Mörderstadt an der Ruhr - Ulrich Jean Marré - E-Book

Mörderstadt an der Ruhr E-Book

Ulrich Jean Marré

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Beschreibung

Ein psychopathischer Serienmörder versetzt eine idyllische Stadt an der Ruhr in Angst und Schrecken, indem er 12 Menschen mit einfallsreichen, ungewöhnlichen, oft brutalen Methoden ermordet.

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kapitel 65
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Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Danksagung

Ulrich Jean Marré

Mörderstadt an der Ruhr

Ruhrkrimi-Verlag, Mülheim an der Ruhr

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Ruhrkrimi-Verlag Uwe Wittenfeld, Mülheim/Ruhr

ISBN 978-3-947848-26-3

1. Auflage 2021

Coverbild: Jaana Redflower, Witten an der Ruhr

Dieses Buch ist auch als Taschenbuch erhältlich.

Disclaimer:

Dieses ist ein fiktives Werk. Handlungen und Personen sind komplett frei erfunden. Jegliche etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen oder mit tatsächlichen Begebenheiten wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Echt sind nur die Namen von einigen Markenprodukten sowie von geografischen Orten wie Straßen, Plätzen, Parks etc.

Auch wenn diese Geschichte in Hattingen angesiedelt ist, die Beschreibung der Stadt und deren Einwohnern sind rein fiktiv!

Alle Rechte vorbehalten: Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

www.ruhrkrimi.de

Widmung

Diesen Kriminalroman widme ich:

Chantal Marré

Mateo Sebastian Urrutia-Marré,

Hartmut, Reinhold, Dorothea, Edith und Ruth.

Über den Autor

Ulrich Jean Marré wurde in Essen/Ruhr geboren.

Nach neun Jahren Studium im In- und Ausland, schloss er seine Studien in Soziologie, Psychologie und Philosophie ab.

Er war unter anderem Disc-Jockey in Diskotheken, Karatetrainer, Schießtrainer, Tutor für Soziologie an der Universität Hamburg, Psychotherapeut und Business Consultant.

Ulrich Jean Marré lebt, nach vielen Jahren in Nord- und Südamerika, seit 2009 wieder im Ruhrgebiet und fokussiert sich nun auf das Schreiben von Krimis/Thrillern.

Alles verlief normal.

Alles verlief nicht normal.

Dazwischen lagen die Morde.

Kapitel 1

Über die obere Heggerstraße in der kleinen Stadt Hattingen an der Ruhr huschte ein Schatten. Kaum sichtbar, schwarz gekleidet, die Kapuze weit über den Kopf und ins Gesicht gezogen, musste man schon genau hinsehen, um die Gestalt überhaupt auszumachen. Nicht zu schnell, nicht zu langsam, aber stetigen Schrittes bewegte sich der hochgewachsene und athletische Körper, der - soviel war zu erkennen - einem Mann gehörte, in die Richtung des Schwarzwald Eck, einer dort ansässigen Kneipe. Und wer ganz genau hinschaute, sah, dass der Mann aus Gründen antrainierter Vorsicht, auf keinen Kanaldeckel trat.

Es war bereits dunkel an diesem Abend des Monats Oktober. Es war kalt, aber noch schneefrei. Es waren wegen der ungemütlichen Kälte nur wenige Leute unterwegs, die schnell irgendwohin wollten, wo es warm war und daher nicht sonderlich auf andere Leute achteten, was dem Schatten nur gelegen kam, und was ihn fast unsichtbar machte.

Die Kneipe war so wenig schwarzwälderisch, wie der Papst verheiratet war. Der Name ging noch auf den ersten Besitzer zurück, der immerhin ein waschechter Schwarzwälder aus Baden-Baden war. Aber nach kurzer Zeit kehrte er dorthin zurück, da er von der kleinen Stadt Hattingen an der Ruhr die Nase voll hatte, weil er mit der Humorlosigkeit seiner lokalen Klientel so gar nicht zurechtkam. Also verkaufte er sein Geschäft an eine andere Wirtin, ließ seine immer pummeliger werdende, besserwisserische Freundin sitzen und kehrte, zwar frustriert aber doch erleichtert, in seine Heimat zurück.

Jene neue Wirtin namens Bruni war eine seelenlose Frau, dick, ungebildet, ordinär und schnell in Rage zu bringen. Erst neulich hatte sie einem Gast, der am Ende seines heftigen Bierkonsums feststellte, dass er gar kein Geld hatte, eine knallende Ohrfeige verpasst. Dermaßen, dass es ihm die Nase brach, weil er Brillenträger war und die flache Hand der Wirtin und ihre Wurstfinger den Seitenbügel traf und die Energie damit über den Nasensteg solcherart auf die Nase traf, dass sich das Nasenbein entschloss entzweizugehen.

Zuvor hatte sie ihn noch übel beschimpft:

»Ich würde nicht mal in deinen Arsch spucken, wenn dein Enddarm brennen würde, du dumme Sau!«

Der arme Mann hatte aber ohnehin zu viel Alkohol intus, sodass er die gebrochene Nase zunächst gar nicht bemerkte und sich erniedrigt aus dem Lokal schlich.

Bruni sprach liebend gerne im breitesten Kohlenpottplatt über Krankheiten aller Art, besonders gerne über ihre eigenen, über ihre Karbunkel am Bein.

Ihre Gäste waren so geartet, dass sie sich die Karbunkelgeschichten anhörten während sie ihre geschmacks- und fast fleischlosen Frikadellen mampften, mit abgestumpften Blicken und ohne ihre aufgedunsenen Gesichter vor Ekel zu verziehen.

Sie war eine Frau, die an Trude Herr erinnerte, pechschwarze Haare, Bierbauch, große Oberweite, und Letztere hatte schon dem Gesetz der Schwerkraft erheblichen Tribut gezollt.

Die Lokalität war eine typische, phantasielose kleine Kneipe, mit hässlichen Tischen, planlos im Raum aufgestellt, mit spießigen, bemusterten, unsauberen Tischdeckchen bedeckt. Es gab den obligatorischen Spielautomaten, einen Zigarettenautomaten und einen alten Garderobenständer.

An der quadratisch gebauten Theke standen unbequeme Hocker, von denen mindestens einmal im Jahr ein Gast leblos auf den Boden fiel, nachdem sich sein Gesicht unvermittelt aschgrau eingefärbt hatte – plötzlicher Herztod, der Sekundentod, beschleunigt von zahlreichen Schnäpsen und fettigen Bouletten.

Die Toilette stank beständig nach Urin und Erbrochenem, ein Pissoir war die meiste Zeit defekt und außer Betrieb. Nur eine Kneipe im tiefsten Bolivien konnte bestialischer stinken als das Klo in dieser alten Hattinger Kneipe, die früher mal viel bessere Zeiten gesehen hatte. Damals, als die Henrichshütte noch in vollem Schwung war, Tausenden Lohn und Brot gab, und als die Hüttenmalocher nach der Schicht in die zahlreichen Kneipen strömten, um sich mit Alkohol in Stimmung zu bringen, den Durst zu löschen und um sich über die Schicht, die Hütte, Kollegen, Chefs und allerhand Alltäglichkeiten auszutauschen.

Aber jene glorreichen Tage waren lange vorbei, heute waren sie zum Mythos erstarrt. Das Hattinger Werk, kurz die Hütte genannt, die Malocher, die zünftigen Kneipen mit zünftigen Namen wie Zum schmutzigen Löffel waren verschwunden, obgleich sie bis heute in den Gesprächen an den verbliebenen Kneipentheken weiterleben.

Ein Verwandter vom Steppenwolf strich durch Hattingen, halb Mensch halb Wolf, sozialisiert einerseits, wild andererseits, gefährlich, stark, wild, frei.

Aber diese 1000 Seelen liefen nicht ungeordnet und ziellos durch die Gegend, der Mann hieß Lex Moravenga und wusste genau, woher er kam und wohin er ging.

Die große, dunkle Gestalt auf der Heggerstraße hatte nun die Eingangstür der Kneipe erreicht. Die Tür bestand aus starkem, matten Glas, aus zwei Flügeln, an denen sich Bügel zum Öffnen befanden. Durch das matte Glas konnte man weder aus dem Lokal durch die Tür hinausschauen, noch von außen Einblick nehmen.

