Mordkapelle - Carla Berling - E-Book
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Mordkapelle E-Book

Carla Berling

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Beschreibung

Ein malerischer Sommerabend auf dem Land. Als die Lokalreporterin Ira Wittekind zur brennenden Friedhofskapelle in Rehme gerufen wird, findet sie ein schauriges Szenario vor: In der Ruine steht ein Rollstuhl vor dem Altar, der Mann darin ist tot. Es handelt sich um den angesehenen Apotheker Ludwig Hahnwald, allen bekannt als der schöne Ludwig. Ira Wittekind beginnt zu recherchieren. Dabei stößt sie auf ein dichtes Geflecht aus Lügen, Intrigen und verratener Liebe. Und auf ein grauenhaftes Unrecht, das vor vielen Jahren begangen und nie gerächt wurde.

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Seitenzahl: 508

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Meiner Freundin Gisella und ihrer Frau Mama gewidmet.

Ohne sie gäbe es diesen Roman,

der zum Teil auf wahren Begebenheiten beruht, nicht.

Carla Berling

Mordkapelle

Kriminalroman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2016 by Carla Berling

Copyright © 2017 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: © Bürosüd unter Verwendung

einer Abbildung von mauritius images/Radius Images

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-19693-6 V004

www.heyne.de

Prolog

NEIN. Er würde nicht noch einmal um sein Leben betteln, mit keiner Silbe mehr um Gnade flehen. Seine Stimme war heiser, ohne Ton. Er hatte gejault, geschrien und gejammert. Jetzt war er müde, so müde. Das Dröhnen im Kopf schwoll an zu Donnerschlägen, der Takt des Herzschlags hieb auf seine Augäpfel. Warme Schlieren rannen rot und zäh über sein Gesicht, wurden schwarz. Der Schmerz pochte plötzlich dumpf, fast gnädig, nachdem eben noch grelle Blitze alles in Myriaden Splitter zerlegt hatten.

Sein Schädel, war er zerborsten, gespalten, zertrümmert? Er schmeckte Blut auf den trockenen Lippen, warm. Süß. Wann würden sie ihn endlich finden?

Seine letzten Worte waren Flüche und Verwünschungen gewesen, er hatte verdammt, gespottet und dann gewinselt.

Er fühlte Hass. Grauen. Panik. Und dann erkannte er: zu spät. Es war zu spät. Es konnte für ihn kein Erbarmen geben, keine Barmherzigkeit, nicht an diesem Ort und auch an keinem anderen. Das Gesicht hinter dem Fenster war verschwunden. Die kleinen Scheiben hatten es in ein Prisma zerlegt, rot, grün, gelb, blau, eine verzerrte bunte Fratze, voller Hass. Er sah die Augen vor sich. Den Blick. So eisig. Ohne Mitleid.

Das mächtige schwarze Kreuz schwebte plötzlich auf ihn zu. Er wollte sich aufbäumen, ihm die Stirn bieten, die breite, starke Brust zeigen, es abwehren. Es schwebte zurück, hing wieder an seinem Platz hinter der Kanzel. Scheiß auf diesen Gott, diesen Jesus; er war ihm egal.

So nah war sie ihm, so nah. Könnte er laufen, wären es nur wenige Schritte bis zu ihr. Ihr Lächeln, ihr Blick, ihr Körper. Ein einziges, wunderbares Versprechen. Wie schön sie gewesen war. Voller Verheißung, jung, lockend. Verletzlich. Nie mehr. So nah waren sie einander, nach so vielen Jahren. Er hatte sie geliebt wie niemanden sonst. Liebte sie immer noch. Doch sie hatte es nicht anders gewollt.

Heute war der Tag der Abrechnung. Niemand konnte ihm seine Schuld nehmen.

Ein Geräusch. »Ist da jemand?« Er konnte nur röcheln, gurgeln, es kamen keine Worte.

»Hallo?« Hatte er es ausgesprochen oder nur gedacht?

Aber da war jemand. All seine Sinne nahmen es wahr.

Er spürte einen Luftzug, hörte ein leises Klicken. Feste Schritte auf dem Steinboden, sie kamen näher, immer näher.

Die Rettung. Sie hatten ihn gefunden. Großer Gott im Himmel, nie habe ich an dich geglaubt, dir nie gedient, und nun rettest du mich im Angesicht dieses albernen Kreuzes. Jesus Christus, ich werde dir danken und dich ehr…

Er war es. Als er in seine Augen sah, verlor er jede Hoffnung.

1

Als Ira und Andy aus der Tür traten, hörten sie schon die Musik. Der Geruch von Popcorn und gegrillter Bratwurst mischte sich mit dem Gestank von Pferdeäpfeln. Ira schmunzelte und drückte Andys Hand. »Riecht nach Kindheit. Ich liebe Kirmes. Lass uns für deine Tante ein Lebkuchenherz mitbringen, vielleicht finden wir eins mit Geburtstagsgrüßen.«

Sie wollten zum Rehmer Markt, der Kirmes im Schatten der uralten Laurentiuskirche, die seit über dreihundertdreißig Jahren Publikumsmagnet am letzten Mittwoch und Donnerstag im August war. Und traditionell bei schönstem Wetter. Auch heute war ein herrlich warmer Tag gewesen, der allmählich in einen kühlen Abend überging.

Die Sonne schien schräg in den Hof.

Drüben im Hofladen wurde die Tür geöffnet, Thomas Weyer winkte Andy heran. »Pack mal mit an, ich will ein Regal umstellen. Wenn wir ab nächster Woche Kürbisse verkaufen, brauche ich den Platz.«

Während Andy seinem Bruder half, schlenderte Ira hinüber zur Einfahrt und wartete unter den Eschen, denen der Hof seinen Namen »Eskendor« – Eschentor – verdankte. An der Ziegelsteinmauer, die das Gehöft an zwei Seiten begrenzte, blieb sie stehen. Als Kind konnte sie nur über die Mauer schauen, wenn ihr einer ihrer Freunde die Räuberleiter hielt, heute reichte sie ihr gerade bis zur Brust. Jahrzehntelang war sie nicht hier gewesen, bis sie im Januar 2009 Andy wiedertraf, der hier mit seinen Tanten, seiner Mutter und seinem Bruder Thomas wohnte. Damals war sie nach einer hässlichen Trennung aus Köln in ihre westfälische Heimat zurückgekehrt, um noch einmal ganz neu anzufangen. Als Lokalreporterin bei der Tageszeitung Tag 7. Sie war damals fünfzig und dachte sich – wann, wenn nicht jetzt? Seit sie Andy bei ihrer ersten großen Story wiedergetroffen hatte und sich nach und nach in ihn verliebt hatte, verbrachte sie die meiste Zeit auf Eskendor und nicht in ihrer Stadtwohnung in Bielefeld.

Der Hof hatte sich verändert, seit sie hier gespielt hatte. Die stinkenden Schweineställe waren einem florierenden Hofladen gewichen, in dem Thomas und Gundis Weyer Biogemüse und -obst, Eier, Honig und Blumen verkauften. Auf den ehemaligen Koppeln im Westen standen heute keine glotzäugigen, wiederkäuenden Kühe mehr, sondern hochmoderne Gewächshäuser. Es gab Kräuter- und Blumengärten und eine eingezäunte Wiese für die Hühner. Ira schaute zu Andys Haus: Er hatte die dunkle Deele und den alten Kuhstall zu einer schicken Galeriewohnung mit riesiger Küche umbauen lassen. Hinter dem spitzen Giebel dieses Baus sah man das Haupthaus, in dem seine Mutter lebte. Elsa Weyer vermietete Fremdenzimmer und half ihren beiden Söhnen, wo immer sie gebraucht wurde.

In der umgebauten Scheune hatte bis vor Kurzem der dritte Sohn, Markus, gelebt. Nach der Tragödie mit dem jüngsten Bruder Michel hatte er den Hof verlassen. Er war damals, als Ira gerade bei Tag 7 angefangen hatte, unter grauenvollen Umständen ums Leben gekommen. Andys Familie wäre beinahe daran zerbrochen. Ira versuchte, die Erinnerung daran aus ihren Gedanken zu verbannen.

Schließlich gab es auf dem südlichen Gelände noch ein vermietetes Mehrfamilienhaus, und ganz in der Nähe stand die renovierte Fachwerkkate, in der Andys Tanten Friedchen und Sophie lebten.

Ira strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie fühlte sich auf Hof Eskendor mit seinen eigensinnigen ostwestfälischen Bewohnern ziemlich wohl. Irgendwie heimisch.

Die Männer schienen fertig zu sein, gemeinsam verließen sie den Hofladen. Thomas schloss die Tür ab, klopfte Andy auf die Schulter und sagte: »Trinkt einen für mich mit.« Andy nickte, griff nach seiner Lederjacke, die er über eine der Solarleuchten am Wegrand gehängt hatte, und kam mit federnden Schritten auf Ira zu.

Gut sah er aus. Sie musterte ihn von oben bis unten. Groß, fast eins neunzig, das braune Haar von grauen Strähnen durchzogen, die Geheimratsecken konnte er trotz der lässigen Frisur jedoch nicht mehr verbergen. Sie bemerkte seinen Bauch, den er durch leger sitzende Shirts und Jeans zu kaschieren versuchte, was ihm in letzter Zeit aber immer seltener gelang. Trotzdem sah man ihm seine fünfundfünfzig Jahre nicht an, sein Lächeln war jungenhaft wie eh und je. Als er die Lederjacke über die Schulter schwang und sie mit nur einem Finger am Kragen festhielt, schaute Ira auf seinen kräftigen Bizeps. »Hey, was guckst du so?«, fragte er und blieb vor ihr stehen.

