Mörderisches Fürth - Werner Rosenzweig - E-Book

Mörderisches Fürth E-Book

Werner Rosenzweig

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  • Herausgeber: Volk Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

„Mit wem fangen wir an?“ Auf dem Seziertisch von Rechtsmediziner Franziskus Stich liegen gleich zwei Leichen: ein Paar, übel zugerichtet, Identifikation schier unmöglich. Hauptkommissar Harald Bach und sein Kollege Julian Schwarz sind beunruhigt. Wann kam es schon mal vor, dass in ihrem Fürth, der sichersten Großstadt Bayerns, jemand ermordet wurde, und dann noch auf solch bestialische Art? Die Sonderkommission „Stadtpark“ soll Licht ins Dunkel bringen. Doch kaum sind die Ermittlungen angelaufen, gibt es den nächsten Toten … Wie ist das „Wunschlos Glücklich“, ein undurchsichtiges Etablissement zwischen Swingerclub und Bordell, in die Morde verwickelt? Welche Kräfte stecken hinter dem Millionengeschäft mit der käuflichen Liebe? Und wie weit sind sie bereit zu gehen, um ihre Macht zu sichern? Der fünfte Franken-Krimi von Werner Rosenzweig vereint eine gewohnt packende Kriminalerzählung mit knallharter Action und einem Blick auf die düstere Seite des sonst so beschaulichen Fürths.

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Seitenzahl: 325

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Werner Rosenzweig

MÖRDERISCHESFÜRTH

EIN FRANKEN-KRIMI

Volk Verlag München

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar.

© 2022 by Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23; 81673 München

Tel. 089 / 420 79 69 80; Fax: 089 / 420 79 69 86

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

ISBN 978-3-86222-429-6 (Print)

ISBN 978-3-86222-500-2 (E-Book)

www.volkverlag.de

Inhalt

Prolog

Doppelmord

Anton – einen Tag später

Gerichtsmedizin, Erlangen

Kriminalpolizei, Fürth

Norbert Kolb

Soko „Stadtpark“

Eine Woche später

Die ersten Ermittlungen

Die russische Bande

Italienische Konkurrenz

Das alte Haus in der Badstraße

Der Hauseigentümer

Die Badstraße

Der Obdachlose

Im Wunschlos Glücklich

Die Rache der italienischen Mafia

Drei Neue

Stichs Urteil

Das Zeichen der Mafia

Lagebesprechung

Der nächste Spaziergang

Dostojewskis Reaktion

Die Societa Segreta

Krumm ermittelt weiter

Norbert sucht einen Job

Ein neuer Interessent

Die Bombe

Einen Tag darauf

Krumms Verdacht

Sorgloses Finanzamt

Die Russen

Nachbesprechung der Sacra Corona Unità

Bespitzelung

Anton und Hans

Tag der offenen Tür

Danylkos Ende

Ermittlungsarbeit

Danylkos Leiche wird entdeckt

Dostojewski tobt

Im Kommissariat

Der Capo, der Vangelo und der Sestino

Neue Erkenntnisse

Der dritte Spaziergang

Bella Bari

Der Aufmarsch

Erste Dinge

Sechs seltsame Gäste

Ein Gespräch unter Freunden

Angriff auf das Bella Bari

Vereinte Polizeikräfte und medizinische Untersuchung

Verwirrung in Squinzano

Russische Vorsicht

Angespannte Lage

Neue polizeiliche Erkenntnisse

In Vach

Neues Treffen mit Stanko

Waffenübergabe

Opa Ricos List

Die Rache geht weiter

Drittes Treffen der Polizei

Vach zum Zweiten

Planungen

Showdown

Das Loblied

Spaziergang mit Norbert und Hilde, Dieter und Eva

Epilog

Prolog

Sie kamen sehr früh an diesem 4. Mai. Dunkelheit lag über der Stadt. Es war kurz vor fünf Uhr. Noch hatte die Sonne ihre glühende Scheibe nicht hinter dem östlichen Horizont hervorgeschoben. Es war beunruhigend still. Nur hie und da sah man ein Auto fahren.

Es waren fünf Männer, die zu dieser frühen Morgenstunde unterwegs waren, und sie gingen getrennte Wege. Drei von ihnen drängten sich in den gelb-orange-farbigen Piaggio Ape, den sie in Erlangen geklaut hatten, und fuhren zu dem alten Haus in der Badstraße. Sie sahen aus wie Bauarbeiter. Ihre Körper steckten in neongelben Schutzanzügen. In der Badstraße angekommen, sprangen sie aus ihrem Kleintransporter, einer von ihnen sperrte mit einem Dietrich das primitive Schloss des alten Hauses auf, dann verschwanden sie darin. Niemand hatte ihr Kommen bemerkt.

Die anderen zwei hatten sich als Polizeibeamte verkleidet und zuckelten mit ihrem weißen Skoda Fabia zum Parkplatz an der Wolkersdorfer Straße. Mitten auf dem Platz stand ein Wohnmobil der Marke Knaus Tabbert, Typ „Live Wave“ mit italienischem Kennzeichen. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Die beiden Männer parkten ihren Skoda in der Nähe und stiegen aus. Der größere der beiden schob die Ärmel seiner Jacke etwas zurück und sah auf seine Armbanduhr. Es war fünf Minuten vor fünf. Sie liefen auf das Wohnmobil zu und verharrten davor. Einer hielt sein rechtes Ohr an das Türblatt. Stille. Er hörte ein leichtes Schnarchen. Dann klopfte er an die Tür und rief: „Aufmachen, hier spricht die Polizei!“

Die beiden warteten einen Moment. Keine Reaktion. Erneut, dieses Mal lauter, schlug er gegen die Tür. „Hier ist die Polizei. Sie parken falsch. Fahren Sie Ihren Wagen weg!“

Dieses Mal rührte sich etwas im Inneren des Wohnmobils. Die Frau war aufgewacht und rüttelte ihren Mann. „Polizia“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Der Mann bewegte sich und öffnete schlaftrunken seine Augen. Dann hörte er selbst das Gepolter von draußen. „Polizei, aufmachen!“, ertönte es zum dritten Mal. Der Mann rieb sich die Augen, dann stand er auf. „Un momento“, rief er verschlafen, „sto arrivando.“

Er torkelte zur Tür und schloss auf. Kaum, dass er den Schlüssel im Schloss gedreht hatte, wurde die Tür mit Gewalt von außen aufgerissen. Draußen standen zwei Polizisten mit gezückten Pistolen.