Der Mann nahm aus seiner umgehängten Tasche ein großes Stahlbügelschloss. Schnell verband er damit die beiden Türbügel, das schwarze Schloss schnappte ein, die Tür war versperrt und ließ sich nun weder von außen noch von innen öffnen. Gäste und Wirtin waren bis auf weiteres eingesperrt. Einen zweiten Ausgang gab es nicht, selbst Fenster waren nicht vorhanden.

Keiner in der Spelunke hatte etwas bemerkt.

Nun nahm er aus seiner Umhängetasche einen zusammengebundenen Stapel alter Hattinger Harbinger Ausgaben und platzierte ihn auf der obersten der zwei Stufen vor der Kneipentür.

Wieder griff er in die Tasche und holte eine kleine Flasche Waschbenzin hervor und schüttete deren Inhalt über den Zeitungsstapel. Dann fingerte seine schwarz behandschuhte Hand eine Dose Zündhölzer aus der Tasche.

Er nahm ein Streichholz heraus und näherte es der Streichfläche. Der dunkel gekleidete Mann zögerte einen kleinen Moment. Doch er verzichtete darauf, das Streichholz und den mit Waschbenzin befeuchteten Zeitungsstapel anzuzünden.

Selbst wenn von seinem Modus Operandi, von Material und Menge her zu urteilen, er nicht darauf abzielte, die Kneipe Schwarzwald Eck samt den asozialen Gästen in Brand zu setzen, so reichte seine bisherige, punktgenau exzerpierte Aktion aus, um ein Signal zu setzen, einen Warnschuss, einen Schuss vor den Bug, eine Warnung.

Er hätte mit Leichtigkeit zu drastischeren Mitteln greifen können, aber er hatte Wichtigeres geplant, nämlich einen lange und gut vorbereiteten Mord oder - wie er es nannte - Teil eins seiner Aufräumaktion. Der Pub Stunt diente mehr oder weniger nur seiner Belustigung, seinem Bewegungsdrang, ein wenig auch seiner Art, mit einer Warnung auf kommende Dinge hinzuweisen. Wirtin Bruni erkannte keine Warnung. Das sollte ihr zum Verhängnis werden.

Lex Moravenga, so unbemerkt und schnell wie er gekommen war, glitt zurück in die dunkle, kalte Oktobernacht, die Hattingen im ungemütlichen Griff hatte.

In der Kneipe quälte sich Bratwurst Willi von seinem Barhocker. In seinem fortgeschrittenen Alter war seine Prostata schon etwas größer geworden, er musste häufiger pinkeln oder - wie er sich auszudrücken pflegte - ›einen steifen Strahl in die Ecke stellen‹.

Der Bratwurstmann hatte in besseren Zeiten mal eine Currywurstbude in Hattingen betrieben, diese aber in den Sand gesetzt, ruiniert, was seiner wachsenden Liebe zum Alkohol zuzuschreiben war. Wer kann schon eine Wurstbude in die Pleite führen, wenn er seine fünf Sinne beisammen hat? Das bedurfte schon mehrerer Torheiten wie Saufen, Faulheit, Antriebslosigkeit, Rechenschwäche und dergleichen. Wurstbude kaputt, den Kopf vom Schnaps vernebelt, war der Mann heute arbeitslos und lebte vom Steuerzahler und kleinen Schwarzarbeiten.

Manch einer behauptete, dass Bratwurst-Willi immer noch nach Bratwürsten roch, aber es war wohl eher sein allgemein schlechter Körpergeruch, eine Mixtur aus Schweiß, Schnaps, Zigarettenrauch, Bratfett, muffigem Kleidergeruch.

Er ging zum Wasserlassen. Als er einen fahren ließ, entfleuchte ein Schuss Exkremente in seine gammelige Unterhose, die nun hinten tiefbraun und vorne gelblich eingefärbt war. Es roch gar nicht gut. Er nahm sich vor, die billigen Bohnensuppendosen nicht mehr zu kaufen, und er beschloss, nach Hause zu gehen.

Doch als er die Kneipentür öffnen wollte, klappte dies partout nicht, da half auch kein wiederholtes Ziehen, Drücken und Rütteln.

»Ey, Bruni, was ist mit der verdammten Tür los?«, rief er in Richtung Theke.

»Was soll schon sein, du bist wohl zu bedröhnt, Alter«, rief Bruni zurück. Dann walzte sie Richtung Tür, doch auch sie konnte diese nicht öffnen.

Nach einigem Hin und Her beschloss sie, die Polizei anzurufen.

Als die Beamten kurz darauf anrollten und die Lage in beamteten Augenschein nahmen, riefen sie die Feuerwehr zu Hilfe, die sogleich mit einem ganzen Zug anrückte, da ihr Benzingeruch gemeldet wurde.

Sie bestreuten den Eingangsbereich samt Stapel und Waschbenzin, das schon ziemlich verflüchtigt war, mit einem Bindemittel, um sodann das Stahlbügelschloss mit einem Winkelschleifer, gemeinhin als Flex bekannt, aufzuschneiden.

»Außerdem stinkt es hier nach Kacke«, bemerkte ein feinsinniger Feuerwehrmann. Ob der oder die Täter irgendwo was hinterlassen hatten, als einen besonderen Ausdruck seiner oder ihrer Verachtung?

Aber es war nur der Gestank aus der Unterhose von Bratwurst-Willi, der in der Nähe gestanden hatte und sich nun an dem Feuerwehrmann vorbei drückte, um sich auf den Heimweg in seine ungeheizte, verschmutzte Bude in der Nähe zu machen.

Allen Gästen war der Schrecken in die Glieder gefahren, die Aufregung war groß. Schnell begannen die Diskussionen darüber, was das alles war, wer so etwas machen würde und konnte, aber alles Diskutieren blieb ergebnislos.

Auf eine Anzeige wurde verzichtet. Brandstiftung lag nicht vor, kein Sachschaden war entstanden. Es sah mehr nach einem gemeinen Streich aus, möglicherweise begangen von einem mit Lokalverbot bestraften Gast, den man so oder sonst wie vor den Kopf gestoßen hatte.

Sicherheitshalber telefonierte der Streifenpolizist noch mit Kriminalhauptkommissar (KHK) Ulrich Heinrich Urban. Doch der befand, er habe Wichtigeres zu tun. Es es sei wohl nichts gewesen, eine Anzeige hatte die Wirtin nicht erstattet. Ein besonderes öffentliches Interesse lag nicht vor.

Hätte Urban zu jenem Zeitpunkt nur geahnt, was noch auf ihn zukommen würde, er hätte seinen beschaulichen Dienst umso mehr genossen.

Kapitel 2

Nur Kalle Schmiedel tauchte noch auf, der Lokalreporter vom Hattinger Harbinger, der irgendwie von der Sache Wind bekommen hatte und beschloss, ein paar Zeilen über den merkwürdigen Vorfall zu schreiben. Immerhin war es mal etwas Interessanteres als die Jahreshauptversammlung des Senioren-Strickvereins an der Augustastraße oder den neuen VHS-Kurs im afrikanischen, ganzheitlichen Trommeln.

Kalle bestellte bei der nervösen Bruni ein Pils und fing an, Fragen zu stellen, wie es sich für einen guten Reporter gehörte.

»Vielleicht war es ein Gast, dem Sie Lokalverbot gegeben hatten?«

»Weiß nicht, kann sein. Da war neulich so ein komischer Typ hier, vornehm gekleidet, der so komisch redete, nicht so wie wir hier, eher so wie ein Hamburger. Seine Art gefiel mir nicht, also gab ich ihm kein Bier mehr und gab ihm Lokalverbot.«

»Seine Art gefiel Ihnen nicht?«

»Ja und? Er hat so viele geschwollene Fragen gestellt. Hat alle genervt.«

Bruni durfte als Hausherrin jedem, den sie nicht mochte, Lokalverbot geben, und sie machte davon gerne und oft Gebrauch. Es gab ihr ein Gefühl der Macht, denn sonst hatte sie nicht viel zu sagen im Alltag. Ihr offenes Bein und andere Malaisen machten ihr zunehmend zu schaffen, und sie hatte nicht mehr viel Spaß im Leben.

Auch gingen Gerüchte um, dass sie gerne mal ein paar Biere extra auf die Deckel schrieb, wenn der Gast nicht genau aufpasste, und wer tat das schon, besonders nach dem siebten Bier?

Ein Gast war besonders durchtrieben und hatte in seiner rechten Jackentasche Streichhölzer. Nach jedem Bier bewegte er eins von der rechten in die linke Tasche, sodass er am Ende des Tages genau nachzählen konnte. Er führte selbst Buch, traute dem Deckel und Brunis Strichen gar nicht.

