Mordmotiv (Ein Avery Black Mystery – Band 1) - Blake Pierce - E-Book

Mordmotiv (Ein Avery Black Mystery – Band 1) E-Book

Blake Pierce

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Beschreibung

"Eine dynamisch packende Geschichte, die einen vom ersten Kapitel an in ihren Bann zieht." --Midwest Book Review, Diane Donovan (zu Verschwunden) Von der Nummer 1 Bestseller Autorin Blake Pierce kommt ein neues Meisterwerk psychologischer Spannung. Avery Black, Detective bei der Mordkommission, ist durch die Hölle gegangen. Als ehemals erfolgreiche Kriminalrechtsanwältin verlor sie ihre Reputation, als es ihr gelang, einen Freispruch für einen bekannten Harvard Professor zu erwirken – nur damit er anschließend wieder töten konnte. Sie verlor ihren Mann und ihre Tochter und ihr ganzes Leben fiel auseinander. Um mit diesem Trauma umzugehen, wechselte Avery auf die andere Seite des Gesetzes. Sie arbeitete sich hoch und wurde schließlich Kommissarin bei der Mordkommission. Doch ihre Kollegen haben nie vergessen, was sie damals getan hat. Selbst sie können jedoch Averys Gabe nicht leugnen und als ein verstörender Serienmörder Angst ins Herz von Boston sät und Mädchen von Elite-Universitäten tötet, wenden sie sich an Avery. Das ist Averys Chance, sich selbst zu beweisen und um endlich die ersehnte Erlösung und Sühne für ihre Schuld zu finden. Doch wie sich bald zeigen wird, ist ihr Gegner ein durch und durch genialer Mörder. In diesem psychologischen Katz-und-Maus-Spiel sterben Mädchen auf geheimnisvolle Weise. Alles steht auf dem Spiel. Ein verzweifeltes Rennen gegen die Zeit führt Avery durch eine Reihe schockierender und unerwarteter Wendungen, die in einem Höhepunkt enden, welchen sich auch sie nie hätte ausmalen können. Ein düsterer psychologischer Thriller mit nervenzerreißender Spannung. MORDMOTIV ist das Debüt einer neuen Serie – und das eines neuen Charakters – die Sie noch bis spät in die Nacht faszinieren wird. Band 2 der Avery Black Serie wird bald erhältlich sein. "Ein Meisterwerk aus Thriller und Mystery. Pierce beschreibt die psychologische Seite seiner Charaktere so großartig, dass wir selbst fühlen, was in ihnen vor sich geht. Wir haben mit ihnen Angst und jubeln mit ihnen über ihren Erfolg. Die Handlung ist intelligent erzählt und wird Sie ohne Zweifel unterhalten. Dieses Buch hält Sie von Anfang bis Ende in Ihrem Bann." --Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (zu Verschwunden)

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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MORDMOTIV

(EIN AVERY BLACK MYSTERY – BAND 1)

B L A K E   P I E R C E

Blake Pierce

Blake Pierce ist die Autorin der RILEY-PAGE-Bestsellerreihe, die siebzehn Krimis um die FBI-Spezialagentin umfasst. Aus ihrer Feder stammt außerdem die vierzehnbändige MACKENZIE-WHITE- Krimiserie. Darüber hinaus sind von ihr die Krimis um AVERY BLACK (sechs Bände), KERI LOCKE (fünf Bände), die Krimiserie das MAKING OF RILEY PAIGE (sechs Bände), die KATE-WISE- Krimiserie (sieben Bände), die Psychothriller um JESSIE HUNT (vierzehn Bände), die Psychothriller-Trilogie AU PAIR, die ZOE-PRIME-Krimiserie (bislang fünf Bände), die neue Krimireihe um ADELE SHARP und die Cosy-Krimi-Reihe LONDON ROSES EUROPAREISE, deren erster Band hier vorliegt, erschienen.

Als begeisterte Leserin und lebenslanger Fan des Krimi- und Thriller-Genres freut sich Blake immer, von ihren Leserinnen und Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.

Copyright © 2016 by Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig.

