörperkondom und fleißig bei der Leichenschau.“

Mit schlabberig wehendem Trenchcoat und seinem verbeulten Hut kam ihr Chef auf sie zu. Zumindest hatte er Überschuhe angezogen. Im Augenwinkel sah sie Meisner die Augen verdrehend sich abwenden.

Klaus Kaschupke war der Einzige, der sich das Privileg herausnahm, an Tatorten ohne die seit Langem obligatorische Schutzkleidung aufzulaufen.

Ich bin schon ewig im Verein und weigere mich schlicht, kurz vor meiner Pensionierung diese Unsitte mitzumachen, war sein Standardspruch. Klara hingegen liebte die sinnvolle Maskerade. Sie war die Letzte, welche nicht resignierte und ihren Chef mit seiner Marotte aufzog. Gleiches galt umgekehrt.

Kaschupke stellte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen neben seine Kollegin und betrachtete den Toten aus der Distanz. Der Tatort war noch nicht ganz freigegeben und sie warteten auf den Gerichtsmediziner.

„Komisch dass Dr. von Wahlshausen nicht hier ist. Hab sein Auto auf’m Parkplatz gesichtet.“, meinte Klara zu Klaus.

„Hm, sind halt nicht alle so wild auf Arbeit wie du. Was ist eigentlich los mit Dir?“

„Nix was Dich interessieren sollte Klaus, bleiben wir lieber bei dem Toten.“

„Hm, ok, was haben wir denn bisher? Wer hat ihn gefunden, wer ist der Mann?“

„Keine Ahnung bin gerade angekommen.“

Herbert Meisner, Leiter der kriminaltechnischen Abteilung und Spurensicherung brummelte schnarrend aus dem Hintergrund.

„N’ Adeliger, Otto von Wildenen, seines Zeichens der erste Kellermeister hier vor Ort. Gefunde haben wir bisher nur ein total zersplittertes Rotweinglas und nen Korkenzieher. Der sieht aber escht edel aus. Goldenes Wappen, mit nem H im Quadrat, aus Gold und das Grundmaterial scheint Titan zu sein. Hat sogar ne Nummer drin - 2. An sonste, is hier alles wie geleckt. Steril, desinfiziert und geputzt, na ja, Wochenende, ist hier die Anlieferung von den Trauben.“

„Toll, was Du alles so weißt.“, frotzelte Kaschupke.

„Ne nicht ich, das weiß die Frau Wetter. Sie hat ihn gefunde, die arme Frau. Total mit den Nerve runter.“

Er betrachtete den Kommissar wie immer mit seinem mitleidig spöttischen Blick, von dessen verschossenem Hut über den ausgeblichenen Trenchcoat, an dem ein Knopf fehlte, bis zu den spitzen Schlangenlederschuhen. Diese edle Handarbeit beanspruchte so gar nicht zum Rest zu passen.

Er bemerkte die Überschuhe auf ihnen, zu denen Kaschupke sich durchgerungen hatte, nickte anerkennend mit dem Kopf und nach unten gewölbten Mundwinkeln.

„Hm, wo finde ich die gute Frau?“

„Im Filmvorführsaal drübe im Hauptgebäude, die hat da irgend ne Gruppe, hat sie gesagt.“, damit drehte Meisner sich um und puderte wieder was ein.

Kaschupke rotierte für seinem obligatorischen Tatortscan langsam um die eigene Achse. Dabei nahm er oft scheinbar unwichtige Details wahr und speicherte sie ab. Nicht selten passierte es dem Kommissar, dass ihm im Laufe der Ermittlungen etwas davon wieder ins Bewusstsein drang und dem Fall eine neue Wendung gab.

Die Anlieferungsstation der Trauben war eine hohe lang gestreckte Halle. Angefüllt mit einem für den Laien verwirrenden Sammelsurium an technischen Geräten, stählernen Rohren und dicken Schläuchen, Steuerpulten und Schaltkästen, schmalen beweglichen Eisenbrücken, Zentrifugen und Förderbändern.