Einmal erwischte er sie bei ihren läppischen Betrügereien, aber er wurde umgehend mit Lokalverbot belegt, wenngleich er auch vier große Biere weniger bezahlte.

Und einmal erschienen zwei Gastwirtkollegen nach deren Feierabend in ihrem Etablissement. Der eine ein Italiener, der andere ein stadtbekannter Peter Alexander Fan.

»Gib uns mal zwei Biere«, meinte der Italiener.

»Duzen lasse ich mich nicht sofort«, raunzte Bruni. »Geh raus, du hast Lokalverbot!«

»Hör mal, Schätzchen«, sagte die Peter Alexander Kopie, »wir sind doch Kollegen, stell Dich doch nicht so an!«

»Ich bin nicht dein Schätzchen! Du hast jetzt auch Lokalverbot. Alle beide, Tschüssikowski!«

»Ich weiß jetzt«, sagte sie plötzlich zu Reporter Kalle Schmiedel, mit Triumph in der Stimme, »ich weiß jetzt, wer es war, es waren dieser Italiener und sein Kumpel, der Schlagerfanatiker.«

»Das können Sie aber gar nicht so bestimmt wissen«, entgegnete er.

»Doch!«

»Nein!«

»Doch, was reden Sie für einen Scheiß? Ich weiß, was ich weiß. Trinken Sie jetzt sofort Ihr Bier aus, und gehen Sie!«

»Ach so, jetzt fliege ich auch raus. Sie sind wohl krank im Kopf?«

»Und wagen Sie es bloß nicht, irgendwas über mich in Ihrem Käseblatt zu schreiben!«

Ein Wort ergab das andere, es half nichts, gnadenlos erhielt auch der Lokalreporter Lokalverbot.

Beim Rausgehen, nannte er sie noch eine fette Matrone, und das Bier sei auch zu warm gewesen, wahrscheinlich sei sie zu blöde, die Kühlanlage einzustellen.

Und noch bevor er ihren Schwall an Schimpfworten, der einen Seemann hätte rot werden lassen, hören konnte, war er schon draußen.

Sollte sie ihn doch am Arsch lecken, er würde schon was Passendes im Hattinger Harbinger schreiben.

Der Vorfall am Schwarzwald Eck war der noch harmlose Beginn sich überstürzender, schrecklicher Ereignisse. Es würde sein, als hätte der Teufel selbst sich Hattingen als Spielplatz ausgesucht.

Kapitel 3

Wenige Tage später war Lex Moravenga auf dem Wege, sein erstes Opfer aufzusuchen. Er bewegte sich in jenen Abendstunden im Oktober zielstrebig in Richtung Metzgerei Wulst und Sohn.

Werner Wulst Senior war, bevor er sich selbstständig machte, als Schlachter in einem Schlachthof tätig und hatte dort mit sadistischer Freude Tiere beim Schlachten gequält. Danach machte er seine Metzgerei auf und ließ sadistische Anwandlungen an seinem Personal aus.

Er hatte seinen Laden inmitten von Fachwerkhäusern in der Altstadt.

Da er ein Geizkragen war, beschäftigte er nur zwei Verkäuferinnen zu einem Hungerlohn, sodass Kunden immer lange warten mussten, bis sie an die Reihe kamen. Die älteren Semester nahmen es halbwegs stoisch hin, denn sie hatten Zeit. Sie nutzten die Wartezeit, um einen Plausch zu halten - über banale Dinge wie Wetter, den Bau des neuen Einzelhandels, den defekten und nach Urin stinkenden Fahrstuhl am S-Bahnhof usw. Die meisten lebten alleine, waren verwitwet oder geschieden, die Kinder in aller Welt verstreut, also Hauptsache reden, beim Bäcker, Fleischer, in der Eisdiele, beim Discounter an der Kasse – und wer wollte es ihnen verübeln?

Doch für die berufstätigen Kunden waren die fehlenden zusätzlichen Verkaufskräfte ein Ärgernis, das ihnen wichtige Zeit stahl und Stress verursachte.

Einige machten ihrem Ärger durch spitze Bemerkungen Luft, andere zogen wütend weiter, ohne das belegte Brötchen oder die Fleischwurst in der Hand, um ihr Glück bei der Konkurrenz zu versuchen. Den geizigen Metzger focht das nicht an, er hatte seine Stammkundschaft und machte seinen Schnitt.

Der Laden war stadtbekannt für seine preisgünstigen Hackballen und für seine mit Preisen überhäufte Riesensalami.

Doch wenige Eingeweihte wussten, dass es hinter der wurstigen Fassade auch eine dunkle, geheimnisvolle Seite gab. Es mangelte nämlich massiv an der notwendigen Hygiene, und so mancher Rentner bekam auf unerklärliche Weise plötzlich Magenschmerzen, Durchfall und Schlimmeres.

Da die zuständige Kontrollbehörde kaum Personal hatte, war sein Geschäft in 10 Jahren erst einmal kontrolliert worden. Das Ergebnis war niederschmetternd: Rattenkot, Spinnen, Müll unter den Bodenrosten, angegammeltes, übelriechendes Fleisch, schmutzverklebte Maschinen und Bleche. Es roch ranzig, faul, verdorben und unpassend süßlich.

›Frische‹ und ›Qualität‹ stand groß außen an seinem Schaufenster. ›Nur frische Zutaten‹, ›keine Konservierungsstoffe‹, ›BIO‹ und andere wohlklingende Lügen.

Die Öffentlichkeit erfuhr davon nichts. Alles wurde unter den Teppich gekehrt. Immerhin versprach der Mann Besserung, die es auch gab, aber nach sechs Wochen war wieder alles beim Alten. Die Behörden hielten dicht, denn der Unternehmer, wenn man ihn überhaupt so nennen wollte, war zwar geizig, aber er erkannte die Vorteile, ein Sponsor zu sein. Also spendete er fleißig Geld und Bratwürste an die Stadt und deren Events wie zum Beispiel Altstadtfest, Imbisswoche auf der Augustastraße und Rathausgeburtstag.

Einen Teil des Geldes hatte er sich bei seinen Kunden erschwindelt. Er betrog sie beim Rückgeld, gab weniger zurück als erforderlich, besonders bei älteren Leuten. Die meisten merkten es nicht. Bei ihnen wurde der schmutzige Trick gnadenlos wiederholt. Wenn jemand doch etwas bemerkte, entschuldigte er sich, und ließ es bei dem aufmerksamen Kunden in Zukunft sein.

Moravenga hatte die Gewohnheiten des Schlachters über einen längeren Zeitraum ausspioniert und wusste um dessen Gewohnheiten und Eigenheiten. Einen Tag in der Woche blieb der Alte nach Feierabend alleine im hinteren Teil, wo Würste gemacht wurden. Dort verlustierte er sich zuerst noch mit seiner Verkäuferin hinten in einem Kabuff. Die Frau ließ es mit sich machen, sie erhoffte sich dadurch bessere Behandlung und einen sicheren Arbeitsplatz.

An jenem Schicksalstag entließ der Fleischer seine Maitresse und Verkäuferin durch die Hintertür, an der es kurz danach laut klopfte.

Mist, dachte er, die alte Schlampe hat wohl wieder was liegenlassen.

Als er mit einer Ölschürze bekleidet, mit Schnittschutzhandschuhen an den Händen und ein fesches, weißes Papierschiffchen auf dem Kopf, die Tür öffnete, hörte er noch ein ›Glückauf!‹, dann traf ihn ein wuchtiger Faustschlag im Gesicht. Die meisten wären sofort zu Boden gegangen, aber der Handwerker war trotz seines fortgeschrittenen Alters noch hart im Nehmen. Er torkelte drei Schritte zurück und konnte ein Messer greifen, das zufällig in einem Messerschärfer steckte.

Er hielt es vor sich, um seine Verteidigungsbereitschaft zu signalisieren, und - bei Gott - er hätte den Angreifer abgestochen wie ein Schwein, und wie er es als Metzger gelernt hatte.

Vor ihm stand ein großer Mann mit einer Kapuze über dem Kopf, mit einer schwarzen Skimaske getarnt, viel war von seinem Gesicht nicht auszumachen.

Ehe das Messer eingesetzt werden konnte, traf ihn ein blitzschneller zweiter Schlag, den er nicht mal im Ansatz sah. Das Messer fiel zu Boden, in seinen Ohren klingelte es.