*

Im einzigen Swingerclub der Stadt, im Wunschlos Glücklich, schliefen die dort arbeitenden Prostituierten gerade mal seit zwei Stunden. Es war ein komischer Betrieb. Einerseits war es ein Swingerclub, Männer, Frauen und Pärchen konnten ihren zweifelhaften Vergnügungen nachgehen. Andererseits war das Etablissement aber auch ein Puff. Einsame Männer, die keine Lust auf den Dark Room und die Lustwiese hatten, geschweige denn auf die der Bar angegliederte Tanzfläche, sondern gleich ihre Bedürfnisse befriedigen wollten, hatten Gelegenheit mit den angestellten Prostituierten zu vögeln. Gegen Entgelt versteht sich – das am Finanzamt vorbeigeschleust wurde.

Doppelmord

Es war ein sehr altes, verlassenes Haus, in das das italienische Ehepaar verschleppt wurde.

Als der Mann die Tür des Wohnmobils geöffnet hatte und diese von außen aufgerissen worden war, stürmten zwei finster aussehende Männer in Polizeiuniform herein. Es ging alles sehr schnell, lief ab wie in einem Alptraum. Die beiden Männer machten dem italienischen Paar klar, dass sie sich anziehen und mitkommen müssten. Da die Italiener kein Deutsch verstanden, lief die Konversation in holprigem Englisch ab. „You follow us“, meinte einer der Männer und die vorgehaltenen Pistolen ließen keinen Zweifel daran, dass es keine Alternative gab.

Dem Paar wurden Handfesseln angelegt. Dann wurden sie zu einem weißen Skoda geführt und hineingestoßen. Man fuhr sie durch die Nacht, bis im Osten der neue Tag sein baldiges Kommen ankündigte. Dann hielt der Skoda.

Ein gelb-oranger Kleinwagen parkte unmittelbar vor dem alten Haus. Die vermeintlichen Polizisten unterhielten sich in einer Sprache, die dem italienischen Paar nicht geläufig war, es klang nach Osteuropa. Dann wurden sie aus dem Skoda gezerrt und in das alte Gemäuer gezerrt.

Das war vor einer halben Stunde gewesen. Nun saßen die beiden da, mit den Oberkörpern an die kaputte Wand eines kahlen Raumes gelehnt. Überall blätterte die Farbe ab. An den hohen Decken zeigten sich Stockflecken. Das musste mal ein Wohnzimmer gewesen sein. Der Fußboden war aus Holz und etliche Dielen standen nach oben.

Sie waren an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt und warteten darauf, was mit ihnen geschehen sollte. Draußen ging langsam die Sonne auf und warf bizarre Lichter durch die mit Brettern vernagelten Fenster.

Die Stunden flossen dahin, ohne dass jemand etwas von ihnen wollte. Ihre Entführer hatten es sich in einem anderen Raum des alten Hauses bequem gemacht. Sie hörten sie reden. Es mussten mehr als zwei sein. Mit der Zeit konnten sie fünf verschiedene Stimmen ausmachen. Dann telefonierte einer der Männer in der fremden Sprache. Anschließend diskutierten sie wieder.

Endlich kam Bewegung in die Sache. Drei der fünf kamen zu ihnen. Alle steckten in gelben Schutzanzügen, wie städtische Bauarbeiter sie trugen. Die Füße hatten sie in gleichfarbigen Gummistiefeln verborgen. Einer der drei – er hatte schon im Wohnmobil das Wort geführt – sprach sie auf Englisch an. „You interest in the Flößaustraße building“, radebrechte er. „What you want?“

Daher wehte also der Wind.

Der gefesselte Italiener stellte sich blöde. Er zuckte nur mit den Schultern.

Die drei warteten auf eine Antwort. Als sie keine bekamen, zogen sie sich wortlos zurück. Sie telefonierten erneut. Wieder vergingen ein paar Stunden. Es musste auf die Mittagszeit zugehen. „You Pizza?“ Einer der fünf tauchte plötzlich vor ihnen auf.

„Yes, Pizza Milanese“, wünschte sich der Italiener.

„Pizza Calabrese“, fügte seine Frau hinzu.

Sie bekamen, was sie bestellt hatten. Dann setzte wieder das Warten ein.

„I have to go to the toilet“, rief die Frau nach einer weiteren Stunde.

Einer der Entführer erschien. Er schnitt ihr mit einem Messer die Hand- und Fußfesseln auf, packte sie an den Armen und riss sie hoch. Dann führte er sie zur Toilette. Es stank. Es gab kein fließendes Wasser. Der Frau graute.

Er wies ihr einen Eimer als Ersatz zu, der in der Ecke stand. „You go outside“, herrschte sie ihn an.

Der Mann lächelte maliziös und schüttelte nur den Kopf. Voller Scham zog sie ihren Rock hoch, die Strumpfhose und den Slip herunter und pinkelte in den Eimer.

Wieder stundenlanges Warten. Am späteren Nachmittag holten sie die Frau in die verfallene Küche, den Aufenthaltsraum der fünf. „You tell. What you want with Flößaustraße? What you want here?“, wurde sie gefragt.

„Make holiday“, antwortete sie.

„Nonsense“, rief einer verärgert. „What is your interest in the house in the Flößaustraße?“

Die Frau schwieg. Wie ihr Ehemann zuckte sie nur mit den Schultern.

Voller Wut schnitt einer der fünf ihre Fuß- und Handfesseln auf und schlug ihr ins Gesicht. Ihre Unterlippe platzte auf und Blut quoll hervor. Sie stürzte zu Boden. Halb benommen rappelte sie sich wieder auf.

Sie kam nicht weit. Einer der Männer stürzte sich auf sie und zerriss ihre Bluse. Ihr weißer BH kam zum Vorschein. Die anderen vier johlten. Gemeinsam warfen sie sich auf die Wehrlose und rissen ihr den Rock, die Strumpfhose und den Slip herunter. Sie warfen sie auf den Boden, spreizten ihre Beine und hielten sie fest. Einer der Männer zog seine Arbeitskleidung aus. Dann verging er sich an der Frau. Einer nach dem anderen vergewaltigte sie.

Danach, als sie mühsam aufstehen wollte, traf sie von hinten ein harter Schlag in den Rücken. Vor Schmerz schrie sie auf. Die folgenden Schläge mit dem Baseballschläger trafen ihren Kopf. Blut strömte auf ihre Bluse und vermischte sich mit dem Blumenmuster. Wieder und wieder schlugen sie zu. Es knackte. Die Frau blieb auf dem schmutzigen Küchenboden liegen. Ihr Kopf war eine einzige breiige Masse.