Gleich am Eingang senkten sich vier gewaltige längliche Trichter in den Boden. Am spitz zulaufenden Ende, in drei Metern Tiefe waren große Förderschnecken zu sehen. An beiden Enden wurde die Traubenanlieferungshalle mit hohen Rolltoren verschlossen. Neben dem jetzt offenen Lamellentor am Eingang sah Kaschupke den typischen Glaskasten, aus welchem heraus die laufenden Prozesse gesteuert und überwacht wurden. Am Ende des ersten Hallendrittels blieb sein Blick kurz an metallenen Treppen hängen, die nach oben und unten in den Keller führten. In der Höhe liefen schmale Eisengitterlaufstege von einer Wendeltreppe weg und endeten im irgendwo.

Sie lagen im toten Winkel einer Überwachungskamera, welche die Aktivitäten an den vier Traubentrichtern kontrollierte. Ein drei Meter hoher würfelförmiger Eisenkasten, der undefinierbare Maschinen beherbergte, verdeckte jede Sicht.

Ist der Täter oder die Täterin über diese Treppen gekommen und wieder verschwunden? Kaschupke knetete nachdenklich sein Kinn, senkte den Blick zu den ockerbraunen Bodenfliesen und beendete so seine Tatortschau. Der war noch nicht komplett von Meisner freigegeben.

Gerne hätte er sich das eine oder andere genauer angeschaut, die Treppen inspiziert und gesehen, wo sie hinführten. So zuckte er nur mit den Schultern, drehte sich zum Eingang um und war im Begriff zu verschwinden.

„He Klaus, wo willst Du hin. Warten wir denn nicht auf den Gerichtsmediziner?“

„Hm, ich wette, der Otto da wurde vergiftet, dafür brauche ich keinen Mediziner, Klärchen. Sonst hab ich alles gespeichert.“ - tippte sich mit dem Zeigefinger ein paar Mal an die Stirn und griente - „Du bleibst hier und behältst die Sache im Griff. Ich suche die Frau Wetter, wir sehen uns.“

„Klar Klaus, Du bist der Chef, aber Handschuhe solltest Du trotzdem anziehen.“, signalisierte sie ihm nuschelnd ihren Unmut. Klaus versuchte es mit einem mürrischen Blick, der misslang, da seine Mundwinkel partout nicht nach unten zu ziehen waren, und machte sich auf Frau Wetter zu suchen.

Im Filmvorführsaal

Elisabeth Wetter war am Ende. Sie ließ sich in einen der Sessel vor der Leinwand plumpsen und atmete schwer. Langsam beruhigte sich ihr Puls, doch immer wieder sah sie diese schrecklichen Bilder vor ihrem inneren Auge ablaufen, der am Boden liegende Otto, das Blut, das aus seinem Mund neben der blauen Zunge sickerte, diese Stille über dem Ganzen.

Sie wusste nicht, wie lange sie den Toten angestarrt hatte, bevor sie sich dann, immer wieder umwendend, davon schlich. Niemand war zu sehen, doch das unbestimmte Gefühl beobachtet zu werden, saß ihr jetzt noch im Nacken.

Auf der Außenrampe hatte sie nach kurzer Überlegung die Polizeistation in Breisach mobil verständigt. Was blieb ihr anders übrig.

Ausgerechnet jetzt hatte sie eine wichtige Gruppe durch den Winzerkeller zu führen - Stammkunden. Zum Glück war heute Maria, die Zuverlässige zur Unterstützung dabei, und hielt die Leute zunächst an der Theke bei Laune.

Es half nichts. Jetzt keine Blöße geben! Sie würde eben improvisieren, eine ihrer Stärken. Dabei war ihr der Improtheaterkurs, den sie vor Kurzem aus Jux und Tollerei besucht hatte, eine echte Hilfe.

Sie raffte sich auf. Schnell auf der Toilette, ein bisschen Wasser ins Gesicht gespritzt, Blick in den Spiegel, die Haare gerichtet, ein Hauch Lippenstift, die bleichen Wangen mit den Händen rotgetätschelt und sie war bereit. Energisch schloss sie die Tür und eilte forschen Schrittes in Richtung Theke.