Er wurde in einen Schwitzkasten genommen und zu einem von der Decke baumelnden Fleischhaken geschleift und bugsiert. Halb lief er mit, halb wurde er gezogen, wobei es ihm dämmerte, dass der Eindringling über gewaltige Körperkräfte verfügte.

Ehe er sich versah, hatte er eine Schlinge um den Hals, deren Ende an dem Haken befestigt wurde. So ein Haken konnte 300 Kilogramm aushalten. Die Schlinge war stramm, aber nicht derart, dass es ihm die Luft nahm. Schnell waren seine Hände samt Schnittschutzhandschuhen hinter dem Rücken mit einem Kabelbinder zusammengebunden.

Der Laden machte einen chaotischen Eindruck. Wild durcheinander standen dort Wurstkessel, Wurstfüller, Fleischmürber, Pökelmaschine, Knochenbandsäge, Fleischwölfe – alles, was ein Metzger so brauchte, war vorhanden, inklusive, hier und da verstreut Cevapcici-Presse, Schwartenmesser, Wetzstähle, Wurstheber, Rollbratenkordeln, angerostete Aufschnittmaschinen, Rinderkranzdärme.

Und mittendrin hing nun der Meister.

Dem Fleischer am Fleischerhaken gingen derweil Bilder aus Western durch den Kopf: Die Szene, in der ein Mann mit einer Schlinge um den Hals auf den Schultern seines kleinen Sohnes stehen musste, der irgendwann unter ihm zusammenbrach, trotz heldenhaften Widerstands des Kleinen.

Oder von dem Pferdedieb, Schlinge über dem Ast, unter ihm das Pferd, das weggescheucht wurde.

So richtige Angst spürte er jedoch nicht, denn er stand ja auf keinem Tisch, Hocker, Stuhl oder sonst wie erhöht. Er hoffte, dass ihm der Mann nur einen Schrecken einjagen wollte.

Was wollte der? Geld? Oder war es gar der Ehemann seiner Maitresse, der von ihrem Verhältnis erfahren hatte und sich nun rächen wollte? Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Vielleicht war die Schlinge um seinen Hals nur ein Ablenkungsmanöver. Wollte er ihn mit einem Messer attackieren? Ein Ohr abschneiden? Gott, lass es ein Ohr sein. Ein Ohr ist eine angemessene Strafe, oder hatte er es auf meinen Schniedelwutz abgesehen? Nein! Nur das nicht! Wie soll ich als Kastrat weiterleben? Lieber Gott, lass es - wenn überhaupt schon ein Körperteil - dann ein Ohr sein, auch keinen Finger, als Metzger brauche ich alle. Vielleicht will er mir nur eine gute Tracht Prügel verabreichen? Das wäre vielleicht noch besser als eine Messerattacke und ein fehlendes Ohr. Aber Moment, auch schon eine gebrochene Rippe war lebensgefährlich, könnte sich in die Lunge bohren.

Seine Stirn war von Angstschweiß bedeckt.

»Was willst du? Geld ist nicht hier«, log er. »Lass mich vom Haken, das bringt doch nichts, ich habe nichts getan. Wer bist du überhaupt?«

Doch er bekam keine Antwort. Der Maskierte erschien gelassen und extrem ruhig, hatte bisher kein Wort gesprochen.

Er suchte und fand ein Stück grünlich verfärbte Leber, die er dem Opfer gewaltsam in den Mund drückte, bis dieses anfing zu würgen. Es war seine Henkersmahlzeit, ein übel riechendes, ranziges Stück Foie gras.

»Okay. Ich gebe es zu, ich kann dir Geld geben, ich habe es hier versteckt. Es gehört dir, wenn du mich nicht verletzt und in Ruhe lässt. Nimm das Geld und verschwinde einfach. Es sind immerhin 120.000 Euro. Komm, so leicht kommst du nicht wieder zu viel Geld, presste er heraus.« Durch die ranzige Gänsestopfleber und die Schläge an den Kopf, durch die aufgeplatzte, blutige Lippe war das, was er sagte, undeutlich, das Artikulieren fiel schwer. Er wiederholte sein Angebot, diesmal klang es lauter und verzweifelter.

Doch sein Angebot schien nicht zu verfangen. Von dem Angreifer gab es keine Reaktion und keine Antwort.

Stattdessen zog er einen Teleskopschlagstock aus Stahl aus seiner Tasche, und während der Alte noch an der Leber im Mund würgte, holte er aus und schlug seinem Opfer gegen das rechte Schienbein. Die Tibia brach in mehrere Stücke, der Metzger verlor sofort allen Halt und hing in der Schlinge gefangen.

Er konnte sich auch nicht auf einem Bein halten, und selbst wenn er das gekonnt hätte, wie lange hätte er auf einem Bein stehen können? Aber soweit kam es erst gar nicht, sein Bein brach zu schnell und damit seine Fähigkeit zu stehen.

Unvermeidlich hing sein Hals in der Schlinge, sein Gewicht zog den Körper nach unten. Er röchelte und rang nach Atem. Vergeblich. Die Schlinge nahm ihm die Luft. Er bekam zum letzten Mal noch erotische Gefühle. Seine Zunge trat heraus. Samen, Urin und Kot gingen ab.

Es folgte Schnappatmung. Dann wurde er schlagartig bewusstlos. Seine Atmung stoppte, nach sechs Minuten trat der Gehirntod ein. Sein Herz schlug noch 20 Minuten weiter.

Nun wollte Moravenga die 120.000 Euro finden. Zweifelsohne hatte der Metzger sein Schwarzgeld gut versteckt, doch Moravenga hatte in seinem Haus selbst diverse Verstecke, kannte sich damit aus.

Wäre doch gelacht, wenn er nichts finden würde, dachte er.

Im Büro des Meisters begann er seine Suche. Es war kein Safe zu sehen.

Im Wasserkasten der angrenzenden kleinen Toilette und im Kühlfach brauchte er erst gar nicht nachzusehen. Mit solchen Idiotenverstecken gab er sich nicht ab.

Er klopfte die Wände ab, um dahinterliegende Hohlräume zu finden. Fehlanzeige. Auch die Tür sah er sich genau an. Er nahm einen Spiegel ab. Nichts dahinter.

Er untersuchte, ob ein Bilderrahmen eine zweite Rückwand hatte.

Einen Lüftungsschacht gab es nicht. Er sah unter die Schreibtischplatte, ob dort Umschläge angeklebt waren.

Einen Feuerlöscher untersuchte er ebenso wie die Fußbodenleisten.

Die Steckdosen ließ er außer Acht. Es gab falsche Steckdosen, aber da passte diese Summe, die er suchte nicht hinein.

Er überlegte. Dann fiel sein Blick auf einen Kommodenschrank, der hüfthoch und relativ lang war. Er bückte sich und zog kraftvoll an der Stoßleiste.

Die Leiste, die an drei Stellen mit Klettverschluss befestigt war, löste sich. Dahinter gab es drei Hohlräume, in denen sich drei Tupperdosen befanden. Dahinter sah er schon etwas Grünes.

Das ist es, dachte er. Bingo!

Er öffnete sie und fand die Euroscheine. Es waren etwa 1.200 100-Euro-Scheine. Drei Stapel in Höhe von vier Zentimetern, mit Gummibändern in Form gehalten. Er konnte sich ein leises, kurzes Lachen nicht verkneifen.

Was, wenn es nicht nur die 120.000 waren, sondern der Metzger noch mehr versteckt hatte?

Die Suche war sehr schnell vonstattengegangen. Er wollte so schnell wie möglich weg. Nur den großen Blumentopf wollte er noch schnell untersuchen. Er hob den gesamten Topf aus dem Übertopf heraus.

Er konnte nicht fassen, was er sah.

Der Mann war ja noch dümmer, als ich gedacht hatte.

Es war ein sehr schlechtes Versteck, allen gewieften Einbrechern wohlbekannt. Auf dem Boden des Übertopfes fand er Gefrierbeutel mit weiteren Geldscheinen. Er nahm sie mit, zum Zählen blieb keine Zeit mehr.

Er trat auf die Straße. Er fühlte sich gut.

Es hatte riesigen Spaß gemacht. Er holte tief Luft und fand, dass die Luft im Städtchen nun frischer und sauberer war.

Er empfand weder Schuld noch Reue, noch war seine Herzfrequenz und sein Blutdruck nennenswert angestiegen.

Nun wird sehr wahrscheinlich der Sohn das Geschäft weiterführen, dachte er, mal sehen, ob er es besser macht.

