2,99 €
Die Therapeutin Alexa Frey entschlüsselt den seelischen Fingerabdruck eines Menschen durch die Analyse seiner einmaligen Bewegungssprache. Ohne mit ihm zu reden, weiß sie, wie er tickt. Als sie im Gefängnis auf ihre Jugendliebe Steve trifft, bittet er sie um Hilfe. Er wird des Mordes verdächtigt. Alexa sieht deutlich, dass Steve etwas verheimlicht. Dennoch sucht sie die vermeintlich einzige Zeugin Caroline. Sie folgt einer hauchdünnen Spur bis in die Bretagne. Dabei wird sie zur Gejagten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 459
Veröffentlichungsjahr: 2021
Maja G. Anders
Mörderisches Déjà-vu
Buch
Die Therapeutin Alexa Frey trifft bei einem Routineeinsatz in der U-Haft auf Steve, der sie am Tag ihrer geplanten Hochzeit wortlos verlassen hat. Er wird des Mordes an seinem Chef verdächtigt. Sein Alibi Caroline ist in der Mordnacht verschwunden. Er bittet Alexa, sie zu finden. Da Alexa in der Lage ist, den seelischen Fingerabdruck eines Menschen nur durch die Analyse seiner einmaligen Bewegungssprache zu entschlüsseln, glaubt sie, Steve wäre unschuldig. Allerdings hat sie bei einem Gutachten vor einem Jahr einen verhängnisvollen Fehler gemacht. Sie muss ganz sicher sein, dass ihr das nicht wieder passiert. So folgt sie der einzigen Spur bis in die Bretagne. Dabei wird sie zur Gejagten.
Autorin
Maja G. Anders wuchs vor der innerdeutschen geopolitischen Wende im Osten Deutschlands auf und lebt noch immer in Sachsen. Nicht nur beruflich studierte sie die Psychologie der Menschen im täglichen Miteinander. Auch auf ihren privaten Reisen von Ost nach West und Nord nach Süd lernte sie ihre Lektionen in praktischer Psychologie.
Obwohl sie als Kind davon träumte, Geschichten zu schreiben, verfasste sie zuerst Gedichte. Nach erfolgreicher Teilnahme an Lyrikwettbewerben und verschiedenen Schreibseminaren folgte sie ihrem Herzen.
„Mörderisches Déjà-vu“ ist ihr Thriller-Debüt.
Maja G. Anders
Mörderisches Déjà-vu
Psychothriller
© 2021 Maja G. Anders
Umschlag & Illustration: Maja G. Anders
Foto: JARStudioPhoto/http://Shutterstock.com
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-347-32973-7
Hardcover
978-3-347-32974-4
e-Book
978-3-347-32975-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für meinen Vater, den Geschichtenerzähler
Des Schlafes Bruder ist der Tod,
die Zeit des Wartens seine Schwester.
Mit ihr flüchten sie aus dem Augenblick,
die Ängstlichen wie die Zornigen.
Sie träumen fade Wünsche,
fälschen die Erinnerungen,
und verpassen dabei
den Moment wahrer Freiheit:
Jenen Augenblick intensiven Lebens,
der allein
im Warten ohne Erwartungen
geschieht.
Genau dann ist er da,
der richtige Zeitpunkt,
in dem sich neue Hoffnungen
gegen alte Schmerzen tauschen.
Klar siehst du, was du schon wusstest:
Déjà-vu.
TAG 1
1
Die Arme vor der üppigen Brust verschränkt, rückte Alex näher ans Fenster und stellte sich auf Zehenspitzen. Sie spähte durch die Gitterstäbe, ließ ihren Blick über den Wachturm schweifen, versuchte, die Stacheldrahtrollen zu übersehen, ehe sie sich dem Geschehen unter ihrem Fenster widmete.
In dem asphaltierten Hof schleckten Sonnenstrahlen gierig die Pfützen des Sommerregens, verwischten die Spuren der vergangenen Stunden.
Suchend streckte sie eine Hand nach draußen. Vielleicht erwischte sie einen verirrten Lichtstreifen? Nein, sie blieb allein im kühlen Schatten zurück.
Sie beobachtete drei Jugendliche, die zügig ihre Kreise auf dem engen Hof zogen. Der Kleinste wirkte wie eine schwarzhaarige Kugel. In der Mitte erzählte ein Blonder mit Händen und Füßen. Auf der Seite der Mauer lief ein langer Rotschopf den Anderen immer einen Schritt voraus, wie die Comicfiguren, mit denen ihr Bruder sie in der Kindheit ständig genervt hatte. Wie hießen die gleich? Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Die „Digedags“; so sahen sie aus.
Ihr Blick wanderte weiter.
Am Hofeingang präsentierten zwei kahlgeschorene Männer ihre tätowierten Muskelpakete in der Nachmittagshitze. Der Kräftigste von ihnen faltete langsam und akkurat ein Handtuch, legte es auf den Asphalt, ehe er seine Zehen auf die zweite Treppenstufe stellte. Er stemmte sich in den Liegestütz. Wie in Zeitlupe senkte er seinen Körper, bevor er ihn nach drei Sekunden wieder in die Waagerechte zurückholte.
Die Ruhe dieser Bewegung färbte auf Alex ab. Dennoch leistete sie es sich nicht, in unaufmerksame Entspannung zu versinken. Nach dem zwanzigsten Liegestütz glitt ihr Blick weiter über den Hof.
Unterhalb der Turmwache stand regungslos ein schlanker Mann im Schatten. Seine grauen, schulterlangen Haare wehten wie Gardinen im Wind. Er schaute nach oben.
Sie sah auf die Uhr. Es blieben noch zehn Minuten bis zum Ende des Hofgangs. Geräuschvoll atmete Alex aus und inspizierte den Raum.
Der Sonnenschein zog sich aus den vier Wänden zurück. Wie in einer Höhle, dachte sie und betätigte mit dem Ellbogen den Schalter neben der Tür. Verstaubte Neonröhren tauchten die zerkratzten und beschmierten Holzstühle in kaltes Licht. Hier und da klebten alte Kaugummibatzen. Alex weigerte sich, herauszufinden, woraus der restliche Dreck bestand. Der Papierkorb quoll über. Niemand kümmerte sich um ihn. Sie auch nicht.
Alex kramte in ihren Taschen nach Desinfektionstüchern. Vergeblich. Mit unterdrücktem Ekel und einem Tempotaschentuch in der Hand rückte sie den saubersten der wackeligen Stühle in die Nähe der Tür. Die anderen schob sie mit den Füßen nach links in Richtung des Fensters, wobei sie darauf achtete, hinter den Holzstühlen einen schmalen Gang zur Tür zu lassen. Danach fischte sie aus ihrem Rucksack eine Rolle Klebeband. Lustlos riss sie Streifen ab und markierte mit ihnen eine runde Form von anderthalb Metern im Durchmesser auf dem schmutzigen Fußboden. Dann schritt sie an den Außenkanten des Kreises bis zum Ausgangspunkt zurück. Mit einem kurzen Nicken schloss sie die Arbeit ab. Zufrieden verstaute sie das Kreppband im Rucksack und ließ ihren Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Alles war bereit. Es gab nichts mehr zu tun, bis die Show begann.
Alex schlenderte noch einmal zum Fenster. Mit einem leichten Sprung schwang sie ihren Hintern auf den Tisch und betrachtete wieder die Szenerie im Hof. Nichts hatte sich verändert.
Sie schaute auf den Mann im Schatten, kurz darauf auf die Uhr.
Noch fünf Minuten.
***
2
Berauschend wie ein Feld aus Mohn leuchtete die rote Mähne der Frau im Fenster des obersten Stockwerks. Aus der Kühle des Schattens heraus ruhte der Blick des Mannes auf ihr, doch seine Gedanken rasten.
Bis zur Verlesung der Anklageschrift war er sich absolut sicher gewesen, dass er bald wieder auf freiem Fuß sein würde. Am Vormittag hatte er seine erste Verhandlung gehabt. Und seit dem Mittag wusste er, es würde alles noch schlimmer kommen, als es schon war.
In den letzten Wochen hatte er sich von den anderen Insassen ferngehalten, sein Recht auf eine Einzelzelle geltend gemacht. Mit Erfolg. Seither nannte er acht Quadratmeter plus ein Klo sein Reich. Dazu ein Bett, ein Regal, ein Stuhl, ein Tisch. Hier war er mit sich allein sein, um in Ruhe nachzudenken.
Er rätselte, wie er in diese Sache reingeraten war. Seit seiner Studienzeit hatte er sich nicht mehr geprügelt, ging allem aus dem Weg. Damals war er knapp einer Verurteilung entronnen. Ein bitteres Lachen blieb ihm im Hals stecken. Wie oft fragte er sich, ob er einen zu hohen Preis für seine Freiheit bezahlt hatte. Diesmal ließ er sich nicht verschaukeln, schwor er sich.
Langsam drückte er sich mit dem Fuß von der Mauer ab und schlenderte zum Hofausgang. Bevor er im Gebäude verschwand, hob er seinen Kopf. Er lächelte zum Fenster hinauf. Die Rothaarige war noch dort.