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

EIN ELLA-DARK-THRILLER

IM SCHATTEN (Band #1)

LONDON ROSES EUROPAREISE

MORD (UND BAKLAVA) (Band #1)

TOD (UND APFELSTRUDEL) (Band #2)

ADELE SHARP MYSTERY-SERIE

NICHTS ALS STERBEN (Band #1)

NICHTS ALS RENNEN (Band #2)

NICHTS ALS VERSTECKEN (Band #3)

NICHTS ALS TÖTEN(Band #4)

NICHTS ALS MORD (Band #5)

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORÜBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)

ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)

GESICHT DES WAHNSINNS (Band #4)

GESICHT DES ZORNS (Band #5)

JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (Band #5)

DER PERFEKTE LOOK (Band #6)

DIE PERFEKTE AFFÄRE (Band #7)

DAS PERFEKTE ALIBI (Band #8)

DIE PERFEKTE NACHBARIN (Band #9)

DIE PERFEKTE VERKLEIDUNG (Band #10)

DAS PERFEKTE GEHEIMNIS (Band #11)

CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETÖNTE FENSTER (Band #6)

KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (Band #1)

WENN SIE SÄHE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (Band #5)

WENN SIE FÜRCHTETE (Band #6)

WENN SIE HÖRTE (Band #7)

DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TÖTET (Band #6)

RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ÜBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)

AUSERWÄHLT (Band #17)

EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE

EINST GELÖST

MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FÜHLT (Band #6)

EHE ER SÜNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLÜNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFÄLLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)

VORHER SCHADET ER (Band #14)

AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

MORDMOTIV (Band #1)

FLUCHTMOTIV (Band #2)

TATMOTIV (Band #3)

MACHTMOTIV (Band #4)

RETTUNGSDRANG (Band #5)

SCHRECKEN (Band #6)

KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

 

INHALT

 

EINLEITUNG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREISSIG

KAPITEL EINUNDDREISSIG

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

KAPITEL DREIUNDDREISSIG

KAPITEL VIERUNDDREISSIG

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG

KAPITEL NEUNUNDDREISSIG

KAPITEL VIERZIG

 

EINLEITUNG

Es war fast unmöglich für Cindy Jenkins, die Frühjahrsparty ihrer Schwesternschaft im Lichthof zu verlassen. Der gigantische Penthouse-Raum war mit Stroboskop-Lichtern, zwei vollen Bars und einer sternförmigen Kristallkugel ausgestattet. Ihre Lichter funkelten auf der mit Partygästen vollgepackten Tanzfläche. Sie hatte die ganze Nacht lang mit, so kam es ihr vor, jedem Anwesenden getanzt. Ihre Tanzpartner kamen und gingen, Cindy schwang ihr kastanienbraunes Haar und strahlte mit ihrem perfekten Lächeln und ihren himmelblauen Augen jeden an, der vorbeikam. Es war ihre Nacht, eine Feier nicht nur für die Schwesternschaft Kappa Kappa Gamma, sondern auch für die vielen, harten Jahre, in denen sie dafür gearbeitet hatte, die Beste zu sein.

Sie wusste, dass eine sichere Zukunft auf sie wartete.

In den letzten zwei Jahren war sie Praktikantin in einer großen Buchhaltungsfirma in der Stadt gewesen; erst vor Kurzem wurde ihr eine Stelle als Junior-Buchhalterin angeboten. Das Einstiegsgehalt reichte für eine neue, elegante Garderobe und die Miete für eine Wohnung in Arbeitsnähe. Ihre Noten? Klassenbeste. Sicher, sie könnte bis zum Abschluss eine ruhige Kugel schieben, aber Cindy kannte das Wort „entspannen“ nicht. Sie gab alles, jeden Tag, egal, was sie tat. Sie war ein Arbeits- und Partytier und heute Abend wollte sie feiern.

Noch ein Glas des hochalkoholischen „Dreamy Blue Slush“, noch ein Applaus von Kappa Kappa Gamma und noch ein Tanz. Cindys Lächeln wich nicht mehr aus ihrem Gesicht. In den Stroboskop-Lichtern bewegte sie sich wie in Zeitlupe. Sie warf ihr Haar zurück und erblickte einen Jungen, von dem sie schon seit zwei Jahren wusste, dass er sie küssen wollte. Warum nicht, dachte sie sich. Nur ein kleiner Kuss, nichts Ernstes. Nichts, das ihre aktuelle Beziehung verletzen könnte, bloß genug, damit jeder auf der Party wusste, dass sie nicht immer nur eine brave Streberin war, die sich an die Regeln hielt.

    Ihre Freunde sahen ihr zu und feuerten sie begeistert an.

Cindy wandte sich von dem Jungen ab. Das tanzen, der Alkohol und die Hitze hatten endlich ihre Wirkung erreicht. Sie schwankte leicht, lächelte und hielt sich am Hals des Jungen fest, damit sie nicht stürzte.

„Kommst du mit mir nach Hause?“, flüsterte er.

„Ich habe einen Freund.“

„Wo ist er?“

Stimmt, dachte Cindy. Wo ist Winston? Er hasste Partys der Schwesternschaft. Er sagte immer, es wäre nur ein Haufen hochnäsiger Mädchen, die sich betrinken und ihre Freunde betrügen. Nun, dachte sie, vielleicht hatte er ja doch recht. Einen anderen Jungen zu küssen, obwohl sie bereits vergeben war, war vermutlich das Gewagteste, das sie jemals getan hatte.