Der Italiener zerrte an seinen Fesseln, seit er die ersten Schreie seiner Frau gehört hatte. Als die fünf Männer das ehemalige Wohnzimmer betraten, hatte einer den blutigen Baseballschläger noch in der Hand. Sie machten ihren Gefangenen los, schleiften ihn in die Mitte des Raumes. Dann droschen sie auf ihn ein, bis auch er sich nicht mehr rührte.

Sie packten die beiden Leichen in große Plastiksäcke, schütteten den Eimer mit den Exkrementen der Frau in die Toilette und beseitigten, so gut es ging, alle weiteren Spuren. Ziemlich genau um halb sechs verließen sie das alte Haus und warfen die Säcke auf die Ladefläche eines Piaggio Ape, bevor zwei der Männer damit davonfuhren. Die drei anderen stiegen in den Skoda und fuhren hinterher.

An der Otto-Seelig-Promenade parkten sie den Skoda. Mit dem Kleintransporter machten sie sich auf den Weg hinunter zum Stadtpark. Sie hatten noch einiges zu erledigen, bevor sie sich auf den Weg zum Frankfurter Flughafen machen wollten.

Anton – einen Tag später

Die untergehende Sonne hing schwer am Fürther Westhimmel und leuchtete mit letzter Kraft in den offenen Wiesengrund der Pegnitz. Es war Sonntag, Ende der ersten Maiwoche. 20:30 zeigte die Uhr, als Anton Brückner, wie allabendlich, seine Wohnung in der Kutzerstraße verlassen wollte, um mit seinem Hund die gewohnte Runde zu drehen. Die dicken Regenwolken, die noch nachmittags einen schweren Platzregen ausgelöst hatten, waren nach Osten weitergezogen. Der Himmel erstrahlte wieder in schönstem, makellosem Blau und die Nässe war längst von der Sonne aufgesogen worden. Trotzdem waren erstaunlich wenige Spaziergänger unterwegs.

Anton war Rentner, 67 Jahre alt und ehemaliger Grundschullehrer. Seine Frau hatte er vor drei Jahren verloren. Leukämie. Seitdem war er sichtlich gealtert. Die Haare waren schlohweiß und am Hinterkopf hatte sich eine kahle Stelle gebildet, die immer größer wurde. In seinem ovalen Gesicht zeichneten sich tiefe Falten ab.

Der Verlust Martinas hatte ein tiefes Loch in Bruckners Leben gerissen. Er musste nicht nur lernen zu kochen, zu putzen, zu waschen, schlechthin den Haushalt neu zu organisieren. Nun gut, für eine Person nicht die Welt, könnte man denken, aber wenn man vorher gar nichts getan hatte, war es doch einiges. Die abendlichen Schafkopfrunden an jedem Dienstag mit Norbert, Dieter und Hans fielen immer häufiger aus. Die anderen drei kamen auch ins Alter und hatten ihre Zipperlein. Mal war es ein Bandscheibenvorfall, mal eine schwere Erkältung mit Fieber, aber die hatten alle noch ihre Frauen, mit Ausnahme von Hans Gerland, der ein eingefleischter Junggeselle geblieben war. Von ihm holte sich Anton die notwendigen Ratschläge, wenn es um das Kochen, Putzen, Waschen und Bügeln ging. Ob das mit Hans‘ Gesundheit noch lange gutgehen würde, darüber war sich Anton nicht im Klaren. Der Freund hatte in den letzten Monaten sowohl körperlich als auch mental enorm abgebaut. Aber noch trafen sie sich regelmäßig alle drei Wochen zu ihren Exkursionen durch die Stadt, während derer sie ihren Erinnerungen nachhingen. Nur Dieter stand dafür leider nicht zur Verfügung. Er war gleich für mehrere Monate nach Mallorca entschwunden. Er und seine Frau Eva hatten sich dort ein Haus gekauft.

Anton hatte Zeit, viel Zeit sogar, aber abends, wenn nur noch der Abwasch anstand und seine Lieblingshemden getrocknet auf der Leine hingen und aufs Bügeln warteten, da hatte Anton keine Lust mehr auszugehen. Tagsüber war er ja noch einigermaßen ausgelastet. Vor zwei Jahren hatte er sich nämlich im Tierheim Rasputin geholt, einen Cockerspaniel, der dem Zoll bei einer Routinekontrolle auf der A3 in die Hände gefallen war. Ein illegaler Welpen-Transport von Rumänien nach Holland. Das schwarzweiß gefleckte Hündchen hatte es ihm sofort angetan, als er es im Tierheim gesehen hatte. Dieser treue Hundeblick mit den unschuldigen Augen … Seitdem hatte Anton viel Zeit in Rasputins Erziehung gesteckt und der Hund war zu einem stattlichen Cockerspaniel-Männchen herangewachsen, das zwar nicht immer auf das erste Wort hörte, aber Anton loyal ergeben war.

„Rasputin, wir gehen Gassi.“ Anton hatte den Satz noch kaum ausgesprochen, schon fegte der Cocker schwanzwedelnd und mit seiner Leine im Maul heran, hielt erst vor der Wohnungstür inne, um auf Antons nächste Anweisung zu warten.

„Du bist ein Großer“, lobte er ihn, dann ließ er den Schließmechanismus der Leine an Rasputins Halsband einrasten. „Moment, ich ziehe mir nur noch eine leichte Jacke über.“

Rasputin jaulte verhalten, als ob er die Worte seines Herrchens bestätigen wollte.

*

Draußen war es nur ein kurzer Weg bis zum Pappelsteig, dem Hochwassersteg, der vom Stadtteil Espan in die östliche Innenstadt hinüberführte, zuerst durch den Pegnitzer Wiesengrund, dann durch den Fürther Stadtpark, bevor man die Altstadt erreichte. Doch so weit wollte Anton nicht. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit Rasputin einen bestimmten Weg zu nehmen, damit dieser sein „großes Geschäft“ erledigen konnte: Am Ende des Pappelsteigs gingen sie normalerweise, nach Überquerung des Engelhardtstegs, immer nach links an der Pegnitz entlang, um über den Röllingersteg wieder ihrem Zuhause zuzustreben. Irgendwo dazwischen erleichterte sich der Hund dann im Unterholz.

Zumindest war das bisher so gewesen. Als die beiden diesmal den Pappelsteig erreicht hatten, der links und rechts von hohen Bäumen gesäumt war, entließ Anton den Spaniel von seinem Halsband. Rasputin kannte dieses Prozedere, bedankte sich japsend und lief voraus. Ab und zu blieb er stehen, auf sein Herrchen wartend. Heute schnupperte er an einem Spitzwegerich, der in einer Bodenritze des Steigs seinen Platz gefunden hatte und sich hier ausbreitete. Der Geruch sagte ihm, dass sich an dieser Stelle eine läufige Hundedame erleichtert hatte. Rasputin nahm die Spur auf und stob davon.

