Mordsbrandung - Micha Krämer - E-Book + Hörbuch

Mordsbrandung E-Book und Hörbuch

Krämer Micha

4,7

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Beschreibung

Der vierte Fall auf Langeoog Wer ist bloß die Frau in der Ferienwohnung im Süderdünenring? Martin von Schlechtinger könnte schwören, dass es sich um seine Tochter Gina Marie handelt. Hat sie etwas mit dem jungen Burschen zu tun, der morgens tot am Strand liegt? Als Inselpolizist Onno Federsen auch noch herausfindet, dass Gina Marie von der Polizei gesucht wird, muss Martin handeln. Gemeinsam mit Inselpolizistin Lotta Dönges und Nina Moretti will er der Sache auf den Grund gehen. Zwielichtige Gestalten tauchen auf der Insel auf. Dabei ist nicht immer klar, wer die Guten und wer die Bösen sind.

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Seitenzahl: 432

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Zeit:9 Std. 9 min

Sprecher:Micha Krämer

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PetraB

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Ein Buch von Micha Krämer ist immer ein Genuss. Spannend bis zum Schluss. Als Hörbuch mit den vielen Dialekten einfach klasse 👍
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Kurventante

Gut verbrachte Zeit

Nettes Buch, aber die verschiedenen Dialekte gelingen dem Autor in der Hörbuchfassung nicht wirklich, das Pseudo-Kölsch klingt echt albern.
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Micha KrämerMordsbrandung

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2019 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8355-2

Micha Krämer Mordsbrandung

Micha Krämer wurde 1970 in Kausen, einem kleinen 700 Seelen Dorf im nördlichen Westerwald, geboren. Dort lebt er noch heute mit seiner Frau, zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen und seinem Hund. Der regionale Erfolg der beiden Jugendbücher, die er 2009 eigentlich nur für seine eigenen Kinder schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt, musste nun ein richtiges Buch her. Im Juni 2010 erschien „KELTENRING“, sein erster Roman für Erwachsene, und zum Ende desselben Jahres folgte sein erster Kriminalroman „Tod im Lokschuppen“, der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Was als eine einmalige Geschichte für das Betzdorfer Krimifestival begann, hat es weit über die Region hinaus zum Kultstatus gebracht. Inzwischen findet man die im Westerwald angesiedelten Kriminalromane in fast jeder Buchhandlung im deutschsprachigen Raum.Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben gehört die Musik zu einer seiner großen Leidenschaften.

Prolog

Verrat war keine Option. Doch sterben wollte sie auch nicht. Das Einzige, was ihr nun übrig blieb, war, zu hoffen, dass sie sie nicht fanden. Sie hielt also die Luft an und unterdrückte den Wunsch, einfach laut loszuschreien. Sie schloss die Augen und presste die Hände auf ihre Ohren. Sie wollte nichts sehen und auch nichts hören. Sie wollte einfach nur hier weg. Dumpf donnerten die Schläge und Tritte der Angreifer keine zwei Meter von ihrem Versteck. Die beiden gebärdeten sich wie wilde Tiere. Fielen über ihr Opfer her wie Hyänen. Wenn sie sie hier fanden, würden sie sie ebenfalls in die Mangel nehmen. Das Stöhnen und Wimmern hatte mittlerweile nachgelassen, obwohl die beiden noch immer wie von Sinnen auf ihn einschlugen und eintraten. So etwas überlebte niemand, da war sie sich ganz sicher. Sie zuckte zusammen, als jemand gegen den Blechschrank hämmerte, in dem sie seit einer gefühlten Ewigkeit mit angezogenen Beinen kauerte. „Verdammt“, brüllte eine Männerstimme dabei.

„Mein Floh“, hatte Papa sie immer genannt, weil sie schon als Kind immer etwas kleiner und zierlicher gewesen war als die anderen Kinder. Es hatte sie immer geärgert, dass die meisten ihrer Mitschüler ihr körperlich überlegen gewesen waren. Heute war sie zum ersten Mal über diesen Umstand froh. Sie hörte, wie die beiden sich miteinander unterhielten. Was sie sagten, verstand sie nicht, da sie sich ja noch immer die Ohren zuhielt. Es polterte. Die dumpfen Stimmen entfernten sich langsam, bis sie sie nicht mehr hören konnte. Zögerlich nahm sie die Hände von den Ohren und tastete nach dem Verschlussgestänge des Blechschrankes, das sich an der Innenseite der Tür befand. Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Sie hätte nicht gedacht, dass diese Schränke so dicht sein konnten. Dennoch traute sie sich nicht, an einer der Stangen zu ziehen, um so die Türen von innen zu öffnen. Was, wenn das Ganze nur ein Trick war? Sie wartete also weiter und lauschte in die Dunkelheit. Sie wurde plötzlich immer müder. Das Denken wurde mit jedem Atemzug schwerer, bis da nur noch dieser eine Gedanke in ihrem Kopf war. Luft, sie brauchte Luft! Mit einem Ruck zog sie an der metallenen dünnen Stange. Über ihr klackte das Schloss, und die Tür schwang auf. Sie musste blinzeln. Das Licht der Neonröhren unter der Decke blendete sie. Als sie ihn dann mitten in dem Raum in seinem Blut liegen sah, konnte sie nicht anders als zu schreien. Sie schrie wie am Spieß. All die Angst der letzten Minuten musste raus aus ihr. Kraftlos sank sie anschließend auf den Boden und kroch langsam näher. Zögerlich legte sie ihre Finger auf seinen Hals. Da war noch Leben in ihm. Es war noch nicht zu spät.