Ira blickte ihm in die grauen Augen und lächelte. »Ich stehe total auf deine Oberarme.«

Er grinste frech zurück, griff ihr im Nacken sanft ins Haar und zog ihren Kopf zurück. »Und ich stehe auf dich – von Kopf bis Fuß.« Er ließ den Blick an ihrem Dekolleté und ihrem roten Kleid hinabwandern. Rot war Iras Lieblingsfarbe, und sie ging nie ohne ein rotes Kleidungsstück aus dem Haus. Ihre schulterlangen blonden Locken trug sie wie immer offen. Andy fuhr fort: »Und ich mag besonders, wenn ich weiß, dass du schwarze Wäsche unter dem Kleid trägst, und dass du …« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.

»Komm, die anderen warten, und wenn du mich weiter so ansiehst, kommst du noch auf dumme Gedanken!«

Bevor Andy darauf antworten konnte, klingelte Iras Handy.

Es war Coco. Die unkonventionelle Taxifahrerin kannte jeden in Rehme und erfuhr es immer als Erste, wenn etwas Außergewöhnliches im Dorf passiert war. Hin und wieder unterstützte sie Ira bei ihren Recherchen, und mittlerweile hatten die beiden Frauen sich angefreundet. Ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten, platzte sie heraus:

»Schnapp dir deine Kamera, und komm sofort zum Friedhof auf dem Mooskamp. Die Kapelle brennt!«

»Coco, ich habe frei. Wir sind gerade auf dem Weg zum Rehmer Markt und wollen ein Bier trinken! Wegen eines Feuers sage ich das nicht ab.«

»Solltest du aber, wenn du die Erste sein willst, die darüber berichtet. In der Kapelle gibt es nämlich einen Toten.«

»Witzbold! Es soll schon mal vorkommen, dass in Friedhofskapellen Tote liegen!«

»Verdammt, Ira, dieser Tote liegt aber nicht, der sitzt in einem Rollstuhl unterm Kruzifix. Und er hat bis eben gebrannt wie eine Fackel. Mehr weiß ich auch nicht, die haben mich sofort wieder weggescheucht, nachdem ich den Pastor abgesetzt hatte. Da oben wimmelt es von Bullen und Feuerwehr. Aber von der Presse hab ich noch keinen gesehen. Du solltest dich also besser sofort auf den Weg machen.«

Ira hielt Andy am Arm fest und machte ihm ein hektisches Zeichen, er solle warten.

»Jetzt mal langsam, Coco. Woher weißt du das alles? Und wieso bist du überhaupt am Friedhof?«

»Der Pastor hat in der Taxizentrale einen Wagen bestellt, er hatte sich heute Nachmittag auf der Kirmes schon einen gezwitschert und konnte nicht mehr selbst fahren, als man ihn benachrichtigte. Jemand von der Feuerwehr hat ihn angerufen. Find ich logisch, schließlich ist er in der Kapelle ja irgendwie der Hausherr.«

Ira versuchte, das Bild eines brennenden Menschen wegzuschieben, das plötzlich in ihrem Kopf auftauchte. Sieh dir das bloß nicht an, fahr nicht dahin. Was da passiert sein könnte, willst du dir gar nicht vorstellen. Eine brennende Leiche, verdammt, das willst du nicht sehen, und darüber berichten willst du schon gar nicht. Aber der Profi in ihr sorgte dafür, dass sie in ihrem Job funktionierte.

Sie drehte sich um und kramte in ihrer Handtasche nach den Autoschlüsseln. »Okay. Bin auf dem Weg. Und mehr weißt du nicht?«

»Nee, der Pastor war total durch den Wind. Mit dem konntest du kein vernünftiges Wort reden, hat nur dummes Zeug gefaselt. Den Rest musst du schon selbst rausfinden, Schätzchen, ich hab jetzt ’ne Fahrt. Ich bin nämlich die Taxifahrerin, und du bist die Reporterin – falls du das vergessen haben solltest. Aber halt mich auf dem Laufenden!«

»Warte, leg noch nicht auf. Der Pastor, wo ist der jetzt?«

»Er wird noch auf dem Friedhof sein, ich bin leer wieder weggefahren.«

Ira legte auf und schaute Andy an. »Eine brennende Leiche in der Friedhofskapelle auf dem Mooskamp. Sieht so aus, als müsstest du ohne mich zum Rehmer Markt. Vielleicht kann ich später nachkommen.«

»Unsinn. Gib mir deinen Autoschlüssel und hol deine Kamera. Ich fahre, und du sagst unterwegs in der Redaktion Bescheid.«

Gemeinsam gingen sie zurück auf den Hof zu Iras bananengelbem Mini Cabrio, das neben Andys weißem Ford Transit stand.

Es waren kaum Autos auf den Straßen, aber jede Menge Fußgänger marschierten in Richtung Festplatz. In der Karl-Brandt-Straße und der Hermann-Löns-Straße blieb Andy im Schritttempo, denn dort gingen die Leute nicht nur auf den Bürgersteigen, sondern auch auf der Fahrbahn in Richtung Marktplatz. Ira sah viele vertraute Gesichter, erkannte die Frau aus dem Lottoladen mit ihrem Mann und den drei Kindern, grüßte den Versicherungstypen, dessen Name ihr nicht einfiel, und nickte dem Juwelier-Ehepaar freundlich zu. Alle lachten und schwatzten, Kinder tobten vor ihren Eltern und Großeltern her, es schien, als sei wirklich jeder in der Gegend unterwegs zur Kirmes.

Während der Fahrt schickte Ira eine SMS an den Lokalchef: »Moin, Horstmann, bin auf dem Weg zum Friedhof Mooskamp, da gibt es eine verbrannte Leiche. Melde mich zeitnah, kümmere mich um Text und Fotos.« Sie unterschrieb mit »IrWi«, ihr Autorenkürzel für Ira Wittekind.

»Ist es für dich wirklich okay? «, fragte sie Andy mit einem Seitenblick.

Er sah sie kurz an. »Dass du jetzt arbeiten musst? Mach dir keinen Kopf. Job ist Job. Man kann von einer Leiche schließlich nicht verlangen, dass sie zu normalen Bürozeiten gefunden wird. Außerdem habe ich ja von Anfang an gewusst, worauf ich mich mit einer rasenden Reporterin einlasse.«

Ira seufzte. Mit Mitte Fünfzig konnte von rasend nicht mehr die Rede sein, so flott wie früher war sie schon längst nicht mehr unterwegs.

Nach weniger als zehn Minuten erreichten sie den Friedhof. Er lag auf einem sanft abfallenden Hügel, dem Mooskamp. Vom Haupttor aus blickte man über weite Felder. Gräber reihten sich aneinander, schwarzer und grauer Marmor mit goldener Inschrift zwischen akkurat gepflegten Beeten mit Efeu und Begonien.

Das Gelände war bereits weiträumig abgesperrt, die Zufahrtsstraße wurde von beiden Seiten durch Streifenwagen blockiert.

Andy ließ Ira aussteigen. »Melde dich, wenn du fertig bist, ich suche irgendwo einen Parkplatz in der Nähe und warte im Auto auf dich.«

Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wenn ich dich nicht hätte …«

»… dann hättest du einen anderen …«, ergänzte er grinsend.

Im Laufschritt erreichte Ira einen der Streifenwagen, die mit geöffneten Türen quer auf der Straße standen. Sie nestelte ihren Presseausweis aus der Tasche und hielt ihn dem jungen Polizisten unaufgefordert hin. Er warf einen Blick darauf und sah sie fragend an.

»Ira Wittekind, Tageszeitung Tag 7, wir wurden angerufen, ich würde gern den Einsatzleiter sprechen.«

»Bis zum Tatort können Sie aber nicht!«, sagte der Polizist abwehrend.

»Natürlich nicht, ich will ja auch nur zur Einsatzleitung.«

Er wies mit dem Kopf zum Friedhofstor, dessen eiserne Flügel sperrangelweit geöffnet waren. Blaulichter blinkten hinter Bäumen und Büschen.

Ira stieg über armdicke Feuerwehrschläuche, die an einem Hydranten angeschlossen waren, und wich einer feinen Wasserfontäne aus, die aus einem undichten Verbindungsstück sprühte und bereits eine riesige Pfütze erzeugt hatte. Sie folgte den Schläuchen und schob sich an den Fahrzeugen vorbei. Unterwegs registrierte sie das Ausmaß des Einsatzes: ein Wagen mit Drehleiter, mehrere Löschgruppenfahrzeuge, drei Mannschaftswagen, ein Rettungswagen. Die einsetzende Dämmerung ließ die Umrisse der Grabsteine und Gruften schärfer erscheinen, Blumen, Büsche und Hecken hingegen wirkten jetzt diffus, in einem verwischten Grau, ein bisschen unheimlich. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Ira fragte sich, weshalb er bis hierher nass war. Dann entdeckte sie eine undichte Stelle in einem Schlauch, der entlang der Kantensteine einer Gräberreihe auf dem Boden lag.