Du bist betrunken, erinnerte sie sich. Geh jetzt.

„Ich muss gehen“, murmelte sie.

„Nur noch ein Tanz?“

„Nein“, antwortete sie, „ich muss wirklich gehen.“

Der Junge akzeptierte nur widerwillig. Er warf der beliebten Harvard-Absolventin einen letzten liebevollen Blick zu, ging zurück in die Menge und winkte ihr zum Abschied.

Cindy schob eine verschwitzte Haarsträhne hinter ihr Ohr und verließ die Tanzfläche. Ihr Gesicht strahlte vor Glück. Ihr Lieblingslied kam gerade, während sie sich um drehte und zum Rand der Tanzfläche schwankte.

„Nein!“, riefen ihre Freundinnen, als sie sahen, dass sie gehen wollte.

„Wo gehst du hin?“, fragte eine von ihnen.

„Nach Hause“, beharrte sie.

Ihre beste Freundin, Rachel, drängte sich durch die Gruppe und packte Cindys Hände. Sie war klein, stämmig und brünett. Sie war weder die Schönste noch die Klügste der Gruppe, doch ihre aufdringliche Art zog stets alle Aufmerksamkeit auf sich. Sie trug ein enges silbernes Kleid, das jedes Mal zu platzen schien, wenn sie sich bewegte.

„Du darfst nicht gehen!“, befahl sie.

„Ich bin wirklich blau“, flehte Cindy.

„Wir haben noch nicht einmal unseren Aprilstreich gespielt! Das ist das Highlight unserer Party! Bitte, bleib doch einfach noch ein bisschen länger?“

Cindy dachte an ihren Freund. Sie waren seit zwei Jahren zusammen. Sie hatten sich heute Abend in seiner Wohnung verabredet. Innerlich stöhnte sie wegen dem für sie untypischen Kuss auf der Tanzfläche. Wie soll ich ihm das nur erklären, fragte sie sich.

„Ernsthaft“, sagte sie, „ich muss gehen.“ Sie blickte scherzhaft zu dem Jungen, den sie geküsst hatte und sagte: „Wer weiß, was passiert, wenn ich noch länger bleibe?“

Ihre Freunde jubelten.

„Sie ist außer Kontrolle!“

Cindy küsste Rachel auf die Wange und flüsterte: „Habt einen tollen Abend. Wir sehen uns morgen“, und ging zur Tür.

Draußen atmete Cindy die kühle Frühlingsluft tief ein. Sie wischte sich den Schweiß vom Gesicht und hüpfte in ihrem kurzen gelben Sommerkleid die Church Street entlang. Dieser Häuserblock in der Innenstadt bestand vorwiegend aus niedrigen Backsteingebäuden und einigen prächtigen Häusern, die von Bäumen umgeben waren. Sie bog links auf die Brattle Street, überquerte sie und ging nach Südwesten.

Straßenlaternen beleuchteten die meisten Ecken, aber ein Abschnitt der Brattle Street lag in vollkommener Dunkelheit. Anstatt sich Sorgen zu machen, ging Cindy schneller und breitete ihre Arme aus, als könnten die Schatten ihren Körper von Alkohol und Erschöpfung reinigen und sie für das Treffen mit Winston wiederbeleben.

Auf der linken Seite befand sich eine schmale Gasse. Ihr Instinkt mahnte sie, vorsichtig zu sein, es war schließlich sehr spät. Sie hatte nicht vergessen, dass Bostons Straßen zu dieser Uhrzeit gefährlich sein konnten, aber sie war auch zu aufgedreht, um ernsthaft daran zu glauben, dass ihrer Zukunft irgendetwas im Wege stehen könnte.

Aus dem Augenwinkel heraus nahm sie eine Bewegung wahr und erst zu spät drehte sie sich um.

Plötzlich spürte sie einen scharfen Schmerz in ihrem Nacken, der ihr die Luft nahm. Sie blickte hinter sich und sah etwas im Licht schimmern.

Eine Nadel.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und ihr Rausch war auf der Stelle verflogen.

Im selben Augenblick spürte sie, wie sich jemand an ihren Rücken presste. Jemand hielt ihren Arm fest. Wer auch immer hinter ihr war, war kleiner als sie, aber unglaublich stark. Mit einem Ruck wurde sie rückwärts in die Gasse gezogen.

„Schhh.“

Wenn sie bis jetzt noch gedacht hatte, dass ihr jemand einen Streich spielte, verflog in diesem Moment, in dem sie diese tiefe und bedrohliche Stimme hörte, jeder Zweifel.