Kapitel 1

3. Mai 2019Insel Langeoog

Für Anfang Mai war es, zumindest behauptete dies der Wetterfrosch in der Tagesschau, eindeutig zu warm. Martin von Schlechtinger war da allerdings ganz anderer Meinung. Er fand das Wetter, so wie es war, genau richtig und so wie es sein sollte. Wegen ihm könnte es das ganze Jahr über so sein. Das Thermometer neben der Eingangstür zu Annemarie Hansens Ferienhausvermietung zeigte angenehme 24 Grad. Vom Meer her wehte eine frische Brise, und am Himmel waren nur die Kondensstreifen von Flugzeugen und vereinzelte Schäfchenwölkchen zu sehen, die, im wahrsten Sinne des Wortes, in Windeseile vorbeizogen. Auf der Insel herrschte noch Vorsaison. Eine sehr angenehme Zeit. Endlich gab es nach dem Winter wieder etwas zu tun. Aber natürlich nur so viel, wie sie es auch locker abarbeiten konnten. Die Tourismusmaschinerie lief ganz langsam an. Spätestens jedoch im Juni, wenn die ersten Bundesländer in die Sommerferien starteten, war dann Schluss mit lustig. Dann, wenn täglich Tausende von inselhungrigen Besuchern das kleine Eiland in der Nordsee stürmten, war es vorbei mit der Ruhe. Dann wurde es so hektisch, dass man sich den nächsten Winter förmlich herbeisehnte.

Martin stellte sein Fahrrad in den Fahrradständer, rückte den Latz seiner Arbeitshose gerade und schickte sich an, nach der Türklinke zu greifen, als die Bürotür vor ihm aufgerissen wurde und er beinahe mit zwei blonden Wuschelköpfen zusammengestoßen wäre, die eindeutig zu einer Frau und einem Kind auf dem Arm selbiger gehörten. Er stolperte geistesgegenwärtig zurück und wäre dabei fast über Lumpi, die Border-Collie-Hündin, gestrauchelt, die ihm wie immer wie ein vierbeiniger Schatten auf dem Fuß folgte.

„Ups“, stieß die junge Dame aus und machte einen Schlenker um ihn herum.

„Kein Problem. Et is ja noch mal alles jot gegangen“, antwortete Martin in seiner ganz speziellen Mischung aus Kölsch und Hochdeutsch.

Die Fremde riss den Kopf zu ihm herum und starrte ihn entgeistert an. Martin sah ihr in die Augen, und es war, als würde ihn ein Stromschlag treffen. Jetzt nicht nur einer, wo es so ein bisschen kribbelte, sondern einer, der so stark war, als hätte man gerade an eine Hochspannungsleitung gefasst. Sein Herz kam förmlich aus dem Rhythmus und schlug ihm nun bis zum Hals.

„Mariechen? Wat machst du da he?“, stammelte er verdattert.

„Wie bitte?“, antwortete die junge Frau nach einer gefühlten Ewigkeit.

„Ja … wat du hier machen tust?“, fragte er.

„Entschuldigung, ich glaube, das ist eine Verwechslung“, stotterte die junge Frau jedoch nur, wandte sich ab und eilte davon.

„Aber … jetzt warte doch mol … ich … “, versuchte er es erneut. Er überlegte, sie am Arm zu fassen, um sie festzuhalten, war aber unfähig, sich zu rühren. Er stand da gerade so, als würde er Wurzeln schlagen wollen. Was, wenn er sich doch irrte und sie war es gar nicht, kamen ihm nun kurz Zweifel. Auf der Erde gab es zig Milliarden Menschen, da konnte es ja schon sein, dass sich zwei so ähnlich sahen, dass man sie glatt für Zwillinge oder nun mal für ein und dieselbe Person halten konnte. Das kleine Mädchen, das über ihre Schulter auf Martin zurücksah, lächelte freundlich und winkte ihm zu, während die Blondine weiterrannte. Wie ein Roboter hob Martin ebenfalls die Hand, um dem Kind zurückzuwinken. Nur Sekunden später waren die beiden um die Hausecke verschwunden.

Martin verstand die Welt nicht mehr. Diese Begegnung gerade hatte ihn und seine Erinnerungen um Jahre zurückgeschleudert. Doch, er war sich sicher, dass sie es gewesen war. Okay, früher waren ihre Haare weder blond noch lockig, sondern eher brünett und glatt gewesen. Meist hatte sie sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden gehabt. Was aber in der heutigen Zeit ja nichts zu bedeuten hatte. Er kannte Frauen, die alle naselang ihre Haarfarbe und ihre Frisur änderten. Manche ließen sogar ihre kurzen Haare künstlich verlängern. Das nannte man dann Ecktännchens oder so ähnlich. Wie das genau ging, wusste er nicht. Es war aber jetzt auch egal. Was ihn stutzig machte, war, dass sie ihn nicht erkannt hatte … oder erkennen wollen. Wobei … nein. Sie hatte ihn erkannt. Warum sonst wäre sie so erschrocken gewesen, als er sie ansprach? Es stellte sich allerdings auch die Frage, warum sie bei seinem Anblick überhaupt erschrak. Er hatte ihr doch nichts getan. Oder doch? Nein! Überrascht hätte sie sein können. Ja, das hätte eher gepasst. Er war schließlich auch überrascht und nicht erschrocken und vor ihr fortgelaufen, so wie sie gerade vor ihm.