„Hallo die Damen und die werten Herren.“ - am Ende des Satzes legte sie ein wenig Erotik in die dunkler werdende Stimme - „Wie ich sehe, haben Sie die Traktorfahrt durch die Weinberge heute Mittag gut überstanden, haben sich gestärkt und sind bereit für den Weinkeller.“ - ihr gelang ein erstes augenzwinkerndes Lächeln - „Wir müssen gleich ein wenig improvisieren. Sicherheitshalber ist auch die Polizei im Haus!“

Das Lachen, mit dem sie dem Satz die Spitze nehmen wollte, klang zu laut. Elisabeth, reiß Dich zusammen – bremste sie sich selbst.

„Aber zunächst werden wir einen kurzen Film über die Winzerei in unserer sonnenverwöhnten Regio anschauen. Kommen Sie, mir nach und lassen Sie Ihre Gläser da. Sie bekommen gleich Neue.“

Jede und jeder erhielt am Eingang zum Vorführraum ein Gläschen Winzersekt und der Film startete. Frau Wetter sank im Halbdunkel ihrer Ecke unbemerkt, in sich zusammen und atmete schwer durch.

Eine Kamerafahrt über sonnendurchflutete Weinberge an sanften Hügeln wurde unterstrichen durch schwülstige Streicherklangteppiche. Überblendungen auf pralle rote und weiße Trauben, ein farbenstrotzender Sonnenuntergang, untermalt von der sonor einsetzenden Bassstimme des Sprechers ...

Die Saaltür wurde aufgerissen, ein Mann stürmte herein und fünfunddreißig erschrockene Köpfe drehten sich synchron nach links. Frau Wetter fuhr aus ihren düsteren Gedanken hoch.

„Bitte Ruhe bewahren, keine Panik. Wer ist denn hier der Leiter?“, rief der Eindringling und vollführte mit der rechten Hand ein paar beschwichtigende Gesten.

„Ich!“ - kam es empört aus der dunklen Ecke - „Aber Sie können doch nicht einfach ...“ – weiter kam sie nicht.

„Hm, gut. Mein Name ist Kaschupke. Ich suche eine Frau Wetter. Sind Sie das?“

„Ja das bin ich! Jetzt hören Sie mal! Sie können hier nicht einfach in eine laufende Führung reinplatzen, wie es Ihnen gefällt, Herr … äh.“

„Hauptkommissar Klaus Kaschupke, Mordkommission. Es tut mir leid, aber ich kann und ich muss ...“

„Oh Gott, ja – der Kellermeister - ausgerechnet jetzt, wo ich doch Führung habe, das ist alles so schrecklich.“

„Frau Wetter, gibt es hier einen Ort, wo wir uns ungestört unterhalten können? Hier versteht man ja kaum sein eigenes Wort.“, dabei nickte er in Richtung Leinwand, wo mit angenehmer Sprecherstimme die Vorzüge der heimischen Weine gepriesen wurden.

„Im Büro nebenan, einen Moment.“

Sie wandte sich ihrer neugierig lauschenden Gruppe zu.

„Ich bin sofort wieder für Sie da. Wenn der Film zu Ende ist, wird Maria Ihnen den ersten Wein kredenzen. Bis gleich.“

Sie lächelte zerstreut und schob den Kommissar durch eine Seitentür aus dem Saal.

Das Büro war eher ein Schlauch mit zwei Schreibtischen und allerlei Utensilien und Weinkartons vollgestellt. Immerhin gab es zwei Drehstühle, von denen Kaschupke sich einen schnappte und den anderen der Weinführerin hinschob.

„Hm, Sie haben den Toten gefunden, sagte man mir! Bitte beschreiben Sie diese für Sie gewiss – ungewöhnliche Situation.“

„Es war furchtbar! Ich wollte die vorgesehene Weinverköstigung für die Gruppe Petermann in der Anlieferung vorbereiten. Kontrollieren, ob es sauber ist, Gläser an ihrem Platz ...“ – sprudelte es aus der Frau heraus, sie stoppte – „ ... genau dort lag der arme Otto - also - Herr von Wildenen so komisch verdreht am Boden.

Erst dachte ich, der ist ausgerutscht oder so was. Die Fliesen sind nach der Reinigung manchmal verdammt glatt. Bin dann näher heran und hab was Rotes aus dem Mund tropfen gesehen, das zersplitterte Glas - der hat grad Rotwein getrunken – kam mir noch in den Sinn. Doch es war Blut! Er sah so schrecklich bleich aus und erst seine Augen, die mich irre rausgequollen anstarrten – die blaue Zunge. Wie in einem Horrorfilm!

