Mords Schafe - Anthologie - E-Book

Mords Schafe E-Book

Anthologie

4,5

Beschreibung

Die besten dreißig Kriminalgeschichten aus dem Schreibwettbewerb 2008 rund um Hammel, Schaf und Lamm, mit garantierter mörderischer Raffinesse und absolut ungefährlich, wenn s um die Wolle geht. Kurzweilig und adrenalinsteigernd entführen uns die Autorinnen und Autoren in den Schafsstall oder zum Lammbraten.

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Ähnliche


Mords Schafe

Anthologie

E-Book

Herausgeber: Der Kreisausschuss des Odenwaldkreises

© 2012 Sieben Verlag

© Covergestaltung: 2008 Rainer Wekwerth, www.rw-design.net

© Zeichnungen: Hans-Peter Murmann, 64807 Dieburg, www.hammlets.de

ISBN-Taschenbuch: 978-3-940235-17-6

ISBN-eBook-PDF: 978-3-864430-24-4

ISBN-eBook-Epub: 978-3-864430-25-1

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andereVerwertungen nur mit schriftlicher Genehmigungdes Verlags.

www.sieben-verlag.de

Vorwort

Unter dem Motto „Hammel, Schaf und Lamm“ veranstaltete der Odenwaldkreis zum zweiten Mal einen Krimischreibwettbewerb. Während beim letzten Wettbewerb die Kartoffel im Mittelpunkt der Kriminalgeschichten stand, wurde der Fantasie diesmal zum Thema Schaf einiges abgefordert. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Geschichten mit Schafswolle, dem Lammbraten oder einem Hammel verknüpft wurden.

Die Reaktion auf die Ausschreibung war überwältigend. Im Erwachsenenbereich haben sich über 270 Autorinnen und Autoren und im Schülerwettbewerb 25 Jugendliche beteiligt.

Nicht nur Beiträge aus dem gesamten Bundesgebiet sind hier eingegangen, auch aus Spanien, Österreich, Schweiz, England und Frankreich.

Die Anthologie Mordsschaf enthält die 30 besten Schafskrimis des Schreibwettbewerbs 2008.

Keine leichte Arbeit für die Jury, die aus Tatjana Kruse, Kathrin Fischer, Martina Campbell, Alexander Kaffenberger, Matthias Volk und mir bestand. Ein herzliches Dankeschön für Ihr Engagement.

Ein Wettbewerb ohne Preise ist undenkbar. Deshalb einen besonderen Dank an die Sponsoren, Sparkasse Odenwaldkreis, Privatbrauerei Schmucker, Sieben-Verlag, Odenwald Stiftung, Odenwald-Sterne-Hotels und Odenwald-Gasthäuser.

Herzlichst

Ihr Landrat Horst Schnur

Inhalt

Mäh!, Anna Rinn-Schad

Die einzige Zeugin, Florian Scheibe

Chronik eines unvermeindlichen Todes, Stefan Münkel

Mord auf der Weide, Markolf Hoffmann

Der einzige Zeuge, Gabi Thomas

Opferlamm, Ralf Schwob

Lammfrom, Michael Brandl

Wollige Detektive, Heidi Lang

Das blaue Somali, Sabine Axnick

Dran glauben, Bettina Goldner

Wolle, Ruth Löbner

Schafskopf, Sunil Mann

Sch(l)aflos im Odenwald, Michael Deitrich

Sein Name ist Haggis, Ursula Lange

Unheimliche Begegnung, Wulf Dorn

Weshalb die letzten 2007 Jahre …, Ulrich Hoyer

Das Schaf im Wolfspelz, Heidi Bermes

Ohne Krone, Judith Merchant

Bockspringen, Michael Rapp

Letzter Hammelsprung, Udo Sponagel

Tödliches Osterlamm, J.K. Brandon

Mord mit Anlauf, Ewa Rossberg

Das Trojanische Schaf, Fabian Vöhl

Das erste Mal, Andreas Klink

Das Schwarze Schaf, Stefanie Busch

Lanolin, Antje Herden

Bääh-Bääh Banküberfall, Martina Rose

Einfach Nette Leute, Helge Streit

Das Schönheitsschaf, Lars Blumenroth

Selinas Fehler, Sonja Guldi

Mäh!