Kapitel 4

In seinem Haus zählte Moravenga seinen zweiten Fund, es waren 50.000 Euro. Der erste Betrag war tatsächlich genau 120.000 Euro.

Er vermutete, dass der Metzgermeister bei der zweiten Tranche sich noch kein besseres Versteck überlegt hatte. Er wollte wohl auch nicht den ganzen Betrag in nur einem Versteck haben, sondern es etwas verteilen.

Offen blieb es für ihn, ob nicht noch mehr Geld zu finden gewesen wäre. Ihm war für die Suche nicht mehr Zeit geblieben. So oder so, der gefundene Betrag war nicht zu verachten.

Er untersuchte stichprobenartig die Banknoten, ob sie Falschgeld waren. Sie waren echt. Er vermutete, dass es unversteuertes Geld war.

Dieses Geld war nirgendwo registriert. Welchen Sinn hätte es für den Metzger gemacht, sich Seriennummern aufzuschreiben. Er hatte keine Möglichkeit zu sehen, wo die Scheine wieder auftauchten, wenn sie denn wider Erwarten gestohlen würden.

Interessanter war die Frage, wer von dem Geld gewusst hatte. Seine Frau? Sein Sohn? Nur der Metzger alleine?

Das war eigentlich egal, denn seine Mitwisser würden das Geld nicht als gestohlen melden können. Es war Schwarzgeld, das Resultat von Steuerhinterziehung.

Moravenga besaß ein Haus und ein Grundstück, auf dem es stand, obwohl rein formal seine Schwester im Grundbuch eingetragen war. Er hatte das von den Eltern geerbte Geld auf der Bank, für das er seinerzeit bereits Erbschaftssteuer abführen musste. Das fand er mehr als ungerecht, denn das vom Vater geerbte Geld war ja bereits von seinem Vater versteuert worden. Der Staat hatte sich schamlos zweimal bedient. Scheiß Staat, dachte Moravenga.

Da er kein Einkommen hatte, brauchte er auch keine Steuererklärung abzugeben. Seine Zinsen lagen unter dem Freibetrag, denn er hatte das meiste Geld nicht bei einer deutschen Bank liegen, sondern auf ausländischen Konten deponiert.

Das beim Metzger unerwartet erbeutete Geld konnte er bei Bargeschäften frei verwenden. 170.000 als Notgroschen, für Notfälle hatte er nun.

Wilma, die Frau von Metzger Wulst, hatte ihren Mann eines Abends zufällig dabei beobachtet, wie er die Stoßleiste abnahm, Geld in dahinter verbogene Behälter legte und dann die Leiste wieder befestigte.

Sie stellte ihren Mann zur Rede.

»Denk doch mal nach«, sagte sie wütend, »Wenn du morgen ins Koma fällst, weiß keiner von dem Geld, es könnte samt der Kommode auf dem Sperrmüll landen. Ich dachte du wüsstest, dass du mir uneingeschränkt vertrauen kannst. Werner, Werner, du hast mich sehr enttäuscht. Aber Schwamm drüber, jetzt ist das geklärt. Wie viel hast du denn versteckt?«

»120.000 Euro«, antwortete er.

Die 50.000 im Blumentopf verschwieg er trotzdem.

Ehefrauen müssen ja nicht alles wissen. Und Kinder auch nicht.

»Ein schönes Polster für unvorhergesehene Ausgaben«, sagte Wilma. »Weiß der Junior davon?«

»Nein.«

Nach dem Mord sah Wilma Wulst im Versteck nach. Nichts mehr da. Damit stand für sie das Motiv fest: Raub, Geldgier.

Doch wer wusste noch vom versteckten Geld? Das musste der Mörder ihres Mannes sein. Sie zermarterte sich das Gehirn, doch sie kam zu keiner Antwort.

Der Mordkommission gegenüber sagte sie kein Wort zum Notgroschen.

»Es fehlt nichts im Geschäft. Warum also dieser schreckliche Mord? Wer tut so etwas?«

»Das werden wir herausfinden«, sagte Kriminalhauptkommissar Ulrich Urban zuversichtlich.

Als die Polizei den erhängten Metzger fand, hing seine Zunge aus dem Mund, trocken und schwarz. Das Blut hatte sich in seinem Gesicht angesammelt und ließ es dunkel erscheinen.

»Atypisches Erhängen«, stellte der Arzt fest, als er den Kontakt des Körpers mit dem Boden sah.

Es folgten die üblichen Abläufe: Beschreiben, Fotografieren aus mehreren Richtungen und vom Allgemeinen zum Besonderen. Vermessen, Skizzieren des Tatortes, Lage von Spuren zum Tatort und zueinander, Nahaufnahmen mit Maßstab und Nummerntafel, Sichern - soweit möglich - der Spuren mit Spurenträger, Orientierungsaufnahmen, Übersichtsaufnahmen, Teil-Übersichtsaufnahmen, Sicherstellung der Kleidungsstücke als Spurenträger, von Kontaktspuren wie Haare und Fasern, Sekretspuren wie Sperma, Blut etc.

Die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei leiteten ein Todesermittlungsverfahren ein. Die zuständige Mordkommission aus Hagen übernahm die Ermittlungen.

Im Hattinger Harbinger wurde nach Zeugen gesucht, »Wer kann Angaben machen?«, titelte Kalle Schmiedel.

Kapitel 5

In seinem Büro im Polizeipräsidium an der Hüttenstraße in Hattingen, im dritten Stock, saß Kriminalhauptkommissar - KHK - Urban in Uniform, mit vier silbernen Sternen auf der Schulter.

Er teilte sich das Büro mit seiner Kollegin Kriminaloberkommissarin - KOK - Giulia Montisi, die gerade in einer kleineren Ermittlungssache unterwegs war. Sie wollte mit einem Mann sprechen, der nackt durch das Reschop Carré, eine kleine Mall, gerannt war. Eigentlich war die Modeerscheinung ›Flitzen‹ ja lange vorbei, außer in Fußballstadien, aber es gab eben immer Nachzügler.

KHK Ulrich Urban war 43 Jahre alt und ein gestandener Kriminalpolizist. Eigentlich hieß er Ulrich Heinrich Urban und wurde allgemein UHU genannt, erstens wegen seiner Initialen und zweitens wegen seiner ausgeprägten scharfen Beobachtungsgabe.

Er sah Dinge, die andere meist nicht bemerkten, und diese angeborene Gabe war in seinem Beruf als Ermittler natürlich nützlich.

Er war nicht mehr ganz schlank, hatte aber breite Schultern, und beeindruckende 43 Zentimeter Bizepsumfang, sehr blaue Augen, aquamarin, blau wie das Meer.

Deswegen wurde er aber nicht UHU genannt, weil Uhus keine blauen Augen haben, sondern gelbe oder orangene. Uhus mit grünen Augen gab es allenfalls als Kristallglas Figur im Internet.

Er hatte dunkelblondes, kräftiges Haar. Ansonsten fiel er nicht weiter auf, dazu war er zu gewöhnlich, trotz seiner stattlichen 1,89 Meter Körpergröße. Er hatte einen Händedruck wie ein Schraubstock und musste sich arg zurücknehmen, wenn er Frauen die Hand gab, schließlich wollte er deren Hände, oft kleine und zarte Händchen, nicht zerquetschen.

Er trug mit Vorliebe einen Anzug, meist im dunklen Farbton und bunte Seidenkrawatten, immer nur mit kleinem Knoten. Niemals würde er einen von diesen ekelhaften dicken Knubbeln am Hals tragen. Mit einem Anzug plus Krawatte, egal wie die Größe des Windsorknotens ist, konnte er sich überall sehen lassen. Sei es in einer Eckkneipe oder beim Bürgermeister Dirk Knobel oder bei einer Pressekonferenz und sogar in der Kantine des viel gehassten Finanzamtes am Rathausmarkt.

Er war ein penibler Ermittler, der seine ersten Meriten als junger Kripomann bei den Ermittlungen gegen Zuhälterbanden in Hamburg verdient hatte.

Der Liebe wegen hatte er sich nach Hattingen versetzen lassen, wo der Hund begraben schien und nach 22:30 kein Essen mehr aufzutreiben war. Mal abgesehen von einer miesen Bulette in einer Kneipe, falls überhaupt noch eine geöffnet hatte.

»Herr Ober, ich wollte ein Brötchen zu meiner Bulette.«

»Ist schon drin.«

»Ich hätte aber trotzdem gerne ein Brötchen.«

»Ist auch schon drin.«

Ihm fiel dieser Witz ein, und er musste tatsächlich laut lachen. Die anfangs vielversprechende Beziehung mit seiner Partnerin funktionierte nicht und ging nach einem Jahr in die Brüche.