Ich schaue mir gerne so Splatterfilme an - das aber in echt zu sehen ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ...“, Frau Wetter verstummte.

„Hm, ist Ihnen – kurz vorher oder nachher - was aufgefallen das ungewöhnlich war.“ – die Frau starrte verständnislos durch Kaschupke hindurch – „Vielleicht ein Geräusch, ein Geruch, etwas das anders war. Ist Ihnen jemand begegnet, hat sich jemand entfernt ... Schritte?“

„Nein, nur eine beklemmende Stille, ich traute mich kaum, zu atmen. Warten Sie! Doch da war was! Ich habe nichts gesehen, aber auf einmal war da das Gefühl, ich werde beobachtet - unheimlich. Ich bin dann schnell weg und habe draußen vor der Anlieferung Ihre Kollegen auf der Wache in Breisach angerufen.“

„Welche Uhrzeit?“

„Moment!“, ihr Mobil zückend zeigte sie Kaschupke den Zeitpunkt des Anrufes - 18:27 Uhr.

„Ah, prima. Wie genau kannten Sie persönlich Herrn Otto von Wilderen?“

„Na ja, er war der erste Kellermeister, da hatte ich hin und wieder schon mit ihm zu tun. Ich betreibe eine Außenstelle der WG am Marktplatz in Eigenregie.

Sehr erfolgreich, wenn ich das mal so sagen darf. Da hat mir Otto ... der Herr von Wildenen schon den einen oder anderen guten Tropfen im Vertrauen empfohlen.“

Ein kurzes Lächeln erschien unvermittelt, um schnell wieder einer betroffenen Trauermiene zu weichen.

„Hm, wenn ich es recht verstehe, verstanden Sie sich gut mit ihm! Wer mochte ihn denn nicht so?“

Kaschupke zog ein kleines etwas zerfleddert wirkendes Notizheft aus einer Taschen seines verschossenen Trenchcoat und kritzelte mit einem Bleistift Notizen.

Elisabeth Wetter schien einen Moment irritiert, bevor sie zögerlich antwortete.

„Tja - ich weiß nicht, er ist tot. Da wäscht man nicht noch schmutzige Wäsche.“

„Frau Wetter, es geht hier nach erstem Augenschein um Mord, da sollten Sie kooperieren. Alles ist da wichtig!“

„Oh Gott, Sie meinen er wurde ermordet? Wer sollte denn so etwas Schreckliches hier im Winzerkeller tun!“

„Jetzt mal - Butter bei die Fische – wie man bei uns im Norden so sagen tut. Was wissen Sie! Raus mit der Sprache. Ich hätte eigentlich freies Wochenende - also los!“

„Na das habe ich mir doch gleich gedacht, dass Sie nicht von hier sind ...“

„Frau Wetter!“, stemmte sich Klaus Kaschupke gereizt aus dem Stuhl hoch. Die Frau bringt mich auf die Palme.

Die Weinführerin stand ebenfalls auf, wich einen halben Schritt zurück und schaute ihn beleidigt an.

„Na gut! Da gibt es eine alte Geschichte mit dem Weingut Bachmann, in die der Otto von Wilderen verwickelt war. Gab sogar einen Prozess – damals.

Frau Bachmann, die ... ehemalige Eigentümerin, arbeitet seit einiger Zeit hier in der Winzergenossenschaft - als Kontoristin. Die sind sich nicht grün. Nach der Sache ging ihr Weingut in Konkurs.

Das haben Sie jetzt aber nicht von mir! Ich kann wieder gut mit der Lina – der Frau Bachmann, verstehen Sie? Wir waren damals enger befreundet, wie sie noch ihre Weinberge hatte – na ja alte Geschichten, gell.

So jetzt wissen Sie’s. Kann ich meine Weinführung weitermachen? Ich hab was anderes zu tun als mich von Ihnen anraunzen zu lassen, Herr Kommissar Kaschupke.“, schaute sie ihn herausfordernd an.