Sie versuchte, um sich zu treten und zu schreien. Aus irgendeinem Grund ließ ihre Stimme sie im Stich, als ob ihre Halsmuskeln ihr nicht mehr gehorchen wollten. Auch ihre Beine begannen sich wie Wackelpudding anzufühlen, und sie konnte ihre Füße kaum auf dem Boden halten.

Tu doch etwas, flehte sie sich selbst an. Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie jetzt nichts tat.

Der Arm hielt sie auf der rechten Seite umschlungen. Cindy befreite sich aus dem Griff und warf gleichzeitig ihren Kopf in den Nacken, um ihrem Angreifer einen Kopfstoß zu verpassen.  Die Rückseite ihres Schädels schlug gegen seine Nase und sie konnte diese fast knacken hören. Der Mann fluchte leise und ließ sie los.

Lauf, drängte sich Cindy.

Aber ihr Körper weigerte sich. Ihre Beine rutschten unter ihr weg und sie fiel hart auf den Boden.

Cindy lag auf dem Rücken, die Beine gespreizt und die Arme angewinkelt, unfähig sich zu bewegen.

Der Angreifer kniete sich neben sie. Sein Gesicht war teilweise von einer schlecht platzierten Perücke, einem falschen Schnurrbart und einer dicken Brille verdeckt. Die Augen hinter den Gläsern ließen ihren Körper erschauern: kalt und hart. Seelenlos.

„Ich liebe dich“, sagte er.

Cindy versuchte zu schreien, aber sie brachte nur ein Röcheln hervor.

Der Mann schien ihr Gesicht berühren zu wollen. Doch dann stand er ruckartig auf, als ob er sich plötzlich an seine Umgebung erinnerte.

Cindy spürte, wie er sie packte und durch die Gasse zog.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Bitte, flehte sie in Gedankten, hilf mir doch jemand. Hilfe! Sie erinnerte sich an ihre Klassenkameraden, ihre Freunde, ihr Lachen auf der Party. Hilfe!

Am Ende des Weges hob der kleine Mann sie hoch und umarmte sie fest. Ihr Kopf fiel auf seine Schulter. Er streichelte liebevoll ihre Haare.

Er griff nach einer ihrer Hände und drehte sie herum, als wären sie ein Liebespaar.

„Es ist alles in Ordnung“, sagte er laut, als würde er mit jemand anderem sprechen. „Ich mache die Tür auf.“

Cindy entdeckte in weiter Ferne weitere Gestalten. Das Denken fiel ihr schwer. Sie konnte sich nicht bewegen. Jeder Versuch zu sprechen scheiterte.

Die Beifahrerseite eines blauen Minivans wurde geöffnet. Er setzte sie hinein und schloss vorsichtig die Tür, sodass ihr Kopf auf dem Fenster lag.

Er stieg auf der Fahrerseite ein und streifte einen weichen, kissenartigen Sack über ihren Kopf.

     „Schlaf, mein Liebling“, sagte er, als er den Zündschlüssel drehte. „Schlaf.“

KAPITEL EINS

Avery Black stand im hinteren Teil des vollen Konferenzraums und lehnte an der Wand, tief in Gedanken versunken, während sie das Geschehen um sich herum beobachtete. Über dreißig Polizisten drängten sich in dem kleinen Konferenzraum auf dem Polizeirevier in Boston in der New Sudbury Street. Zwei Wände waren gelb gestrichen, zwei waren aus Glas und gaben den Blick auf den zweiten Stock ihrer Abteilung frei. Captain Mike O’Malley, Anfang fünfzig, ein kleiner, kräftig gebauter Bostoner mit dunklen Augen und Haaren, lief hinter dem Podium auf und ab. Er schien konstant nervös zu sein, als fühlte er sich unwohl in seiner eigenen Haut.

„Zu guter Letzt“, sagte er in seinem dicken Bostoner Akzent, „möchte ich Avery Black bei der Mordabteilung begrüßen.“

Ein gediegenes Klatschen raunte durch den Raum.

„Bitte“, blaffte der Captain, „so behandelt man doch keine neue Kriminalbeamtin. Black hat im vergangenen Jahr für mehr Verhaftungen gesorgt als sonst jemand von euch, und sie hat fast im Alleingang die Mörder der West Side zur Strecke gebracht. Sie hat sich Respekt verdient“, sagte er und nickte aufmunternd lächelnd in ihre Richtung.

Avery hatte ihren Kopf gesenkt und wusste, dass ihr blondiertes Haar ihr Gesicht verbarg. Mit ihrem strengen schwarzen Hosenanzug und Bluse kleidete sie sich eher wie eine Rechtsanwältin als eine Polizistin, eine Angewohnheit aus ihrer Zeit als Verteidigerin. Ein weiterer Grund dafür, dass sich die meisten innerhalb der Polizeibehörde entschieden hatten, sie zu meiden oder hinter ihrem Rücken schlecht über sie zu reden.