Von Anna Rinn-Schad

Sehr geehrte Frau Mehler, sehr geehrter Herr Landmann,

mit Befremden habe ich festgestellt, dass Sie auf Ihrem Grundstück seit einigen Wochen drei Lämmer halten. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass das ganze Neubaugebiet Hammelberg als reines Wohngebiet ausgewiesen ist. Eine landwirtschaftliche Nutzung der Grundstücke, einschließlich unbebauter Wiesenflächen, ist somit nicht gestattet. Es dürfen keinerlei Nutztiere wie Kühe, Schweine oder Schafe gehalten werden. Ihre drei Lämmer laufen bei Tag und Nacht auf der Wiese umher und belästigen mit ihrem Blöken die Nachbarschaft. Da unser Schlafzimmer nach Ihrer Wiese hinaus liegt, sind wir besonders betroffen. Meine Frau ist seit Jahren Migränepatientin und leidet sehr unter dem Schreien Ihrer Lämmer, ebenso meine pflegebedürftige Schwiegermutter, die bei uns wohnt. Das ständige schallende „Mäh“ ruiniert unsere Kopfnerven. Ich fordere Sie dringend auf, für die Lämmer baldmöglichst eine richtige Weide zu suchen, andernfalls sehe ich mich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen.

Hochachtungsvoll, Franz Wolf

Sehr geehrter Herr Wolf,

zunächst eine Richtigstellung: Die drei Schafe auf unserem Hausgrundstück sind keine Lämmer, sondern ausgewachsene Schafe, nämlich Ouessantschafe, die nach der bretonischen Insel Ouessant benannt sind. Sie erreichen nur etwa Kniehöhe und benötigen nicht viel Weidefläche. Eben deshalb haben wir uns für diese Tiere entschieden. Ouessantschafe bringen keinen wirtschaftlichen Nutzen; wir halten sie nur zum Vergnügen, woraus folgt, dass sie keine Nutztiere, sondern Haustiere sind und folglich in unserem Wohngebiet erlaubt.

Es tut uns Leid, dass die Schafe so viel blöken, aber das wird sich sicher geben, sobald sie richtig eingewöhnt sind.

Was die Geräuschbelästigung und die daraus folgende Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes Ihrer Frau Gemahlin und deren Frau Mutter anbetrifft, so schlagen wir vor, dass Sie zunächst den exzessiven Gebrauch Ihres Hochdruckreinigers, Ihres Mulchmähers und Ihres Laubbläsers auf ein vernünftiges Maß beschränken. Das dürfte genügen, dass sich die Kopfnerven Ihrer Familie erholen können.

Mit freundlichen Grüßen, Karin Mehler, Horst Landmann

Geehrte Frau Mehler, geehrter Herr Landmann,

mir ist es völlig wurscht, ob Ihre Schafe nach einer bretonischen oder einer Fidschi-Insel benannt sind. Wir können die Nachbarschaft dieser Tiere nicht mehr ertragen. Wenn Ihre Schafe, wie Sie schreiben, Haustiere sind, dann holen Sie sie gefälligst ins Haus, wenigstens nachts. Ihre Anspielung auf meine Gartengeräte geht am Kern der Sache vorbei. Wenn ich lieber meine Wiese mit einem vernünftigen Rasenmäher pflege, als Schafe darauf weiden zu lassen, ist das meine Angelegenheit und erspart immerhin auch Ihnen zusätzliche Geruchsbelästigung und weiteres permanentes „Mäh“.

Franz Wolf

- Ordnungsamt -

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich erstatte hiermit Anzeige gegen meine Nachbarn Karin Mäh Mehler und Horst Landmann wegen verbotener Haltung landwirtschaftlicher Nutztiere im Wohngebiet Hammelberg. Die Vorerwähnten lassen auf ihrem Hausgrundstück, das neben dem meinigen liegt, seit dem Frühjahr drei Schafe weiden. Die Tiere blöken bei Tag und Nacht so schrill, dass meine Familie nervlich am Ende ist und besonders meine Frau nur noch mit Hilfe von Tabletten Schlaf finden kann (Attest des Hausarztes liegt an). Auf meine Bitten, die Schafe zu entfernen oder wenigstens nachts einzusperren, haben meine Nachbarn nicht reagiert. Überdies verwöhnen sie ihre Schafe mit Streicheln und Leckerbissen derart, dass diese ständig schreien, wenn Frau Mähler und Herr Landmann nicht in der Nähe sind. Wir bitten dringend, dafür zu sorgen, dass in unserem Wohngebiet wieder Ruhe einkehrt.