***
3
Alex spielte am Fenstergriff. Ihr Blick streunte wieder durch das Gitter. Plötzlich hielt sie die Luft an. Ihr Herz hüpfte, pochte zwei Sekunden. Nein, es war keine Halluzination! Da saß eine Meise – mitten in den Stacheldrahtrollen der Gefängnismauern. Sie hopste durchs spitze Geflecht, ließ sich im Rest einer Pfütze fallen, schlug mit den Flügeln und – flog davon. Alex blickte dem Vogel hinterher, bis dieser im grünen Blättermeer am Schwanenteich verschwand.
Das Schlüsselklappern an der Tür legte in ihr einen Schalter um. Sie sperrte jeden Gedanken der Ablenkung aus, rückte ihre Brille zurecht, atmete durch.
Die Zeit des Wartens war vorüber.
Die Häftlinge schoben sich durch die Tür. Erst die Digedags, dann die Tätowierten.
Von ihrem Platz aus musterte Alex die Männer. In einer Mischung aus Lässigkeit und Neugier schlenderten sie zu den Stühlen, die im Halbkreis standen.
Alex wartete, bis die Blödeleien versiegten und sich alle Augen auf sie richteten. Jetzt war es so weit.
Lächelnd sah sie die Gefangenen an. „Ich bin Frey…“ Nachdem die grimmigen Lacher verebbten, setzte sie fort: „Alexa Frey, Coach und Therapeutin.“ Schweigend schaute sie von einem zum anderen. Ihre Unruhe, die sie oft in diesen Mauern ergriff, wich der Neugier. Sie liebte diese „Schweigezeremonie“, wie sie diesen Auftakt nannte. In wenigen Augenblicke durchschaute sie die Rollenverteilung in der Gruppe, um kurz darauf mit einem Trick die Motivation der Gefangenen für diesen Kurs zu erhöhen.
Alex lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, musterte weiter die Männer, die links von ihr saßen. Die Digedags rutschten auf ihren Sitzen hin und her. Das kleine Muskelpaket starrte scheinbar gelangweilt die gegenüberliegende Wand an. Der große Tätowierte schniefte, räusperte sich, ehe er fragte: „Was wird ´n das?“
Alex lächelte ihn schweigend an. Eine ihrer Vermutungen bestätigte sich soeben. Dieser Häftling war die rechte Hand vom kleinen Muskelpaket.
„Eh, ich hab was gefragt!“, schnauzte der Große eine Spur lauter.
Alex sah ihn lächelnd an. Nickte. Dann musterte sie wieder alle Beteiligten. Ihr Blick blieb bei dem Blonden hängen, der auf dem Hof mit Händen und Füßen erzählt hatte. Sie neigte den Kopf, wies auf den Kreis.
„Soll sich jemand von uns da reinstellen und tanzen?“, fragte der Blonde und hielt dabei eine Hand auf seinem Kopf. Die andere an seinen Bauch legend, deutete er einen Sitztanz an.
Es funktionierte. Alex schmunzelte, zuckte mit den Schultern und lud ihn mit einer Geste ein, seine Idee umzusetzen.
Er sprang auf, hampelte im Kreis herum. Die Lacher waren auf seiner Seite. Dann wechselten sich die Digedags mit diesen Faxen ab.
Gleich kommt die nächste Phase, dachte Alex und verlagerte ihr Gewicht nach vorn.
„Mir reicht‘s!“, blaffte der Große, „Hab doch gleich gesagt, dass das hier Scheiße ist. Ich hau‘ ab!“ Mit diesen Worten stand er auf und stampfte zur Tür. Die Digedags kicherten auf ihren Stühlen, verstummten jedoch, als Alex sich erhob. Noch immer lächelnd sagte sie: „Schade, dass sie schon gehen wollen. Dabei habe ich den Eindruck, dieser Anti-Aggressions-Kurs könnte für Sie nützlich sein.“
„Pfff“, kam es von der Tür, „ich bin nicht aggressiv.“
„Das heißt, Sie haben sich im Griff?“
„Klar! Was sonst? Ich finde das nur alles scheißalbern.“
„Was kann ich tun, damit Sie teilnehmen wollen?“ Alex kannte die Antwort.
Der Blonde grinste. „Zigaretten?“
Sie griente zurück. „Okay. Eine Schachtel Zigaretten als Währung.“
Alle schauten sie fragend an.
„Wir machen einen Test: Ich suche einen von Ihnen aus, der in den Kreis geht. Ich gehe um den Kreis herum. Wenn es demjenigen gelingt, sich nicht im Geringsten zu bewegen, auch nicht die Augen, und nicht zu lachen, zu reden, zu fluchen oder Ähnliches, egal was außerhalb des Kreises passiert, hat er den Test bestanden. Dann kann er sich wirklich beherrschen und ist von der Kursteilnahme befreit. Er bekommt die Kippen. Schafft er es fünfmal, hat er alle Anwesenden vom Kurs ausgelöst. Falls er nicht besteht, müssen alle bleiben, aktiv mitmachen und ich bekomme beim nächsten Mal eine Tafel Schokolade.“
Alle Blicke richteten sich nun auf das Muskelpaket. Er nickte. „Deal“, brummte er und erhob sich. Mit einer Kopfbewegung wies er seinen Handlanger auf den Stuhl. Dieser bewegte sich in die Mitte des Kreises. Breitschultrig, mit hochgerecktem Kinn betrat er die Arena.
„Sehr gut“, sagte Alex und wunderte sich nicht im Geringsten. „Wenn Sie sich freiwillig zur Verfügung stellen, muss ich niemanden auswählen.“ Sie strahlte ihn an und beglückwünschte sich innerlich zu ihrer Strategie. Dann forderte sie die Gefangenen auf, mit ihren Stühlen etwas weiter vom Kreis hin zur Wand zu rutschen. „Suchen Sie sich zwischen diesen Linien einen Platz und stellen Sie sich mit dem Gesicht zu den anderen“, sagte Alex zum Muskelpaket. Sie wiederholte nochmals die Regeln. Kurz darauf besiegelten beide den Deal mit einem Handschlag.
Alex stellte sich dicht an die markierten Linien, dem Kraftpaket gegenüber, der am anderen Ende des Kreises stand. „Bereit?“
Er nickte.
Langsam setzte sich Alex nach rechts in Bewegung. Das entsprach üblicherweise der Erwartung der Getesteten. Sie hielt ihren Blick auf die Augen des Tätowierten gerichtet. Er sah ihr hinterher. Alex kam am hinteren Rand an, stellte sich neben ihn. Mit hochgezogenen Augenbrauen sagte sie: „Eigentlich haben Sie schon verloren.“
Er pumpte sich auf. „Wohl eher nicht. Ich hab mich nicht bewegt.“
„Doch. Ihre Augen sind mir gefolgt.“
Die Sitzenden kommentierten zustimmend: „Mhm.“
Das tätowierte Muskelpaket holte tief Luft.
Alex schnitt ihm das Wort im Ansatz ab: „Aber da Sie sich freiwillig gemeldet haben und es zu jedem Spiel eine Testphase gibt, starte ich noch einmal.“
Er ließ die Luft wieder ab, schüttelte Arme und Beine, drehte seinen Hals, bis es knackte. „Okay, verstanden.“
Erneut setzte sich Alex in Bewegung; diesmal nach links. Sie hatte bemerkt, dass der Tätowierte ein Rechtshänder war. Das bedeutete, er würde eine Annäherung auf seiner rechten Seite eher als Bedrohung empfinden. Wieder hielt sie ihren Blick auf seine Augen gerichtet. Sie folgten ihr nicht. Seine Anspannung glich einem gezogenen Bogen, desto näher sie kam. Sie verlangsamte ihr Tempo, schritt wie in Zeitlupe hinter ihn. Dort blieb sie stehen. Er hatte beinah unmerklich seine Finger bewegt. Um eine Eskalation zu vermeiden, brauchte sie eindeutigere Reaktionen. Da er sich an den Rand des Kreises gestellt hatte, stand sie nur eine Hand breit von ihm entfernt. Sie roch seinen Schweiß. Wenige Zentimeter glitt sie zurück, starrte in seinen Nacken, studierte die Zeichnungen. Sie hatte damit gerechnet, dass die Mitgefangenen die Testperson provozierten. Doch sie blieben still, brav, regungslos. Die Aufgabe des Störenfrieds fiel an Alex. Sie sammelte sich, trat wieder einen viertel Schritt heran, ehe sie ihre Arme in einer zügigen Bewegung nach oben führte.
In einer geschmeidigen Körperdrehung hob der Tätowierte seinen rechten Arm, um sie zu blocken.
Alex huschte an ihm vorbei und schlenderte im Seitwärtsschritt weiter am Außenkreis entlang.
Der Tätowierte sah ihr hinterher.
Alle hielten die Luft an.
„Schön, dass Sie bleiben“, sagte Alex an die Sitzenden gerichtet. „Und ich mag dunkle Schokolade“, schob sie lächelnd nach.