Während sein Hund den Düften der unbekannten Hündin nachjagte, verfiel Brückner in Gedanken. Der Fürther Stadtpark … Als Einheimischer und Lehrer für Heimat- und Sachkunde kannte er natürlich dessen Geschichte. Es war 1802, als in Fürth ein neuer Friedhof eingeweiht wurde. 24 Jahre später wurde auf dem Gelände an der Nürnberger Straße die neue Auferstehungskirche fertig gestellt. 1867 kam dann der Fürther Maschinenfabrikant Johann Wilhelm Engelhardt auf die Idee, auf dem Areal zwischen Friedhof und Pegnitz eine öffentliche Grünanlage zu gestalten – auf eigene Kosten. Er hatte die Nöte der Stadt erkannt: Fürth war damals, im 19. Jahrhundert, die Stadt der 1.000 Schlote. Es fehlte das Grün, in dem die Arbeiter sich erholen konnten. So entstand die Engelhardtsanlage, die im Laufe der Folgejahre vergrößert wurde. 1951 hatte hier die Fürther Gartenschau stattgefunden.

„Grünen und Blühen“ war damals das Motto. 1960 erfolgte die letzte Erweiterung der Anlage. Heute durfte man das 21 Hektar große Areal, das von vielen Fuß- und Radwegen durchzogen war, als die „heimliche Liebe“ der Fürther bezeichnen. Das Areal wurde stadtseitig durch die Königs- und Nürnberger Straße sowie durch die Otto-Seelig-Promenade begrenzt. Auf der östlichen Seite floss die Pegnitz. Die Fläche bot viele Sehenswürdigkeiten und Orte zum Verweilen, z.B. den Rosen- und Rhododendrongarten, das Hiroshima-Mahnmal, den Baumlehrpfad und das Stadtparkcafé.

Brückner seufzte. Wie doch die Zeit verging. Als Kinder hatten sie sich im Stadtpark in den Wilden Westen geträumt und Cowboy und Indianer gespielt.

Rasputin kam wieder in Sicht. Am Ende des Pappelsteigs wartete er auf Anton und wollte geradeaus, immer der Spur der läufigen Hundedame nach. Sein Herrchen wollte dagegen nach links, immer am Fluss entlang. Der Hund bellte, als Anton abbog und blieb demonstrativ an der Weggabelung sitzen.

„Komm schon. Was du wieder gerochen hast. Wir gehen hier entlang, wie jeden Tag. Das weißt du doch. Kriegst auch ein Leckerli.“ Anton kannte das Spielchen und hatte immer ein paar Pansen-Kekse einstecken.

Kaum war das Zauberwort „Leckerli“ gefallen, hatte Rasputin die Hundedame vergessen und fegte mit fliegenden Ohren heran. Lachend warf Anton den Keks in die Büsche. Das gehörte zum Spiel dazu. Der Hund schlug einen Haken, jagte hinterher und war nicht mehr zu sehen. Anton gab Rasputin Zeit sich zu erleichtern und ließ sich auf einer Bank nieder. Dann steckte er sich eine Marlboro an, rauchte genüsslich und wartete.

Die Zigarette war längst verglüht, ohne dass Rasputin wieder aufgetaucht war. Das kam Anton seltsam vor. Er rief und pfiff. Ein leises Winseln und dann ein lautes Bellen waren die Antwort. Anton kannte seinen Hund. Da war etwas.

Seufzend setzte sich Anton in Bewegung. „Nicht schon wieder ein totes Kaninchen in den Büschen“, rief er seinem Hund zu. Er hörte weiteres Geheul.

„Wo bist du denn?“, rief Anton, als er in das Blätterwerk der Büsche eintauchte. Wieder Winseln.

Hier war es ganz schön dunkel. Die Sonne hatte den Horizont schon hinter sich und nur mehr einen schwachen Schein am Firmament übrig gelassen. Anton schaltete die Taschenlampe seines Mobiltelefons ein. Viel erhellte er damit nicht. Ein Schwarm Schmeißfliegen flog auf. Endlich sah er seinen Hund, der an einem roten Damenschuh herumschnüffelte. „Rasputin, pfui!“

Dann sah er den zweiten Schuh, in dem noch ein Fuß steckte. Anton drang weiter in das Buschwerk vor. Die Frau lag auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt. Ihr Kopf war seltsam eingedellt, blutig. Ihre Kleidung war zerrissen. Neben ihr lag ein Mann auf dem Bauch. An seinem Hinterkopf prangte eine tiefe Wunde, aus der Ströme von Blut geflossen sein mussten. Seine kurzen braunen Haare waren komplett verklebt.

„Hallo?“, rief Anton die beiden in gebückter Haltung an. Dabei war ihm eigentlich klar, dass sie nicht mehr antworten würden. Sicherheitshalber fühlte er nach den Halsschlagadern. Er spürte keinen Puls. Der Mann und die Frau waren tot.

„Wir müssen hier weg, Rasputin, und die Polizei verständigen.“ Er ließ die Hundeleine am Halsband einschnappen. Dann zerrte er rückwärtsgehend seinen Hund von den beiden Leichen weg. Anton wählte die 110.

Gerichtsmedizin, Erlangen

„Mit wem fangen wir an?“ Die Frage hallte laut in dem gefliesten Raum nach, der mit Seziertischen, einer Kopf- und Rippenschere, Edelstahlmöbeln und chirurgischen Instrumenten vollgestellt war. Es roch nach Desinfektionsmitteln, doch wer genauer schnupperte, dem stach der aufdringlich beißende Geruch des Todes in die Nase. Auf zwei Tischen aus Chromnickelstahl lagen die Leichen eines unbekannten Paares. Sie zwischen 35 und 40 Jahre alt, er vielleicht fünf Jahre älter.

„Erst mal die Frau“, schlug der Medizinische Sektions- und Präparationsassistent Gerhard Pflug, 37, vor.

Rechtsmediziner Professor Franziskus Stich, Leiter des Institutes für Rechtsmedizin in Erlangen und inzwischen 63 Jahre alt, nickte. Die beiden waren ein eingespieltes Team und hatten bereits hunderten von Leichen das Geheimnis ihres gewaltsamen Todes entlockt.