Mit freundlichen Grüßen, Franz Wolf

- Ordnungsamt -

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit erstatten wir Anzeige gegen unseren Nachbarn Franz Wolf wegen Tierquälerei an einem unserer drei kleinen Schafe. Herr Wolf benutzt auf seinem Grundstück regelmäßig einen motorisierten Laubbläser, der ein durchdringendes heulendes Geräusch von sich gibt. Mit Hilfe dieses Gerätes pflegt er das welke Laub, das sich auf seinem Grundstück ansammelt, in einer Ecke anzuhäufen, um es anschließend in Plastiksäcke zu verpacken. Vorgestern fanden wir auf unserem eigenen Grundstück einen solchen Laubhaufen und darunter, tief im Laub vergraben, unser Schäfchen. Wir können uns das nur so erklären, dass Herr Wolf das Tier in eine Ecke getrieben hat (vermutlich unter Eindringen in unser Grundstück), um anschließend das Laub über ihm zusammenzublasen. Das Schaf ist mit 45 cm Risthöhe sehr klein und hatte keine Möglichkeit, zu entkommen oder sich zu wehren. Seit diesem Vorfall leidet es unter Entzündungen der Schleimhäute in Nase und Augen, ist überdies völlig traumatisiert und gerät bei jedem lauten Geräusch in Panik, so dass wir es unter erheblichen Kosten tierärztlich behandeln lassen mussten. Wir bitten um Erteilung einer Ordnungsstrafe, vor allem um Einziehung des Laubbläsers.

Mit freundlichen Grüßen, Karin Mehler, Horst Landmann

P.S.: Rein vorsorglich möchten wir hinzufügen, dass wir die drei Schafe, von denen keines höher als 50 cm ist, allein zum Vergnügen und zum Kuscheln halten. Die Schafe sind sehr sauber und riechen nicht. Es handelt sich keineswegs um bäuerliche Nutztierhaltung.

Sehr geehrte Frau Mehler, sehr geehrter Herr Landmann,

wir kommen zurück auf das seit sechs Monaten anhängige Verfahren wegen Nutztierhaltung in einem Wohngebiet. Ihr früherer Nachbar Franz Wolf hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er trotz Ihres Wegzugs aus Hammelberg im November letzten Jahres auf Weiterverfolgung seiner Anzeige besteht. Da jedoch kein öffentliches Interesse erkennbar ist und sich Ihre Schafe nicht mehr in der unmittelbaren Nachbarschaft des Klägers befinden, wurde das Verfahren gegen Sie eingestellt. Vorsorglich machen wir Sie darauf aufmerksam, dass Sie evtl. mit einem Privatklageverfahren zu rechnen haben.

Mit freundlichen Grüßen

Redlich, Ordnungsamt

Lieber Herr Wolf,

dürfen wir uns Ihnen freundlich in Erinnerung bringen? Wir hoffen, dass Sie und Ihre Familie wohlauf sind und sich Ihre Frau Gemahlin von ihrer Migräne erholt hat.

Wir wohnen jetzt im Ortsrandgebiet, wo es viele bäuerliche Betriebe gibt und unsere Schafe nicht weiter stören. Sie sind inzwischen auch wesentlich ruhiger geworden. Es wird Sie sicher freuen zu hören, dass unser Schäfchen, das im Oktober so unglücklich in Ihren Laubhaufen geriet, inzwischen völlig wiederhergestellt ist.

Vielleicht machen Sie uns einmal die Freude, uns zu besuchen.

Wir werden bei einer guten Tasse Kaffee im Garten den alten Groll begraben.

Mit freundlichen Grüßen!

Ihre Karin Mehler, Ihr Horst Landmann

Lieber Herbert,

kannst Du uns für nächsten Dienstag Deinen großen Bock Hannibal leihen? Wir bringen ihn spätestens am Mittwoch wieder zurück.

Mit Grüßen, Horst

Sehr geehrte Frau Wolf,

wir möchten Ihnen auf diesem Wege unser herzlichstes Beileid zu dem plötzlichen Ableben Ihres Mannes aussprechen.