Die Fälle, die er bearbeitete, waren eher harmlos; mal ein paar dreiste Rumänen verhören, die bei Saturn beim Ladendiebstahl erwischt wurden, mal einen Überfall auf eine Spielhalle oder eine Körperverletzung aufklären. Relativ kleine Sachen im Vergleich zum brodelnden Hexenkessel von Hamburgs Reeperbahn, oder dem Drogenhandelsplatz St. Georg nahe dem Hamburger Hauptbahnhof.

Er war in Hattingen aufgewachsen, seine Eltern hatten ihm in ruhiger Wohnlage in der Südstadt ein kleines Haus überlassen, in dem er sich wohlfühlte. Es war ein Bungalow mit Flachdach, im Hügelland, in der Elfringhauser Schweiz. Seine Nachbarn rechts und links waren zwei gebildete ältere, alleinstehende Damen, Frau Bergmann und Frau Waxmann, die ihm gelegentlich selbstgebackenen Pflaumenkuchen brachten.

Er war nach seinem Abitur zu den Kampfschwimmern der Bundeswehr gegangen und hatte sich dort recht wacker geschlagen, war nach zwei Jahren als Leutnant entlassen worden.

Sein Expertisebereich war der Nahkampf, Mann gegen Mann, was aus der Tatsache resultierte, dass er, seit er ein Teenager war, im Judoverein trainierte, und sodann in einem Karateverein. Mit 18 Jahren hatte er schon seinen Schwarzgurt bestanden, den ersten Dan im Shotokan Karate, der traditionellen japanischen Stilrichtung.

Kurzum, er war alles andere als ein Weichei und Warmduscher, er war ein harter Bursche.

Doch in seinem Beruf als Kriminalist musste er selten mal einen asozialen Kriminellen mit Judo zu Boden bringen. Meistens saß er am Schreibtisch und benutzte Logik und Akten sowie einen amtlichen PC oder Laptop für seine Ermittlungen.

Zum Training in einem Kampfsportverein hatte er nur noch selten Zeit. Er war auch etwas bequemer geworden und aß die eine oder andere Portion Pommes zu viel. Daher war es um seine Form nicht mehr zum Besten bestellt, er hatte Gewicht zugelegt, es zeichnete sich ein Bauchansatz ab.

Seine Kollegin Giulia Montisi war nun zurück im Büro. Obwohl sie sich das Büro teilten, bearbeitete jeder seine eigenen Fälle. Da sollte sich bald ändern.

Sie teilte sich den Arbeitsplatz gerne mit UHU, die beiden Kriminalisten verstanden sich gut.

Sie hatte ihre Karriere in Essen begonnen und hatte sich durchgebissen, hatte es hingenommen, dass sie in der Essener Wache an der Gruga gemobbt wurde, sie sah, wie Kollegen schleimten, wenn eine Beförderung anstand. Alle Schikanen ihrer männlichen Kollegen konnten sie nicht demotivieren, sie leistete gute Arbeit, wurde befördert und ausgezeichnet, das Piesacken hörte nach und nach auf.

Ihre dichten schwarzen, schulterlangen Haare, ihre Figur, ihre ausdrucksstarken grünen Augen, hellgrün wie ein Peridot, fanden viele ihrer männlichen Kollegen attraktiv. Doch sie ließ sich auf nichts ein.

Urban gefiel ihr. Aber er war eben ihr Kollege, sie wollte Beruf und Privatleben trennen, ihre Beziehung zu Urban sollte rein professionell bleiben.

Sie kam aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Sie hatte italienische Wurzeln, ihr Vater, ein Pilot bei der Alitalia, war Italiener, daher sprach sie gut italienisch. Ihre Mutter war Deutsche, Apothekerin in Sprockhövel, einer kleinen Nachbarstadt von Hattingen.

Die Eltern waren seit ein paar Jahren geschieden. Ihr Vater war nach der Scheidung nach Italien gezogen. Einmal im Jahr verbrachte Montisi 1-2 Wochen bei ihrem Vater in der Toskana.

Immerhin hatte sie es, mit der Unterstützung ihrer Eltern, zu einer geräumigen Eigentumswohnung in Sprockhövel gebracht, in der sie in einem Singlehaushalt wohnte.

Eigentlich wollte sie gerne undercover gegen die NRW- Mafia ermitteln, doch sie wurde nach Hattingen versetzt, um mit UHU ganz gewöhnliche Fälle zu bearbeiten und im besten Falle auch aufzuklären. Aber wer wusste, was ihre Zukunft noch bringen würde. Klar war, dass die Mafia in NRW besonders aktiv, aber auch besonders verborgen war. Sie ging jederzeit als Italienerin durch. Vielleicht würde ihre Chance noch kommen.

Zunächst aber kam der Mord an Metzger Werner Wulst Senior an die Reihe.

Das Diensttelefon klingelte, und Urban wurde mitgeteilt, dass er und Montisi Teil der eingerichteten Mordkommission sein würden, die den Mord am Metzger aufklären sollte.

»Wir sind Teil der Mordkommission in Hagen, du und ich«, sagte er zu Montisi.

Das ist fabelhaft, dachte sie und sagte:

»Das ist famos.«

»Ausgezeichnet, prima.«

»Wieder was gelernt«, sagte er. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, dass sie es besonders mochte, alte Wörter zu verwenden, die selten oder so gut wie gar nicht mehr benutzt wurden.

»Auf nach Hagen«, sagte er. Unser Dienstwagen ist gerade gewaschen worden.

»So ein Zufall, auch ich habe gerade gebraust.«

»Im Netz?«

»In der Dusche«, sagte sie und grinste.

Nun arbeiteten sie zusammen an einem Fall. Montisi gefiel das, denn sie ertappte sich manchmal dabei, dass sie an Urban dachte, auch wenn es nicht dienstlich erforderlich war. Eine private Beziehung mit einem Kollegen konnte sie sich jedoch nicht so recht vorstellen.

Sie wollte das auch nicht, sie wollte Dienst und Privatleben strikt auseinanderhalten. Das nahm sie sich vor.

Kapitel 6

Gemeinsam fuhren Urban und Montisi in Zivil im 3er BMW Dienstwagen nach Hagen zur Mordkommission.

Montisi war froh, dass ihr Kollege Urban ein so netter Kollege war. Und es gefiel ihr, dass er Courage hatte, das mochte sie bei Männern.

Er hatte ihr erzählt, wie er als junger Mann Mutproben machte, um Mädchen zu beeindrucken.

Dann gingen sie in diesen Eisenbahntunnel, den Schulenbergtunnel, an der Grünstraße, der heute ein Fahrradweg ist. Früher fuhren dort Personen- und Güterzüge. Wenn die vorbeifuhren, drückten sie sich in die Nischen im Tunnel. Die Mädchen waren immer schwer beeindruckt.

Und wenn sich ein Pärchen in eine Nische drückte, eng aneinandergepresst, dann wurde der eine oder andere Kuss ausgetauscht. Es war so prickelnd aufregend, so romantisch.

Sie fühlte sich gut, kam sie doch soeben von einem drei Tage Lehrgang im Schießen.

Feuern aus unorthodoxen Positionen heraus, im Sitzen auf einem Stuhl, zweihändig, einhändig, auf dem Boden sitzend, mit angewinkelten gekreuzten Beinen, mit ausgestreckten Beinen, aus dem Auto hinaus (erst abschnallen), liegend auf dem Rücken, der Seite, bäuchlings, nachladen in allen Positionen, richtig Deckung nehmen am Polizeiwagen.

Das hatte enormen Spaß gemacht. Sie fühlte sich nun befähigter, sicherer, gut vorbereitet auf gefährliche Situationen. Dieses Schießtraining wird sich irgendwann bezahlt machen, dachte sie. Und sie sollte Recht behalten.

Urban spekulierte auf der Fahrt bereits über Motive beim Metzgermord wie Eifersucht, persönliche Rache usw. Nun schien es mit der Ruhe im Städtchen Hattingen vorbei zu sein, nach langer, langer Zeit wieder ein brutaler Mord. Er war fast dankbar dafür, endlich zeigen zu können, was er an ermittlerischen Fähigkeiten hatte, sein Jagdinstinkt war geweckt. Er war bereits voller Hingabe und dynamischer Energie und vom Willen beseelt, den oder die Täter zu finden. Er stürzte sich auf diese Herausforderung.