Der Tätowierte grinste. „Deal“, erwiderte er, ging federnd zum Stuhl zurück, schlug seinem Handlanger auf die Glatze und forderte: „Jetzt du.“
Doch in diesem Moment hörte Alex schräg hinter sich die Tür aufgehen. Aus den Augenwinkeln erblickte sie zwei große Männer.
„Hier bringe ich noch einen Nachzügler“, sagte der Bedienstete und verschwand.
„Ah, der Chef-Killer“, tönte es aus der Gruppe.
Kommentarlos, mit erhobenem Kopf, schlenderte der drahtige Mann mit den grauen Haaren zum Fenster. Der frische Duft nach Meer, der ihn umgab, mischte sich mit dem stechenden Schweißgeruch der Anderen.
Der Neue warf einen Blick durch die Gitterstäbe, strich über sein schulterlanges Haar und atmete tief durch, ehe er sich umdrehte. Seine wachen Augen richtete er auf Alex, zog einen Stuhl heran, setzte sich abseits.
Keiner sprach. Niemand bewegte sich.
„Wir sind gerade beim Kennenlernen. Mein Name ist Alexa Frey. Und Sie sind?“
Die dunkelblauen Augen schienen sie zu durchleuchten. Nicht dieses bedrängende Ich-sehe-dich-nackt. Nein, es war mehr ein sehr prüfender Blick, als taxierte er einen Diamanten. Obwohl der Neue nicht lächelte, zog es Alex mit jeder Zelle ihrer Haut zu ihm hin. Ihre Alarmlämpchen flackerten auf. Sie stutzte. Was passierte mit ihr? Kannte sie ihn? Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Nein, sie hatte diesen Gefangenen noch nie in einem Kurs, auch nicht als Patienten. Da war sie sich sicher. Und sie hoffte, ihr grottiges Personengedächtnis ließ sie nicht mehr als üblich im Stich. Alex beschloss, später, außerhalb dieser Mauern, diesem Gefühl der plötzlichen Vertrautheit auf den Grund zu gehen. Doch im Moment durfte sie sich nicht ablenken lassen, denn jede Unaufmerksamkeit war für sie gefährlich. Das wusste sie. Deshalb schluckte Alex nur und zählte still bis zehn, bevor sie sagte: „Ich habe dieses Ich-guck-dich-solange-an-bis-du-wegguckst-Spiel schon als Kind besser gespielt als jeder andere. Überspringen wir doch diesen Teil und reden einfach.“
Der Neue schwieg weiter. Alle schauten ihn an. Er wandte sich langsam zum Fenster.
Alex kannte solche Spielchen, die so viele Namen hatten, wie es Menschen auf dem Planeten gab. Neben Macht und Manipulation gab es auch Unsicherheit und Unlust. Egal, was es war, sie stieg einfach nicht darauf ein. Achselzuckend ging sie zur Tagesordnung über, lotste jeden in die Kreisübung, und zeigte ihnen zum Schluss zwei Entspannungsübungen für den Gefängnisalltag. Während dieser anderthalb Stunden blieb der Grauhaarige entspannt am Fenster sitzen, schaute aufmerksam zu, und schwieg.
Gerade als sie mit dem Aufräumen fertig waren, ging die Tür auf. Ein Bediensteter holte die Häftlinge ab. Sie hatten Hunger, drängten hinaus. Noch ehe der Grauhaarige an der Tür war, wusste Alex, dass etwas passieren würde, denn seine Muskeln spannten sich und er bewegte sich eine Spur langsamer als bisher. Doch sie reagierte nicht schnell genug.
„Ich komme gleich; muss noch die ersten fünf Minuten nachholen“, hörte sie ihn sagen. Dann schloss er die Tür und drehte sich um.
Alex erstarrte.
***
4
Der süße Geruch des Weißweins stieg Bud in die Nase. Er liebte den Duft des Muscadets ebenso wie seinen Geschmack. Einen Schluck für den Topf und einen für den Kropf, lautete ein ungeschriebenes Gesetz in Buds Küche.
„Du kochst nur deshalb so gern, weil du dabei ungestört saufen kannst“, lästerte Alex oft. Er grinste bei dem Gedanken an seine Schwester, nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Apropos: Müsste sie nicht schon längst da sein?
Gleichmäßig rührte er das Pilzrisotto aus Champignons und Pfifferlingen um. Wenn sie nicht bald auftauchte, war das Abendessen ruiniert. Er hasste aufgewärmtes Risotto. Es war ihm zu klebrig. Da könnte er auch Acrylschaum essen.
Als er den Kochlöffel am Rand abklopfte und zum Kühlschrank stakste, tauchte seine andere Schwester neben ihm auf. Anna summte mit den Beatles im Radio „Do you want to know a secret?“ Ihre Stimme war eine willkommene Abwechslung gegenüber der Stille, die sie im Normalfall umgab.
„Wo bleibt deine dynamische Schwester?“, fragte er.
Anna zuckte mit den Schultern, schnappte sich Geschirr aus dem Schrank, glitt an der Bar vorbei zum Esstisch.
Er sah ihr hinterher. Es amüsierte ihn, wie sie im Parcours-Stil den Tisch deckte, indem sie den kürzesten Weg nahm. Mit Tellern in der Hand stieg sie über einen Stuhl, stellte das Geschirr ab und schwang an der Couch zurück. Geschmeidig und lautlos wie ein Kätzchen.
Bud wandte sich wieder seinem Risotto zu, stocherte darin herum. Es war fertig. Noch einmal schenkte er erst sich, dann dem Kochtopf einen Schluck Weißwein, ehe er auf die Uhr schaute. Er schüttelte den Kopf.
Dreißig Minuten Verspätung. Das sah Alex nicht ähnlich. Wo steckte sie, verdammt nochmal?
***
5
Sachte bewegte Alex ihre Finger und Zehen, um sich endlich aus der Starre zu lösen. Sie war nicht das erste Mal mit einem Häftling allein in einem Zimmer. Nein, Angst hatte sie nicht. Allerdings hatte bisher noch keiner auf diese Art ein Gespräch eingeleitet. Sie war überrascht, doch nicht in Panik. Da brauchte es mehr. Es war diese Stimme. Sie kannte diese Stimme. Noch wusste sie nicht, woher. Aber der Klumpen in ihrem Bauch deutete auf Alarmstufe orange der individuellen Alexa-Skala hin.
„Schön, dich wiederzusehen, Lexa. Darf ich noch Lexa sagen?“ Er stand an der Tür. Ein Lächeln hing ihm im Mundwinkel.
Der Boden unter Alex‘ Füßen schien zu schwanken. Sie schüttelte den Kopf und hoffte, so die Gespenster ihrer Vergangenheit zu vertreiben. Es musste eine Täuschung sein. Nur eine Sinnestäuschung. Eine zufällige Ähnlichkeit. Alles andere war unmöglich. Alex streckte einen Arm schützend nach vorn. Durch die Brille fixierte sie den Mann, der auf sie zu schlenderte. Ihr Puls hämmerte gegen ihren Kehlkopf. Während ihre Lippen lautlos Worte formten, wich Alex langsam zurück, bis ein Tisch ihr den weiteren Weg versperrte. Ihr Mund spuckte Namen aus: „B. B.? Steve?“
Er nickte.
Sie schüttelte wieder den Kopf, musterte ihn eindringlich.
Er lächelte. „Dein Blick ist immer noch eine deiner Geheimwaffen“, perlte seine Stimme wie Kieselsteine im Flussbett.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Er war es. Dieser Klang, diese Augen, dieses Lächeln. Wieso hatte sie ihn nicht sofort erkannt? Sie hätte jede Wette abgeschlossen, ihn zeit ihres Lebens unter Tausenden auszumachen. Dazu hatten sie sich zu gut gekannt. Hatte sie gedacht. Damals. Bevor passierte, was passierte.
Doch früher waren seine Haare länger, dichter, dunkler. Und ein Schnauzer hatte seine Oberlippe geziert.
Der Mann vor ihr war bartlos. Dennoch: Es war Steve, eindeutig Steve. Und er stand nur eine Armlänge von ihr entfernt.
Mühsam gewann Alex die Kontrolle über ihre Stimme zurück. „Weshalb?“, zischte sie ihn an.
„Tötungsdelikt…Körperverletzung mit Todesfolge…vielleicht Mord…“ Das Lächeln verrutschte in seinem Gesicht.
„Das interessiert mich nicht!“ Sie ballte die Fäuste. „Weshalb du mich hier abdrängst will ich wissen!“
„Weil du die Einzige bist, der ich vertraue. Ich brauche dich.“ Er trat einen weiteren Schritt an sie heran.
Atmen. Denken. Atmen. „Du wagst es…“, schnappte Alex, „du wagst es, mich als Notnagel zu benutzen?“
„Bitte, hör mir zu! Ich bin erledigt, wenn du mir nicht hilfst!“
„Glaubst du wirklich, mich interessiert irgendetwas, was mit dir zu tun hat?“ Alex verfluchte ihre weich gewordenen Knie, lehnte sich an den Tisch und reckte Steve herausfordernd das Kinn entgegen.