„Hm, wo waren Sie gegen 18 Uhr, Frau Wetter?“

„Das glaube ich jetzt nicht!“, auffallend blass um die Nase starrte sie den Kommissar aus zusammengekniffenen kleinen Augen entrüstet an. Kaschupke blieb die Ruhe selbst, zückte sein Notizbüchlein samt Stift.

„Ich höre.“

„Um 18 Uhr? Da war ich hier zwischen Theke und Filmsaal und habe meine Weinführung vorbereitet und kurz danach kam Maria, um mir zu helfen die kann das bezeugen! Reicht das als Alibi - Herr Hauptkommissar!“, platzte es aus der kräftigen Person heraus.

Kaschupke konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Um es zu verbergen, beugte er sich tief über sein Büchlein mit den Notizen und murmelte vor sich hin.

„Die Ermittlungen zur Bestimmung des exakten Todeszeitpunktes sind nicht abgeschlossen. Wann kam denn diese Maria?“

„Da müssen Sie Maria schon selbst fragen.“, giftete Frau Wetter zurück.

Kaschupke liebte die Momente, in denen es ihm gelang Menschen aus der Reserve zu locken und Gefühle hervorzuzaubern. Im Dienste der Gerechtigkeit! Der Traum meiner Jugend, den ich mir stets bewahrt habe. Der gibt mir immer noch die Kraft weiterzumachen, trotz aller dunklen Seiten. Ich will mit niemandem tauschen.

„Kann ich jetzt drüben weitermachen?“, riss Frau Wetter ihn aus seiner kurzen Abschweifung. Er winkte nur und gab weiter vor, in seine Notizen vertieft zu sein.

Die Frau war im Begriff durch die schmale Seitentür wieder in den Filmsaal zu entschwinden, da sprang Kaschupke hinter ihr her, und zog die erschrockene Weinführerin am Arm zurück in das Büro. Eine seiner spontanen Eingebungen war über ihn gekommen.

„Sind Sie übergeschnappt? Lassen sie mich sofort los!“, zischte sie ihn leise an, da die Tür zum Saal schon einen Spalt offen stand.

„Sie müssen entschuldigen, Frau Wetter aber ich brauch Ihre Hilfe!“ - flüsterte Kaschupke und schloss die Tür - „Hm, ich habe mir überlegt, an ihrer Führung teilzunehmen. Da lerne ich den ganzen Betrieb, die Menschen vor Ort kennen und kann das eine oder andere ermitteln ...“

„Nein! Ich will nicht, dass Sie meinen Kunden weiter verunsichern und mit ihren Fragen belästigen. Das ist ein wichtiger Klient für mich. Die kommen jedes …“

„Tut mir leid, das war keine Bitte, über die ich mit Ihnen verhandeln werde. Sie sind in meine Ermittlungen hineingeraten. Sein Sie froh, dass ich nicht die ganze Veranstaltung verbiete. Das hier ist jetzt ein Tatort. Da werde ich Sie ohnehin nicht einfach so herumspazieren lassen, verstanden!“, unterband der Kommissar jede weitere Diskussion.

Mit einem resignierten Blick drehte sich Frau Wetter wortlos um und schlich zurück in den Filmsaal. Kaschupke folgte ihr.

Als sie den Saal betraten, musterten neunundsechzig lebendige und ein Glasauge erwartungsvoll das ungleiche Paar. Der Kommissar übernahm die Regie.

„Ich habe in dem ganzen Drama eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Zunächst die Gute!

Ihre Kellerführung mit Frau Wetter wird vorerst wie geplant durchgeführt. Ich werde Sie begleiten und erwarte, dass Sie mir nicht in die Ermittlungen pfuschen, sondern kooperieren. Die schlechte Nachricht, Sie dürfen das Gelände nicht verlassen, bevor Sie mir oder meinen Kollegen Ihre Personalien gegeben und einer kurzen Befragung beigewohnt haben. Unterstützen Sie uns bei der Ermittlung. Danke! Bitte Frau Wetter.“

Kaschupke ließ sich zufrieden auf einen der freien Sessel plumpsen und nickte der Weinführerin aufmunternd zu.