Nach etwa hundert Metern erblickte Ira die Kapelle. Sie kannte das rote Klinkergebäude; es lag am Ende einer schattigen Allee, die in einen kleinen asphaltierten Platz mündete. Ruhe und Frieden hatte sie bisher mit diesem stillen Ort verbunden, der heute jedoch eine gruselige Kulisse war. Der Gestank von verbranntem und nassem Holz mischte sich mit einem anderen, widerlich süßen Geruch. Ihr wurde schlecht. Das ist die Leiche, die so stinkt. Verbranntes Fleisch, mein Gott, wieso stinkt das denn so bestialisch? Sie atmete durch den Mund. Hoffentlich haben sie den Toten schon weggebracht. Oder die Tote? Weiß man das schon? Was hat Coco gesagt? Jemand im Rollstuhl? Wie muss ich mir das vorstellen? Ist er oder sie mit dem Rollstuhl in die Kapelle gefahren? Und dann? Ein Mensch kann nicht von alleine Feuer fangen. Oder wurde er dorthin gebracht? Und dann angezündet? Von wem? Warum? Sie stand jetzt nur noch wenige Schritte von der Kapelle entfernt. Grelle Scheinwerfer tauchten die Szenerie dort in gleißendes Licht. Rot-weißes Plastikband mit der Aufschrift »Polizeiabsperrung« bewegte sich knisternd im Wind. Reflektorstreifen leuchteten auf dunklen Uniformen, Feuerwehrleute stapften in schweren Schuhen durch Löschwasserpfützen. Ein Leiterwagen stand auf dem Platz vor der Kapelle, die Drehleiter war ausgefahren, zwei Feuerwehrmänner mit Atemschutzgeräten standen darin, spähten durch ein meterbreit klaffendes Loch im Dachstuhl. Verbrannte Dachsparren glänzten schwarz und nass im Scheinwerferlicht.

Was sehen sie da unten? Schauen sie sich einen verkohlten Menschen an?

Irabekam Gänsehaut.

Der Brand im Inneren der Kapelle war inzwischen offensichtlich unter Kontrolle, es würde aber noch Stunden dauern, bis die Feuerwehr abrücken und die Brandwache einsetzen konnte und die Polizei alle Spuren gesichert hatte.

Ira wandte sich an einen Feuerwehrmann: »Moin! Ich bin Ira Wittekind von der Tageszeitung Tag 7. Die Einsatzleitung, wo finde ich die?« Der Mann wies hinüber auf die andere Seite. Sie sah Heiner Stenzel, den sie von früheren Bränden kannte, von Jahreshauptversammlungen und zahlreichen Feuerwehrübungen, über die während der ereignislosen Sommerwochen im Lokalteil immer wieder berichtet wurde. Stenzel erblickte Ira und steuerte auf sie zu. Er war Ende fünfzig, groß, kräftig, hatte ein freundliches Gesicht und, wie Ira von anderen Begegnungen wusste, ein geselliges Wesen. In der Einsatzzentrale der Feuerwehr hing eine Telefonliste mit den Nummern einheimischer Reporter, auch Iras Nummer hing dort. Wenn es einen größeren Einsatz gab, wurden die Journalisten informiert. Polizei und auch Versicherungen verwendeten später dann oft deren Fotos. Aber heute hatte offenbar niemand daran gedacht, die Presse zu informieren.

Stenzel sah fix und fertig aus. »Kommen Sie.« Er zog Ira am Ärmel ein paar Schritte zur Seite, um die hin und her laufenden Männer nicht bei ihrer Arbeit zu behindern. Sie folgte ihm in eine Ecke zwischen zwei Fahrzeugen, die an einer Wegkreuzung im rechten Winkel zueinander standen.

»Sie sind aber heute besonders fix, wir haben doch noch gar keine Informationen an die Presse herausgegeben …«, begann Stenzel.

Ira unterbrach ihn. »Ich wurde eben angerufen und bin sofort losgefahren. Die Kollegen von den anderen Zeitungen wissen es vielleicht noch nicht. Wahrscheinlich wollen viele vom Rehmer Markt berichten und sind auf dem Festplatz.«

Ihr war immer noch schlecht, und der süßliche Geruch nach verbranntem Fleisch hing ihr in der Nase. Sie hatte das Gefühl, den Gestank sogar auf der Zunge schmecken zu können. Es fiel ihr schwer, in den Reportermodus zu wechseln. Dennoch hielt sie dem Einsatzleiter das Smartphone vor den Mund, nachdem sie die Aufnahmefunktion gestartet hatte.

»Herr Stenzel, was haben Sie offiziell für mich?«

Sofort verfiel Stenzel in einen förmlichen Tonfall: »Offiziell? Offiziell habe ich noch nicht viel. Der Anruf ging heute um achtzehn Uhr elf auf der Hauptwache Königstraße ein. Der erste Brandabschnitt rückte aus, also die Wache und die Löschgruppen der Ortsteile Oeynhausen Alt, Oberbecksen und Lohe. Angerufen hatte der Friedhofsgärtner, äh, brauchen Sie den Namen?«

»Wenn Sie ihn haben?«

»Das war der Tacke, Bernd Tacke, er hatte das Brandereignis bemerkt, als er die Kapelle abschließen wollte. Er hat zunächst mit dem Handfeuerlöscher versucht zu löschen, musste aber den Brandort wegen starker Rauchentwicklung verlassen. Er setzte wie gesagt per Handy um achtzehn Uhr elf den Notruf ab. Die freiwillige Feuerwehr war um achtzehn Uhr achtundzwanzig vor Ort. Kurz darauf wurde die Leiche entdeckt. In der Kapelle stand ein Rollstuhl, darin saß eine leblose Person.«

»Mann oder Frau?«

Stenzel zog die Schultern hoch. Sein Blick schweifte ins Leere, und er schluckte.

Die Leute von der Feuerwehr müssen sich ganz schön was angucken … wie stecken die das bloß weg? Kann man noch ruhig schlafen, wenn man verkohlte Leichen aus brennenden Gebäuden geschafft hat?

Irahatte schon mal einen verbrannten Menschen gesehen. Nach dem Brand einer Schrebergartenhütte hatte man einen Toten in seinem Bett gefunden. Sie stand in unmittelbarer Nähe, als er, auf dem Rücken liegend, in der so genannten Fechter- oder Boxerstellung, aus den Trümmern getragen wurde. Sie hatte nachgelesen, warum Tote diese bizarre Haltung einnehmen konnten, es hatte mit dem Verdampfen des Wasseranteils im Körper zu tun. Die ungleichen Reaktionen von Fett, Muskeln, Haut, Sehnen und Knochen auf extreme Hitze sorgten für die Verkrümmung einer Leiche bis hin zur Embryonalstellung, und durch Feuchtigkeitsentzug konnte ein Leichnam sogar bis zur Größe eines großen Kindes schrumpfen. Den Anblick und vor allem diesen extrem widerlichen Geruch würde Ira niemals vergessen. Unvermittelt fragte sie: »Wie geht es Ihnen, Herr Stenzel?«

Er sah sie erstaunt an. »Was?«

»Sie waren vorhin dabei, als ein verbrannter Mensch gefunden wurde. Wie geht es Ihnen?«

Verstört knetete er seine Arbeitshandschuhe, während er sich eine Antwort zu überlegen schien. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Diese Frage hatte er nicht erwartet. »Meine Männer und ich müssen unter Druck funktionieren. Wenn man zu einem Brand mit Toten kommt, fragt einen eigentlich nie einer, wie es einem geht. Darüber darf man einfach nicht nachdenken. Augen zu und durch.«

Ira wusste genau, wovon der Mann sprach. Sie wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken, wie es ihr ging. »Verstehe. Machen wir also unseren Job. Die Person ist verbrannt?«

Stenzel stieß ein trockenes Lachen aus. »Davon kann man ausgehen.«

»Ist sie durch das Feuer gestorben, oder war sie schon vorher tot?«

Er schnaubte. »Gute Frage, die nächste bitte! Das untersuchen die Kollegen von der Brandermittlung, das wissen Sie doch.«

»Wie konnte die Person anfangen zu brennen? Selbstentzündung kann man wohl ausschließen, oder?« Er reagierte nicht. Natürlich durfte er sich darüber nicht äußern, Ira wusste das. Ob er unter Schock stand? Sie fragte trotzdem weiter: »Haben Sie die Leiche gesehen?«

Stenzel nickte.

»Wissen Sie, ich bin froh, dass es Männer wie Sie und Ihre Kollegen gibt, Männer, die ihren Hintern riskieren, um andereMenschen zu retten. Aber Ihren Job könnte ich nicht machen. Es ist doch schrecklich, was Sie alles zu sehen kriegen.« Man sah Stenzel an, dass ihm diese Worte guttaten. »Haben Sie gar keinen Verdacht, keinen Anhaltspunkt? Es muss doch jemand nachgeholfen haben! Wie kann man im Sitzen verbrennen? War die Person gelähmt? Konnte sie sich nicht von dem Feuer entfernen?«

Stenzel straffte sich. »Das ist nicht offiziell, da kann ich nix zu sagen. Wie gesagt, die Polizei ermittelt in alle Richtungen …«

Ira ließ sich nicht beirren. »Er, oder sie, war aber schon tot, als Sie mit Ihren Leuten eintrafen, beziehungsweise, als Sie ihn entdeckten? Stand er direkt unter dem Kruzifix?«

Stenzel starrte sie an. »Woher wissen Sie das?«

Sie setzte ihr Pokerface auf. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Pastor Krause vorhin hier war und dass man ihn angerufen hatte, weil es eine Leiche in der Kapelle gegeben hat. Und ich weiß, dass Krause von der Feuerwehr informiert wurde, also definitiv von einem Ihrer Mitarbeiter.«

Das war Stenzel jetzt sichtlich unangenehm. »Aber keinesfalls auf Anweisung von mir, es muss ihn jemand privat angerufen haben!«, protestierte er.