Er schwieg. Nur seine Augen sprachen mit ihr.
Sie wollte nicht eintauchen in dieses hypnotische Blau. Doch wenn sie den Blickkontakt abrupt unterbrach, setzte sie ein falsches Signal. Also verschränkte Alex die Arme und heftete ihren Blick mit dem nächsten Lidschlag zwischen seine Augen, etwas oberhalb der Nasenwurzel. So sah sie ihn, ohne ihn anzusehen.
Sie brauchte Zeit, um sich zu sammeln, ihre Gedanken zu ordnen, gegen den Sog der Leere in ihrer Brust anzukämpfen.
Wie um Himmels willen ist Steve in die U-Haft gekommen? „Chef-Killer“ hatten ihn die anderen genannt. Wobei und wie sollte sie ihm helfen? Hatte er sie gleich erkannt? Wieso kam er später? Stand sein Name überhaupt auf der Kursliste; hatte sie ihn übersehen? Wieso ließ sie ihn nicht wortlos steh‘n?
Genau! Raus hier, dachte sie, so schnell wie möglich. Forsch setzte Alex sich in Bewegung. Raus! Doch als sie sich an Steve vorbei drängte, hielt er ihr einen gefalteten Zettel entgegen. „Hier steht alles, was du wissen musst. Bitte nimm Verbindung mit meiner Kollegin auf!“
Alex schüttelte den Kopf. Dachte er wirklich, sie würde seine Komplizin, indem sie von ihm Briefchen entgegennahm? Sie schnaufte. „Privatkontakte mit Häftlingen sind verboten.“ Sie stürmte an ihm vorbei, kam jedoch nicht weit.
Steve packte ihren Arm, drängte sie zum Tisch zurück und presste für einen Augenblick eine Hand an ihren Hintern.
Diese Berührung. So plötzlich. So nah. Wie ein Tsunami rauschten die Erinnerungen durch ihren Kopf: Gitarrenmusik, flaschenweise Rotwein, zwei nackte Körper und ein bekotztes Kleid neben zerpflückten Lilien.
Alex wollte rennen, schreien, weinen. Doch sie stand nur da, schaute auf seine starke Hand, die ihren zitternden Arm festhielt. „Lass. Mich. Los“, knurrte sie.
„Bitte, Alex, hör mir zu! Ich war es nicht. Du kannst mir helfen, es zu beweisen. Bitte. Alex, bitte!“
Sie atmete durch und sagte mit ruhiger, fester Stimme: „Lass mich sofort los. Sonst löse ich den Alarm aus.“
Steve pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, warf einen Blick über seine Schulter. Er grinste. „Dein Walkie-Talkie hängt aber ganz unvorschriftsmäßig am Stuhl dort drüben und nicht an dir.“
Während Alex sich stumm mit unfreundlichen Tiernamen beschimpfte, checkte sie blitzschnell ihre Möglichkeiten. Der Tisch hinter ihr ließ wenig Bewegungsspielraum. Steve stand zu nah bei ihr. Er versperrte ihr den Weg zur Tür und zum Stuhl, an dem das Funkgerät baumelte. Doch jede Faser in ihr sträubte sich dagegen, sich von ihm weiter in die Enge treiben zu lassen. Er hatte seine Chance gehabt. Rien de va plus – nichts geht mehr.
Alex neigte den Kopf seitwärts, lächelte ihn an und sagte mit weicher Stimme: „Du willst spielen?“
Er hob die Augenbrauen. Vielleicht erinnerte er sich daran, welche wilden und schönen Momente einst mit diesem Satz begonnen hatten? Sein Griff lockerte sich ein wenig.
Perfekt! Sie packte ihn mit der freien Hand am Nacken, ließ sich rückwärts auf die Tischplatte kippen und zog ihn auf ihren Körper. Er verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, um sich abzufangen. Alex nutzte den Schwung und schubste ihn seitwärts von sich runter. Krachend fiel er zwischen zwei Stühle. Sofort schnellte sie hoch und sprang zum Walkie-Talkie. Noch bevor Steve wieder auf den Beinen war, hielt sie das Funkgerät waagerecht in den Händen. Sie hatte den Kippalarm ausgelöst. „In dreißig Sekunden wird der Gesamtalarm gestartet“, keuchte sie.
„Bitte, Alex, bitte hör mir nur eine Minute zu.“
Sie hielt das Walkie-Talkie weiter gekippt. Sein Piepen zählte die Sekunden.
„Bitte! Bring mich nicht noch mehr in Schwierigkeiten.“
Alex hörte Schritte in der Ferne. „Du hast noch zwanzig Sekunden, bis die Bediensteten dich abholen. Sag, was du sagen willst. Für mich spielt es keine Rolle.“ Mit diesen Worten schnappte sie ihren Rucksack und ging zur Tür.
***
Nach der Überraschung des Nachmittags wäre Alex lieber allein gewesen, um das Wirrwarr in sich zu ordnen. Aber sie wollte Bud und Anna nicht enttäuschen.
Noch immer spürte sie Steves Griff auf ihrem Arm, seinen Körper auf ihrem. Und noch immer klopfte ihr Herz bis zum Hals. Jeder Gedanke verdampfte sofort, ehe sie ihn zu Ende dachte. Und ihre Gefühle strudelten zwischen Brust und Becken wie eine Gondel im Wildwasserkanal. Ein Wunder, dass Alex die dreißig Kilometer bis zum Haus ihrer Geschwister unfallfrei fuhr. Das Flehen in Steves Stimme verfolgte sie den ganzen Weg. Und wieder hatte er es geschafft, dass sie sich elend fühlte. Dieser Mistkerl! Sie fröstelte und sehnte sich nach einem heißen Bad.
Erst das Essen, dann das Vergnügen. Während sie über den gepflasterten Weg schlurfte, warf sie einen Blick in den üppig wuchernden Kräutergarten. Minzkraut kroch zur Beeteinfassung; der Goldmajoran plusterte sich auf und Salbei wuchs zeilenweise. Bud pflanzte diese Sorten nur für sie an. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie die Tür aufschloss.
Topfgeklapper und ein köstlicher Duft begrüßten sie bereits im Flur. Sie warf ihren Rucksack in die Ecke, streifte sich die Sneakers von den Füßen.
Als Alex in der Wohnküche erschien, erhellten sich die Gesichtszüge ihres Bruders.
„Na, dann kann es ja endlich losgehen“, sagte er, füllte drei Teller und brachte sie zum Tisch.
Im Vorbeigehen drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn. Anna umarmte sie herzlich, bevor sie sich setzten.
„Auf meine Schwestern“, rief Bud und erhob sein Glas. Sie stießen miteinander an, ehe sie begannen, zu essen.
Still beobachtete Alex ihre Geschwister. Anna pickte die Pilze heraus, sortierte sie rechts und links der Risottomasse. Sie würde sie später essen, wie immer. Bud schaufelte geräuschvoll die Mahlzeit in sich rein. Sein Teller war schon halb leer.
Alles war wie immer, dachte sie, und doch fühlte es sich so anders an. Ihre Vergangenheit hatte einfach auf sie gewartet. Und sie überrumpelt. Nachdenklich stocherte sie auf ihrem Teller herum. Was sollte sie ihren Geschwistern sagen? Wie sollte sie es ihnen beibringen? Sie hob ihren Kopf und sah in die fragenden Gesichter ihrer Geschwister.
„Hm?“, fragte Alex.
„Schmeckt‘s?“ Bud sah sie an wie ein Bernhardiner, der auf sein Leckerli wartete.
„Ja, sicher.“ Schnell stopfte sie sich zwei Happen in den Mund und schmatze demonstrativ.
Bud nahm sich Nachschlag und fragte zwischen den nächsten beiden Bissen: „Was ist los?“
Alex zuckte mit den Schultern.
„Eine schweigende Schwester ist genug in der Familie.“ Er sah zu Anna, die kurz brummte, dann wieder zu Alex. „Es ist dein Lieblingsessen und du mäkelst herum. Also? Streit mit Joker?“
Die Frage fehlte ihr gerade noch. Sie seufzte. An Joker hatte sie seit heute Nachmittag noch mit keiner Silbe gedacht. Was sagte das über ihre Beziehung aus? Und wie sollte sie ihm sagen, was geschehen war? Abermals entrang sich ihr ein Seufzer. Darum musste sie sich also auch noch kümmern. Später.
Sie legte ihre Gabel beiseite, räusperte sich. „Ich habe heute B.B. getroffen“, murmelte sie mit ihrem letzten Bissen im Mund.
„Brigitte Bardot? Die ist doch schon tot, oder?“ Bud hielt inne, als er zu begreifen schien.
Anna ließ ihr Besteck fallen.
„Das musste ja mal passieren.“ Bud grinste und schippte sich einen großen Happen Risotto auf die Gabel. „Wo hast du ihn getroffen?“
„Im Knast.“
„Als Gitarrenlehrer oder IT-Berater?“, fragte Bud und verschluckte sich fast vor Lachen.