„Martin?“, hörte er hinter sich die fragende Stimme von Annemarie, die ihn jäh aus seinen Gedanken riss.

„Ähm ja … mein Sonnenschein?“, stammelte er und wirbelte herum.

Annemarie legte den Kopf schief. „Sag mal, is was?“

„Ähm, nä … Wieso?“, fragte er.

„Na, weil du aussiehst, als hättest du gerade einen Geist gesehen“, fand sie.

Martin überlegte kurz, ob er Annemarie von seinem Erlebnis erzählen sollte, schüttelte dann aber den Kopf und winkte ab.

„Nä, et is nix. Ich hatte nur eben jedacht, dat ich die junge Frau irjendwoher kennen tu“, antwortete er nur fast ehrlich.

Annemarie lächelte.

„Ob du es glaubst oder nicht, mein Lieber, als ich mich eben mit ihr unterhalten habe … da hab ich ebenfalls gedacht, ich würde sie irgendwoher kennen. Es hat einen Moment gedauert, bis es mir dann einfiel, warum dem so war.“

„Ja … und warum war dem dann so?“, wollte er jetzt unbedingt wissen.

„Sie hat mich an dich erinnert, mein Lieber. Weil sie genau wie du gesprochen hat. Man hat ganz deutlich ihren Dialekt gehört, obwohl sie sich bemüht hat, Hochdeutsch zu sprechen. Die kam irgendwo aus der Region Köln“, antwortete Annemarie, und Martin wurde sogleich wieder flau in der Magengegend.

„Und, hast du sie jefragt, wo sie herkütt?“, wollte er wissen.

„Brauchte ich nicht, mein Lieber. Das stand nämlich schon auf ihrer Anmeldung. Sie kommt aus Euskirchen. Das ist ja quasi von Köln direkt um die Ecke“, wusste Annemarie.

„Und wie heißt sie?“

„Haberstatt … Eva Haberstatt“, antwortete sie fast wie aus der Pistole geschossen. Martin fand es immer wieder verblüffend, wie seine bessere Hälfte sich Namen merken konnte. So etwas war gar nicht sein Ding. Martin musste sich Namen immer sofort aufschreiben. Ansonsten hatte er sie nämlich bereits nach wenigen Minuten vergessen. Eine Eva Haberstatt aus Euskirchen kannte er nicht. Da war er sich ausnahmsweise einmal ganz sicher. Aber das Gesicht, die Augen und auch die Stimme – er hätte schwören können, dass sie es gewesen war.

Aber wie hieß es doch gleich – Irren ist menschlich. Dennoch zückte er, als Annemarie zurück in ihr Büro gegangen war, seinen Notizblock und den Bleistift, um sich den Namen von Eva Haberstatt aus Euskirchen zu notieren.

*

Nina Moretti kurbelte das Fenster des betagten VW Bulli herunter und sog die frische Luft ein. Sie liebte diesen Geruch nach Meer, Salz und dem Schlick im Watt. So roch es nur an der Nordsee, und auch nur dann, wenn man diesen Geruch lange nicht wahrgenommen hatte. Es war schon merkwürdig, wie schnell sich die Nase an jegliche Gerüche gewöhnte. Über zwei Jahre waren vergangen, seit sie und Klaus zuletzt hier an der Küste gewesen waren.

„Schatz, kannst du das bitte zumachen? Es zieht den Kindern doch“, stöhnte Klaus und sah sie mit großen vorwurfsvollen Augen an.

„Quatsch, so ein bisschen frische Luft schadet doch niemandem“, entgegnete sie ihm.

„Und was, wenn Chiara wieder Ohrenschmerzen bekommt?“, wandte er ein. Nina drehte den Kopf und sah nach hinten zu der Schlafklappbank des historischen Campingmobils. Chiara schlief friedlich in ihrem Kindersitz, während Matteo, ihr Zwillingsbruder, sichtlich begeistert aus dem Fenster in Richtung Hafen blickte.

Klaus setzte den Blinker und lenkte den Bulli auf den großen Parkplatz der Fährgesellschaft, auf dem die Wagen der Inselbesucher warteten, bis ihre Besitzer zurück von der Insel kamen, um dann damit wieder nach Hause zu fahren.

„Meinst du nicht, du hättest zuerst bis zum Fähranleger fahren sollen, um mich, die Kinder und das Gepäck dort abzusetzen?“, wandte sie ein, da es schon noch ein gutes Stück bis zum Anleger zu laufen war.

„Nein, Schatz, mein ich nicht. Meine Frau hat nämlich gerade eben noch behauptet, dass ein bisschen frische Luft noch keinem geschadet hat. Da kann man auch mal ein paar Meter zu Fuß gehen. Außerdem passt ja alles in den Bollerwagen“, belehrte er sie und grinste schelmisch.

Nina resignierte, ausnahmsweise ohne irgendwelche Gegenwehr. Er hatte recht. Sie hatten ja Zeit. Niemand hetzte sie. Die Fähre, mit der sie eigentlich fahren wollten, würde erst in drei Stunden ablegen. So viel Zeitreserve hatten sie nämlich für den alltäglichen Wahnsinn auf den deutschen Autobahnen einkalkuliert, der heute wider Erwarten nicht eingetreten war. Weder am Westhofener noch am Kamener Kreuz hatte es sich gestaut. Auch das Stück A1 in Höhe Münster/Osnabrück konnten sie dieses Mal ohne Verzögerung passieren. Lotta, Ninas Freundin auf Langeoog, würde sie erst in gut vier Stunden am Bahnhof der Inselbahn abholen kommen.