„Avery!“ Der Captain hob die Arme. „Ich versuche, Ihnen hier Unterstützung zu geben. Aufwachen!“

Sie sah sich um und fragte sich, warum ein Meer feindseliger Gesichter zurückstarrte. War die Mordabteilung wirklich so eine gute Idee gewesen?

„Nun gut, fangen wir an“, sagte der Captain schließlich. „Avery, in mein Büro. Jetzt.“ Er wandte sich einem anderen Polizisten zu. „Und dich will ich auch sprechen. Und dich, Hennessey, kommt beide her. Und Charlie, warum rennt ihr so schnell hinaus?“

Avery wartete ab, bis sich ihre Kollegen aus dem Raum gedrängt hatten. Als sie sich auf den Weg ins Büro ihres Vorgesetzten machte, stand ein Polizist vor ihr, den sie zwar vom Sehen kannte, aber nie offiziell begrüßt hatte. Ramirez war etwas größer als sie, schlank und schick gekleidet. Er hatte kurze schwarze Haare, war glattrasiert und obwohl er einen schicken grauen Anzug trug, haftete seiner Haltung und seinem Aussehen eine gewisse Leichtigkeit an. Er trank einen Schluck von seinem Kaffee und starrte sie ausdruckslos an.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.

„Ganz im Gegenteil“, sagte er. „Ich bin derjenige, der Ihnen helfen wird.“

Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie regte sich nicht.

„Ich wollte nur die berühmte Avery Black persönlich kennenlernen. Es wird sich hier einiges über Sie erzählt. Ich wollte herausfinden, was davon stimmt. Bisher hat sich bestätigt: Sie ist zerstreut und denkt, sie ist was Besseres als der Rest der Truppe.“

Für Avery waren Beleidigungen bei der Polizei nichts Neues. Es hatte vor drei Jahren begonnen, als sie noch eine frische Anfängerin gewesen war, und war nie besser geworden. Sie hatte nur wenige Kollegen, mit denen sie sich verstand, geschweige denn Freunde.

Avery schob sich an ihm vorbei.

„Viel Glück beim Chef“, sagte Ramirez sarkastisch, „ich habe gehört, dass er ein echtes Arschloch sein kann.“

Sie winkte ihn beiläufig ab. Im Laufe der Jahre hatte Avery gelernt, dass es besser war, ihre Feinde wenigstens nicht vollkommen zu ignorieren, nur damit sie auch wussten, dass sie nirgendwo hingehen würde.

Der zweite Stock der A1 Polizeiabteilung im Zentrum von Boston war wie ein großes, kräftiges Triebwerk, das vor Geschäftigkeit brummte. Kleine Büroquadrate füllten die Mitte des expansiven Arbeitsbereichs aus und kleinere Glasbüros reihen sich entlang der Seitenfenster. Die Beamten starrten Avery an, während sie an ihnen vorbeiging.

„Mörderin“, murmelte jemand.

„Die Mordabteilung ist perfekt für dich“, sagte ein anderer.

Avery ging an einer irischen Polizistin vorbei, die sie aus dem Versteck einer Gang gerettet hatte. Sie warf Avery einen flüchtigen Blick zu und flüsterte: „Viel Glück, Avery. Du kannst es gebrauchen.“

Avery lächelte. „Danke.“

Das erste freundliche Wort des Tages ermutigte sie, während sie das Büro des Captains betrat. Zu ihrer Überraschung stand Ramirez nur wenige Meter vor der Trennwand aus Glas. Er hob seine Kaffeetasse zum Gruß und grinste.

„Kommen Sie herein“, sagte der Captain. „Und schließen Sie die Tür.“

Avery setzte sich.

Aus der Nähe betrachtet war O’Malley noch eindrucksvoller. Es war mehr als deutlich zu erkennen, dass er seine Haare färbte. Zahlreiche Falten erstreckten sich rund um seine Augen und seinen Mund. Er rieb sich die Schläfen und lehnte sich zurück.

„Gefällt es Ihnen hier?“, fragte er.