Ira beruhigte ihn: »Es bleibt unter uns, dass da wohl jemand aus Ihrer Truppe zu schnell geplaudert hat, darauf haben Sie ja auch gar keinen Einfluss. Vielleicht war es einfach jemand, den der Pastor gut kennt. Ich halte mich in meiner Berichterstattung selbstverständlich nur an die offiziellen Fakten. Wissen Sie also, wer der oder die Tote ist?«

Stenzel hatte seinen rechten Handschuh ausgezogen und knetete ihn mit der linken Hand. »Wie ich schon sagte, die Polizei veranlasst derzeit alles, was zur Klärung der Brandursache erforderlich ist. Die Anforderung der Kriminaltechnik und der Mordkommission wurde durch die eingesetzten Streifen veranlasst. Die haben auch schon speziell geschulte Brandermittler angefordert und Brandsachverständige beauftragt.«

Ira wiederholte: »Mordkommission?«

Ira stand im Halbdunkel zwischen den Autos, sodass der Feuerwehrmann, der in diesem Moment angelaufen kam, sie nicht sofort sehen konnte.

»Mensch, Heiner, du musst sofort rüberkommen, wir haben da vielleicht was! Es kann sein, dass …«

Stenzel brachte ihn mit einer resoluten Handbewegung und einem Blick auf Ira zum Schweigen. Er verabschiedete sich rasch: »Ich muss wieder, Frau Wittekind, es geht noch heute eine Presseerklärung raus!«

»Wir waren ja fertig, ich mache jetzt meine Fotos, und dann bin ich auch schon weg. Sie brauchen mir nicht zu sagen, dass ich nicht hinter die Absperrungen gehen darf, ich weiß Bescheid.« Sie eilte Richtung Kapelle.

Im Gehen nahm sie die Nikon aus der Tasche, fotografierte die Szenerie, Gräber mit tiefen, geriffelten Fußspuren und platt getretenen Blumen, umgefallene Vasen, ein schiefes Holzkreuz auf einem frischen Grabhügel. Natürlich, niemand konnte beim Löschen darauf achten, dass alles unversehrt blieb. Ohne hinzuschauen wechselte Ira ihr Weitwinkelobjektiv gegen das Tele, visierte die beiden Männer auf der Drehleiter an, zoomte sie heran, bis sie ihre Gesichter im Fokus hatte. Wahrscheinlich mussten sie von oben darauf achten, dass sich unten im Gebäude keine Funken entzündeten und dadurch neue Flammen entstanden. Sie versuchte, Details zu erwischen, einen Gesichtsausdruck, einen entsetzten Blick, irgendetwas, das sich online und in der Printausgabe gut abbilden ließ. Als sich Stimmen näherten, nahm Ira im Augenwinkel einen Mann und eine Frau wahr. Erst als sie verstand, worüber die beiden sprachen, spitzte sie die Ohren. »Du könntest recht haben mit deiner Vermutung, dass es der Apotheker ist. Es könnte wirklich sein Rollstuhl sein! Rot mit gelben Rädern, und an einem Rad kann man noch diesen Speichenschutz mit dem Wappen erkennen …«

Ira hielt die Luft an. Apotheker? Rollstuhl? Es gibt in Oeynhausen nur einen Apotheker im Rollstuhl! Wenn das stimmt … die Hahnwald-Apotheke, Ludwig Hahnwald, in der Stadt der schöne Ludwig genannt … Stenzel hat von der Mordkommission geredet. Verbrannt? Angezündet? Unfassbar.

Sie wusste, dass die Identifizierung der Leiche für alle Beteiligten ein harter Job war. Kommissar Brück von der Oeynhausener Polizei hatte ihr mal von jemandem erzählt, der sich im Wald mit einer Flasche Schnaps übergossen und angesteckt hatte: »Da war nix mehr zu erkennen«, hatte er gesagt. Wenn die Feuerwehr den Apotheker an seinem besonderen Rollstuhl erkannt hatte, ersetzte das natürlich noch keine Identitätsfeststellung durch die Polizei. Ira dachte an die Beamten, die jetzt in der Kapelle nach Spuren suchten, und an die Leute, die sich an den Überresten des Menschen zu schaffen machen mussten.

2

Auf der Heimfahrt brachte sie kein Wort heraus. Andy blickte sie immer wieder forschend von der Seite an, versuchte, ein Gespräch zu beginnen und herauszufinden, was genau auf dem Friedhof passiert war.

»Das war echt heftig«, sagte Ira schließlich und starrte aus dem Fenster. Mit jedem Meter, den sie sich vom Friedhof entfernten, wurde das Bild eines verkohlten Rollstuhlfahrers vor ihren Augen deutlicher.

Es war schon fast zehn Uhr, als sie wieder auf Hof Eskendor ankamen. Zuerst ließen sie Tante Erna auf die Wiese, damit sie ihr Geschäft machen konnte. Die schwarze Königspudeldame hatte in der Diele gewartet und schon zu kläffen begonnen, als sie auf den Hof fuhren.

Die Stimmung auf dem Rummelplatz an der nahe gelegenen Kirche hatte offenbar ihren Höhepunkt erreicht, Gegröle, Stimmengewirr, Sirenen von Raupenbahn und Autoskooter und extrem laute Musik schallten herüber.

»Albany, hoch in den Bergen von Norton Green …« Jemand sang mit schräger Stimme mit. Ira und Andy sahen sich an und brauchten einen Moment, um zu verstehen, dass diese Musik gar nicht von der etwa dreihundert Meter Luftlinie entfernten Kirmes, sondern aus einer ganz anderen Richtung kam. Drüben in der Kate brannte noch Licht.

»Was ist denn bei deinen Tanten los?«, fragte Ira irritiert. »Lass uns mal rübergehen.« Tante Erna flitzte schwanzwedelnd vor ihnen her, in der Dunkelheit war sie nur als huschender, großer Schatten zu erkennen.

»Theeeeo, wir fahr’n nach Lodz …«

Sie spähten durch das Küchenfenster auf der Rückseite des kleinen Fachwerkhauses, und ihnen bot sich ein vertrautes Bild. Mit einem Zigarrenstumpen in der einen und einem Schnapsglas in der anderen Hand standen die Schwestern nebeneinander am Küchentisch und sangen inbrünstig, mit geschlossenen Augen: »… ich habe diese Landluft satt, will endlich wieder in die Stadt …«

Tante Sophie und Tante Friedchen waren weit über achtzig und lebten in der Kate, solange Ira zurückdenken konnte. Schon in den Sechzigerjahren hatten die beiden an warmen Tagen auf der Bank neben der Tür gesessen, ihre Zigarren gepafft und dabei über jeden gelästert, der vorbeiging. Sophie, die ältere, war früher Krankenschwester gewesen und hörte noch lange nach ihrer Pensionierung auf den Spitznamen »Schwester Rabiata«. Diplomatie oder Höflichkeit waren ihr fremd. Sie sagte, was sie dachte, und basta. Frieda hatte als Kindergärtnerin gearbeitet und wurde auch von ehemaligen Schützlingen, die heute selbst längst Großeltern waren, noch immer »Tante Friedchen« genannt. Sie wirkte ein bisschen sanfter als ihre Schwester, nicht ganz so frech, aber auf den Mund gefallen war auch sie nicht. Beide hatten nie geheiratet und keine Kinder bekommen. Ira hatte einmal gefragt, warum sie keine Familien gegründet hatten, doch die Schwestern hatten die Frage nicht beantwortet und sofort das Thema gewechselt.

Andy klopfte, aber die beiden hörten sie nicht. Erst als er die Tür öffnete und sie in die verräucherte Küche traten, zuckten die Tanten zusammen und begannen zu kichern.

»Kinners, getz habt ihr uns aber ’n Schrecken eingejagt!«, rief Tante Sophie. Ihre Schwester wandte sich zu dem Plattenspieler, einem Zehnerwechsler in einem alten Musikschrank, der neben dem noch weitaus älteren Büfett stand. Sie nahm den Tonarm ab, die Musik verstummte.

»Was ist denn hier los? Fete?«, fragte Andy.

»Jawoll!«, sagte Tante Sophie, die schon ordentlich einen sitzen hatte. »Frieda hat doch morgen Geburtstag, fümmenachtzich wird sie, das Küken, und wir feiern rein.«

Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Dutt gelöst. Sie strich sie mit einer fahrigen Bewegung aus dem Gesicht und klemmte sie hinters Ohr.

»Früher haben wir oft auf’m Rehmer Markt oder im Garten vom Dorfkrug gefeiert, aber das ist nix mehr für uns, da machen die Füße nicht mehr so mit. Außerdem hat Frieda Rücken.«

»Was hatten wir schöne Feste, Soffie, weißte das noch?«, sagte Tante Friedchen und wandte sich dann an Ira und Andy. »Früher haben die Bauern da ihre Schweine und Hühner gekauft, und die Frauen vom Gartenbauverein hatten immer ’n Stand mit Obst, Gemüse, Eingewecktem und Marmelade, und es gab fliegende Händler, die verkauften Körbe und Pötte und so allerhand Küchenzeug. Man konnte auf’m Markt auch alles kriegen, was man im Winter zum Schlachten brauchte. Da kamen die Wagen schon mitten inner Nacht an, und das halbe Dorf wurde zum Marktplatz.« Sie lächelte. »Wenn ich da noch dran denke … die Kinder hatten am ersten Markttag schulfrei …«

Tante Sophie fiel ihr ins Wort: »Jau, und die Knechte hatten auch frei, nech, Frieda?«

Die murmelte etwas Unverständliches und machte eine heftige, abwehrende Bewegung mit beiden Händen.

»Und heute feiert ihr ganz alleine in Tante Friedchens Geburtstag rein?«, fragte Ira.