Sie wissen sicher, dass Ihr Gatte auf unsere Einladung zu uns gekommen war. Wir hatten ihn zum Kaffeetrinken gebeten, um die früheren Streitigkeiten, die Ihnen sicher bekannt sind, beizulegen. Nach dem Vorfall mit dem Laubbläser im letzten Jahr war unser armes Schaf zwar in beklagenswertem Zustand und litt lange Zeit unter Panikattacken. Doch nach reiflichem Überlegen hatten wir uns entschieden, das Ganze als trauriges, aber unbeabsichtigtes Missgeschick einzustufen. Unsere Einladung an Ihren Gatten entsprang dem aufrichtigen Wunsch, wieder ein gutes Einvernehmen herzustellen. Dass er tatsächlich zu uns kam, nehmen wir als Zeichen, dass er einer Versöhnung aufgeschlossen gegenüberstand.

Bei seinem Eintreffen waren wir noch in der Küche und bemerkten nicht, dass er ums Haus direkt in den Garten ging. Daher haben wir den Unfall nicht miterlebt und können Ihnen dazu nichts Näheres mitteilen. Nach Meinung des Notarztes hat Ihr Gatte beim Begehen einer kurzen Natursteintreppe, die in einen tieferen Teil des Gartens (Weide) führt, einen Herzanfall erlitten und stürzte so unglücklich auf die Stufen, dass er auf der Stelle starb. Auf der Weide befanden sich zu diesem Zeitpunkt nur unsere drei kleinen Schafe, die, wie auch Ihr Gatte wusste, harmlos sind. Es gab keinen Grund, zu erschrecken oder davonzulaufen. Ein äußerer Grund für die plötzliche Herzattacke ist für uns nicht zu erkennen. Der Vorfall ist uns völlig unbegreiflich. Es kann sich nur um einen äußerst tragischen Zufall handeln.

Bitte seien Sie unserer herzlichen Anteilnahme versichert.

Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit und die Ihrer Frau Mutter,

Karin Mehler, Horst Landmann

Die einzige Zeugin

Von Florian Scheibe

Der Anblick war schrecklich.

Die Wände des Stalls waren voller Blut und auf dem Boden hatten sich kleine Pfützen gebildet, die langsam zwischen dem Stroh versickerten.

Kommissar Bertram schluckte. Dann begann er zu zählen. Unruhig tanzte sein Finger zwischen den Kadavern hin und her.

Zweiundzwanzig.

Zweiundzwanzig unschuldige Schafe, brutal ermordet.

Bertram schüttelte den Kopf. Wer tat so etwas? Wer drang Nachts in einen abgelegenen Stall ein und richtete ein solches Blutbad an?

Er starrte vor sich hin. Plötzlich hielt er inne.

Hinter einem Strohballen, in der rechten hinteren Ecke des Stalls bewegte sich etwas. Bertram zog seine Taschenlampe hervor. Einige Sekunden lang irrte der Lichtkegel über die Strohballen. Dann ertastete er eine Bewegung: Ein kleines Lamm, das ihm auf dünnen Beinen entgegenblinzelte. Oben auf dem Kopf waren versprengte Blutspritzer zu sehen, die sich wie Stecknadelköpfe auf der Wolle verteilten.

Ein paar Sekunden blickte es Bertram direkt in die Augen.

Dann wandte es sich dem Heu zu und begann in aller Ruhe zu fressen.

Als Bertram am Abend nach Hause kam, saß seine Frau vor dem Fernseher. Er küsste sie auf die Stirn und ging in die Küche.

„Ich hab dir was vom Essen übriggelassen“, rief sie ihm hinterher. „Kannst du dir warm machen.”

„Wo sind die Kinder?“, fragte Bertram.

„Stefan beim Basketball, Nina bei einer Freundin. Sie spielen Siedler.“

Bertram öffnete die Mikrowelle. Er sah einen Teller mit Kartoffeln, Bohnen und einem Stück Fleisch. “Was ist das?”, rief er ins Wohnzimmer hinein.

„Siedler?“

„Nein, das Essen.“

„Lamm mit Kartoffeln und Bohnen.“

„Na großartig“, murmelte er.

„Seit wann magst du kein Lamm?“

Bertram antwortete nicht. Er machte sich das Essen warm und setzte sich an den Küchentisch. Während er in den Bohnen herumstocherte, drängten sich ihm die Bilder des Tages auf. Er sah den Schäfer vor sich, einen alten, gebeugten Mann, der vollkommen unter Schock stand. Früh morgens hatte er das Massaker an seiner Herde in dem Stall entdeckt und sofort die Polizei alarmiert. Stotternd hatte er angegeben, die ganze Nacht tief geschlafen zu haben. Das war alles. Ansonsten hatte er kein Wort herausgebracht.