„Was meinen Sie?“

„Ich meine das Revier. A1. Im Herz von Boston. Hier sind Sie mitten drin. Große Stadt. Sie kommen aus einer Kleinstadt, oder? Oklahoma?“

„Ohio.“

„Richtig“, murmelte er. „Was gefällt Ihnen an der A1 so gut? Es gibt viele andere Distrikte in Boston. Sie hätten in der Southside anfangen können, B2, vielleicht D14 und ein Gespür für die Vorstädte bekommen. Es gibt viele Banden da draußen. Aber Sie haben sich nur hier beworben.“

„Ich mag große Städte.“

„Wir haben einige echte Perverslinge hier. Sind Sie sicher, dass Sie sich wieder mit so etwas auseinandersetzen wollen? Das hier ist die Mordabteilung. Ein etwas anderes Revier.“

„Ich habe schon dabei zugesehen, wie der Anführer der West Side Mörders jemanden bei lebendigem Leib gehäutet hat, während der Rest seiner Bande zugesehen und gesungen hat. Was genau machen Ihre Perverslinge hier so?“

O’Malley beobachtete jede ihrer Bewegungen.

„So viel ich gehört habe“, sagte er, „wurden Sie von diesem Harvard-Psycho übel hinters Licht geführt. Er hat Sie wie eine Idiotin aussehen lassen. Ihr Leben zerstört. Von der Star-Anwältin zur Aussätzigen, und danach war es aus. Dann der plötzliche Sinneswandel und Sie haben bei der Polizei angefangen. Das muss ganz schön wehgetan haben.“

Avery wand sich auf ihrem Stuhl. Warum musste er das alles wieder aufrollen? Warum jetzt? Heute war der Tag, um ihren Aufstieg zur Mordkommission zu feiern, und sie wollte das nicht ruinieren – und gewiss nicht auf ihre Vergangenheit zurückblicken. Was geschehen ist, ist geschehen. Sie wollte nur nach vorne schauen.

„Aber Sie haben sich wieder gefangen“, nickte er respektvoll, „und sich hier ein neues Leben aufgebaut. Dieses Mal auf der richtigen Seite. Das muss man respektieren. Aber“, sagte er und blickte sie an, „ich möchte sichergehen, dass Sie dazu bereit sind. Sind Sie bereit?“

Sie starrte zurück und fragte sich, worauf er hinaus wollte.

„Wenn ich nicht bereit wäre“, sagte sie, „wäre ich nicht hier.“

Er nickte sichtlich zufrieden.

„Wir haben gerade einen Anruf bekommen“, sagte er. „Ein totes Mädchen. Inszeniert. Es sieht nicht gut aus. Die Jungs vor Ort wissen nicht, was sie damit anfangen sollen.“

Averys Herz schlug schneller.

„Ich bin bereit“, sagte sie.

„Sind Sie das wirklich?“, fragte er. „Sie sind gut, aber wenn sich das hier als etwas Großes herausstellt, möchte ich sicher sein, dass Sie mir nicht zusammenbrechen.“

„Ich breche nicht zusammen“, sagte sie.

„Das wollte ich hören“, sagte er und schob einige Papiere auf seinem Schreibtisch zur Seite. „Dylan Connelly leitet die Mordkommission. Er ist vor Ort und spricht gerade mit den Gerichtsmedizinern. Sie haben auch einen neuen Partner. Sehen Sie zu, dass er dieses Mal am Leben bleibt.“

„Das war nicht meine Schuld“, beschwerte sich Avery. Ihr ehemaliger Partner – ein Hitzkopf voller Vorurteile – hatte voreilig gehandelt und versucht, die ganze Bande im Alleingang einzubuchten, um die Lorbeeren für ihre Arbeit einzufahren. Und jetzt hatte sie interne Ermittlungen am Hals.

Ihr Chef zeigte nach draußen.

„Ihr Partner wartet. Ich habe Sie zum leitenden Detective gemacht. Enttäuschen Sie mich nicht.“

Sie drehte sich um und sah den immer noch wartenden Ramirez an. Sie stöhnte.

„Ramirez? Wieso er?“

„Müssen Sie das wirklich fragen?“ Der Captain zuckte mit den Achseln. „Er ist der Einzige, der mit Ihnen arbeiten wollte. Jeder andere hier scheint Sie zu hassen.“

Sie spürte, wie sich der Knoten in ihrem Magen zuzog.

„Gehen Sie behutsam vor, Kollegin”, fügte er hinzu, während er aufstand und damit  zu verstehen gab, dass das Gespräch beendet war.

KAPITEL ZWEI

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Ramirez, als Avery aus dem Büro kam.

Sie senkte den Kopf und ging weiter. Avery hasste Smalltalk. Sie traute ihren Kollegen nicht zu, ein Gespräch ohne Beleidigungen zu führen.

„Wo müssen wir hin?“, erwiderte sie stattdessen.

„Okay, schon klar.“ Ramirez lächelte. „Verstehe. In Ordnung, Black. Wir haben ein totes Mädchen auf einer Bank im Lederman Park, unten am Fluss. Dort herrscht ein hohes Verkehrsaufkommen. Nicht wirklich ein guter Platz, um eine Leiche abzusetzen.“

Im Vorbeigehen klatschten Kollegen Ramirez auf die Schulter.