Anlieferung

Klara schüttelte den Kopf über ihren Chef, der über die Treppe der Anlieferungsrampe entschwand, um diese Frau Wetter zu suchen. Sie wandte sich erneut der Leiche zu. Ihr Blick fiel auf die Überwachungskamera in der Nähe des Tatortes, die Meisner ihr gezeigt hatte.

Haben wir diesmal unverschämtes Glück und die Tat wurde aufgezeichnet? Sie versuchte, den Blickwinkel der Kamera im Verhältnis zur Lage des Toten abzuschätzen. Was ist hier passiert? Wo hat der Mörder gestanden ...

„Na schöne Frau? So ganz alleine!“, erklang eine sonore tiefe Bassstimme dicht hinter Klara. Aus ihren Gedanken gerissen wirbelte sie herum, tauchte geschickt unter der Hand weg, die sich bei den geraunten Worten auf ihre Schulter legen wollte, packte sie und verdrehte in einer fließenden Bewegung den Arm des vermeintlichen Angreifers.

Der entpuppte sich als der erwartete Gerichtsmediziner Dr. von Wahlshausen. Genervt starrte sie in seine vor Erstaunen kugelrunden Augen, die aus der weißen Kapuze hervorlugten.

So sehr die Kommissarin die Expertise des Mediziners schätzte, genauso bescheuert fand sie seine selbstgefällige Machomasche. Diese Art von Scherzen gingen ihr aktuell echt auf den Keks und Dr. von Wahlshausen scherzte gerne. Sie lockerte den Armhebel.

„Hervorragende Reaktion, Frau Kollegin. Da kann ich von Glück sagen, dass ich die just hier erworbene Kiste Spätburgunder Rotwein Barrique De Berg 2015 vom Tuniberg, nicht mehr unterm Arm habe. Die wäre sonst perdue.“

Sprachs und strich sich dabei grinsend eine widerspenstige Locke aus der Stirn.

„Was?“, schnappte Klara.

„Na, da hat sich der Herr von Rotweinfeteschist lieber ein blutrotes edles Tröpfchen beschafft, statt an unserem blutarmen Tatort zu erscheine, gell?“ – schaltete sich Meisner feixend ein - „Wenn man schon mal im Winzerkeller is, denkt sich der Kollesche ...“

„Auch wenn der Chef grad nicht da ist - können wir jetzt hier weitermachen?“

Klara kochte innerlich hoch, da die beiden Kerle sie schamlos ignorierten, und entwickelte an diesem miserabelen Tag eine Stinkwut auf alles Männliche.

Einen schnellen stummen Blick später puderte Meisner wieder was ein, Dr. von Wahlshausen wandte sich dem toten Kellermeister zu und zog Latexhandschuhe über.

„Na was haben wir denn da.“, sank der Arzt neben der Leiche auf dem Fliesenboden in die Hocke.

„Das ist ungewöhnlich.“, sinnierte er vor sich hin, betastete den Körper, hob und senkte die Gliedmaßen, öffnete den Mund und leuchtete mit einer LED hinein, drehte ihn um, zog mit weggedrehtem Kopf die Hose herunter, um die Temperatur rektal zu messen.

„Tja ... merkwürdig!“, der sonst so smarte, souveräne Mediziner wirkte irritiert. Er nahm eine Art Denkerpose ein, indem Zeig- und Mittelfinger an die Schläfe wanderten. Er starrte den Toten an, drehte den Kopf langsam nach rechts und links, um die nähere Umgebung in den Blick zu nehmen.

Über Klaras Gesicht huschte ein Grinsen, ob des Anblicks von oben auf den Arzt hinunter. Dr. von Wahlshausen war stets auf seine Außenwirkung bedacht. Sorgfältig gestaltete, schwarz-grau melierte Locken aber so, dass immer eine scheinbar widerspenstig in die Stirn fiel. Mit dem Familienvermögen im Rücken ließ er all seine Kleidung anfertigen, auch wenn er sonst mit der Familie eher wenig am Hut hatte.

„Und können Sie schon was dazu sagen, Herr Doktor?“, unterbrach Klara die gedankenschwere Stille.

Von Wahlshausen drehte sich langsam zu ihr um, als wäre er aus einer langen Trance erwacht.