Tante Sophie blickte sie an, als habe sie einen dummen Witz gemacht. »Ja, sicher. Wer soll denn noch mit uns feiern, die meisten von früher sind doch tot.«

Ira zog einen Stuhl heran und setzte sich an den großen Tisch mit der gemusterten Wachstuchdecke. Heute war es eine in Gelb, mit einem Muster aus roten und orangefarbenen Rosen und bunten Schmetterlingen. Obwohl hier drinnen geraucht wurde, roch es weniger nach dem Qualm als nach den Kräutern, die Tante Friedchen selbst erntete, zu kleinen, kompakten Sträußen band und mit hölzernen Wäscheklammern an einer Schnur über dem Herd aufhängte. Die beiden kochten sommers wie winters auf diesem alten Küppersbusch-Herd, für den sie im Antikhandel ein Vermögen bekommen würden. Er wurde mit Holz oder Kohlen befeuert und hatte eine Öffnung, die mit verschiedenen eisernen Ringen vergrößert oder verkleinert werden konnte. Ira hatte sich schon oft gewundert, warum die Tanten darauf bestanden, mit den schweren gusseisernen Pfannen und Emailletöpfen zu hantieren, anstatt einen modernen Elektroherd und handlicheres Kochgeschirr anzuschaffen. Es gab darüber keine Diskussion, die Alten waren sich einig: »Der Ofen ist ein Dauerbrenner, der ist noch gut in Schuss, an den Töpfen ist nix dran, und darum bleibt alles so, wie es ist.«

Ira ließ ihren Blick über das Küchenbüfett schweifen, in dessen verglastem Mittelteil Mokkatassen mit Goldrand und Likörgläser aus rosafarbenem Glas ausgestellt waren. Sie hatte noch nie erlebt, dass diese Altertümchen benutzt wurden.

Der Raum war niedrig und auch tagsüber ziemlich dunkel, die kleinen Fenster rechts und links der Tür ließen nicht viel Tageslicht herein. Jetzt, am Abend, wurde die Wohnküche von einer Stehlampe mit Plisseeschirm und einer Hängelampe aus hellbraunem Porzellan beleuchtet. Zum ersten Mal bemerkte Ira das Tapetenmuster: braune Zwiebeln, Pfannen und Kaffeekannen auf vergilbtem Untergrund. Auf dem Küchenschrank, exakt in der Mitte, stand eine dunkle Holzuhr mit Messingziffernblatt. Sie tickte laut.

Tante Friedchen hatte inzwischen zwei weitere Gläser auf den Tisch gestellt und schenkte mit ruhiger Hand ihren selbst gemachten Brakenschnaps ein. »Braken« war die ostwestfälische Bezeichnung für kleine Zweige. Diese Spezialität gab es wahrscheinlich sonst nirgends auf der Welt. Um den Schnaps herzustellen, füllten die Tanten westfälischen Wacholder in große Ballonflaschen, steckten selbst gepflückte Wermutzweige hinein und ließen das Zeug danach wochenlang ziehen. Dann wurde es in kleine Flaschen umgefüllt und zu allen Gelegenheiten getrunken. Angeblich sollte das Gebräu sogar gegen Schweißfüße, Warzen und Zahnschmerzen helfen.

Ira war froh, für kurze Zeit von den Bildern auf dem Friedhof abgelenkt zu werden. Dennoch wanderten ihre Gedanken jetzt wieder zurück zum Mooskamp. Sie hatte plötzlich wieder den ekelhaften Gestank in der Nase, ihr Kleid schien ihn aufgesogen zu haben, und sofort sah sie den Friedhof vor sich, die Blaulichter, das verbrannte Dach, die verkohlten Sparren. Ein Mensch in einem Rollstuhl. Der schöne Ludwig, wenn er es war, schwarz, verbrannt, ermordet. Natürlich war es Mord, es konnte gar nicht anders sein.

Sie hob ihr Glas und zwang sich zu einem Lächeln. »Tante Friedchen, jetzt trinken wir erst mal auf dich und darauf, dass du hundert Jahre alt wirst!« Tante Friedchen neigte nahezu huldvoll den Kopf, ihre frisch gelegte Dauerwelle wirkte wie ein Helm aus krauser Wolle. Sie grinste zahnlos, die Zähne entdeckte Ira in einem Wasserglas neben der Spüle.

»Weißte ja, Alkohol konserviert, und gut geräuchert bin ich auch, wird schon klappen mit den hundert.« Sie wandte sich ihrer Schwester zu. »Aber dann gibt’s ein richtiges Fest, dann tanzen wir und laden alle ein, die sich noch nicht die Radieschen von unten begucken!«

»Na ja, die können ja auch nicht kommen, du redest Quatsch, Frieda,« rief Tante Sophie. »Deswegen: Nich’ lang schnacken, Kopp in’n Nacken!« Sie tranken den Schnaps auf Ex. Ira schüttelte sich, sie würde sich niemals an den scharfen Wacholdergeschmack gewöhnen.

»Ich kann mir euch beim besten Willen nicht ausgehfein vorstellen, ich kenne euch nur in Pantoffeln, Gummistrümpfen und geblümten Kitteln«, sagte sie. Tante Sophie runzelte die Stirn.

»Wir war’n auch mal jung und schön, auch wenn man da getz nix mehr von sieht«, protestierte sie.

»Wann war eigentlich eure letzte richtige Party?«, fragte Andy.

»Na, weißte das nicht mehr? Auf deiner Hochzeit mit deiner ersten Frau.«

Als Sophie ihr einen weiteren Schnaps einschütten wollte, winkte Friedchen ab. »Ich hab genug, lass man gut sein. Für mich getz nur noch klaren Sprudel.«

Andy holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Tante Sophie schaute ihn an. »Weswegen seid ihr überhaupt mitten inne Nacht hier?«

»Wegen der lauten Musik! Wir kamen vom Mooskamp und wollten eigentlich ins Bett, da hörten wir euch singen und wollten mal nachsehen, was hier los ist.«

»Was habt ihr denn auf’m Mooskamp gemacht? Warum seid ihr nicht wie alle anderen auf’m Rehmer Markt?«

»Wir wollten gerade los, da bekam Ira einen Anruf. In der Kapelle auf dem Friedhof gab es eine Leiche. Ein Mann ist in seinem Rollstuhl verbrannt.«

Tante Friedchen schüttelte sich. Sophie rief: »Das ist ja schrecklich. Verbrannt! Im Rollstuhl. Und noch dazu in der Kapelle. Wie kann denn das passieren? Und weiß man schon, wer da so elend umgekommen ist?«

Ira sagte: »So, wie es aussieht, ist es der schöne Ludwig, aber offiziell wurde noch nichts bestätigt …«

Sie zuckten zusammen, als Tante Friedchen ihr Wasserglas auf den Fußboden fallen ließ, wo es mit lautem Klirren in tausend Scherben zerbrach. »Nein«, flüsterte sie, »das kann ja wohl nicht wahr sein!«

Andy sprang auf, holte Handfeger und Kehrschaufel aus dem Schrank unter dem Spülstein hervor und begann, die Scherben zusammenzufegen.

Tante Sophie klang streng: »Was haste denn, Frieda? Gehen müssen wir alle mal, der eine so, der andere so. Weißte doch: Von hundert Menschen sterben hundert Prozent.«

»Haste das denn nicht gehört? Verbrannt! Haste etwa schon vergessen, wie verbrannte Menschen aussehen?«

»Nee. Das hab ich nicht vergessen. Ich hab genauso im Lazarett gearbeitet wie du. Aber das war im Krieg, und das ist bald siebzig Jahre her, Frieda, das kann man mit heutzutage nicht vergleichen.«

»Trotzdem isses grausam. Und wenn ich das getz höre, kommt mir alles von früher wieder hoch. Da kann ich nix für.« Sie stand auf. »Ich brauch mal frische Luft.« Mit zitternden Fingern nahm sie ihren Zigarrenstumpen aus dem Aschenbecher, klopfte prüfend auf ihre rechte Kitteltasche, zog dann ein Päckchen Streichhölzer heraus und ging nach draußen.

Tante Sophie bemerkte, wie aufmerksam Ira ihr Gespräch verfolgt hatte. Sie erklärte: »Als im Krieg das Oeynhausener Kurhaus Lazarett gewesen war und wir da die Verwundeten versorgen mussten, sind ihr ein paar junge Burschen unter den Händen weggestorben, die hatten schlimme Verbrennungen. Da ist sie nie drüber weggekommen.« Sie überlegte kurz, dann fragte sie: »Biste denn sicher, dass es der schöne Ludwig ist? Ich meine, woher weiß man das? Konnte man den denn überhaupt noch erkennen?«

»Sicher ist es nicht, aber ich habe zufällig ein Gespräch mit angehört, in dem Feuerwehrleute sich über den Speichenschutz des Rollstuhls unterhalten haben. Offenbar ist der nicht vollständig verbrannt, man konnte das Stadtwappen noch erkennen. Und sie sagten etwas von einem Apotheker.«

»Heilandsack. So’n Rollstuhl hatte wirklich nur der schöne Ludwig. Den hab ich die Tage noch gesehen, als ich wegen meinem Blutdruck nach’m Arzt hin gewesen war und mein Rezept in der Hahnwald-Apotheke eingelöst hab. Da hab ich noch zu Frieda gesagt, dass der schöne Ludwig immer noch schnieke ist in seinem weißen Kittel. Und immer akkurat, nie ohne Schlips und Kragen.«

Tante Friedchen hatte den Raum wieder betreten und mischte sich in das Gespräch ein.