„U-Haft. Mordverdacht.“
Anna und Bud sahen erst sich, dann Alex an.
Sie schob ihr leeres Glas auf dem Tisch herum. „Sein Chef ist ermordet worden.“ Sie goss sich Rotwein ein. „Nach all den Jahren taucht er einfach so auf und bittet mich, ihm aus dem Schlamassel zu helfen!“ Alex stürzte den Wein in einem Zug runter. „Mich!“, fauchte sie, knallte das Glas auf den Tisch und krallte sich daran fest.
Sie wollte ihm nicht verzeihen. Auch nicht nach sechsundzwanzig Jahren. Niemals! Die ganze Welt hatte ihnen zu Füßen gelegen, als ihr Studienende mit der Währungsunion von Ost- und Westdeutschland zusammenfiel. Sie hatte ihn gefragt: „Wollen wir im Sommer mal heiraten?“
Woraufhin er ganz nebenbei, ohne Zögern, erwidert hatte: „Warum nicht? Wir könnten die Flittertage in Paris verbringen.“
Heimlich lernte Alex Französisch. Mitte Juli stand sie in dem schlichten Hochzeitskleid ihrer Mutter auf der Treppe vor dem Standesamt. Sie zählte die Minuten und verfluchte Steve, weil er nie pünktlich war. Sie zählte mit pochendem Herzen die Blütenblätter ihres Lilienstraußes. Danach zählte sie die Stufen, später die Türen. Nach zwei Stunden fuhren ihr Bruder und ihr Vater sie in ihr Zuhause. Ihre Schwester hatte ihr den Kopf gehalten, als Alex sich volltrunken ins Klo erbrach.
Alex hatte nie wieder etwas von Steve gehört. Es hieß, der smarte Steve tingelt durch die Bars von Hamburg. Sie war nie nach Hamburg gefahren. Und auch nicht nach Paris.
Anna setzte sich neben ihre schluchzende Schwester und zog sie zu sich heran. Ihr Bruder kam dazu und schloss schützend seine Arme um beide. Sanft schaukelte er sie hin und her, legte sein Gesicht in ihre Haare. Alex genoss die Umarmung ihrer Geschwister. Sie hielten zusammen. So war es seit dem Tod ihrer Mutter gewesen.
Mit einem tiefen Seufzer richtete Alex sich wieder auf, wischte sich kurz über die Augen. „Was gibt’s zum Nachtisch?“
„Kinderfragen mit Zucker bestreut!“, lächelte Bud, ließ seine Schwestern los und holte drei Schälchen aus dem Kühlschrank.
Nachdem Alex ihre Zitronen-Schoko-Creme verputzt hatte, sagte sie: „Er hat sich nicht mal entschuldigt.“ Sie malte mit dem Löffelstiel Achterschleifen auf den Tisch. Erst längs, dann quer. „Kein Erklärungsversuch, keine Entschuldigung. Nichts.“ Achterschleifen längs. „Das Erste, was ich nach diesem Abgang vor sechsundzwanzig Jahren von ihm höre, ist die Bitte, eine bestimmte Frau zu suchen, um ihn vor dem Knast zu bewahren.“ Achterschleifen quer. „Mehr nicht!“ Knallend setzte sie mit dem Löffelstiel einen Punkt auf die Tischplatte und sprang auf. „Dieser verdammte, manipulative Hurensohn!“ Alex tigerte zuerst um den Tisch herum, kurz darauf in die Küche. Sie redete pausenlos auf den Geschirrspüler ein, erzählte ihm, wie sie die Fassung verloren hatte, wegen des arroganten Arschlochs, das sie einfach überrumpelt hatte. Geräuschvoll schloss sie die Klappe des Spülers.
Bud holte ein Whiskyglas aus dem Schrank, goss sich einen Doppelten ein, kippte ihn hinter. „Was genau hat Steve zu dir gesagt, Alex?“
„Du meinst, nachdem er zwei Stunden schweigend in meinem Kurs gesessen hat und mich nur beobachtet hat wie die Schlange das Kaninchen?“ Wie Peitschenhiebe knallten ihre Worte über den Tisch.
Nach kurzer Überlegung fuhr sie fort: „Meine Augen wären schon immer meine Geheimwaffe gewesen. Angeblich vertraut er nur mir. Er sei unschuldig. Seine Kollegin könnte es beweisen. Ich soll sie zu seinem Anwalt bringen. Die Abschlussverhandlung ist in zehn Tagen.“
Anna zog ihren Laptop zu sich und tippte etwas ein. Dann hielt sie ihr das Geschriebene unter die Nase.
„Wie heißt die Kollegin?“, las Alex. „Keine Ahnung! Ist mir egal.“
Anna kaute an ihren Fingernägeln.
Der Geschirrspüler rumpelte. Erneut plätscherte Whisky ins Glas. Bud stürzte ihn hinter und atmete geräuschvoll aus. Er musterte die Schwestern und ließ seine Augen auf Alex ruhen.
„Was?“, fauchte sie ihn an und schaute weg.
Bud zog die Nase hoch, räusperte sich. „Vielleicht ist es dir ja wirklich egal, was aus Steve wird. Aber ich glaube nicht, dass er dir den Namen der Kollegin nicht genannt hat.“
Alex goss sich Tomatensaft ein. Sie schwieg.
„Du hast dir bestimmt eine Eselsbrücke gebaut?“
„Diesmal nicht!“ Ihr Glas zerbrach auf dem Boden. Betreten sah sie auf die Sauerei zu ihren Füßen und fügte etwas milder hinzu: „Außerdem habe ich sowieso keine Zeit. Du weißt, dass Joker und ich ab morgen Mittag Urlaub haben.“
„Ihr habt aber sicher noch nichts geplant, wie immer. Oder?“
Sie schüttelte den Kopf. Nein, hatten sie nicht. Es würde sein wie jedes Jahr.
Bud unterbrach ihren Gedanken: „Bist du so nachtragend, dass du Steves Verurteilung in Kauf nimmst, obwohl du ihn vielleicht retten könntest?“
Langsam sammelte Alex die Scherben auf, ehe sie sich aufrichtete. Gute Frage, dachte sie. Und schwieg. Dabei zog sie ihre Stirn in Falten. Nach kurzem Schulterzucken antwortete sie:
„Vielleicht.“
***
Während Alex sich ihrem Haus näherte, grübelte sie schon wieder über Buds Frage nach. Ein Lichtschimmer drang durch die Küchengardine nach draußen und irritierte sie. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Joker war schon zu Hause. Und sie suchte noch die passende Strategie, ihm die Neuigkeiten mitzuteilen. „Merde!“, fluchte sie und parkte das Auto.
Im Flur ließ sie sich Zeit, Jacke und Schuhe auszuziehen, den Rucksack abzustellen, ihr Handy wegzulegen. Vielleicht wartete sie darauf, dass Joker ihr entgegenkam? Die Geräusche aus dem Wohnzimmer sprachen eine deutliche Sprache: Fußball. Berichterstattung. EM.
Als sie eintrat, lümmelte Joker auf der Couch und verfolgte das Spiel.
Kein Gruß. Kein Blick. Kein Wort.
„Ich dachte, das nächste Spiel ist erst wieder Morgen.“ Alex krachte sich neben ihn.
„Wiederholung.“
Sie sah ihn von der Seite an. Die Bartstoppeln ließen ihn ein paar Jahre älter aussehen. Doch sie liebte seinen Dreitagebart, ebenso seine Nase, die schön aussah – im Gegensatz zu ihrer. Seine war wohlproportioniert, ohne Buckel oder Schanze, nicht zu groß, nicht zu klein. Einfach perfekt. Vielleicht hatte sie sich ja eigentlich in seine Nase verliebt, die ein Ebenbild seines Charakters war: irgendwie edel und in jedem Fall geradlinig.
Ohne sie anzusehen, legte Joker seinen Arm um Alex und zog sie zu sich heran. Sie ließ es geschehen, zog ihre Beine auf die Couch. Ihre deutlich längere Nase passte perfekt in die kleine Kuhle knapp unterhalb seines Ohres. Kleine Löckchen, die den Wildwuchs seiner Körperbehaarung erahnen ließen, kitzelten sie im Gesicht. Sie schmiegte sich enger an ihn, genoss seinen Duft nach Zimt.
„Ich muss dir was sagen“, murmelte Joker in ihr Haar.
Alex brummte eine Verneinung. Sie wollte nichts hören. Nichts, was diesen Moment entzauberte. Schlafen wollte sie, in seinen Armen einschlafen. Mehr nicht. „Morgen“, nuschelte sie.
„Nein. Morgen ist es zu spät.“
„Hm?“ Ihre Augen waren noch geschlossen, aber ihr Geist erwachte wieder.