Ninas Blick schweifte über den riesigen Parkplatz. Den hatte sie auch schon wesentlich voller gesehen. Man merkte es, dass die richtige Urlaubssaison erst noch bevorstand. Super, dann war es wenigstens nicht so überlaufen auf der Insel.

Erstmals würden sie, Klaus und die Zwillinge ihren Langeoog-Urlaub nicht in einer Ferienwohnung, sondern im Wohnhaus von Lotta und Krischan verbringen. Die Idee war vor einigen Wochen bei einem Telefonat mit der Freundin gekommen. Nina hatte laut darüber nachgedacht, dass es doch mal wieder Zeit wäre, sich zu treffen. Lotta hatte sie daraufhin spontan eingeladen, sie zu besuchen und in ihrem Gästezimmer zu wohnen. Ja, und jetzt waren sie da. Für eine Woche, mit Sack, Pack und dem neuen Bollerwagen, den Klaus unbedingt hatte kaufen müssen. Eine Woche Urlaub an der See. Die letzte Woche ihrer Elternzeit. In genau neun Tagen hieß es für Nina nämlich, nach über zwei Jahren Abstinenz, wieder zur Arbeit zu gehen. Dann gab es wie früher täglich Mord und Totschlag aufzuklären. Bei Klaus war das anders. Er hatte gestern seinen letzten Tag im Schuldienst absolviert und würde sich von nun an um Haus und Familie kümmern. Einmal Rollenwechsel bitteschön. Zumindest war so der Plan. Ob er aufginge, das würde sich zeigen.

„Mama, guck, Vögel“, schrie Matteo sofort, als sie ihn aus seinem Kindersitz heraus auf den Arm hob, und deutete auf eine Schar Möwen, die daraufhin wild zeternd in die Luft stiegen, um sich nur einige Meter weiter neben einem Mülleimer erneut niederzulassen.

„Das sind Möwen, mein Schatz“, verbesserte sie ihn, bemerkte aber sogleich an seinem Gesichtsausdruck, dass ihn solche Feinheiten nicht interessierten. Außerdem war eine Möwe ja auch ein Vogel. Der beinahe Zweijährige strampelte und wollte, dass Nina ihn auf den Boden setzte. Sie gab nach. Kaum auf den Füßen, flitzte Matteo los. Während ihr Sohn den Möwen hinterherjagte, befreite Nina Chiara aus ihrem Kindersitz. Verschlafen blinzelte das Mädchen sie an.

Nina hätte früher niemals auch nur geahnt, dass Geschwister, insbesondere Zwillinge, so unterschiedlich sein könnten wie ihre beiden. Chiara war ein ruhiges Kind. Nina fragte sich oft, was wohl in dem blonden Wuschelköpfchen vorging, wenn sie da einfach nur saß und ihre Umwelt beobachtete. Sie sprach wenig. Doch das, was sie zu sagen hatte, war klar, deutlich und hatte für eine Zweijährige schon erschreckend viel Hand und Fuß. Chiara war für ihr Alter ein sehr helles Köpfchen. Die Kleine drückte ihre Wange auf Ninas Schulter.

„So, mein Schatz, sobald der Papa den Bollerwagen beladen hat, gehen wir alle das Meer gucken. Magst du das?“, flüsterte Nina und drückte ihre Tochter fest an sich. Deutlich war zu spüren, wie ihr kleines Köpfchen nickte.

„Och, Nina, kannst du mal schauen, was Matteo schon wieder anstellt?“, hörte sie Klaus sagen und blickte sich zu ihrem Sohn um. Matteo hatte es, wie es schien, erfolgreich geschafft, sämtliche Möwen zu vertreiben, und war nun mit der Erforschung des Müllkübels beschäftigt. Dabei stand er mit den Zehenspitzen auf einem Stein daneben, schob seine kleine Nase über den hölzernen Rand des Behältnisses und versuchte gleichzeitig, den Deckel abzuheben.

„Da kannst du sagen, was du willst … das hat er eindeutig von dir“, maulte Klaus, mehr belustigt als ernst.

„Von mir?“, fragte sie erstaunt und eilte zu ihrem Sohn, um Schlimmeres zu verhindern.

„Klar von dir. Wer von uns stochert denn ständig in den Hinterlassenschaften anderer Leute? Ich oder du?“, hatte Klaus jetzt nicht ganz Unrecht.

Nina hatte ja schon rein beruflich gesehen ständig mit dem zumeist seelischen Müll ihrer Mitmenschen zu tun. Und dass Matteo nach ihr kam, konnte sie auch nicht verleugnen. Der Kleine war ein Wildfang, den alles zu interessieren schien und der, wenn er denn mal bei seinen Erkundungen auf die Nase fiel, ohne großes Murren aufstand, um mit seinem Dickkopf gegen das nächste Hindernis zu stürmen.

„Matteo, komm, wir gehen das Meer und die Schiffe schauen“, wusste sie sofort, wie sie ihn begeistern konnte.

„Oh ja … Schiffe“, schrie der Kleine, griff ihre Hand und begann daran zu ziehen.

„Und was ist mit dem Gepäck?“, rief Klaus ihr hinterher, als sie schon einige Meter in Richtung Hafen gegangen war.