„Zuerst die Klamotten und das sonstige Zeug, das die Toten bei sich hatten.“ Der Professor rieb seine dicken Tränensäcke und strich sich über das faltige Gesicht. Dann hängte er sich das Mikro um, zog seine Maske zurecht und glitt in ein frisches Paar Latexhandschuhe. Mit einem „An die Arbeit!“ reckte er seine hagere Gestalt und schaltete das Mikrofon ein. „Innere Untersuchung“, nuschelte er hinein, „zuerst die Kleidung der weiblichen Toten.“ Er nahm die roten Stöckelschuhe der Frau in die linke Hand, drehte und wendete sie nach allen Richtungen und sprach: „Weinrote High Heels, vermutlich aus Rinderboxleder, Marke Alberto Zago, Größe 39.“ Das Gleiche veranstaltete er mit der geblümten, zerrissenen Bluse. Die war aus Seide und stammte aus einer Boutique in der Toskana, wie das Schild am Kragen verriet. „Poncho-Bluse in Rot mit Blütenmuster“, nuschelte Stich, „der Breite nach aufgerissen, wurde wahrscheinlich bei Lorenzo e Bruni Pucci in Florenz erstanden. Der Rücken der Bluse ist mit Blut durchtränkt. Auch der BH ist defekt.“ Der weiße Rock und die gleichfarbige Sommerjacke, die am Kragenansatz ebenfalls mit Blut – „… wahrscheinlich das der Toten …“ – besudelt war, stammten aus deutscher Quelle. Anscheinend bei Wöhrl gekauft. Die Unterwäsche war auch in Deutschland hergestellt worden. „Soft-BH weiß, mit gemusterten Trägern und einer Körbchengröße von 75C“, schnarrte Stich in sein Mikro. „Abschließend kommen wir zum herzförmigen Anhänger mit goldener Halskette und einem Ring. Offensichtlich Ehering der Frau, wahrscheinlich aus 750er Gelbgold mit Gravur 2009-06-03. Das Amulett an der Kette, etwa zwei auf zwei Zentimeter groß, besteht, so sieht es aus, ebenfalls aus Gold, 585er Gelbgold, mit seitlichem Öffnungsknopf.“ Stich ließ den Anhänger aufspringen.

„Darin befindet sich das Foto einer vierzackigen Krone mit zwei Getreideähren.“ Er flüsterte nun fast. „Keine Ahnung, was das symbolisieren soll. Nun gut. Bevor wir uns bei der Leichenschau die Hände verschmieren, am besten gleich die Kleidung des männlichen Toten“, fuhr er, an Pflug gewandt, fort.

Der nickte und Stich nahm ein Paar leichter Sommerschuhe aus einem Plastikbehälter, roch daran, drehte sie vor seinen Augen und beschrieb: „Beige, englische Oxford-Schnürschuhe aus feinem, vollnarbigen Glattleder.“ Dann schnappte er sich Hose und Oberbekleidung. „Grün-weiß gestreiftes T-Shirt mit Schweinchen-Patch, Größe L, grüne Schlaghose aus Denim in marmorierter Waschung, Größe 50, beide aus dem Modehaus Breuninger, die Etiketten sind noch dran.“ Eine leichte Strickjacke, ein Paar Socken, eine Unterhose und eine Rolex lagen außerdem noch in dem Plastikutensil. Bei der Jacke handelte es sich um einen melierten Cardigan von Tommy Hilfiger aus Baumwolle mit der Logostickerei am Ärmelsaum links. Die Socken waren von Falke, Baumwoll-Mix. Die blau-weiß gestreiften Boxershorts stammten vom selben Hersteller aus dem Sauerland. „Jetzt wird es interessant“, gab Stich von sich. „Um einen Raubüberfall hat es sich jedenfalls nicht gehandelt. Sieh dir nur die Uhr an“, meinte er zu Pflug. „Die kriegst du im Laden, ich schätze, nicht unter 10.000 Euro. Das ist eine Rolex Submariner.“

„Im Laden“, wiederholte Pflug belustigt. „Als ob es so ein edles Teil bei jedem Bäcker oder Metzger gäbe. Ist das alles an Kleidung und Schmuck?“

„Nur noch der Ehering. Er trägt ebenso die Gravur 2009-06-03.“ Stich sah in die beiden Plastikschatullen. „Keine Ausweise, kein Portemonnaie, kein Führerschein, kein Handy, keine Damenhandtasche?“

„Nichts, nada, niente“, bestätigte Pflug. „Der oder die Täter haben die beiden gefilzt. Vermutlich, um ihre Identität zu verschleiern.“

„Gut, soll nicht unsere Sorge sein“, tat Stich die Sache ab. „Soll sich die Kripo darum kümmern. Wir schauen uns die Leichen an. Mal sehen, was die uns verraten.“ Mit diesen Worten schritt er auf den Seziertisch zu, auf dem die Frau unter einer Leinendecke lag. Er wischte das Tuch weg und lief um die Tote herum. „Eindeutig Schädel-Hirn-Trauma mit Kalottenfraktur“, schnarrte er in sein Mikro. „Es handelt sich um offene Schädel-Hirn-Verletzungen. Die Schläge müssen mit großer Heftigkeit ausgeführt worden sein. Die äußere Hirnhaut ist zerrissen, Knochenteile des Schädeldaches sind sichtbar und zersplittert. Der Schädel der Toten ist verformt, große Mengen an Blut sind ausgetreten sowie Hirnflüssigkeit und Hirnmasse aus Ohren und Nase. Vermutlich führte eine sichelförmige, subdurale Hirnblutung zum Atemstillstand.“ Dann machte er sich am linken Oberschenkel der Leiche zu schaffen. „Spärliche, bläuliche Totenflecken, bedingt durch hohen Blutverlust“, gab er an. „Sie reichen von der hinteren Rumpfwand bis zu den vorderen Achsellinien. Die Livores lassen sich noch wegdrücken, was auf einen Todeszeitpunkt irgendwann am Samstag schließen lässt. Keine sonstigen Auffälligkeiten am restlichen Körper, keine Narben oder Tätowierungen, aber Abschürfungen an den Hand- und den Fußgelenken. Die Frau muss vor ihrem Ableben gefesselt gewesen sein.“ Stich drehte die Tote in die Seitenlage. „Schlagverletzungen im Rücken“, ergänzte er. Dann hievte er den Körper wieder in seine Ausgangslage zurück, ging zu einem Seitentisch und rührte einen Brei an.