»Und er hat noch jeden Tag gearbeitet, war immer freundlich, er hatte immer ein nettes Wort übrig, für jeden.«

Auch Andy kannte den Apotheker: »Ich bin als Kind mit meinen Brüdern manchmal hingegangen und hab nach Traubenzucker oder Bonbons gefragt. Die gab es umsonst, der Hahnwald war da sehr großzügig.«

Ira sagte: »Und wir haben beim Martin-Luther-Singen immer in der Hahnwald-Apotheke begonnen. Der schöne Ludwig ließ es sich nämlich nie nehmen, unsere Beutel selber zu füllen, und wenn er sah, dass sie noch leer waren, gab es eine Extraportion Schokolade oder Bonbons.« Außerdem war sie davon überzeugt, dass ihre Mutter in ihn verknallt gewesen war: »Sie hat sich, wie viele ihrer Bekannten auch, oft zuerst vom Hahnwald eine Diagnose und die passende Medizin gegen ihre Wehwehchen geben lassen, bevor sie zum Arzt ging.«

Die Apotheke würde ohne diesen breitschultrigen Hünen wie ein Schiff ohne Kapitän sein.

Ira suchte mit dem Smartphone nach Bildern. Auf der Webseite der Apotheke fand sie ein recht neues Porträt. Ludwig Hahnwald war tatsächlich ein gut aussehender Typ gewesen, auch Andy gab das unumwunden zu. Sophie warf einen Blick auf das Bild, schniefte und wischte sich eine Träne weg. »Gottogott, so ein schöner Mann. Und dann so ein schreckliches Ende.«

Ira betrachtete das Foto. Hahnwalds gewelltes weißes Haar war noch voll wie das eines jungen Mannes, er trug es eine Idee zu lang. Die hellen Augen waren von einem Fältchenkranz umrahmt und wirkten durch die sonnengebräunte Haut besonders blau. Wach und lebendig schaute er in die Kamera, dieses charmante Lächeln hatte schon Generationen Bad Oeynhausener Frauen betört. Seine dezent gemusterte Krawatte war akkurat gebunden, der Hemdkragen strahlte blütenweiß, ebenso wie der Apothekerkittel.

»Wie so’n Filmstar«, seufzte Tante Friedchen, »und guck dir mal die weißen Zähne an …« Tante Sophie fiel ihr ins Wort: »Die ham ’n Vermögen gekostet, das kannste wissen!«

Ira wusste, dass Ludwig Hahnwald nicht nur ein kompetenter Apotheker und cleverer Geschäftsmann gewesen war, auch in der Stadtpolitik mischte er seit Jahrzehnten mit. Sie erinnerte sich an einen Artikel, den einer ihrer Kollegen aus dem Politik-Ressort von Tag 7 neulich geschrieben hatte; Hahnwald hatte mal wieder für hitzige Debatten gesorgt, als er vorschlug, Bad Oeynhausen zu einem Urlaubsparadies für Hundebesitzer zu machen.

Iras Handy klingelte. Sie schaute auf das Display, dann auf die Uhr. »Das ist Horstmann. Was will denn der um diese Zeit noch von mir?«, murmelte sie und nahm ab.

Man konnte den Redaktionsleiter im ganzen Zimmer verstehen, so laut brüllte er ins Telefon. »Mensch, Wittekind, was ist denn das für eine gottverdammte Scheiße?«

»Wie bitte?«

»Wie bitte, wie bitte. Warum ist unser Newsticker noch nicht mit Nachrichten über den Toten in der Kapelle bestückt?«

»Weil die Leiche erst vorhin gefunden wurde und weil es noch keine offizielle Pressemeldung …«

Er fiel ihr ins Wort: »Bullshit! Sie haben gepennt! Sehen Sie sich mal im Netz die Seite von Steinhauer an, und dann erwarte ich eine Erklärung von Ihnen.«

»Steinhauer? Wer ist das denn? Und was meinen Sie mit einer Erklärung?«

»Ich kenne ihn auch nicht. Einer von den Volontären hat mich auf ihn aufmerksam gemacht. Nennt sich der Steinhauer. Gucken Sie sich den Blog an. Woher hat der Mann seine Informationen? Und warum haben Sie diese Informationen nicht? Morgen früh um halb zehn stehen Sie vor meinem Schreibtisch, und der fertige Artikel ist dann bereits mit Fotos in meiner Mailbox.« Horstmann legte auf.

»Dein Chef? Huh, der hat aber ’n Ton am Leib …«, stellte Tante Sophie fest.

Ira war plötzlich hundemüde. Nach allem, was sie heute erlebt hatte, hätte sie diesen Anruf von ihrem cholerischen Vorgesetzten nicht auch noch gebraucht. »Gut erkannt. Der ist fast immer so laut. Aber was er jetzt von mir wollte, habe ich nicht verstanden. Andy, lass uns rüber in deine Wohnung gehen, ich brauche mein Notebook. Ich soll mir eine Webseite oder einen Blog ansehen. Der Steinhauer. Keine Ahnung, was Horstmann damit bezweckt.«

Ira hatte die Seite im Internet schnell gefunden. Marek Steinhauer war ein »Newsblogger«. Er betrieb erst seit Kurzem eine Webseite unter dem Namen »DER STEINHAUER – knallharte Fakten aus Ihrer Stadt«, auf der er bisher nur banale Artikel zu allen möglichen lokalen Themen veröffentlicht hatte. Die Seite war aufgemacht wie eine Boulevardzeitung, und die erste Überschrift schrie ihr in riesigen roten Lettern entgegen:

IRRER KAPELLEN-KILLER:

APOTHEKER VOR ALTAR VERBRANNT

Darunter, dreispaltig, das Bild der brennenden Friedhofskapelle. Flammen loderten aus dem Dachstuhl, das Foto war durch den Rauch unscharf und dunkel. Der Fotograf musste vor Ira am Brandort gewesen sein, denn als sie dort angekommen war, war das Feuer bereits gelöscht gewesen. Ein weiteres Foto zeigte das Hahnwaldsche Anwesen. Jeder in Bad Oeynhausen kannte die extravagante rote Villa; auch Ira wusste sofort, wo das Bild entstanden war. Es schien am heutigen Abend aufgenommen worden zu sein, in der Dunkelheit stand neben einigen zivilen Fahrzeugen und einem weißen Golf mit Werbeaufschrift auch ein Polizeiwagen vor dem Haus. Ira zoomte den Golf heran. Sie las:

DER STEINHAUER bleibt dran!

Knallharte Fakten aus Ihrer Stadt!

Wie war dieser Steinhauer so schnell an den Tatort gekommen? Zufall? Hörte er den Polizeifunk ab? Auf dem Bild mit dem Haus der Hahnwalds waren alle Fenster hell erleuchtet. Die Unterzeile lautete: Weint in dieser Villa eine Witwe? Es folgte ein kurzer Text, der mehr Fragen als Fakten enthielt. Ira schüttelte fassungslos den Kopf.

»Wenn Horstmann will, dass ich für unser Blatt so arbeite, dann kann er mich mal. Das ist unseriös, reißerisch und hat keinerlei Substanz, nicht mal gesicherte Informationen hat dieser Steinhauer veröffentlicht. Nur Fragen und Headlines. In der Kapelle gibt es überhaupt keinen Altar, nur mal nebenbei bemerkt. Ich war schon mal zu einer Trauerfeier dort, es gibt ein großes Kruzifix an der Stirnwand und ein Rednerpult.«

»Was willst du tun?«, fragte Andy.

Ira seufzte. Es blieb ihr keine Wahl, sie musste dem etwas entgegensetzen. Allerdings würde sie mit dem Foto der brennenden Kapelle nicht konkurrieren können. Es konnte eine lange Nacht werden. Andy ging in die Küche und setzte Kaffeewasser auf.

Ira fand im Internet einiges über Ludwig Hahnwald. Besonders aufschlussreich war ein Interview, das er anlässlich seines 77. Geburtstags gegeben hatte. Er war sehr vermögend gewesen, besaß in der Innenstadt einen ganzen Straßenzug mit teuer vermieteten Immobilien. Seit Jahrzehnten war er Inhaber der Hahnwald-Apotheke, und er hatte zwei Häuser auf einem Anwesen, das im Ort nur »der Hahnwald« genannt wurde. In einem lebte er mit seiner dritten Ehefrau Katja, in dem anderen wohnten seine Tochter Betty mit ihrem Mann Wim und die verwitwete Schwiegertochter Miriam mit ihrem Sohn. Hahnwalds Sohn Arno war vor einigen Jahren an Krebs gestorben, kurz danach ließen Ludwig und seine zweite Frau Charlotte sich scheiden. »Der hatte auch sein Päckchen zu tragen«, murmelte Ira vor sich hin. »Erst stirbt der Sohn, und dann zerbricht auch noch die Ehe.«

Nachdem Ira aus diesen Informationen einen Artikel verfasst und die passenden Bilder dazu eingefügt hatte, wusste sie, dass ihr morgen ein sehr unangenehmer Job bevorstand. »Witwenschütteln« nannten ihn die Kollegen der Boulevardpresse.

Sie schickte den Artikel per Mail in die Redaktion.

TOTER IN DER FRIEDHOFSKAPELLE

Bad Oeynhausen (IrWi)

Als die Feuerwehrleute am Mittwochabend den Brand in der Friedhofskapelle auf dem Mooskamp gelöscht hatten, bot sich ihnen ein schreckliches Bild: In einem Rollstuhl saß ein toter Mensch.

»Die Identität der Person wird zurzeit ermittelt«, erklärte Einsatzleiter Heiner Stenzel von der Feuerwehr gegenüber dieser Zeitung.

Das Gelände um den Friedhof wurde weiträumig abgesperrt, Polizisten, Feuerwehrleute, Beamte der Spurensicherung und Experten der Brandermittlung waren bis in die späten Abendstunden im Einsatz.