„Wir müssen unseren Urlaub verschieben. Ich muss zum Abstecher nach Wiesbaden.“
Alex wand sich aus seinen Armen. „WAS?!“
„Der nächste Krankenschein kam heute. Sorry. Ich muss einspringen. Es ist kein anderer verfügbar.“
„Warum immer du?“ Alex rückte von Joker ab. „Du hast es versprochen! Keine Verschiebungen dieses Jahr und nicht immer nur auf dem Grundstück hocken – das war die Vereinbarung!“
„Für die Krankenscheine kann ich nichts!“, blaffte Joker und nahm ein Schluck Bier. „Außerdem: Was glaubst du, wie das Grundstück aussehen würde, wenn ich mich nicht im Sommer darum kümmere?“
Alex sprang auf. „Du hast versprochen, dass wir diesmal eine kleine Reise machen!“
„Hast du denn was geplant?“ Er trank noch einen Schluck.
Sie schüttelte den Kopf, spürte, wie Tränen ihr in die Augen schossen. Das ist so ungerecht, dachte sie. Er ist so ungerecht! Erst will er nicht ständig gefragt werden, wohin die Reise geht und dann schiebt er es ihr in die Schuhe.
„Dachte ich mir. Immer bleibt alles an mir hängen!“ Mit großen Schritten umrundete er sie, um in der Speisekammer die leere gegen eine volle Flasche Bier zu tauschen.
Alex schniefte. So ein verdammter Scheißtag, dachte sie und wünschte sich ans andere Ende der Welt. Dann keimte eine Idee in ihrem Kopf. Sie ningelte: „Komme ich eben mit nach Wiesbaden.“ Ein schiefes Lächeln signalisierte Versöhnung.
„Wenn du morgen früh um fünf mit aufstehst…?“
„Morgen?“ Wieder füllten sich ihre Augen. „Ich habe Patienten bis Mittag!“
Joker breitete seine Arme halb aus und ließ sie wieder sinken. „Dann lass uns in einer Woche starten, wenn ich zurück bin. Ich verspreche dir, für uns einen Trip zu organisieren!“ Er kam ihr entgegen.
„Eine Woche später?!“ Sie schüttelte den Kopf. „Das bedeutet eine Woche weniger Urlaub für mich. Für uns gemeinsam.“
„Dafür kann ich nichts“, sagte Joker achselzuckend.
„Das sehe ich anders!“ Alex putzte sich energisch die Nase. „Alle anderen sind dir wichtig. Doch ich bin dir scheißegal. Jedes Jahr das gleiche Theater. Ich habe es so satt!“ Sie stürmte an ihm vorbei.
An jedem Tag ihrer Liebe hatten sie sich an die gemeinsame Abmachung gehalten, nie streitend ins Bett zu gehen oder sich ohne Versöhnung zu trennen. „Und wenn es nur für Stunden ist.“ Beide wussten sie, wie es ist, einen Menschen zu verlieren, ohne mit ihm im Reinen gewesen zu sein. Das sollte ihnen nicht wieder passieren. Und auf keinen Fall miteinander. Sie hatten es sich versprochen!
Schluchzend lag Alex im Bett. Sie lauschte auf Jokers Schritte. Er kam nicht zu ihr hoch. Und sie ging nicht hinunter. Was hätte sie auch sagen sollen? Vielleicht: Es macht mir nichts aus, weniger Zeit mit dir zu verbringen …und übrigens … Steve ist wieder da … ?
Ohne eine Antwort zu finden, schlief sie ein.
***
6
Steve lag auf seinem Bett und starrte durch die Gitter hinaus in die Nacht. Ab und zu blitzten Lichter auf. Vielleicht ein Flugzeug auf dem Weg in den Norden.
Da hätte ich bleiben sollen, dachte er, oder nie weggehen dürfen. Steve seufzte. Sein Leben bestand aus zu vielen falschen Entscheidungen. Wenigstens heute hätte er klüger sein sollen. Er war im Vorteil gewesen, aber hatte sich nicht gut genug vorbereitet. Also hatte er es vermasselt. Gründlich. Statt einfach sein Ziel im Auge zu behalten, hatte er es wieder mit seiner alten Masche probiert. Idiot, verdammter. Blöder, arroganter Idiot!
Steve atmete kurz und flach. Seine Finger trommelten in seinem Nacken.
Als er Alex heute gesehen hatte, war er von ihrer Lebenslust genauso angesteckt gewesen, wie vor über dreißig Jahren. Diese Frau glich einem Flummiball. Immer in Bewegung. Sobald auch nur der Funke einer Idee um die Ecke leuchtete, war sie angezündet und ließ ihren Energien freie Bahn. Immer auf der Suche, niemals zufrieden. Jede Antwort brachte mindestens drei neue Fragen hervor.
Die Welt ist ein Kaleidoskop. Bunt. Bezaubernd. Bewegt. Sie verdient es, dass wir ihre Einzelteile neu verbinden. Nur so können wir das Ganze sehen, neue Wege gehen.
Solche Formulierungen hatte sie immer benutzt, wenn Steve sich darüber amüsierte, wie schnell sie zu begeistern war.
Er hatte damals wirklich vorgehabt, sein Leben mit ihr zu verbringen. Aber dann …
Nachdem er sie heute wiedergesehen hatte, bereute er es doppelt und dreifach, damals abgehauen zu sein.
Doch Rudi hatte ihm Angst eingejagt. Er hatte keine Wahl gehabt.
TAG 2
7
Mit der Morgendämmerung brachen hunderte Stimmen in das Schlafzimmer ein. Jeder frühe Vogel freute sich auf seine Weise auf den Frühstückswurm. Die Fragen der Nacht lugten schon wieder um die Ecke. Doch Alex wollte lieber dem Morgenkonzert lauschen, dösen, weiter träumen, von Joker und seinen weichen Haaren auf der Brust, die sich sanft im Wind bewegten, wie ein flauschiges Nest aus Vogelfedern.
Sie tastete mit der Hand auf die andere Seite der Matratze. Leer. Alex schlug die Augen auf. Leer! Ihr Herz fing an, zu rasen. Sie erinnerte sich an den Streit. Und auch daran, wie sie heulend im Bett gelegen hatte. Joker hatte sich am Morgen nicht verabschiedet. Wenn es gestern Abend die letzten Worte waren, die sie in ihrem Leben gewechselt hatten? Sie wollte diesen Gedanken nicht denken, doch er ergriff Besitz von ihr. Alex atmete schneller, flacher – bis ihr übel wurde. Schluss jetzt, befahl sie sich stumm. Wütend verscheuchte sie ihre Panik, atmete so ruhig wie möglich. Einige Augenblicke später dachte sie wieder klarer. Wieso war sie so ausgerastet? Sie hätte Joker zig Ideen anbieten können, um den gemeinsamen Urlaub zu retten. Dann wäre das Thema beendet gewesen.
Und alles nur wegen Steve, dachte Alex.
Steve. Das unverhoffte Wiedersehen mit ihm tauchte wieder in ihr auf. Eine kalte Hand krallte sich von innen an ihren Brustkorb, hielt sie fest. Alex versuchte, sie abzuschütteln, indem sie mit beiden Fäusten auf ihre Brust klopfte, wie ein Gorilla. Es funktionierte. Bis der Gedanke an den nächtlichen Streit mit Joker sie erneut einholte. Wütend beschloss sie, keine Zeit ins Sich-Ärgern-und-Ängstigen zu investieren. Sie sprang aus dem Bett und verschwand kurz darauf im Bad.
Auf dem Weg zur Arbeit wählte sie Jokers Nummer. Funkloch. Sie würde es nach dem ersten Patienten noch einmal probieren.
Während Alex die Treppe zu ihrer Praxis hoch eilte, sortierte sie gedanklich den Tag. Ein Mini-Frühstück: zehn Minuten. Drei Patienten standen auf dem Plan. Zuerst ein Auszubildender als Neuzugang. Danach die Kindergärtnerin mit einer ausgeprägten Angstsymptomatik. Und zu guter Letzt ein Gärtnereichef mit chronischen Schmerzzuständen. Mittags würde sie in den Urlaubsmodus schalten: Sushi-Essen in der Stadt, den neuen John-Irving-Roman lesen, vielleicht noch etwas im Wald umherspazieren, nachdenken.
Ihre Planung wurde von einer Gestalt, die ihr ins Auge fiel, unterbrochen. Auf der letzten Treppenstufe saß ein junger Mann. Sein Handy hielt er in Augenhöhe. Der Besucher wippte mit dem rechten Fuß.
Ein Blick auf die Uhr sagte Alex, dass der Neue ihr die Zeit für ein Frühstück raubte. Doch sie bekam es nicht fertig, den jungen Mann draußen sitzen zu lassen. Mit etwas Glück hatte sie sich geirrt, und der Mann wartete auf jemand anderen. Alex holte tief Luft und grüßte freundlich.
Der junge Mann schreckte zusammen, schraubte sich hoch und sagte: „Ich wusste nicht mehr, ob ich halb oder um acht den Termin habe?“ Die Frage spiegelte sich in seinen großen braunen Augen wider.
Alex bat ihn mit einer einladenden Geste herein. „Nehmen Sie Platz. Ich bin gleich bei Ihnen“, sagte sie und wies auf die dunkelgelben Ledersessel im lichtdurchfluteten Raum. Der neue Patient steuerte mit schnellen, schweren Schritten auf die Sitzgruppe zu. Sehr zielstrebig und kräftig, registrierte Alex.