„Das machst du schon, Schatz. Du hast ja den Bollerwagen“, beschied sie ihn und ging mit den Zwillingen unbeirrt weiter.

Bisher fing der Urlaub doch schon mal super an.

*

Martin konnte die Begegnung vom Morgen und die Gedanken daran einfach nicht beiseiteschieben. Seit beinahe fünf Jahren arbeitete er nun hier auf Langeoog in Annemaries Ferienhausvermietung. Sie war die Chefin, er der Mann fürs Grobe. Arbeit gab es für ihn hier mehr als genug. Zusammen mit Krischan, Annemaries Ziehsohn, kümmerte er sich um die Instandhaltung der Häuser und Wohnungen sowie um den Transport des Gepäcks ihrer Gäste. Was Annemarie in ihrem Büro trieb, der Papierkram, das ging ihn nichts an und interessierte ihn auch nicht wirklich. Heute war dies jedoch anders. Als sich Annemarie mittags auf ihr Rad schwang, um kurz einige Besorgungen zu machen, setzte Martin sich an ihren Schreibtisch und sah das Gästeverzeichnis im Computer durch. Er fand schnell, wonach er suchte. Eva Haberstatt wohnte in einer der kleineren Wohnungen draußen am Süderdünenring. Eine Weile betrachtete er das Geburtsdatum der jungen Frau. 17.03.1993. Das Jahr passte. Diese Eva und sein Mariechen waren der gleiche Jahrgang. Der Rest hingegen passte ganz und gar nicht. Mariechen war wie Martin im Herbst geboren. Genauer gesagt, am 27. Oktober. Ein Tag, den er niemals vergessen würde. Was war er damals nervös gewesen. Wie ein Tiger im Käfig war er stundenlang auf dem Korridor des Krankenhauses hin und her gerannt.

Die Tochter der Frau war, laut dem, was im Computer stand, fünf Jahre alt. Das könnte ebenfalls hinkommen. Als er Marie zum letzten Mal getroffen hatte, war sie schwanger gewesen. Ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen geworden war, wusste Martin nicht, da sie sich, genau wie der Rest seiner ehemaligen Familie, seit diesem Tag nie wieder bei ihm gemeldet hatte. Martin schüttelte den Kopf, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, schloss das Computerprogramm und sah dann zu Lumpi, die in ihrem Körbchen lag und ihn beobachtete.

„Ja, du häst ja recht“, flüsterte er dem Hund zu, da er gerade genau zu wissen glaubte, was der Blick des Tieres ihm sagen wollte. Er, Martin, war ein Rabenvater, wie er im Buche stand. Anstatt sich um seine Brut zu kümmern, war er einfach auf und davon geflattert und hatte sich ein neues Nest gesucht. Vielleicht war es auch lediglich eine Fügung des Schicksals, dass diese Eva Haberstatt seiner Tochter Gina Marie von Schlechtinger so ähnlich sah. Vielleicht wollte dieses Aas von einem Schicksal einfach nur, dass Martin sich endlich besann. Was war schon dabei, sich einfach mal bei seinen Kindern zu melden? Einfach nur so. Ohne Hintergedanken und einen Grund. Er war ihr Vater, war das nicht Grund genug? Als er damals verschwand, war er arm wie eine Kirchenmaus gewesen. Den Tag, als Gina Marie ihn nach Geld fragte und er lediglich noch zwanzig Euro besaß, den würde er ebenfalls niemals vergessen. Wobei er das Datum nicht mehr wusste – aber das war auch egal. Martin war damals so am Boden gewesen, dass ihn ein Datum, eine Uhrzeit oder gar ein Wochentag nicht mehr interessierten. Er wusste seitdem, wie es war, nichts zu haben außer dem, was man am Leibe trug. Wobei, nein, das war nicht richtig. Eines hatte er damals noch besessen. Seinen geliebten Ford Capri. Sein erstes Auto, das nun in einer von Annemaries Garagen auf dem Festland parkte. Seit dem Tag, als Martin nach Langeoog gekommen war, hatte sich viel geändert. Er hatte einen Job, der ihm Spaß machte, und lebte glücklich in einer neuen Beziehung. Annemarie war die Frau, die er immer gesucht hatte. Sie passten zusammen wie Topf und Deckel und das, obwohl sie beide total unterschiedlich waren. Aber vielleicht war genau das das Geheimnis ihres perfekten Zusammenlebens. Finanziell ging es ihm heute ebenfalls wieder gut. Annemarie bezahlte ihm für seine Arbeit ein angemessenes Gehalt. Er war, zumindest von acht Uhr am Morgen bis nachmittags um fünf, ein Angestellter wie jeder andere auch. Dass er anschließend mit der Chefin nach Hause fuhr, tat da nichts zur Sache.

Seit er hier lebte, hatte Martin sich nicht mehr so mies gefühlt wie gerade. Diese Eva Haberstatt hatte tatsächlich etwas in ihm aufgeweckt, von dem er überhaupt nicht gewusst hatte, dass es da war. Vor lauter eigenem Glück hatte er seine Kinder total vergessen. Doch er war gewillt, dies wiedergutzumachen.