Später hatte ihnen der Briefträger erzählt, dass Karl Weinert ein Einsiedler war. Keine Frau, keine Kinder, keine Freunde. Ein einsamer, alter Mann, der die Menschen mied. Der nichts gehabt hatte, außer seinen Schafen. Und diese Schafe hatte nun jemand umgebracht.

Wer tat so etwas? Und vor allem: Warum?

Bertram sah auf seinen Teller. Die Kartoffeln und die Bohnen hatte er gegessen. Das Fleisch hingegen lag unberührt.

Schon früh am nächsten Morgen saß Bertram in seinem Dienstwagen und fuhr die knapp siebzig Kilometer von Darmstadt nach Hesseneck, in das von dem Hof aus nächstgelegene Dorf. Er parkte vor dem kleinen Supermarkt

Um die Käsetheke hatte sich eine Gruppe von Kunden versammelt, die über die schrecklichen Ereignisse des Vortages diskutierte. Bertram gesellte sich hinzu und zeigte seinen Ausweis.

„Hat jemand von Ihnen vielleicht eine Erklärung dafür, was dort oben geschehen ist?“, fragte er.

Kopfschütteln. Schweigen. Offenbar sprach man nicht gerne mit Fremden. Und schon gar nicht, wenn sie aus der Stadt kamen. Nur eine dünne Frau mit einem Vogelgesicht reckte den Hals.

„Der braucht sich nicht wundern, so eigensinnig wie er war.“

Bertram fragte nach, was sie damit meinte, doch innerhalb von wenigen Sekunden war die Gruppe zwischen den Regalen verschwunden. Er musste an eine Schar Kakerlaken denken, die dem Licht entfloh.

Kurz darauf klingelte Bertrams Handy. Es war Schütz vom Tatort.

„Wir haben eine Axt gefunden. Voller Blut.“

„Irgendwelche Abdrücke?“

„Können wir noch nicht sagen. Aber es spricht wohl einiges dafür, dass er es selbst war.“

„Weinert?“

„Ja. Die Axt war in seinem Keller versteckt.“

Bertram schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber was macht das für einen Sinn?“

„Gewalt macht nie Sinn“, brummte Schütz.

Bertram bedankte sich und legte auf. Einen Moment lang starrte er vor sich hin. Dann fiel ihm ein, dass er ja noch einen Termin beim Bürgermeister hatte. Mit schnellen Schritten überquerte er die Straße.

Der Bürgermeister war ein großer, kräftiger Mann mit einer Glatze, der sein rechtes Bein hinterher zog. Nachdem er Bertram mit seinem Händedruck fast die Finger gebrochen hatte, setzten sie sich.

„Wie lange kennen Sie Weinert schon?“, fragte Bertram.

„Mein ganzes Leben“, antwortete der Bürgermeister ohne Umschweife.

„Können Sie sich denn vorstellen, dass …?“ Bertram suchte nach einer passenden Formulierung.

„Dass er seine Schafe selbst umgebracht hat?“, fragte der Bürgermeister.

„Ja“, sagte Bertram überrascht.

Der Bürgermeister nickte. „Sehr gut sogar.“

„Warum?“

Die Stimme des Bürgermeisters wurde auf einmal kalt. „ Ganz einfach: Weil er ein Verrückter ist. Ein Psychopath. Das war er schon immer.“

Bertram stellte noch ein paar Fragen, die ihm der Bürgermeister knapp und klar beantwortete.

Dann verabschiedete er sich. Diesmal ohne Händedruck.

Nachdenklich fuhr Bertram über die Landstraße zurück nach Darmstadt.

Im Vernehmungszimmer des Reviers fand er einen vollkommen verstörten Weinert vor. Seine Haare standen in alle Richtungen. Er starrte ins Nichts. Dafür waren seine Hände in ständiger Bewegung. Sie zitterten.

Vergeblich versuchte Bertram, ihn zum Reden zu bringen.

Wie war die Axt in seinen Keller gekommen?

Hatte er wirklich die ganze Nacht geschlafen?

Wo war er zwischen halb eins und drei gewesen?

Keine Antwort.

Nur Schweigen. Und Zittern.