„Warten wir denn damit nicht auf ihren Chef?“, versuchte er sie zu provozieren. Dabei richtete er sich zu voller Größe auf und schaute von seinen Einsneunzig auf Klara herunter.

Die antwortete nur mit einem auffordernden Heben des Kopfes.

Wahlshausen gefiel dieses unerschrockene Wesen schon von Anfang an, erinnerte sich gut, wie sie vor einem Jahr im Schlepptau von Kaschupke, in seinen geheiligten Katakomben aufgetaucht war. Damals hatte sie sich für ihre erste Obduktionsbegleitung erstaunlich geschlagen.

„Soll mir recht sein. Ich will den armen Otto so schnell wie möglich bei mir auf dem Tisch haben. Groß, was sagen kann ich wie üblich nicht, eher sogar weniger. Nur so viel - er ist keine zwei Stunden tot und allem Anschein nach vergiftet worden.“

Er schaute auf seine schneeweiße Keramik-Apple-Watch.

„Nach Adam Riese etwa zwischen 17:30 und 18:30 Uhr wurde Gift - vermutlich oral in einem Weinglas verabreicht. Die Splitter liegen da ja eingetütet auf der eins. Zu der merkwürdigen leichten Blutung aus dem Mund habe ich erst mal keine Idee. Alles eher untypisch ...“

Nach einem letzten Blick auf den Toten nickte er den draußen wartenden Männern mit der Zinkwanne zu.

„Sie können Kaschupke sagen, er soll später wegen eines Termins anrufen. Wochenende hin oder her. Ausnahmsweise werde ich mich zeitnah über die Leiche hermachen. So oft bekommt unsereins ja nicht derart frisches Fleisch geliefert und ein zu lüftendes Geheimnis dazu.“, lächelnd zwinkerte er Klara zu, winkte kurz den Kriminaltechnikern und eilte schnellen Schrittes davon.

Die Kommissarin stand für einen Moment unschlüssig, da kam Meisner auf sie zu.

„So wir packen‘s dann auch mal. Die Aufnahme von der Kamera, haben se zentral gespeichert. Da komme mir jetzt nicht gleich ran.

Am Montag habt ihr die aber! Schönes Wochenende Frau Kolleschin. Kommt Leute, pack mir‘s.“

Sprachs und verschwand mit seinen Jungs von der Spusi.

„Ja Ihr mich auch.“

Klara fühlte sich auf einen Schlag verlassen und allein gelassen. Ihr schoss die Szene in ihrem Schlafzimmer wieder in den Kopf, welche sie zu gerne verdrängt hätte.

Die Leiche! Sie wandte sich erneut um, doch Schwupps verschwand Otto von Wilderen in einem Leichensack, der Reißverschluss zippte zu - Und eins und zwei! - schon wurde er angehoben und auf der Bahre weggetragen.

„Verdammt!“, entfuhr es ihr. Sie kam sich auf einmal so überflüssig vor, kämpfte die Tränen nieder, die mit einem Kloß in ihre Kehle und dem Gefühlschaos des Nachmittags in ihr aufstiegen.

Aufgeregtes Stimmengewirr an der Treppe, die zur Anlieferung führte, ließen Klara herumfahren.

„Kein Grund zur Panik! Sie sehen ja die Leiche wird abtransportiert, bitte Frau Wetter ...“

Diese tiefe, etwas kratzige Stimme war unverkennbar die ihres Chefs.

Statt Kaschupke erschien oben auf der Treppe aber eine kräftige Frau mit heller Hornbrille und dauergewellter, mittellanger Haarpracht in Blond. Ein volles freundliches Gesicht schaute Klara kurz an und wandte sich um.

„Herrschaften, Sie haben ja den Kommissar gehört. Kommen Sie, kommen Sie!“, gab sie mit erhobenem Arm das Zeichen, ihr zu folgen.

Fassungslos sah die Kriminalistin einen Schwall aufgeregter Menschen dicht hinter der Leitwölfin die Treppen hinauf stolpern und auf sich und den Tatort zurollen.

„HAAALT! Sie dürfen hier nicht durch. Sofort stop das Ganze!“, brüllte ihnen Klara entgegen und ließ ihren angestauten Frust ab.