Sie fischte sich wenigstens noch ein paar Nüsse, trank einen Rote-Beete-Smoothie und holte anschließend eine neue Akte aus dem Schrank. Während Alex auf den Patienten zuging, speicherte sie die Art und Weise seiner Bewegungen ab. Es geschah ganz automatisch. Sie strengte sich dafür nicht an, musste sich dennoch konzentrieren.
Sein Blick haftete an ihr. Mit den Fingerspitzen trommelte er auf seinen Oberschenkeln herum. Den Oberkörper hielt er aufrecht, wirkte jedoch sehr steif, wie eine Feder gespannt.
„Sind Sie in Eile?“, fragte Alex.
Schnelles Kopfschütteln. Räuspern. „Hab‘n Schein. Ganzen Tag Zeit.“
Alex übersetzte still die Bewegungsabläufe, die sie gesehen hatte: Hohes Tempo, starker Muskeltonus, will sich jedoch zeigen. Er steht unter Druck, will es schnell hinter sich bringen, ist zielorientiert und motiviert, willensstark und steht vor einer Veränderung, wobei er das Alte nicht loslassen kann. Seine Energie hält er im Körper fest. Vermutlich gibt er immer alles. Kein ausgewogener Energiehaushalt. Ganz oder gar nicht wird die Devise sein. Rücken- und Atemprobleme, auch unklare Schwindelanfälle wären denkbar. Er verliert vielleicht den Boden unter den Füßen?
Laut fragte Alex: „Was ist für Sie anstrengender: Die Rückenschmerzen oder die Schwindelanfälle?“
Der junge Mann starrte sie mit offenem Mund an. „Schwindelanfälle.“
Alex lehnte sich in demonstrativ entspannter Körperhaltung zurück. Sie war sich sicher, dies würde auf ihren Patienten abfärben. „Erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Ich habe so viel Zeit, wie Sie brauchen.“
Der junge Mann erzählte erst holpernd, dann zunehmend flüssiger von seiner Ausbildung als Maler, seiner zerstörten Liebe und mit welcher Aufopferung er versuchte, beides auf die Reihe zu bekommen. „Je mehr ich mich anstrenge, desto schlimmer wird es.“ Er weinte. „Erst der Schwindel und jetzt noch der Rücken. Ich habe schon so viele Fehltage.“ Er schluchzte. „Mein Abschluss steht auf dem Spiel!“ Er schnäuzte sich. „Und dann bleibe ich der Loser in der Familie.“
„Sie sind zielstrebig, motiviert und willensstark. Da wird es leicht, die passende Strategie für Ihr Dilemma zu finden.“ Alex lächelte, da sie ahnte, was als Nächstes kam. Und sie behielt Recht.
„Woher wollen Sie das wissen? Sie kennen mich doch noch gar nicht.“
Alex erklärte ihm in wenigen Sätzen, wie sie Bewegungssignale interpretierte: „Jeder Mensch hat sein eigenes, unverwechselbares Bewegungsmuster, in dem seine Erfahrungen, seine Stärken und Problemlagen ebenso gespeichert sind, wie sein Lernverhalten und seine Bedürfnisse. Dabei kommt es weniger darauf an, was der Mensch macht, sondern mehr darauf, wie er es in welchem Zusammenhang tut.“
„Ahem… “
„Es gibt sechzig verschiedene Faktoren – wie Muskeltonus, Bewegungsrichtung, Geschwindigkeit etc. – in neunundzwanzig Ausprägungen, die sehr individuell zusammenwirken. Die genaue Beobachtung aller Aspekte – einzeln und in ihrer Kombination – ermöglicht eine aussagekräftige Analyse der Persönlichkeit. Das geht natürlich nicht nebenbei. Zur Vollständigkeit braucht es Videoanalysen. Ich biete Ihnen nur meine ersten Beobachtungen im unmittelbaren Zusammenhang der Therapiestunde an. Und bei Ihnen habe ich eben Zielstrebigkeit, Motivation und Willensstärke gesehen. Aber auch zu viel Anspannung, gebundene Energie. Das wäre mein Ansatzpunkt in der Arbeit mit Ihnen.“
Der junge Mann sah sie nach diesem Vortrag fragend an.
„Sehen Sie?“, hakte Alex ein, „Sie halten scheinbar Blickkontakt, aber schauen eher durch mich durch, als mich an. Dazu tippen sie schnell mit dem Finger an ihr Bein. Außerdem ändern sie ihre Körperhaltung sehr plötzlich – egal, ob Sie sich vorbeugen oder zurücklehnen. Das sagt mir, dass Sie bereit sind, über diese neuen Ideen nachzudenken. Sie suchen nach schnellen Antworten und geben wahrscheinlich dem Bauchgefühl den Vorrang. Sie versuchen, die Informationen, die ich Ihnen gegeben habe, zu unterteilen, um sie zu verstehen. Häppchenweise sozusagen. Wenn Sie lernen, bleiben Sie gern ohne Ablenkung an etwas dran. Jetzt würden Sie sich am liebsten einen Augenblick zurückziehen, um alles zu verarbeiten, denn weiteres Reden wird Ihnen zu viel.“ Das war der richtige Zeitpunkt für Alex, ihrem Patienten Mineralwasser zu holen. Sobald sie wieder auf ihrem Sessel saß, ergänzte sie mit einem werbenden Lächeln: „Ich habe nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie es Ihnen ging, als sie mir zuhörten. Damit weiß ich nicht, ob Sie in Alltagssituationen generell so ticken. Ihr seelischer Fingerabdruck bleibt Ihr Geheimnis.“
Sein leichtes Nicken und tiefes Ausatmen zeigten an, dass sein Angstpegel gesunken war.
An diesem Punkt der Therapie haderte Alex regelmäßig mit ihrem Gewissen, denn sie konnte sehr wohl sehen, wie der Mensch tickte, mit dem sie es zu tun hatte. Sie sah, ob der Andere sich lieber nur auf einen Punkt des Themas konzentrierte oder zunächst einen Überblick über die Vielfalt bevorzugte, ob jemand diplomatisch vorging oder autoritär, seine Entscheidungen schnell traf oder mehr Zeit zum Nachdenken brauchte. Ohne mit dem Menschen ein Wort zu wechseln, entdeckte sie dessen Vorlieben, Eigenschaften, Gewohnheiten im Denken, Fühlen, Verhalten. Sie kannte seine Stärken und Schwächen, seine Strategien und Taktiken.
Der junge Mann, der vor ihr saß, entschied sich gern schnell und brauchte ein konkretes Thema, auf das er sich konzentrieren konnte.
„Wenn Sie einverstanden sind, zeige ich Ihnen eine kleine Atemübung als erste Hilfe zur Entspannung. Und in einer Woche reden wir weiter.“
Nachdem der junge Mann gegangen war, checkte Alex ihr Handy. Beide nachfolgenden Patienten hatten abgesagt. Der Schmerzpatient hatte einen Fieberschub, die Kindergärtnerin vermutlich einen Magen-Darm-Virus.
Kein Anruf von Joker.
Alex goss die Blumen und kontrollierte die Fenster, bevor sie ging. Auf dem Heimweg fuhr sie üblicherweise an den roten Mauern des Gefängnisses vorbei. Doch diesmal war es anders, als sie zu den Stacheldrahtrollen hochschaute. Sie sah vor ihrem inneren Auge einen Menschen hinter den Gittern. Den Menschen, den sie fast geheiratet hätte: Steve. Sie seufzte. Er hatte einfach wieder einen Platz in ihrem Leben beansprucht. Sie würde ihm nie wieder vertrauen. Dennoch fragte sie sich, was ihn in den Knast gebracht hatte. Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich mit ihm beschäftigen, ihn studieren. Nur so würde sie ihre Ruhe wiederfinden. Hoffte sie.
Deshalb schwor sie halblaut in Richtung der vergitterten Fenster: „Steve Split! Ich werde den Fingerabdruck deiner Seele entschlüsseln!“
***
In ihrem Haus angekommen, war Alex bereit, sich zu erinnern. Systematisch rief sie ihre Eindrücke vom Wiedersehen ab. Auf der Couch sitzend schloss sie ihre Augen. Konzentriert auf die Situation atmete sie tief durch. Kurz darauf spulte sie den Erinnerungsfilm bis zu dem Moment, als der Bedienstete den Nachzügler Steve brachte. Sie sah ihn vor sich.
Steve blieb einen Moment an der Tür stehen, bevor er langsam, zielgerichtet zum Fenster ging. Es war eine flüssige Bewegung – gebunden, fast wie aus einem Stück gegossen. Viel Kontrolle – Ausdruck von Vorsicht und Grundlage für Zuverlässigkeit. Zuverlässigkeit? Weiter: Der Muskeltonus war anfangs gleichmäßig hoch, später vorübergehend etwas gesenkt, dann wieder hoch. Also: konzentriert, hartnäckig, intensive Gefühle, bis zum Kontrollverlust möglich, Veränderungen von Verhaltensweisen finden eher langsam statt. Letzteres passt nicht zu seinem Jähzorn, den sie früher erlebt hatte. Diese tiefblauen Augen – regungslos auf sie gerichtet. Er verfolgte ein klares Ziel und ordnete dem alles unter.