Problematisch war nur, dass er keinerlei Ahnung hatte, was die beiden heute trieben oder wo sie wohnten. Auch von seiner Ex hatte er seit über fünf Jahren nichts mehr gehört, was natürlich auch gut war. Der weinte er keine Träne mehr nach. Die konnte bleiben, wo der Pfeffer wächst. Im Übrigen hatte er es mit seiner Annemarie auch tausendmal besser getroffen als damals mit Helga. Doch all der Groll gegen seine geschiedene Frau hatte nichts mit den Kindern zu tun. Martin würde sich bei den beiden endlich melden müssen. Irgendwie würde er sie schon finden. Im Zweifelsfalle musste sein bester Kumpel Onno Federsen ihm eben bei der Suche helfen. Wofür hatte man schließlich einen Polizisten zum Freund? Außerdem hatte Onno ja auch Zeit für eine Suche. Überlastet war der hier auf Langeoog nämlich bestimmt nicht. Ja genau, so würde Martin es machen. Sobald Annemarie von ihrer Tour zurückkam, würde er Onno einen Besuch abstatten, damit der sich um die Angelegenheit kümmerte.

*

Lotta Dönges sah auf die Wanduhr über Onnos Schreibtisch. Gleich ein Uhr mittags. Dann war endlich Feierabend. Sie lächelte. Direkt übel war so eine halbe Stelle bei der Inselpolizei nicht. Im Gegenteil. Sie konnte super damit leben, lediglich von neun Uhr in der Früh bis mittags um eins zu arbeiten. Dies war nicht immer so gewesen. Bis vor zwei Jahren hatte sie nämlich noch eine ganze Stelle gehabt. Von morgens bis abends. Nun gut, ein Bein hatte sie sich dabei auch nicht ausgerissen. Ihren Job hier auf der Insel würde sie als eher ruhig bezeichnen. Richtige Verbrechen gab es auf Langeoog selten. Ihre Arbeit bestand im Großen und Ganzen in der Aufnahme von Fahrradunfällen mit und ohne Personenschäden. Autounfälle gab es nie. Was natürlich auch daran lag, dass es auf Langeoog außer drei Feuerwehrautos und einem Krankenwagen keine anderen Autos gab. Langeoog gehörte zu den autofreien Inseln, und das war auch gut so. Wer hier von A nach B wollte, ging zu Fuß, nahm das Rad oder fuhr mit der Kutsche. Pferde hatte es auf der Insel schon immer gegeben, doch wurden sie heutzutage zumeist nur noch für den Transport der Urlauber genutzt. Auf den wenigen Höfen hatten längst moderne Traktoren die tägliche Arbeit übernommen, die in den alten Zeiten noch die vierbeinigen Mitarbeiter verrichtet hatten. Für die Fahrt vom Hafen bis ins Dorf gab es auf der Insel dann noch eine Eisenbahn. Eine richtige Inselbahn mit einer Lokomotive und bunten Waggons hintendran, ähnlich wie auf Lummerland, dem fiktiven Eiland aus dem Roman von Michael Ende. Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer suchte man auf der Insel hingegen genauso erfolglos wie die zwei im Roman beschriebenen Berge mit den Tunneln. Langeoog war nämlich platt wie eine Nordseescholle. Die einzige etwas höhere Erhebung war mit zwanzig Metern die Melkhörndüne. Die man ja jetzt nicht wirklich als Berg bezeichnen konnte.

Lotta stand von ihrem Schreibtisch auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. Wo Onno bloß wieder blieb? Dass der immer so rumtrödeln musste. Langsam wurde es Zeit, dass der sich wieder in der Wache einfand, damit Lotta loskonnte. Gerade heute hatte sie es furchtbar eilig, nach Hause zu kommen. Heute erwartete sie nämlich noch ganz lieben Besuch. Nina, Klaus und die Zwillinge kamen für eine Woche nach Langeoog. Lotta und Krischan hatten versprochen, sie gegen sechzehn Uhr am Inselbahnhof abzuholen. Allerdings gab es bis dahin noch so viel zu erledigen. Zur Begrüßung sollte es Friesentorte geben. Die mochte Nina doch so gerne. Allerdings war Lottas Versuch, selbst eine zu backen, kläglich gescheitert. Anstatt Sahne hatte sie zweimal hintereinander Butter geschlagen. Dabei war sie so vertieft in ihr Tun gewesen, dass sie den Tortenboden im Backofen total vergessen hatte, bis dieser irgendwann mit Rauchzeichen auf sich aufmerksam machte. Die verbrannte schwarze Frisbeescheibe musste Krischan dann im Anschluss gemeinsam mit der frisch geschlagenen Butter in der Mülltonne entsorgen. Backen war einfach nicht Lottas Ding. Aber egal, wofür gab es denn Konditoren und Bäcker. Dann würde halt eben eine professionell gefertigte Torte herhalten müssen. Jetzt musste Lotta lediglich noch die Betten neu beziehen, ein wenig staubsaugen und aufräumen. Eine Aufgabe, die sich bei einem Haushalt mit Kleinkind, ihrem Krischan und einem zweijährigen Hund im Fellwechsel schwieriger gestaltete, als es sich anhörte.

Von draußen vernahm sie das Quietschen von Fahrradbremsen. Na, endlich kam Onno herbei. Hastig schnappte sie sich ihre Dienstmütze und ihre Jacke.