„Können Sie der Frau mal den Mund öffnen und die Kiefer festhalten?“, bat Stich seinen Assistenten. „Ich nehme den Zahnstatus ab.“

„Die Frau wurde mehrmals vergewaltigt“, stellte er einige Zeit später fest, als er das Kolposkop weglegte. „Risse an der oberen Vagina, aber keine Spermaspuren. Die Täter müssen Kondome verwendet haben.“

Es dauerte nicht mehr lange und die äußere Begutachtung der Frau war abgeschlossen. Zuletzt vermaßen sie noch ihren Körper. „1,67 Meter“, sprach Stich in sein Mikro. „Das Gewicht haben wir mit 61 Kilogramm festgestellt. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, Pflug?“

Der Präparationsassistent schüttelte den Kopf.

„Gut, dann schreiten wir zur inneren Leichenschau“, meinte Stich. „Skalpell?“

„Liegt direkt vor Ihnen.“

Stich nahm das Messer in die Rechte und ging wieder auf die andere Seite des 2,6 Meter langen Tisches. Dann setzte er es am linken Schlüsselbein an. „Bereit?“

„Bereit!“

Er schnitt fest und schräg zum Brustbein hin. Dann wiederholte er das Gleiche vom rechten Schlüsselbein aus, um sich in einem Zug einen Weg bis zum Schambein hin zu suchen. Das aufgeschnittene Fleisch klaffte auseinander. Leicht gesulztes Blut trat aus. Stich entfernte mit einer Knochensäge das Brustbein, um freien Zugang zu den Organen zu erhalten. Anschließend entnahm er der Toten Herz, Leber und Lunge sowie den Magen, die Milz und die Nieren und gab alles in diverse Edelstahlschüsseln.

„Die Frau hat ungefähr vier Stunden vor ihrem Tod noch eine Pizza gegessen“, sprach er ins Mikro, als er den Mageninhalt überprüft hatte. Er schnitt kleine Stückchen von den Organen ab, Proben für die späteren mikroskopischen und mikrobiologischen Untersuchungen. Dann legte er die Organe, nachdem er Größe, Form, Farbe und Konsistenz begutachtet hatte, wieder in die Körperhöhle zurück. „Der Frau fehlt der Blinddarm. – Kommen wir nun zur Öffnung der Schädelhöhle“, gab er an und griff nach der oszillierenden Säge. Diese kreischte und wühlte sich durch die Schädelverletzungen des Opfers. Als Stich die Schädeldecke abnahm, lag das, was vom Gehirn übriggeblieben war, offen vor ihm. Die weiteren Untersuchungen ergaben keine Auffälligkeiten.

Die Leichenbeschau des drahtigen, schlanken Mannes mit dem Oberlippenbart ergab ähnliche Ergebnisse. Auch er hatte vor seinem Tod Pizza zu sich genommen. Auch er war brutal erschlagen worden und wies an Händen und Beinen Spuren von Fesselungen auf. Die beiden waren an denselben Symptomen verstorben: harte Schläge auf den Hinter- beziehungsweise Oberkopf.

Die Befunde waren eindeutig. Dennoch war das Ergebnis der Obduktion für Stich enttäuschend. Es gab keinerlei DNA-Spuren der Täter. Er konnte auch keine Hinweise geben, um wen es sich bei den beiden Toten handelte. Nach den Aussagen der Polizei konnte der Fundort nicht identisch mit dem Tatort sein. Wie waren die beiden Leichen in die Büsche des Stadtparks gekommen? Der Platz, an dem die Leichen gefunden worden waren, war per PKW nicht zugänglich.

Stich machte sich Gedanken, kam aber zu keinem Ergebnis. „Pflug, Sie übernehmen die Waschung der Leichen?“ Die Frage klang so, wie Stich sie gestellt hatte, eher nach einer Anordnung. Dann entledigte sich der Professor seiner Arbeitsklamotten und verließ den Raum.

Kriminalpolizei, Fürth

Zur gleichen Zeit saßen Kriminalhauptkommissar Harald Bach und sein jüngerer Kollege, Kommissar Julian Schwarz, in ihrem Büro in der Kapellenstraße zusammen. Noch standen sie unter dem Eindruck des gestrigen Leichenfundes. Ihr Chef, Kriminalrat Josef Liebermann, hatte sofort die Gründung der Sonderkommission „Stadtpark“ angeordnet. Wann kam es schon mal vor, dass in Fürth jemand ermordet wurde? Jahrelang war die Stadt die sicherste Großstadt in Bayern. Gut, da waren die beiden schwerverletzten Frauen im Januar dieses Jahres gewesen, aber da hatte es auch sehr zeitnah die Verhaftung des Täters gegeben. Aber Mord? Zumal ein Doppelmord! Wenn das nicht die Gründung einer Sonderkommission rechtfertigte.

Bach und Schwarz waren dabei, ihren Personalbedarf zu formulieren. Die Leute sollten ihnen direkt unterstellt werden. Eine undankbare Aufgabe. Sie resümierten. Was hatten sie, was nicht? Zwei Leichen, die vom Hund eines Rentners aufgestöbert worden waren. Keine Tatwaffe, keinen Tatort. Keine Identität der Opfer, keine Idee, wie die Ermordeten an den Ort ihres Auffindens gelangt waren, keine Täter-DNA, geschweige denn eine Spur, wer der oder die Mörder gewesen sein könnten. Das Einzige, was sie neben den Toten hatten, war der feste Wille, die Täter zu stellen.

Im Moment ruhte ihre Hoffnung auf dem Obduktionsbericht von Professor Stich. Vielleicht gab das Schriftstück des Rechtsmediziners ja etwas her? Vermisstenmeldungen gab es auch nicht, zumindest nicht in der näheren Umgebung. Bach und Schwarz hatten beide keine praktische Erfahrung mit der Bildung und Führung einer Sonderkommission. Wann war so eine schon mal in Fürth gegründet worden? Schwarz konnte sich nicht erinnern. In Bachs Gedächtnis tauchte ganz dunkel der Fall „Clara“ auf. Das war Ende der 90er Jahre gewesen. Damals hatte ein Fenstermonteur versucht, eine Zwölfjährige zu missbrauchen. Als sie sich heftig gewehrt hatte, hatte er sie gewürgt und in das eiskalte Wasser eines Weihers gestoßen. Die Bewusstlose war ertrunken. Eine 60-köpfige Sonderkommission hatte über fünf Monate rund 12.500 Spuren verfolgt, bis sie den Täter verhaften konnte. Fürths größter Kriminalfall. Da war Julian Schwarz gerade mal acht Jahre alt gewesen.