In kleinen Dosen öffnete Alex ihren Erinnerungsspeicher, sah wieder, wie er auf sie zukam. Erst selbstsicher, arrogant, dann verzweifelt, derb. Sein fester Griff an ihrem Ellbogen. Vertraut. Irritierend.
„Weshalb?“, hatte Alex ihn gefragt.
Bedächtiges Saugen an seinen Lippen – Signal von Bedürftigkeit, Kontakt, Zuwendung. Einseitiges Schulterzucken. Aufgesetztes Grinsen. „Totschlag oder Mord…die knobeln noch“, gab er zur Antwort, ehe sein Lächeln verrutschte.
Später eine Drehbewegung im linken Handgelenk. Er zauberte einen Zettel in seine Finger, den er ihr in die Hand drücken wollte.
Ausweichmanöver oder Verführungsversuch? In jedem Fall brauchte er die Anbindung zu ihr, zeigte Neugier, aber suchte nach Schlupflöchern. Sie hatten sich Jahre nicht gesehen. Wäre auch seltsam, wenn er nicht neugierig auf sie sein würde. Und er brauchte ihre Hilfe, weil er scheinbar anders nicht an die Zeugin rankommt.
Doch etwas störte Alex. Sie konzentrierte sich, wiederholte den Ablauf in Gedanken. Dann wusste sie es:
Er war nicht überrascht! Er hatte auf sie gewartet. Er wusste, sie würde da sein.
Woher?
***
Regungslos stand Alex in ihrer Küche. Sie lauschte dem Summen des Kühlschranks und dachte an eines ihrer Lieblingszitate aus der Filmwelt:
„Kennen Sie das auch, wenn einem alles zum Hals raushängt? Man hat plötzlich Angst und weiß nicht, wovor? Wenn ich das Gefühl kriege, dann hilft nur eins: In ein Taxi springen und zu Tiffany fahren. Das beruhigt mich sofort.“
Sie sprang nicht ins Taxi und fuhr auch nicht zu Tiffany. Doch ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es für ein ordentliches Frühstück bei ihren Geschwistern noch nicht zu spät war.
Seit fünfzehn Jahren wohnten und arbeiteten die beiden zusammen in ihrem Haus, in diesem „Nest“, wie Alex es stets nannte, da der Ort zwar eine Kleinstadt war, jedoch eher den Charme eines hinterwäldlerischen Dorfes versprühte, aber auch, weil sie sich dort fühlte wie im gehüteten Nistplatz eines Adlers über der offenen Landschaft.
Bud und Anna hatten eine kleine Computerfirma gegründet, die PC-Frey-GmbH. Bud entwickelte kombinierte Hard- und Softwarelösungen sowie Lernsoftware für Handwerksbetriebe. Kundengespräche, Lieferungen, Workshops und die Bearbeitung von Reklamationen fielen in seinen Aufgabenbereich. Anna wiederum gestaltete die Webauftritte, Flyer, Broschüren. Sie erledigte alle Angebote, Rechnungen, Buchführungsarbeiten und präsentierte die Firma in den medialen Netzwerken.
Ein praktisches Arrangement, und einer von beiden war stets zu Hause. Ihr Heim war wie ein sicherer Hafen, in dem Alex ankern konnte, egal, welche Wetterkapriole das Leben für sie bereithielt. Sie lächelte und düste los.
Zwanzig Minuten später saß sie mit Bud und Anna am Tisch, schlürfte ihren Latte macchiato und genoss ihr Brötchen mit Pflaumenmus.
Es war stiller als gewöhnlich im Haus. Auch das Radio schwieg. Nur ab und zu summte Anna leise: „Do you want to know a secret?“.
„Ja, will ich“, sagte Alex und grinste ihre jüngere Schwester an.
Die antwortete mit Fragefalten auf der Stirn.
„Ich will dein Geheimnis wissen.“ Alex schmunzelte.
Anna lief rot an und zog sich ihren Laptop heran.
„Wann ist Steve eigentlich verhaftet worden?“, schaltete Bud sich mit seiner Whiskystimme ein.
„Vor sechs Wochen ist der Chef gestorben, ein bis zwei Tage danach“, wiederholte Alex Steves Worte, die er in der einen Minute hervorgesprudelt hatte, nachdem Alex doch den Alarm abgestellt hatte und bevor die Bediensteten ihn aus dem Therapiezimmer abholten. „Er war der einzige Verdächtige – durch die Schlägerei mit ihm.“
„Typisch Steve!“ Bud stand auf, holte seinen besten Whisky und drei Gläser. Synchron runzelten Alex und Anna die Stirn, lehnten mit einer Handbewegung ihren Drink ab.
„Auf den Schreck?“, fragte Bud, stellte jedoch kurz darauf die Flasche weg und goss sich Wasser ins Glas. Einen Augenblick später fuhr er fort: „Steve hat gern den Retter gespielt. Ich weiß noch, wie ich einmal mit ihm von einem Gig aus der Kneipe kam. Wir liefen an einem Pärchen vorbei. Der Kerl war so ein Bulldozertyp, sie eine Elfe. Sie hatten Streit. Er schlug ihr ins Gesicht. Das Mädchen flog gegen die Hauswand, rutschte runter wie eine tote Katze. Mit zwei Sätzen war Steve da, schrie und tobte wie wahnsinnig, während er dem Typen eine Reihe von Faustschlägen ins Gesicht rammte. Zum Schluss verabschiedete er sich mit einem harten Tritt ins Geläut. Der Bulldozer sank auf die Knie und heulte wie ein Mädchen.“ Bud schaute in sein Glas. „Steve wollte man nicht zum Feind haben. Er kämpfte bis aufs Blut, wenn er von etwas überzeugt war. Es gab nur ganz oder gar nicht – keine Grauzonen.“
Anna schüttelte den Kopf und hämmerte etwas in ihren Laptop. Alex las laut vor: „Steve ist kein Schläger. Du verwechselst ihn.“
Schulterzuckend reagierte Alex: „Ich habe ihn auch mehr als einmal jähzornig erlebt.“ Als sie in die aufgerissenen Augen ihrer Schwester sah, ergänzte sie schnell: „Nein, er hat mich nie geschlagen. Doch einige Male fürchtete ich, er würde es tun.“ Sie goss sich Saft ins Whiskyglas und fuhr leise fort. „Manchmal, in all den Jahren, dachte ich, er hat mir vielleicht sogar damit einen Gefallen getan, mich vor dem Standesamt stehen zu lassen.“
Seufzend stand Anna auf, schwebte in die Küche und schaltete den Wasserkocher an. Sie holte eine kleine Porzellankanne mit blauweißem Reiskornmuster aus dem Schrank und füllte sie mit einer Handvoll getrockneter Pfefferminze.
Mit verschränkten Armen lehnte Bud an der Couch. „Weißt du noch mehr von dem angeblichen Mord?“
„Nicht viel. In der zweiten Maihälfte wurde bei uns am Schwanenteich im Morgengrauen eine Leiche gefunden. Im Moment gehen sie allgemein von einem Tötungsdelikt aus. Der Chef wurde wohl bewusstlos geschlagen und irgendwie versagte sein Herz. Ich weiß es nicht genau…habe nicht richtig zugehört. Doch falls ich mich noch richtig erinnere, fürchtet B.B.“, Alex zögerte kurz, ehe sie fortfuhr, „…also Steve befürchtet, dass gerade eine Mordanklage in Erwägung gezogen wird.“
Anna tippte auf ihrem Laptop herum. Kurz darauf winkte sie ihre Geschwister heran. Bud las laut eine Zeitungsmeldung vom 24. Mai:
„Gesucht. Die Mutter einer jungen Frau aus Thüringen bittet die Taxifahrerin, die am letzten Donnerstag, dem 19.05., in der Nacht zum Freitag, von Gera nach Greiz ins Krankenhaus gefahren ist, sich umgehend bei ihr zu melden. Der Kontakt kann über die Mitarbeiter der Anzeigestelle angefragt werden.“
Mit den Augen rollend scrollte Anna die nächste Meldung in den Mittelpunkt.
„Schreckensfund. Spaziergängerin findet Leiche am Schwanenteich. Am Freitag, dem 20.05., wurde in den frühen Morgenstunden ein Toter am Zwickauer Schwanenteich gefunden. Der Dackel einer Spaziergängerin stöberte die Leiche auf. Der Zeitpunkt des Todes und die Identität des Dreiundfünfzigjährigen sind geklärt, die Todesursache noch nicht. Ein Tötungsdelikt konnte bisher nicht ausgeschlossen werden. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen.“
Schweigen.
Anna sprang auf, lief in die Küche, goss den Tee auf, kam zurück. Sie räusperte sich, öffnete ihren Mund. Und schloss ihn wieder. Ihre Finger flogen über die Tastatur.