*

Das Wetter war für Anfang Mai der Kracher. Nina streckte ihre Beine aus und blickte versonnen über das Meer. Sie liebte die See. Vielleicht lag es daran, dass die Sehnsucht nach dem Meer irgendwie in ihren Genen verankert war. Immerhin entstammte sie einer Familie neapolitanischer Fischer. Ihr Papa war noch als Kind mit ihrem Opa und dem Urgroßvater hinaus in den Golf von Neapel gefahren, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Leider hatte Nina, die in Deutschland geboren war, dies niemals miterlebt. Aber in ihren Träumen, da fuhr sie gelegentlich, genau wie ihre Vorfahren, morgens bei Sonnenaufgang hinaus aufs Meer, um zu fischen. Was natürlich vollkommen unrealistisch war, da sie selbst so früh morgens nur schwer aus dem Bett kam. Bis Nina ihre allmorgendlichen drei Tassen Kaffee getrunken hätte, um in die Gänge zu kommen, hätte die Konkurrenz ihre Fische schon lange auf dem Markt verkauft. Nein, als Fischerin würde sie kläglich verhungern müssen. Matteo, in dem ebenfalls und recht eindeutig ein kleiner Italiener steckte, würde es auch nie zum Fischer bringen. Die Fahrt mit der Fähre schien ihm nämlich ganz und gar nicht zu bekommen. Mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und für seine Verhältnisse viel zu ruhig, saß er an der Reling auf dem Schoß seines Vaters, der ebenfalls ein wenig grün um die Nase war. Na, wenigstens etwas, das der Kleine von Klaus geerbt hatte, fand Nina und musste zu ihrer Schande zugeben, dass es sie sogar irgendwie amüsierte, die beiden so zu sehen. Chiara hingegen genoss, das war ihr deutlich anzusehen, jeden Augenblick der Überfahrt. Nina hob ihr Smartphone und schoss noch einige Fotos für das Urlaubsalbum. Es war schon super, welch gute Aufnahmen man heutzutage nur mit einem Handy zustandebekam. Fotoapparate, an denen man auch noch was einstellen musste, wie es sie früher ausschließlich gab, waren nie ihr Ding gewesen. Ninas Blick glitt über das Deck. Auch an Bord der Fähre war es recht eindeutig, dass noch keine Hauptsaison war. Lediglich eine Handvoll Passagiere genoss die Fahrt hier im Freien auf dem Oberdeck. Nun gut, der Wind war, trotz des strahlenden Sonnenscheins, recht frisch, weshalb sich viele der Reisenden unten in einem der Salons aufhielten, um Kaffee oder Tee zu trinken. Dennoch waren es alles in allem viel weniger als zur Hauptsaison. Die Fahrgäste waren bunt gemischt. Neben einigen jungen Eltern, die wie Klaus und Nina noch nicht auf die Schulferien angewiesen waren, um zu verreisen, gab es auch einige Senioren. Nina fielen zwei junge Männer auf. Nicht weil sie es nötig hatte, hinter anderen Kerlen herzusehen. Nein, sie war mit dem zufrieden, was sie hatte. Außerdem waren die beiden Herren, die sie auf Anfang bis Mitte zwanzig schätzte, so gar nicht ihr Typ. Sie waren mehr der Schlag von Jungs, mit denen man es des Öfteren bei der Polizei zu tun hatte. Typische Kundschaft von ihr. Halbstarke Bubis, von denen eine Mutter hoffte, dass ihre Tochter so einen bloß nicht mit nach Hause brachte. Der eine von ihnen, ein Kleiner mit kurz geschorenem dunklen Haar, war nervös. Unentwegt wippte sein rechtes Bein. Thomas Kübler, Ninas Arbeitskollege, machte das auch ständig. Zumeist wenn er neben ihr im Besprechungsraum hockte. Ein Umstand, der sie gelegentlich zur Weißglut brachte. Der andere Mann, eine Bohnenstange mit lockigem Rotschopf, schien hingegen tiefenentspannt. Was natürlich auch an der selbst gedrehten Kippe liegen konnte, deren süßlich-aromatischer Duft mit dem Wind zu ihr herüberwehte.

„Sach ma … ist der da am Kiffen?“, flüsterte Klaus ihr irgendwann zu und schien von diesem Umstand überhaupt nicht begeistert. Klaus hatte ein gespaltenes Verhältnis zu Drogen. Er war ein gebranntes Kind, was dies betraf, da Drogen ihn, den Sohn aus gutem Hause, ebenfalls schon einmal an den Rand seiner Existenz und sogar ins Gefängnis gebracht hatten. Heute leitete er, der ehemalige Junkie, sogar Anti-Drogen-Seminare.

„Ja, sieht so aus“, antwortete Nina und beobachtete die beiden weiter aus dem Augenwinkel heraus. Sie brauchte andere Menschen nicht direkt anzuglotzen, um zu sehen, was sie taten. Eine Sache jahrelanger Übung bei den unterschiedlichsten Observationen.

„Boah … das muss doch wohl echt nicht sein. Hier sind doch jede Menge Kinder. Am liebsten würde ich da jetzt hingehen und ihm das Ding aus der Fresse reißen“, schimpfte Klaus.

Nina zuckte mit den Schultern.

„Geh lieber rüber und sag ihm, er soll seinen Kumpel auch mal ziehen lassen, damit der mal ruhiger wird. Das Gezappel geht einem ja auf die Nerven“, fand sie.

Klaus verdrehte die Augen, stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf.

„Dass du als Polizistin da einfach weggucken und Witze drüber machen kannst!“

Nina sah sich betont auffällig um.

„Ich sehe hier keine Polizistin. Ich sehe hier nur friedliche Menschen, die Urlaub machen möchten“, konterte sie.

Nina hatte Urlaub. Die Kriminalhauptkommissarin Moretti war weit weg. Zu Hause! Genau wie die Dienstwaffe, ihr Dienstausweis und ihre Handschellen.