Bach rieb seinen Dreitagebart. Draußen floss langsam die Rednitz vorbei, die sich nur wenige hundert Meter weiter an dem Spitz mit der Pegnitz vereinigte, um weitere acht Kilometer durch das Stadtgebiet zu fließen. Aber heute hatte er keinen Blick für den Fluss übrig, so schwierig schien ihm der Fall. Der Kriminalhauptkommissar blickte auf seine Notizen, die immer noch vor ihm auf dem Tisch lagen: drei Leute von der SpuSi, die schon am Sonntagabend beim Leichenfund mit dabei gewesen waren, drei von der KTU, ein Profiler, jemand zum Führen der Akten und ein zusätzlicher Ermittler aus den eigenen Reihen. Das waren elf, einschließlich ihm und Schwarz. Das sollte eigentlich genügen, sagte ihm sein gesunder Menschenverstand. Eine zusätzliche Hilfskraft vielleicht noch, jemand, der sich um den ganzen Bürokram kümmerte, wäre auch nicht schlecht. Zwölf also. Aber wo anfangen? Ob Stich schon mit der Obduktion fertig war? Bach rief Schwarz zu sich und griff zum Telefonhörer.

„Stich“, meldete sich der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende der Leitung.

„Hier ist Harald, Harald Bach aus Fürth. Ich habe den Lautsprecher an. Julian Schwarz hört mit. Hallo Franziskus, wie geht es dir? Lange Zeit nichts voneinander gehört.“

„Rufst du mich an, um zu fragen, wie es mir geht“, brummte der Professor in den Hörer, „oder vernehme ich da eine gewisse Ungeduld?“

„Beides“, blieb Bach bei der Wahrheit. „Zuerst dein Befinden, aber natürlich möchte ich wissen, ob ihr mit der Obduktion der beiden Leichen schon begonnen habt.“

„Es könnte besser gehen“, klagte Stich. „Das Kreuz. Man wird eben auch nicht jünger. Aber was soll‘s? Es muss ja weitergehen. Bevor wir die Zeit mit meinem Gesundheitszustand verplempern: Ich weiß doch, wo dich der Schuh drückt. Wie weit seid ihr mit euren Ermittlungen?“

„Das ist ja unser Problem“, antwortete Bach. „Wir haben praktisch nichts in Händen und sind gerade dabei, eine Soko ins Leben zu rufen. Ich hatte gehofft, dass du mir mehr sagen kannst.“

„Also, die Obduktionen sind gelaufen. Mehr als die Todesursachen und den ungefähren Todeszeitpunkt kann ich dir allerdings nicht sagen“, nahm Stich die Ergebnisse der Untersuchung vorweg. „Beide Exitus durch starkes Schädel-Hirn-Trauma. Da muss jemand ordentlich zugeschlagen haben. Ich vermute, mit einem Stock oder Baseballschläger, da wir beim Mann winzige Holzteilchen in den Kopfwunden gefunden haben. Auf jeden Fall ein stumpfer Gegenstand. Die beiden Schädel sind stark deformiert. Bei der Frau zeichnet sich außerdem eine Verletzung durch einen Schlag in den Rücken ab.“

„Und sonst?“

„Nichts sonst. Mehr als die Kleider auf dem Leib hatten die beiden ja nicht dabei. Die muss jemand vorher ordentlich gefilzt haben.“

„Und der Todeszeitpunkt?“

„Irgendwann am Samstag, würde ich sagen. Insektenbefall war jedenfalls schon gegeben. Wir haben jede Menge Schmeißfliegeneier in den offenen Wunden gefunden. Aber der Platzregen am Sonntagnachmittag hat natürlich viele Spuren weggewaschen. Keine Täter-DNA. Auffällig ist die teure Kleidung der beiden Toten. Der Mann trug sogar noch seine teure Rolex. Vielleicht ist das ein Ansatz für eure Ermittlungen. Also, um einen Raubmord kann es sich jedenfalls nicht gehandelt haben. Ich vermute eher etwas in Richtung Organisierte Kriminalität. Drogen waren aber nicht im Spiel. Euch wird nichts anderes übrigbleiben, als die Vermisstenlisten durchzufilzen.“

„Da sind wir gerade dabei, haben aber noch kein vollständiges Feedback. Zumindest nicht von den nahen Städten außerhalb Fürths.“

„Ach ja, da fällt mir noch etwas ein“, kam Stich auf die Obduktion zurück. „Der Frau wurde vor Jahren der Blinddarm entfernt und sie wurde vor ihrem Tod vergewaltigt.“

„Spermaspuren?“

„Keine. Das steht aber alles in meinem Obduktionsbericht. Der wird gerade geschrieben. Soll ich dir den vorab durchfaxen, wenn er fertig ist?“

„Wäre nicht schlecht“, bedankte sich Bach.

„Wenn ihr noch irgendwelche Fragen habt, kannst du mich ja anrufen“, ergänzte Stich. „Viel gibt der Bericht jedenfalls nicht her, außer dem Amulett, das wir bei der Frau gefunden haben. Eine vierzackige Krone mit zwei Ähren. Keine Ahnung, was das darstellen soll. Na ja, ihr werdet das ja sehen. Dem Obduktionsbericht liegen jedenfalls zwei Fotos davon bei. Da waren Profis am Werk. Täterseitig, meine ich. Du, Harald, ich muss in eine Besprechung. Ruf mich an, wenn du noch Fragen hast.“ Und weg war er. Bach und Schwarz blieben etwas ratlos zurück.

Bach blickte auf seinen Zettel mit der noch imaginären Sonderkommission. Es half alles nichts. Irgendwie mussten Schwarz und er da durch. Wieder kraulte er seinen Dreitagebart, der schon graue Ansätze über der Oberlippe zeigte. Der war sein Markenzeichen in der Kriminalpolizeiinspektion, weshalb ihm einige Kollegen den Spitznamen „Nikolaus“ verpasst hatten. Er wusste das und es amüsierte ihn. Wobei Nikoläuse doch normalerweise lange, weiße Bärte hatten. Er, Bach, war dagegen ein ganz normaler Familienvater, nur mit einem Bartansatz. Er war 1,78 Meter groß, 80 Kilogramm schwer, dunkelhaarig mit Seitenscheitel links und einem Hang zur Religiosität. Seine Kinder, ein 18-jähriger Sohn und eine 16-jährige Tochter, besuchten beide ein Fürther Gymnasium. Seine Frau Doris war Bankangestellte in Zirndorf und hatte, nachdem die Kinder eingeschult waren, in der Sparkasse einen Halbtagsjob ergattert. Die Familie wohnte in einer Neubausiedlung in Weinzierlein, einem Dorf ganz in der Nähe, und wegen dieses Wohnorts musste er sich von den Kollegen manchen dummen Spruch anhören: „Übern Alten geht nix drüber“ oder „Raus mit der Bumpel-Sau“, erlaubten sie sich ihre Späßchen mit ihm. Das kam daher, weil in Weinzierlein eine weit über die Grenzen Frankens bekannte, aber fiktive Schafkopf-Akademie ansässig sein sollte. Jeder Schafkopf-Kartler kannte sie, aber noch niemand war je dort gewesen. Dabei hatte Harald Bach von Schafkopf keine Ahnung.