Das Feuer war von Bernhard T. gegen 18 Uhr bemerkt worden, sein sofortiger Versuch, es zu löschen, scheiterte an der starken Rauchentwicklung. Er alarmierte die Feuerwehr, die nach wenigen Minuten am Einsatzort war. Für die Person in der Kapelle kam jede Hilfe zu spät. Die Kriminalpolizei ermittelt.

3

Auch am nächsten Vormittag war es sommerlich warm. Ira genoss die Sonne im Gesicht und den Fahrtwind in ihren Haaren; sie fuhr mit offenem Verdeck nach Bielefeld. Als sie den Mini Cooper in der Tiefgarage geparkt hatte und sich kurz darauf in den getönten Spiegeln des Fahrstuhls betrachtete, fluchte sie. Ihre Frisur sah aus, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. Hastig nestelte sie einen Kamm aus der Tasche und versuchte, das mittelblonde »Gestrüpp«, wie sie ihre schulterlangen Locken respektlos nannte, zu bändigen. Sie sah wieder einigermaßen manierlich aus, als sie die Kabine in der fünften Etage verließ. Pünktlich um halb zehn klopfte sie in der Bielefelder Redaktion von Tag 7 an die Glastür zu Horstmanns Büro. Es lag am Ende des Großraumbüros, hinter dessen mannshohen mobilen Trennwänden die Redakteure arbeiteten. Auch Ira hatte hier einen festen Schreibplatz, den sie aber nur selten benutzte. Meistens schrieb sie ihre Artikel zu Hause auf dem Notebook und schickte sie anschließend per Mail in die Redaktion. Sie wunderte sich, dass Horstmann aufstand, um ihr zu öffnen, anstatt sie wie immer mit einer Handbewegung hereinzuwinken. Dass er ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch zurechtrückte, war ebenfalls ungewöhnlich.

Als er sie dann auch noch mit einem Lächeln begrüßte, war Ira vollends verwirrt, das war nun gar nicht seine Art.

Horstmann sah sie nicht an, als er zu reden begann. Er starrte auf seine Hände, während er irgendwelche Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her schob. »Machen wir es kurz, ich habe gestern Abend überreagiert, wir werden natürlich nicht so einen Dreck veröffentlichen wie der Steinhauer, sondern weiterhin an seriöser Berichterstattung festhalten. Das sind wir unserem guten Ruf schuldig.«

Ira stutzte. Woher kam denn dieser plötzliche Sinneswandel? Vielleicht hatte er sich die Seite noch mal in Ruhe angesehen. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber er hob abwehrend die Hand und redete weiter: »Sie sind ein alter Hase im Showgeschäft, ich muss Ihnen nicht erklären, was Sie jetzt zu tun haben.« Das stimmte. Ira kannte ihren Job, und Steinhauer war ein Dilettant. Er hatte gegen alle journalistischen Regeln verstoßen und nicht mal die einfachsten Grundsätze, die wirklich jeder Journalist im Schlaf beherrschte, beachtet: Von den sieben W-Fragen war kaum die Hälfte beantwortet. Ira erinnerte sich an ihren allerersten Tag in der Redaktion. Sie hatte schon während des Studiums als freie Mitarbeiterin für Tag 7 geschrieben. Hans Verbeek, der damalige Redaktionsleiter, hatte ihr ein DIN-A4-Blatt in die Hand gedrückt und gesagt: »Die W-Fragen müssen in jedem Artikel, und sei er auch noch so kurz, beantwortet sein. Also: Auswendig lernen und nie mehr vergessen.«

WER hat WAS WANN und WO getan?

WIE ist es passiert?

WARUM ist es geschehen?

WOHER wissen Sie das?

Außerdem hatte Verbeek ihr eingebläut: »Eine einzige Quelle ergibt keine Nachricht. Um eine Nachricht veröffentlichen zu können, brauchst du mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen.« Sie dachte laut weiter: »Bei Konflikten sind unbedingt und ohne Ausnahme die Positionen beider Seiten darzustellen.«

Horstmann zog die Augenbrauen hoch: »Wie kommen Sie jetzt darauf? Welchen Konflikt meinen Sie?« Wieder ließ er sie nicht antworten. »Ist ja auch egal. Recht haben Sie. Die Pressemeldung der Polizei wird gegen elf erwartet. Jetzt ist es Viertel vor zehn. Wie weit sind Sie mit Ihrem Artikel?«

»Ist bereits auf Ihrem Rechner, jedenfalls die erste Meldung von gestern Abend. Über die Mutmaßungen, um wen es sich bei dem Toten handelt, habe ich natürlich nichts geschrieben, ich warte auf die offizielle Mitteilung der Polizei. Alles andere habe ich vorbereitet, es ist aber noch nicht druckreif. Wenn wir wissen, dass es sich um Hahnwald handelt …«

»Brauchen Sie ein Statement der Witwe.«

»Ja. Leider.« Ira wusste, dass sie herausfinden musste, wie die Frau des Toten reagierte, ob sie sich verdächtig benahm, ob sie verzweifelt, traurig, schockiert, verstört oder vielleicht sogar erleichtert wirkte.

»Nutzt nix, da müssen Sie hin, und am besten sofort, bevor dieserSteinhauer sie durch die Mangel dreht. Hoffentlich hat er das nicht schon längst getan. Das Ergebnis Ihres Gesprächs können Sie heute noch in den Artikel schreiben, Sie pflegen nachher nur die Fakten von der Polizei ein. Morgen erscheint der Aufmacher: Der Tod des Apothekers. Wir nehmen drei Fotos mit und bringen hundertzwanzig Zeilen auf Seite drei. Danach tägliche Berichterstattung für die Printausgabe, regelmäßige Aktualisierung der News im Live-Ticker, Sie bearbeiten den Fall komplett.«

Ira erhob sich. »Alles klar.« Sie überlegte kurz. »Wir haben noch keine offizielle Bestätigung dafür, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um den Apotheker handelt. Ich weiß nicht, wie schnell die Polizei die DNA auswerten und zuordnen kann. Oder was auch immer sie tun müssen, um die Leiche zu identifizieren. Sind Sie wirklich sicher, dass ich Frau Hahnwald aufsuchen soll, bevor die Polizei bekannt gegeben hat, dass es wirklich ihr Mann war, der in der Kapelle gestorben ist?«

»Logisch. Wenn das Foto von diesem Steinhauer echt ist, und davon gehe ich aus, war die Polizei gestern Nacht in der Hahnwald-Villa. Warum hätte sie dort sein sollen, wenn der Tote nicht Hahnwald war? Die gnädige Frau wird also bereits trauern. Machen Sie was draus.«

Ira blickte ihn angewidert an. Das war wieder der gewohnte Ton. Sie fand es jedes Mal unerträglich, die Angehörigen von Verstorbenen aufzusuchen. Sosehr sie ihren Beruf mochte, diese Termine waren ihr ein Gräuel. Manchmal war Horstmann einfach ein sensationsgeiler Klatschreporter, von Taktgefühl keine Spur. Als sie schon fast in der Tür stand, rief er: »Und bringen Sie mir Videofilme mit Untertiteln für die Online-Ausgabe mit. Die können Sie mit Ihrem Smartphone drehen. Aber nur eins dreißig, nicht länger.«

Automatisch dachte Ira an einen Satz, den sie von den Radiokollegen kannte: »Ob du faul bist oder fleißig, es gibt nie mehr als eins dreißig.« Egal, wie gut und ausführlich man recherchierte, selten war die Sendezeit länger als neunzig Sekunden. Das galt auch für Internetvideos.

Horstmann griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer. Sie war entlassen. Ira nervte es, wenn er sie so abkanzelte wie gestern am Telefon. Er hatte allerdings, wie alle Menschen, zwei Seiten, er konnte auch ganz anders sein. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob er nicht selbst zwischen klassischer, seriöser Haltung und Sensationsgeilheit hin- und hergerissen war. Meistens legte er Wert auf fundierte Informationen und belegbare Fakten, aber Ira wusste auch, dass so eine Story Auflage brachte. Nur schlechte Nachrichten bringen Quote. Und die brauchten sie dringend, um die Printversion des Blattes überhaupt halten zu können. Das Internet machte auch Tag 7 schwer zu schaffen, sie hatten nur noch halb so viele Abonnenten, seitdem es im Internet fast alle Nachrichten viel schneller und vor allem kostenlos gab. Außerdem war der Kleinanzeigenmarkt, der früher einen ansehnlichen Teil des Umsatzes ausmachte, seit eBay und Co. fast völlig zusammengebrochen.

Bevor sie sich auf den Weg machte, setzte Ira sich an ihren Schreibtisch und wählte die Nummer von Kommissar Brück. Sie kannten sich seit vielen Jahren und hatten schon in einigen Fällen miteinander zu tun gehabt. Brück wusste inzwischen ganz genau, dass er sich auf Ira verlassen konnte, Fragezeichenjournalismus und Spekulationen gab es bei ihr nicht. Deswegen bekam sie ab und zu Informationen von ihm, bevor sie an die Kollegen gingen.

»Können Sie mir was zum Mord an Ludwig Hahnwald sagen?«, fragte sie unverblümt. Sie hörte ihn am anderen Ende der Leitung nach Luft schnappen.