Am späten Nachmittag hockte Bertram schließlich in der Kabine der Altherrenmannschaft SG Eiche Darmstadt und versuchte, den Fall wenigstens für ein, zwei Stunden zu vergessen.

Doch selbst als er kurz darauf in kurzen Hosen auf dem Platz stand, wurde er die Bilder einfach nicht los. Die blutige Axt. Das Lamm. Die Vogelfrau an der Käsetheke. Der Bürgermeister. Weinerts Zittern.

Irgendetwas stimmte daran nicht.

Aber was?

Kurz darauf passierte das Unvermeidliche: Bertram war unkonzentriert, stolperte und knickte bei einem harmlosen Flankenversuch um. Fluchend humpelte er vom Platz.

Als er kurz darauf wieder in seinem Auto saß, traf er eine Entscheidung.

Es dämmerte bereits, als er bei dem Bauernhof eintraf. Er parkte, stieg aus und steuerte auf die Stalltür zu. Carstens, ein junger Schutzpolizist hielt Wache.

„Ist das Lamm noch da?“

„Daisy?“ „Heißt sie so?“

„Wir haben sie gestern so getauft.“ Er deutete über seine Schulter. „Sie steht im Stall.“

Das Licht war schummrig und es dauerte eine Weile, bis Bertram überhaupt etwas erkennen konnte. Die Kadaver der toten Schafe waren längst fortgeschafft. Selbst die Blutflecken waren gesäubert worden. Das Lamm stand vor einem Heuballen und fraß.

Mit schweren Schritten humpelte Bertram darauf zu.

Kauend hob es den Kopf und im gleichen Moment erstarrte es plötzlich. Einen Augenblick stand das Lamm wie festgefroren, mit riesigen Augen. Dann begann es am ganzen Körper zu zittern. Und währenddessen schrie es so laut, dass die Fensterscheiben klirrten.

Eine kleine Ewigkeit lang stand Bertram vollkommen ratlos.

Dann beschlich ihn auf einmal eine Ahnung.

Kurz vor Mitternacht hatte er endlich gefunden, wonach er gesucht hatte. Er kniete in Weinerts Stube neben dem Kamin und strich den zusammengeknüllten Brief glatt.

Kurz darauf fand er noch einen zweiten.

Und einen dritten.

Vorsichtig steckte er sie in seine Jacke. Dann löschte er das Licht und humpelte zu seinem Wagen.

Bereits früh am nächsten Morgen stand er wieder im Büro des Bürgermeisters.

„Und? Hat Weinert inzwischen gestanden?“

„Nein“, sagte Bertram. „Aber selbst wenn: Ich würde ihm nicht glauben.“ Der Bürgermeister wirkte verwirrt. Bertram entschied sich, den Moment zu nutzen. „Es gibt eine Zeugin. Sie hat Sie erkannt. An Ihrem Hinken.“

Den Bruchteil einer Sekunde entglitten dem Bürgermeister die Gesichtszüge. Lange genug für Bertram, um sicher zu sein, dass er mit seinem Verdacht recht gehabt hatte.

„Was reden Sie da?“

Bertram seufzte. „Seit Jahren versuchen Sie Weinert zum Verkauf von seinem Hof zu überreden, damit auf dem Gelände ein Hotel gebaut werden kann. Aber Weinert knüllt ihre Briefe einfach zusammen und benutzt sie als Kaminanzünder. Nun haben sie mit dem Mord an seinen Schafen zum letzten Mittel gegriffen.“

Der Bürgermeister machte einen verächtlichen Gesichtsausdruck. „Für diese Behauptung haben Sie keinerlei Beweise. Und ihre Zeugin ist doch frei erfunden.“

Bertram blickte seinem Gegenüber direkt in die Augen. „Schon möglich“ sagte er. „Aber jeder Täter hinterlässt an einem Tatort Spuren: Fasern, Abdrücke, Hautpartikel. Und jetzt, wo wir wissen, wonach wir suchen, werden wir diese Spuren auch von Ihnen finden. Verlassen Sie sich drauf!“

Der Bürgermeister war auf einmal kreidebleich geworden. Sein Mund öffnete und schloss sich wie bei einer Kaulquappe.