„Schnapp sie dir, Tiger!“

„Mach sie fertig.“

Avery schüttelte den Kopf. „Sehr nett“, sagte sie.

Ramirez hob die Hände.

„Nicht meine Schuld.“

„So ein Unsinn“, spottete sie. „Ich hätte nie gedacht, dass ein Polizeirevier schlimmer ist als eine Anwaltskanzlei. Ein echter Männerverein, nicht wahr? Mädchen müssen draußen bleiben?“

„Immer mit der Ruhe, Black.“

Sie gingen zu den Aufzügen. Ein paar Kollegen murmelten unpassende Bemerkungen hinter ihrem Rücken. Normalerweise war Avery in der Lage, sie zu ignorieren, aber etwas an ihrem neuen Fall ging ihr jetzt schon zu nahe. Was der Captain gesagt hatte, sprach nicht gerade für einen einfachen Mord. Sie wissen nicht, was sie damit anfangen sollen. Der Tatort war inszeniert.

Und ihr arroganter, distanzierter neuer Partner war nicht gerade tröstlich. Sieht wie ein klarer Fall aus. Nichts war jemals so klar.

Die Aufzugstür war gerade dabei sich zu schließen, als Ramirez seine Hand durchsteckte.

„Es tut mir Leid, okay?“

Er schien es ernst zu meinen. Er hob seine Hände hoch und er blickte sie entschuldigend mit seinen dunklen Augen an. Er drückte auf den Aufzugknopf und sie fuhren nach unten.

Avery sah ihn an.

„Der Captain sagte, Sie wären der Einzige, der mit mir arbeiten wollte. Warum?“

„Sie sind Avery Black“, antwortete er, als wäre die Antwort offensichtlich. „Wie könnte ich nicht neugierig sein? Niemand kennt Sie wirklich, aber jeder scheint eine Meinung zu haben: Idiotin, Genie, die Ehemalige, Aufstehmännchen, Mörderin, Retterin. Ich wollte wissen, was an den Gerüchten dran ist.“

„Und warum?“

Ramirez lächelte rätselhaft.

Aber er sagte nichts.

* * *

Avery folgte Ramirez, während er leichtfüßig durch das Parkhaus ging. Er trug keine Krawatte und die zwei oberen Knöpfe seines Hemdes waren offen.

„Ich stehe da drüben“, sagte er.

Sie gingen an ein paar uniformierten Polizisten vorbei, die ihn zu kennen schienen. Einer winkte und sah ihn mit einem seltsamen Blick an, als wollte er fragen: Was hast du denn mit der zu tun?

Er führte sie zu einem staubigen, alten, karminroten Cadillac mit zerrissenen, beigen Sitzen.

„Nette Karre“, scherzte Avery.

„Dieses Baby hat mich schon oft gerettet“, erzählte er stolz, während er liebevoll die Motorhaube streichelte. „Alles, was ich tun muss, ist mich wie ein Zuhälter oder ein verhungernder Spanier zu kleiden und niemand beachtet mich mehr.“

Sie fuhren aus dem Parkhaus.

Lederman Park war nur wenige Kilometer von der Polizeistation entfernt. Sie fuhren westlich auf der Cambridge Street und bogen rechts in die Blossom Street ab.

„Also“, sagte Ramirez, „ich habe gehört, dass Sie mal Anwältin waren.“

„Ach ja?“ Sie warf ihm einen vorsichtigen Seitenblick zu. „Was haben Sie sonst noch gehört?“

„Dass Sie Strafverteidigerin waren“, fügte er hinzu, „die Beste der Besten. Sie haben bei Goldfinch & Seymour gearbeitet. Nicht schlecht. Was hat Sie dazu gebracht, die Stelle aufzugeben?“

„Das wissen Sie nicht?“

„Ich weiß, dass Sie eine Menge Drecksäcke verteidigt haben. Einwandfreie Gerichtsakten, nicht wahr? Sie haben sogar ein paar schmutzige Cops hinter Gitter gebracht. Sie müssen ein perfektes Leben geführt haben. Riesiges Gehalt, endlose Erfolgsgeschichten. Wer gibt das alles freiwillig auf, um zur Polizei zu gehen?“

Avery erinnerte sich an das Haus, in dem sie aufgewachsen war, eine kleine Farm, meilenweit umgeben von Flachland. Die Einsamkeit hatte ihr nie gut getan. Und auch die Tiere und der Geruch des Ortes nicht: Exkremente, Fell und Federn. Von Anfang an hatte sie dort weggewollt. Dann war sie nach Boston gegangen. Zuerst an die juristische Fakultät der Universität und dann hatte sie Karriere gemacht.