»Wittekind, was soll das? Sie wissen doch, wie das läuft! Außerdem bin ich überhaupt nicht zuständig, sondern die Mordkommission aus Bielefeld.«

»Nun, ich kombiniere: Wenn es eine Mordkommission gibt, gibt es tatsächlich einen Mord. Aber das war mir sowieso klar, es werden keine Flammen vom Himmel gefallen sein, sondern es wird eine Erklärung für den Tod der Person in der Kapelle geben. Trotzdem. Ich habe es im Internet auf der Seite von diesem Steinhauer gelesen, gestern Abend schon, allerdings nicht als Meldung, dass Hahnwald der Tote ist, sondern als Frage, ob er es ist. Aber es gibt dort auch Fotos. Auf einem sieht man, dass Ihre Kollegen vor der Hahnwald-Villa geparkt haben, und zwar mit mindestens einem zivilen Fahrzeug und einem Streifenwagen. Man kann die Kennzeichen deutlich sehen. Soll ich herausfinden, wer von Ihren Mitarbeitern gestern Dienst hatte und wer welchen Wagen fuhr? Da kann ich auch nachfragen!« Brück stieß einen Fluch aus. Ira fuhr unbeirrt fort: »Ich hatte an der Brandstelle schon etwas in der Richtung gehört, habe es aber nicht geschrieben. Zwei Leute von der Feuerwehr unterhielten sich über den Rollstuhl und darüber, wem er wohl gehört haben könnte. Ich bin jetzt sowieso auf dem Weg zu den Hahnwalds. Deswegen möchte ich von Ihnen gern vorher wissen: Werde ich dort eine Witwe antreffen?«

Schweigen.

»Herr Brück …«

Er brummte. »Die Pressemeldung geht ja sowieso in einer halben Stunde raus, dann wissen Sie es eh. Ja, es war Hahnwald.«

Das Hahnwaldsche Anwesen befand sich am Ende einer Sackgasse im Ortsteil Oberbecksen. In dieser Straße waren die Grundstücke so groß, dass man die meisten Häuser von der Straße aus nicht sehen konnte. Breite Zufahrten schlängelten sich durch gepflegte Parkanlagen, hohe Zäune, Mauern und Hecken versperrten die Sicht auf Villen und Bungalows.

Etliche Autos standen an den Straßenrändern, Ira musste wenden, den Mini in einer Parallelstraße parken und zu Fuß zurückgehen.

Hahnwalds Haus war eines der wenigen, die direkt an der Straße lagen. Es sah aus wie eine futuristische Festung. Die ziegelrot verputzte Front war in einer geschwungenen Linie gebaut und erstreckte sich über gut vierzig Meter Breite und acht Meter Höhe. Eine exakt gestutzte und undurchdringliche Buchsbaumhecke schirmte es zum Bürgersteig hin ab. Es gab nur im oberen Geschoss Fenster, acht Stück, sehr hoch und extrem schmal, mit dunkel getönten Scheiben, die in der Sonne wie Spiegel wirkten. Exakt unter den mittleren vier Fenstern befand sich die überdimensionale Haustür, zweiflügelig, aus dunklem, poliertem Holz. Kein Namensschild, nur ein Klingelknopf auf einer runden Edelstahlplatte. Ein Kubus aus rotem Beton, direkt an die Wellenfront des Haupthauses angrenzend, diente augenscheinlich als Garage für mehrere Autos und war größer als ein normales Einfamilienhaus. Auf der linken Seite schloss ein weiteres Gebäude an. Es war zur Straße hin fensterlos und hatte ein Glasdach. Der Architekt hatte für dieses Gebäude-Ensemble einen Preis bekommen, es war mehrfach in Fachzeitschriften als Beispiel gelungener moderner Architektur gezeigt worden.

Ira ging auf den extravaganten Bau zu. Sie bemerkte etliche Kameras: an der Kante des Flachdachs, in der hüfthohen Buchsbaumhecke, im Laub der beiden kugelförmig gestutzten Bäume vor dem Portal, über dem Eingang. Als sie näher kam, vernahm sie ein dezentes Surren, die Kameras reagierten offenbar auf Bewegungsmelder und verfolgten nun jeden ihrer Schritte. Irgendwie passte dieses abweisende Gebäude gar nicht zu dem freundlichen Herrn Hahnwald aus der Apotheke.

Mutlos blieb sie einen Moment vor der Tür stehen. Gleich würde sie sich wie eine rücksichtslose Sensationsreporterin trauernden Menschen aufdrängen. Es kam ihr unwürdig vor. Und warum sollte die Witwe überhaupt mit ihr reden? Mit einem leisen Seufzen drückte sie den Klingelknopf.

»Ja, bitte?«, sagte eine Frauenstimme nach wenigen Sekunden. Verwirrt schaute Ira sich um und suchte den Lautsprecher, konnte ihn aber nicht entdecken. Sie antwortete ins Leere.

»Bitte entschuldigen Sie den unangemeldeten Besuch, ich heiße Ira Wittekind und berichte für die Zeitung Tag 7 über das schreckliche Unglück auf dem Friedhof. Kann jemand von der Familie mit mir darüber reden?«

»Können Sie sich ausweisen?«

»Natürlich.« Ira nestelte ihren Presseausweis hervor. »Wo ist die Kamera?« Statt einer Antwort wurde die Tür geöffnet. Eine korpulente Frau, schwarz gekleidet, stand vor ihr, nahm den Ausweis entgegen, schob ihre Brille in die weißen Haare und prüfte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

»Von Tag 7 kommen Sie, haben Sie gesagt? Die Zeitung haben wir abonniert. Kommen Sie herein, ich werde Frau Hahnwald fragen, ob sie mit Ihnen sprechen möchte.« Sie öffnete die Tür ein Stück weiter und ließ Ira eintreten.

Sie standen in einer imponierenden Halle unter einem gläsernen Dach. Helle Leinenbahnen, die hoch oben wie Segel befestigt waren, dämpften das Tageslicht. Sonnenstrahlen fielen durch die schmalen Fenster an der Straßenseite herein und zeichneten geometrische Muster auf den Fußboden aus hellem Sandstein. Die Treppe, deren Stufen aus grünlich schimmerndem Glas an einem Geländer aus dicken Metallseilen in einem Bogen nach oben führten, schien in der Halle zu schweben. Sie mündete auf eine breite Galerie, die rund um die Halle führte und von der mehrere Türen abgingen. Mitten im Raum stand die übergroße, knallbunte Skulptur einer üppig geformten Frauenfigur. Niki de Saint Phalle, vermutete Ira. An den Wänden Gemälde: bunt, kraftvoll, aggressiv. Und allesamt Frauenporträts. Ira erkannte eine Arbeit der Malerin Elvira Bach: eine Frau mit einem Küchenmesser zwischen den Zähnen und einer Zigarette in der Hand. Ihre dominanten schwarzen Augenbrauen, der bunte Turban, die kräftigen Farben – Markenzeichen dieser Künstlerin, die Ira in Köln mal interviewt hatte. Daneben ein Bild, das Frida Kahlo zeigte. Ira hielt den Atem an, als sie ein Stück weiter ein Marilyn-Porträt von Andy Warhol entdeckte. War das echt?

Die Frau, die sie hereingelassen hatte, riss sie aus ihren Gedanken: »Bitte, warten Sie hier, ich sehe nach, wo Frau Hahnwald ist.«

»Danke schön, aber ich würde gern zuerst mit Ihnen reden. Sind Sie schon lange hier im Haus?« Ira musterte die Frau und bemerkte das zerdrückte Taschentuch in ihrer Hand. Sie presste es so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ihre eben noch so resolut klingende Stimme war jetzt leiser.

»Sechs Jahre.«

»Es ist sicher auch für Sie ein schlimmer Schock, oder?«

Die Frau rang sichtlich um Fassung, aber Ira spürte, dass sie ziemlich verstört war.

»Das kann man wohl sagen. So ein Ende … das ist einfach zu grausam … das hat er nicht verdient …«

»Wie geht es seiner Frau? Wie hat sie die furchtbare Nachricht aufgenommen?«

Der Gesichtsausdruck der Frau wurde plötzlich abweisend. Sie zuckte die Achseln. Schwieg, starrte auf ihre Schuhe.

»Wer hat es ihr gesagt?«, hakte Ira nach.

Aber noch bevor sie eine Antwort erhielt rief jemand: »Frau Heinrich, wer ist denn da?«

Oben an der Treppe stand eine zierliche Frau. Während sie die Stufen hinabstieg, sagte sie mit selbstbewusster Stimme: »Ich bin Katja Hahnwald. Wer sind Sie, und was kann ich für Sie tun?«

Sie trug Schwarz: ein schlichtes Kleid und flache Ballerinas, keine Strümpfe, als Schmuck nur eine schwere Herrenuhr und zierliche silberne Ohrstecker. Das schmale Gesicht war blass, mit dunklen Ringen unter den dezent geschminkten Augen, das brünette Haar hatte sie mit einer Spange hochgesteckt. Sie hielt ein Handy in der Hand und schaute kurz auf das Display. Ira schätzte sie auf Mitte bis Ende dreißig. War das die Tochter? Aber hieß die nicht Betty?

Frau Heinrich stellte Ira vor: »Die Dame schreibt für unsere Tageszeitung, ich meine, für die Zeitung, die Ihr Mann …« Katja Hahnwald beachtete die Frau gar nicht und sagte zu Ira:

»Von der Zeitung also. Und Sie möchten mit mir über den Tod meines Mannes sprechen?«

Sekundenlang blieb Ira sprachlos. Ihres Mannes? Hahnwald war fast achtzig gewesen. Das war seine Frau?

Sie schien Iras Gedanken erraten zu haben. Mit unbewegter Miene sagte sie: »Den Gesichtsausdruck kenne ich schon, Sie haben bestimmt gedacht, ich sei die Tochter.«

Ira räusperte sich. »Frau Hahnwald, es tut mir leid, was mit Ihrem Mann passiert ist, mein aufrichtiges Beileid!«