Bertram wandte sich ab und humpelte zur Tür. Kurz bevor er sie hinter sich zu zog, drehte er sich noch einmal um. „Übrigens: Die Zeugin gibt es wirklich. Sie ist ein Lamm. Ihr Name ist Daisy.“

Chronik eines unvermeidlichen Todes

Von Stefan Münkel

Freitag, 28. September, 06.46 Uhr

Alois Daub, drahtiger Mittsiebziger, dessen gegerbtes Antlitz ein langes Leben in Odenwälder Landluft verraten lässt, geht zum letzten Mal vom betagten Caravan zu seiner freilaufenden Schafherde, die er nun seit genau 50 Jahren auf die saftigen Wiesen des sanften Mittelgebirges führt. „Es langt jetzt“, hatte er vor kurzem in einem der vielen Momente kompletter Einsamkeit zu sich selbst geflüstert und damit beschlossen, sein erfülltes Leben unter wolligen Wiederkäuern zu beenden. Um so mehr, als er überraschenderweise eine Nachfolgerin für seine Herde gefunden hatte: eine Sozialpädagogik-Studentin aus Frankfurt, die beim Selbstfindungskurs der Volkshochschule „Nackttöpfern in der Lüneburger Heide“ die Liebe zu Schafen und zur Schäferei entdeckt hatte. Morgen wollte sie die Herde übernehmen. Daub war noch einer von zwei freien Schäfern gewesen. Seinen letzten Kollegen Paul Schmitt hasst er wie die Pest. Und dies in jedem der besagten 50 Jahre. Mit dem geübten Blick für das Wesentliche überprüft er den Zustand seiner Herde und krault seine Colliehündin Christel am Schwanzende, die dies mit wohligem Knurren über sich ergehen lässt. Sein Blick schweift teilnahmslos zur Schäferhütte seines Kollegen Schmitt, die nur einen Hügel weiter auf einer Wiese thront. Aus dem Kreise seiner Schäfchen erschallt ein mehrstimmiges „Mäh“ als morgendliche Begrüßung. Keine weiteren Vorkommnisse.

Freitag, 28. September, 06.52 Uhr

Paul Schmitt, 72, nippt in seiner Hütte an seinem Kaffeesurrogatextrakt, im Odenwald besser bekannt als Muggefugg. Aus dem milchigen Fenster seiner fahrbaren Hütte lugend, schweift sein Blick über die Herde seines Lieblingsfeindes Daub. „Guten Morgen, Arschloch.“ Sein Gruß über die sanfte Senke der saftigen Wiese war der gleiche geblieben, jedes der verdammten letzten 50 Jahre. Seit Daub ihm im Jahre 1958 seine damalige und zugleich letzte Freundin ausgespannt hatte, hat er kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Eigentlich hat er seitdem, mit Ausnahme gelegentlicher Verkaufsgespräche mit lokalen Bauern, mit keinem Menschen mehr ein Wort gewechselt, das Gespräch mit seinen anspruchslosen Vierbeinern, die die wunderbare Angewohnheit hatten, niemals zu widersprechen, ist ihm seitdem genug gewesen. Sein Kontakt zur Außenwelt besteht im Wesentlichen aus der gelegentlichen Lektüre des „Odenwälder Echos“. Einem wehmütigen Bericht einer jungen Lokalreporterin hatte er entnommen, dass sein verhasster Berufskollege heute seinen letzten Arbeitstag hat.

Freitag, 28. September, 07.11 Uhr

Alois Daub begegnet dem recht kühlen Herbstmorgen mit dem Anzünden einer ersten Pall Mall ohne Filter. Sein Blick fällt zufällig auf die Heckwand seines Caravans Tabbert Rimini, Baujahr 1965. In großen roten Lettern prangt ihm die zittrige Aufschrift „Auf Nimmerwiedersehn, Schweinebacke“ entgegen. Seine erstaunlich jugendlichen Augenpaare verengen sich zu messerscharfen Schlitzen: „Schmitt! Du Hurensohn.“ Nachdem er in seinem Zeitungsinterview erwähnt hatte, dass sein Kollege auch einige asiatische Dickhornschafe halte und damit nicht als echter Odenwälder Schäfer zu bezeichnen sei, hat er mit einer Retourkutsche gerechnet. Aber nicht mehr heute, nicht mehr an seinem letzten Schäfertag.