„Alles klar, Klärchen ich bin’s, keine Panik.“, rief ihr Kollege von hinten. Sie sah zunächst nur seinen deformierten Hut über den Köpfen erscheinen. Er bahnte sich einen Weg durch die Traube von mindestens 30 Leuten, die irritiert hin und her blickten. Manche trauten sich weiter vor, andere stockten. Endlich stand der Kommissar am Absperrband. Er lächelte etwas verlegen.

Frau Wetter schaute von Klara zu Kaschupke und schüttelte den Kopf.

Die Kommissarin hatte sich auf der anderen Seite in ihrem weißen Schutzanzug breitbeinig aufgebaut. Die Hände in die Hüften gestemmt funkelte sie ihren Chef böse an.

„Was soll das werden Klaus? Das hier ist ein Tatort!“

Der machte Anstalten unter dem Absperrband durch zu schlüpfen.

„Bist Du jetzt vollkommen übergeschnappt? Du kannst hier nicht mit einer wildgewordenen Herde durch die Gegend rennen, Mann - Chef!“

Die Stimme gefährlich gesenkt versprühte Klara kaum verhohlenen Ärger und hielt das Sperrband fest.

„Klärchen. Es ist Wochenende, die von der Bereitschaft haben nicht genug Beamte vor Ort, um die Daten aufzunehmen und Befragungen durchzuführen. Die müssen ihr Personal erst mal zusammentrommeln. Da kam mir die Idee mich der Führung anzuschließen und schon mal ein bisschen vor Ort zu ermitteln, Atmosphäre schnuppern, Leute kennenlernen ...“

Klara schüttelte nur den Kopf. Kaschupke trachtete erneut danach, unter der Absperrung durchtauchen.

„Du hast keine Überschuhe mehr an!“

Sie hielt ihm ein Paar hin und Klaus zog sie grummelnd an.

„Handschuhe!“, mit übertriebener Geste ließ sie die Latexdinger vor seiner Nase baumeln.

„Ich hab meine Ärmel – sogar ein echtes Stofftaschentuch und son Ganzkörperkondom, wie Du zieh’ ich wie Du weißt schon gar nicht an, klar?“

„Klar Klaus! Du bist der Chef!“

„Eben! Darf ich jetzt?“

Sie hielt ihm das Sperrband hoch und winkte ihn mit einer angedeuteten Verbeugung durch.

„Hm was haben wir Neues?“

„Tja, Tatort hattest Du schon gesehen, Leiche ist weg – wie Du siehst ...“

„Ja, ja kam uns entgegen! Was Neues!“, grummelte Kaschupke ungeduldig.

„Das kaputte Weinglas hat der Meisner mitgenommen zur weiteren Untersuchung. Aber den Korkenzieher hat er mir gnädigerweise dagelassen, damit Du ihn in Augenschein nehmen kannst. Der lag auf der zwei.“, sie hielt ihrem Chef das eingetütete Objekt vor die Nase.

„Er meint, das Ding sei hochwertig, zumindest für ’nen Korkenzieher. Hat sogar eine Prägenummer - 2 - also limitierte Auflage. Materialien Titan und Silber, der Vogel in dem Wappen Gold.“

Kaschupke griff nach der Tüte, Klara zog sie schwungvoll weg.

„Du hast keine Handschuhe an, Klaus!“, grinste sie.

Der Kommissar verdrehte die Augen und griff wieder zu, doch erneut verschwand der Korkenzieher aus seinem Blickfeld.

„Handschuhe.“

„Der ist in einer Tüte.“, zischte Kaschupke mit zusammengekniffenen Lippen.

Wie Zuschauer eines absurden Theaterstücks beobachtete die gesamte Weinführung die beiden mit wachsendem Vergnügen.

Klara stand jetzt direkt an der Absperrung und überraschend wurde ihr das Objekt der Begierde von hinten aus der Hand gezogen.

„Na so was, das kenn ich doch. Das ist das Wappen der von Hochsteinens!“

Frau Wetter beäugte hinter der Kommissarin stehend aufgeregt den Inhalt des Beutels.

„Halt! Das ist ein Beweis ...“, weiter kam Klara nicht, da Kaschupke sich jetzt dazwischen drängte.

„Ach, Sie kennen das?“