Und jetzt war sie hier.

Ein Seufzer entwich ihren Lippen.

„Ich denke, manchmal läuft eben nicht alles nach Plan.“

„Was soll das heißen?“

In ihrem Kopf sah sie das Lächeln wieder, dieses finstere Lächeln eines alten, zerknitterten Mannes mit dicker Brille. Er war anfangs so ehrlich gewesen, so bescheiden und klug und aufrichtig. Wie sie alle, bemerkte sie.

Bis ihre Prozesse vorbei waren. Bis sie wieder zu ihrem Alltag zurückgekehrt war und sie akzeptieren musste, dass sie keine Retterin der Hilflosen war. Sie war keine Verteidigerin des Volkes, sondern lediglich eine Schachfigur in einem Spiel, das zu komplex war, dass sie es hätte ändern können.

„Das Leben ist hart“, sagte sie. „Eines Tages denkst du, du hast etwas verstanden und dann am nächsten Tag fällt der Schleier und alles ist anders.“

Er nickte.

„Howard Randall“, sagte er klar und deutlich.

Dieser Name ließ sie sehr aufmerksam werden. Ihre Sinne schienen auf Hochtouren zu laufen. Plötzlich nahm sie alles wahr – die kühle Luft im Auto, dass ihr Sitz etwas zu aufrecht eingestellt war, den Namen der Straße, die sie gerade entlangfuhren. Seit langem hatte niemand mehr diesen Namen laut ausgesprochen, besonders nicht in ihrer Gegenwart. Sie fühlte sich nackt und verletzlich. Ihr Körper spannte sich automatisch an und sie setzte sich aufrechter hin.

„Tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte nicht ...“

„Schon in Ordnung“, sagte sie.

Es war nicht in Ordnung. Nach ihm war alles vorbei gewesen. Ihr Leben. Ihr Job. Ihre geistige Gesundheit. Strafverteidigerin zu sein war eine Herausforderung, um es gelinde auszudrücken. Aber er war derjenige, der es wieder in Ordnung hatte bringen sollen. Ein genialer Harvard-Professor, von allen respektiert, bescheiden und freundlich. Und er war wegen Mordes angeklagt worden. Ihn zu verteidigen hätte Averys Rettung sein sollen. Endlich hätte sie getan, wovon sie schon seit ihrer Kindheit geträumt hatte: Einen Unschuldigen zu verteidigen und für Gerechtigkeit zu sorgen.

 

 

 

KAPITEL DREI

 

 

Der Park war bereits für die Öffentlichkeit geschlossen worden.

Zwei Polizisten in Zivilbekleidung hielten Ramirez’ Wagen an, winkten ihn vom Hauptparkplatz weg und weiter nach links. Abgesehen von den Polizisten, die offensichtlich aus ihrer Abteilung waren, entdeckte Avery auch einige von der Landespolizei.

„Warum ist die Landespolizei hier?“, fragte sie.

„Ihr Hauptquartier ist gleich am anderen Ende der Straße.“

Ramirez parkte neben der Ansammlung Streifenwagen. Ein weitläufiger Bereich war mit gelben Band abgesperrt worden. Vans von Nachrichtensendern, Reporter, Kameras und ein Haufen Schaulustiger standen an der Absperrung und versuchten einen Blick auf das zu erhaschen, was hier vor sich ging.

„Niemand kommt hier rein“, sagte ein Polizist zu ihnen.

Avery streckte ihm ihr Dienstabzeichen entgegen.

„Mordkommission“, sagte sie. Es war das erste Mal, dass sie sich zu ihrer neuen Stelle bekannt hatte, und irgendwie erfüllte es sie mit Stolz.

„Wo ist Connelly?“, fragte Ramirez.

Der Polizist zeigte zu einer Baumgruppe.

Sie gingen über den Rasen. Links von ihnen befand sich ein Baseballfeld und am Rande der Baumgruppe, auf die sie zugingen, war noch mehr gelbes Absperrband aufgehängt worden. Unter einer dichten Laubdecke lag ein Wanderweg versteckt, der sich entlang des Charles River schlängelte. Ein Polizist, ein Gerichtsmediziner und ein Fotograf standen vor einer Bank.

 Zunächst vermied Avery Kontakt zu den Personen, die bereits am Tatort waren. Im Laufe ihrer Karriere hatte sie gelernt, dass zu viel Geplänkel, Fragen und Smalltalk ihre Wahrnehmung und Konzentration beeinträchtigten. Leider hatte dieses Vorgehen ihr auch weitere Verachtung von ihren Kollegen eingebracht.