Freitag, 28. September, 14.00 Uhr

Paul Schmitt erwacht aus seinem genau einstündigen Mittagsschläfchen, dass er seit Jahrzehnten mit der Genauigkeit eines Schiffs-Chronographen zu halten pflegt. Erst jetzt bemerkt er eine merkwürdige Schieflage seiner traditionellen Schäferhütte. Mühsam entziffert er die mit Fingern geschriebene Spiegelschrift auf seiner milchigen Fensterscheibe: „Du hast ein Rad ab!“ Und tatsächlich, er hat ein Rad ab. Die Speichen seines nach alter Väter Sitte gefertigten Holzrades prangen, feinsäuberlich zersägt und mit Paketband befestigt, an den Hörnern eines seiner Dickhornschafe und geben ihm damit das skurrile Aussehen eines kurzbeinigen wollenen Zwölfenders. Das Schaf kommentiert das merkwürdige Bild erwartungsgemäß mit einem tief angesetzten „Mäh!“

Samstag, 29. September, 00.26 Uhr

Ein leichtes Ruckeln schreckt Alois Daub aus seinem Schlaf. Sein Tabbert Rimini Baujahr 1965 setzt sich, jedes Schlagloch des baufälligen Feldweges ausnutzend, in Bewegung. Daub schießt wie von der Tarantel gestochen hoch und wagt einen Blick aus der Frontscheibe. Er erkennt das funzlige Rücklicht eines Traktors Marke Lanz, wie ihn Paul Schmitt seit über 30 Jahren sein Eigen nennt. Daub versucht die Tür seines Caravans zu öffnen, diese ist jedoch von außen mit einem rustikalen Kantholz verkeilt. Nach wenigen Minuten Fahrt hält das merkwürdige Gespann an und setzt rückwärts. Ein schwappendes Geräusch lässt den unfreiwilligen Passagier Daub nichts Gutes erahnen. Kurz darauf meldet der Caravan Wassereinbruch, genauer gesagt das Eindringen einer bräunlichen Flüssigkeit, die von Daubs Nasenflügeln als äußerst fäkalienhaltig identifiziert wird.

Samstag, 29. September, 00.42 Uhr

Der Inhalt von Bauer Zimmermanns Jauchegrube steht etwa einen Meter hoch im Wohnwagen des Alois Daub. Dieser kann sich aus seinem Seitenfenster in letzter Sekunde schwimmend befreien. Mit einem letzten Blubbern versinkt sein Eigenheim wie die Titanic vornüber in der sämigen Brühe, bis nur noch die verrostete Stoßstange und ein trauriges Rücklicht hervorlugt. Daub steigen Tränen aus Wut und Trauer in die Augen. Seit er seine Lebensgefährtin, ehemals Freundin von Schmitt, mit einem zweijährigen Balg keine Nachricht hinterlassend sitzen gelassen hatte, war der Caravan seine Heimstatt gewesen. Inbegriff von Freiheit, die er mit der jungen Familie verloren hatte. Auf einmal brechen sich alle Gefühle Bahn, die sich in dem sonst so ruhigen Charakter seit Jahrzehnten aufgestaut haben. Er lenkt seine Schritte Richtung Schäferhütte des Paul Schmitt, zuerst noch taumelnd, dann mit der Entschlossenheit eines preußischen Paradeoffiziers.

Samstag, 29. September, 01.33 Uhr

Die Holztüre der Schmittschen Schäferhütte zerbricht mit einem letzten Aufschrei des morschen Eichenholzes. Schmitt schreckt auf seiner Holzpritsche in der Ecke des winziges Raumes hoch. Die Hiebe des entfesselten Alois Daub, ausgeführt mit einer rostigen Stoßstange des Tabbert Rimini Baujahr 1965, treffen ihn unvorbereitet. Nur mühsam kann er sein gegerbtes Gesicht gegen den Ausbruch der Gewalt schützen. Seine Schafe untermalen die Szenerie mit aufgeregten „Bähs“ und „Mähs“, denen die asiatischen Dickhornschafe ein sonores „Boooh“ hinzufügen. Panische Lämmer suchen Schutz bei ihren Müttern, zitternd und mit weit aufgerissenen Augen. Schmitt gelingt es, die Hand des wild einschlagenden Alois Daub zu fassen. Ihn mit einem geschickten Ausheber zu Boden werfend, umfasst er den stämmigen Hals seines Angreifers. Mit einer Kraft, zu welcher der Mensch nur im Todeskampf fähig ist, presst er Daub die Gurgel zusammen. Dessen letzter Atemhauch geht im Konzert der immer noch panischen Schafherde unter.

Montag, 01. Oktober, 07.31 Uhr