Im Polizeipräsidium in Hagen befand sich im Erdgeschoss eines großen Gebäudes eine Polizeiwache. Im fünften Stock hatte sich die Mordkommission versammelt, die unter anderem aus einem 15-köpfigen Ermittlungsteam bestand, zu dem nun Urban und Montisi gehörten. Geleitet wurde das Team von Erster Kriminalhauptkommissar EKHK Herbert Stopfei. Er war ein Mann, der Autorität ausstrahlte, echte Autorität, die ihn dahin gebracht hatte, wo er jetzt war: in eine leitende Position.

Die meisten, aber nicht alle Beamten, kannten sich bereits seit längerer Zeit. Stopfei stellte nochmal jeden Einzelnen vor.

»Sie alle sind willkommen in unserem A-Team«, fügte er hinzu.

Montisi bekam keinen Platz neben UHU. Stopfei platzierte sie neben Sofia Bizza, eine Kollegin, die auch italienische Wurzeln hatte. Durch diese Sitzordnung hatte sie einen besseren Blick auf Urban, als wenn sie neben ihm säße. So konnte sie ihn hin und wieder ansehen. Sie sah ihn gerne an.

Die MoKo-Leute tranken Kaffee aus großen Tassen oder Mineralwasser und die eine oder andere Cola, auch koffeinhaltige Brause.

In Windeseile hatte man neue Räume für die Mordkommission zur Verfügung gestellt. Es wurden modernste Telefone und Computer installiert, ebenso eine riesige Kaffeemaschine. Es gab Kisten mit Mineralwasser, Toilettenpapier, Seifenspender.

Und es gab ein großes, interaktives Whiteboard,um darauf Computerinhalte anzuzeigen. Bewegliche Flipcharts standen herum, einige davon digital, mit denen man das Geschriebene und Gezeichnete als PDF speichern konnte.

Auch hatte man mehrere Flächen an die Wände montiert, auf denen man per Stift schreiben oder per Magnet Zettel anheften konnte. Nur vom Feinsten.

Um alle aufzulockern, sagte Herbert Stopfei:

»Wusstet ihr, dass früher eine kleine Menge Kokain in der Cola war?«

Ungläubiges Staunen, aber man glaubte es ihm, er war für sein breites Allgemeinwissen bekannt.

Urban öffnete eine Dose Energy Drink, koffeinhaltige Brause. Das vertraute knackende Geräusch beim Aufreißen der Lasche tat ihm gut. Das Zischen der entweichenden Kohlensäure war wie Musik. Er nahm einen Zug, aaahhh, herrlich, das Prickeln auf der Zunge, der angenehme Geschmack, ob er davon süchtig werden konnte?

Er ertappte sich dabei, dass er immer mehr davon konsumierte, wie er den Koffein Kick genoss, wie aber auch sein Körper sich mysteriöserweise daran gewöhnte und die Wirkung nachließ, und er in der Folge immer mehr davon trinken musste, um wach zu werden oder wach zu bleiben.

»Nun zur Sache«, sagte Stopfei.

»Der Mord am Metzger Wust gibt uns Rätsel auf. Es gibt bisher keine Hinweise auf ein Motiv. Wir haben auch keine verwertbaren Spuren gefunden, der oder die Täter sind sehr professionell vorgegangen.

Also, nochmal, wir haben bisher weder ein Motiv noch eine Spur, persönliche Motive wie Eifersucht, Rache, Familienfehde, vernachlässigte Geliebte oder Geliebter, konnten wir nicht erkennen. Wie gesagt, auch die Spurenauswertung, sofern überhaupt welche gefunden wurden, erbrachte nichts. Auch Raubmord schließen wir aus, nach Angaben der Ehefrau fehlt nichts. Wir tappen im Dunkeln. Aber wir müssen noch weitere Personen befragen, sein Mobiltelefon auswerten.

Hat noch jemand eine Idee?«

Ein MoKo-Mitglied, ein kräftiger Mann mit vielen Sommersprossen im Gesicht, daher Sommersprosse genannt, schlug vor:

»Wir sollten in den Medien nach Zeugen suchen. Vielleicht hat jemand zur ungefähren Tatzeit in der Umgebung etwas beobachtet, auch wenn es in der Nacht passierte. Und wer hat eventuell etwas Verdächtiges bemerkt, am ZOB oder am S-Bahnhof. Es könnte ja sein, dass der Täter mit öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen war.«

»Ja, das hatten wir bereits in Angriff genommen. Unsere Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist schnell. Unter anderem im Hattinger Harbinger haben wir Zeugen aufgerufen, sich zu melden.

Leider gibt es am ZOB keine Kameras, auch keine an der S-Bahn Station. Bilder aus der S-Bahn sind nur bis zu 48 Stunden im Speicher, das haben wir verpasst«, erklärte Stopfei.

»Gab es schon mal radikale Veganer, die Metzger umgebracht haben?«, fragte Sommersprosse.

»Nein, ist mir nicht bekannt, wir wissen auch nicht, wer in der Stadt veganer ist und wer nicht«, antwortete Stopfei. »Auch radikale Tierschützer à la PETA haben wir uns näher angeschaut, doch es kommt nichts aus dieser Szene. Wir haben da sogar einen V-Mann, doch der hat auch nichts gehört.«

Insgesamt brachte die Besprechung nicht viele Informationen, sie wurde relativ schnell beendet.

Stopfei hatte sie noch motiviert: »Wir werden den Mörder schnell fassen.«

Urban und Montisi fuhren nach Hattingen zurück. Sie wussten, dass es nun mit Freizeit vorbei war, sie stellten sich auf 12 und mehr Stunden Arbeit ein, jeden Tag, sechs bis sieben Tage pro Woche. Urlaub, Partys, Feiern aller Art, Kneipenbesuche, Kino und weitere Aktivitäten: ade!

Gleich morgen früh würde es die nächste Dienstbesprechung geben, und von da an zweimal täglich.

Zurück in Hattingen saßen sie an ihren Schreibtischen und dachten angestrengt nach. Genauer gesagt, sie ärgerten sich, dass sie im Mordfall des Metzgers Wulst nichts in der Hand hatten. Keine Spuren, keinerlei Zeugen, keine Hinweise, die man ernst nehmen konnte, nichts, nada, rien, zip, zilch, nothing, nix.

Das passte UHU gar nicht, denn auch der Presse konnte er keinerlei erfolgversprechenden Spuren bekanntgeben. Klar, schwachsinnige Hinweise gab es in jedem Fall, die nützten ihm aber nichts. Er hatte kein Motiv, keine Videokamerabilder, nichts hatte sich ihm offenbart, er tappte im Dunkeln - und das machte ihn wütend.

Er griff in seine Schreibtischschublade und nahm eine große Schachtel Hachez Pralinés heraus, schob sich eine Sahne-Krokant-Variante in den Mund; schon fühlte er sich besser. Dann nahm er ein paar Schlucke heißen Kaffee und dachte weiter nach, aber nun schon entspannter und weniger frustriert-verbissen.

Plötzlich erschrak er. Er hatte Montisi keine Praline angeboten. Wie dumm von ihm. Schnell holte er das nach. Sie hatte ihm noch vor kurzem erzählt, dass sie sich zuhause gerne mal einem Geschmacksfeuerwerk hingab: Sie lutschte erst ein Karamellbonbon, dann ein Eukalyptus Bonbon, nahm einen Schluck Waldmeisterbrause, kaute dann kurz ein Kaugummi mit Zitrusgeschmack, dann eins mit Blaubeergeschmack, aß einen Riegel Schokolade, danach eine Clementine. Dieses Feuerwerk der diversen Geschmäcker half ihr, sich zu konzentrieren. Nur Pfefferminz war ihr zuwider, sie war es leid geworden. Schon als Kind hatte sie im Kino abwechselnd einen Schluck Cola und ein Stück Eiskonfekt genossen. Dadurch wurde der Film noch besser. Geschmack war ihre Stärke, die sie kreativ zu nutzen wusste.

Es war der erste Mord nach vielen Jahren, in der sonst eher ruhigen Kleinstadt Hattingen. Tote, die durch unnatürliche Art starben, gab es bei Verkehrsunfällen – aber Morde? Selten.

2003 hatte eine Frau ihren erwachsenen, drogensüchtigen Sohn umgebracht und ihn sodann mit Axt und Motorsäge zerstückelt. Ja, wenn schon, dann richtig. Fast wunderte sich Urban, dass nicht noch ein Schuss Kannibalismus dazugekommen war.