„Wollen wir Liebermann den Vorschlag zur Gründung der Soko so unterbreiten, wie von dir ausgearbeitet?“, wollte Schwarz jetzt wissen.

„Fällt dir was Besseres ein?“, kehrte Bach in die Realität zurück.

„Nein, nein, ist schon okay so. Meinst du, er gibt uns die ganzen Leute? Das sind die einzigen Bedenken, die ich habe.“

„Er hat gesagt, er gibt uns volle Unterstützung. Zurechtstutzen kann er die Soko immer noch. Lassen wir es darauf ankommen.“

Gut, wenn du meinst.“

„Dann gehe ich jetzt zu ihm. Mal sehen, was er sagt“, überlegte Bach laut, stand auf und warf sich sein Jackett über.

„Viel Glück“, attestierte ihm Schwarz. Der junge Kommissar, gerade mal 29 geworden, war noch ledig, lebte aber seit drei Jahren mit einer Jura-Studentin zusammen. Veronika Preiss war drei Jahre jünger als er. Das Paar hatte sich im Stadtteil Poppenreuth eine Dreizimmerwohnung gemietet. Während Veronika die Woche über die meiste Zeit an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen verbrachte, assistierte Julian seinem Kollegen und Vorgesetzten Bach nach bestem Wissen und Gewissen. Er war ein ehrgeiziger junger Mann, Überstunden machten ihm nichts aus. Wenn er sich in ein Thema verbissen hatte, ließ er nicht locker, bis er das Problem gelöst hatte. Das schätzte Bach sehr an ihm. Ausdauer, logisches Denkvermögen und ein starker Wille kamen bei ihm zusammen. Wenn er nicht beruflich kombinierte, hatte sich Schwarz der Modellfliegerei verschrieben. Fast jede freie Minute zog er sich in das dritte Zimmer der Wohnung zurück, um dort zu kleben, zu raspeln und zu löten, um sein Modell einer „Fokker Red Baron“ aus Holz und Metall fertigzustellen. Veronika ließ ihn gewähren. Sie hatte mit der Vorbereitung zum ersten Staatsexamen selbst genug am Hals. Sie wollte Richterin werden.

Schwarz ließ seine bisherige Karriere Revue passieren: Die Voraussetzungen für den gehobenen Dienst brachte er locker mit. Das dreitägige Auswahlverfahren hatte ihm keine Schwierigkeiten bereitet. Assessment Center, computergesteuerter Test und polizeiliche Untersuchung – alles kein Problem, er war einer der Besten gewesen. Die allgemeine Hochschulreife hatte er, die sportlichen Voraussetzungen auch. Mit seinen 1,80 Metern konnte er über die Mindestgröße von 1,63 nur lachen. Sein Body-Mass-Index lag bei 20, also eigentlich ideal, und aus geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen stammte er auch. So war er 2009 in die Dienste der Erlanger Polizei eingetreten und hatte ein dreijähriges duales Studium an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in München absolviert. Anfang des letzten Jahres war er auf eigenen Wunsch nach Fürth versetzt worden. Wegen ihr. Er dachte an Veronika, die sich gerade zuhause mit Paragraphen rumärgerte.

So merkte er gar nicht, dass Bach von Liebermann schon zurück war. „Alles genehmigt“, meldete er stolz. „Wir sollen Vorschläge machen, wen wir haben wollen. Liebermann spricht dann mit den Kandidaten und ihren Vorgesetzten. Kommst du mal, ich möchte auch deine Meinung dazu hören.“

Norbert Kolb

Norbert Kolb, 68 Jahre alt, war kein Weichei, aber er hatte einen kleinen Hang zum Selbstmitleid. Sein Haupt war noch voller brauner Haare mit nur wenig weiß und eine Brille brauchte er auch immer noch nicht. Dafür war sein Gehör nicht mehr so gut. Eigentlich hätte er ein Hörgerät gebraucht, aber das war seiner Meinung nach nur etwas für alte Leute. Er war mit seinen 1,90 Metern der Größte der vier Kartler und ein Baum von einem Mann. Wären da nicht die Falten in seinem Gesicht, hätte man ihn durchaus für zehn Jahre jünger halten können. Und Norbert war eine alte Ratschkathl. Er wusste alles, was in Fürth so passierte. Ständig hing er mit seinen Nachbarn und Freunden zusammen. Zehn Jahre hatte er für die CSU im Stadtrat gesessen und nutzte auch heute noch jede Gelegenheit zur Kommunikation. Mit anderen Worten, er war gut vernetzt.

Die Krankheit seiner Frau Hilde konnte er allerdings nicht mehr länger ausblenden. Bei ihr ging schon seit einiger Zeit im Kopf alles durcheinander. Anfangs hatte er versucht, ihre Demenz zu vertuschen. Nicht weil er sich für sie schämte, nein, dazu liebte er seine Hilde zu sehr. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann lag es daran, dass er es einfach nicht wahrhaben wollte. Was hatten sie nicht alles noch für Pläne gehabt? Und das sollte jetzt nicht mehr möglich sein? Das war einfach nicht fair! Einmal entschuldigte er seine Abwesenheit beim Schafkopf mit Anton, Hans und Dieter sogar mit einem Bandscheibenvorfall. Er könne leider nicht kommen. Er könne sich ja kaum rühren. Das war jetzt schon einige Zeit her. Da ging es Hilde sogar noch besser. Aber mittlerweile … Sie hatte ihr Leben lang leidenschaftlich gerne und gut gekocht. Ihr Langzeitgedächtnis war auch trotz ihrer Krankheit in Ordnung, damals, als man bei ihr die Demenz festgestellt hatte. Heute vergaß sie schon mal, das Essen zu würzen. Ständig ließ sie den elektrischen Herd eingeschaltet und die Kochplatten glühten. Ihr Kurzzeitgedächtnis war eine totale Katastrophe, sie konnte sich nichts mehr merken. Letzthin wollte sie sich in ihrem Nachthemd auf einen Wochenendspaziergang begeben. Mitten durch Fürth. Am Tag. Es wurde immer schlimmer.