2005 war eine Frau erstochen worden. 6 Jahre brauchte die eigens gegründete Mordkommission, um den Täter eher zufällig zu finden.

2009 hatte es einen Mann gegeben, der seine Frau, deren junge Tochter und dann sich selbst erstochen hatte - aus Eifersucht, drei auf einen Streich.

Mörder in Hattingen schienen Messer zu mögen. Jedenfalls gab es in einem Fall wie dem Letzten nicht viel Aufklärung zu leisten, der Mörder stand schnell fest, und eine Gerichtsverhandlung konnte auch eingespart werden.

Aber nun dieser ungewöhnliche Mord an dem Metzger. So was hatte es in der Stadt noch nicht gegeben. Das war hier nicht Hamburg, sondern ein kleines Städtchen im Süden des Ruhrgebiets.

UHU schob sich ein weiteres Stück höchster Confiserie-Kunst in Form einer Praline in den Mund. Yummy, lecker! Und diesmal hielt er die Schachtel aufmerksam seiner Kollegin hin, die sich nicht lange bitten ließ.

Das Telefon klingelte, es war mal wieder der Lokalreporter vom Hattinger Harbinger, Kalle Schmiedel, der wissen wollte, ob es was Neues gab im Mordfall Wulst.

»Leider nicht, sonst hätte ich Sie schon angerufen«, beschied Urban, »aber ich bleibe am Ball. Morgen geben wir eine Pressekonferenz im Rathaus, kommen Sie vorbei.«

Kapitel 7

Polizei und Bürgermeister hatten zur Pressekonferenz ins Rathaus geladen. Dort gab es mehr Platz, die Örtlichkeiten im Polizeipräsidium an der Hüttenstraße waren zu eng.

Anwesend waren Ulrich Urban und Giulia Montisi von der Mordkommission, der MoKo, die man mit Hattingen und Hagen, sowie der Staatsanwaltschaft Essen gebildet hatte. Anwesend waren auch der MoKo-Pressesprecher Bernhard Weiss sowie der Hattinger Bürgermeister Dirk Knobel.

Rund 12 Journalisten diverser Printmedien, vom Hattinger TV Kanal und von den WDR Lokalnachrichten waren gekommen.

»Brinkmann. Die Zeit. Haben Sie schon einen Verdächtigen? Was könnte das Motiv gewesen sein?«

Urban: »Wir verdächtigen noch niemanden. Das Motiv kennen wir auch noch nicht. Wir arbeiten mit Hochdruck an dem Fall. Wir sprechen nun mit der Ehefrau, dem Sohn, mit den Angestellten, mit den Nachbarn, wie das bei so einem Fall üblich ist.«

»Bartholdy. TV Kanal. Das war der erste Mord in Hattingen nach vielen Jahren, ich glaube der letzte war vor 4 Jahren.«

Urban: »Der Fall damals wurde aufgeklärt. Was ist Ihre Frage, Herr Bartholdy?«

Bartholdy: »Müssen wir uns jetzt Sorgen machen?«

Bürgermeister: »Nein, es besteht kein Grund zur Sorge. Hattingen ist eine sichere Stadt, und unsere Polizei ist bestens ausgebildet und ausgerüstet. Es wird nicht lange dauern, bis der Täter gefasst wird.«

»Eckmann. WDR. Wie geht es nun mit der Metzgerei weiter?«

Urban: »Nachdem, was ich hörte, wird vermutlich der Sohn das Geschäft weiterführen. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen. Warten Sie es einfach ab. Sie können bei weiteren Fragen unseren Pressesprecher, Herrn Weiss, von Montag bis Freitag zu den üblichen Bürozeiten per Telefon erreichen. Die Nummer lassen wir Ihnen umgehend zukommen.

Falls noch nicht geschehen, bitten Sie in Ihren Medien darum, dass sich eventuelle Zeugen melden, wenn sie etwas Ungewöhnliches in der Tatnacht beobachtet haben. Oder wenn sie sonst irgendwas im Zusammenhang mit dem Mord wissen.«

Es folgten noch eine Reihe anderer Fragen und Antworten. Dann war diese Pressekonferenz auch schon wieder beendet.

Kapitel 8

Moravenga saß auf seiner Terrasse seines Hauses in Hattingen und trank Kaffee. Er dachte an Sabri Özil, an das Telefongespräch mit ihm, an das er sich gut erinnern konnte. Alle anderen Hintergründe erfuhr er erst später aus den Zeitungen. Die Ereignisse lagen schon vier Jahre zurück.

Sabri Özil war damals auf der Flucht vor der Polizei. Er hatte in Essen einen Mercedes gestohlen. Als er in den Kofferraum sah, entdeckte er eine Leiter, was ihn sofort auf die Idee mit der Ruhrtalbrücke brachte, also steuerte er den Wagen auf der A 52 in Richtung Düsseldorf.

Auf der 65 Meter hohen Ruhrtalbrücke beim Kilometerstein 19,5 bei Mintard, einem kleinen Ortsteil von Mülheim, parkte er auf dem Seitenstreifen, ohne Licht. Soll doch ein ungläubiger Kuffar noch drauf fahren und verrecken.

Er nahm die Leiter aus dem geklauten Wagen. Dazu ein von ihm mitgebrachtes langes, dünnes aber belastbares Seil, das er mit einem Ende an der Leitplanke verknotete, dazu noch mit ein paar Schlaufen am Gitterzaun selbst.

Die Schlinge am anderen Ende legte er um seinen Hals, mit der ausgeschobenen Leiter stieg er über das Schutzgeländer, das Selbstmörder abhalten sollte, aber ihn doch nicht, wäre ja gelacht. Er wollte nicht einfach springen, sondern sich erhängen, sich das Genick brechen.

Nur springen, ohne Seil am Hals, würde alle Knochen im Körper brechen, so wollte er nicht begraben werden.

So stand er am Rand der Brücke, nahm sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer der Suizid Hotline.

Moravenga nahm den Hörer ab. Er führte nichts Gutes im Schilde, aber alles hing davon ab, wer da anrief.

Seit zwei Monaten hatte er einen Job bei der Telefonseelsorge und Suizid Präventionsgesellschaft Nur Mut in Essen, am Seelsorge-Telefon, die 24 Stunden, sieben Tage pro Woche, an 365 Tagen erreichbar war.

Er war einer von 120 ehrenamtlichen Mitarbeitern und hatte extra eine Ausbildung von fast einem Jahr durchlaufen, zweieinhalb Stunden pro Woche.

Er war am späten Nachmittag, kurz vor Ende seiner fünfstündigen Schicht alleine im Büro. Er konnte die Nummer des Anrufenden nicht sehen, und keinesfalls durften Gespräche aufgezeichnet werden.

»Guten Tag, hier ist die Telefonseelsorge ›Nur Mut‹, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Du, Bruder, ich will von der Brücke springen, doch ich will auch nicht springen und weiterleben«, sagte eine brüchige, etwas weinerliche Stimme. »Ich weiß nicht genau, was ich machen soll.«

Normalerweise siezte Moravenga die Anrufer, aber in diesem Fall erwiderte er das Duzen des Anrufers. Er wollte und konnte damit leichter Vertrauen aufbauen.

»Was hast du für Probleme. Weißt du, viele Problem, die uns erst unendlich groß vorkommen, lassen sich oft lösen, wenn man die Hilfe anderer bekommt. Was ist dein Problem, ich höre dir zu. Warum willst du springen?«

»Ich habe gestern meine Schwester umgebracht, erstochen.«

Moravenga schluckte, blieb aber ansonsten unbeeindruckt.

»Ich musste das tun, um die Ehre meiner Familie zu retten. Wir sind Türken, Muslime, strenggläubig. Seit gestern bin ich auf der Flucht vor der Polizei. Meine Schwester hat die Ehre meiner Familie beschmutzt, weil sie sich von ihrem Cousin scheiden ließ. Außerdem hat sie ihn mit einem Deutschen betrogen, als sie noch verheiratet war. Nach der Scheidung trug sie auch kein Kopftuch mehr, ging nicht mehr in die Moschee. Sie wollte den Islam aufgeben, von ihm abfallen, sie war schon eine Ungläubige geworden.«

Der Mann sprach akzentfreies gutes Deutsch, er war offenbar in Deutschland geboren und aufgewachsen.

Moravenga schwieg.

»Hallo, bist du noch dran?«

»Ja, Ich bin hier.«