„Also für mich sehen die beiden Vögel eher nicht aus wie die typischen Nordseetouristen“, maulte er weiter.

Zugegeben waren dies auch ihre Gedanken gewesen. Seit sie die Kerle zum ersten Mal vorhin entdeckt hatte, überlegte sie, welchen Grund die beiden schrägen Gestalten wohl hatten, hinüber auf die Insel zu fahren. Vermutlich würden die da irgendetwas arbeiten. Vielleicht Saisonkräfte, Kellner oder so etwas in der Richtung. Es war aber auch vollkommen egal. Nina hatte jetzt Ferien und freute sich auf Lotta, Krischan und den kleinen Eike, den sie bisher nur von Fotos kannte. Das würden entspannende sieben Tage werden. Zumindest war dies der Plan.

Kapitel 2

3. Mai 2019Insel Langeoog

„Moin, Onno“, begrüßte Martin von Schlechtinger den Inselpolizisten, als er, gefolgt von Lumpi, die kleine Langeooger Polizeistation unweit des Wasserturms betrat.

„Moin, moin, Maddin“, antwortete der Inselpolizist, sah von seinem Computermonitor auf und blickte ihn erwartungsvoll an.

Martin überlegte angestrengt, wie er sein doch eher delikates Anliegen am besten vortragen könnte. Immerhin gab es ja so etwas wie Datenschutz. Da durfte die Polizei nicht einfach mal ohne Grund nach Leuten recherchieren, um einem guten Kumpel eine Gefälligkeit zu erweisen.

„Sag mal, ist was passiert? Du guckst ja wie zehn Tage Schietwetter am Stück“, wollte Onno wissen.

Martin wackelte mit dem Kopf.

„Nä, Onno. Eigentlich is nix“, log er, um das Ganze eher belanglos wirken zu lassen. Vielleicht war ja auch tatsächlich gar nichts. Was, wenn er falschlag und sich die Anwesenheit seiner Tochter hier auf Langeoog nur eingebildet hatte? Nachher würde Onno noch denken, er, Martin, habe nicht mehr alle Nadeln an der Tanne.

„Und was ist uneigentlich?“, hakte Onno nach und sah ihn dabei auffordernd an.

Martin lehnte sich mit den Unterarmen auf den kleinen Tresen und überlegte einen Moment.

„Hast du eigentlich Kinder, Onno?“, fragte er jetzt einfach mal, obwohl er genau wusste, dass der Kumpel keine hatte.

Onnos Augenbrauen schnellten nach oben, sein Rücken straffte sich.

„Kinder … ich? Nein, mein Lieber. Also zumindest … nicht dass ich davon wüsste. Aber ich hab auch immer drauf geachtet, dass nichts passiert bei … na, du weißt schon … also … so mit Verhütung … “, stammelte der Polizist und errötete jetzt sogar ein wenig. Martin nickte. Seine Gedanken waren immer noch bei der Begegnung am Morgen mit Gina Marie oder der Frau, die er dafür hielt.

„Warum fragst du denn?“, holte Onno ihn in die Gegenwart zurück.

„Na … weil … ich hab ja welche … gehabt. Den Kevin und dat Mariechen“, antwortete Martin.

Onno erschrak sichtlich.

„Wie gehabt? Ist denen etwas passiert?“, wollte er wissen.

Martin wehrte ab.

„Nä, Onno. Nit wat du denkst. Ich hoff, dat bei den zwei ja alles in Butter is. Aber … ich weiß dat halt eben nit. Ich hab seit meiner Scheidung nix mehr von denen gehört und …“, Martin musste schlucken. All die Jahre hatte er einfach so in den Tag hineingelebt. Er war wahrlich ein Untier.

Onno lehnte sich zurück und nickte wissend. „Und jetzt hast du nach all den Jahren ein schlechtes Gewissen bekommen.“

Martin senkte den Kopf. Onno hatte auf Anhieb mitten ins Schwarze getroffen.

„Was hältst du davon, wenn du die beiden einfach mal anrufst?“, schlug der Polizist nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens vor.

Martin sah ihn erstaunt an und schüttelte dann den Kopf.

„Nä, Onno, dat geht nit so einfach. Da liegt ja nämlich dat Problem. Ich weiß ja gar nit, wo … oder wie ich die erreichen tun soll“, kam er auf den Punkt.

Onno strich sich mit der Hand über den Bart am Kinn. Dass der Freund seit einigen Wochen Haare im Gesicht trug, da musste Martin sich erst noch daran gewöhnen. Zumal der Bart Onno seiner Meinung nach überhaupt nicht stand. Er vermutete, dass das neue Styling mit Tine, Onnos Lebensgefährtin, zu tun hatte. Wenn Männer ihr Äußeres veränderten, sich die Haare schnitten oder einen Bart wachsen ließen, dann hing das zu neunundneunzig Prozent immer mit einer Frau zusammen.

„Aber du kennst doch bestimmt wen, der deine Kinder kennt und weiß, wo man sie erreichen kann. Freunde, Familie oder Bekannte“, zählte Onno auf.

Martin schüttelte langsam den Kopf.

„Was ist denn mit deiner Mutter? Die wird doch bestimmt wissen, wo ihre Enkel abgeblieben sind“, versuchte Onno es weiter.

„Dat kannst du vergessen, Onno. Meine Mutter wohnt doch seit zwei Jahren in einem Pflegeheim. Als ich die zum letzten Mal besucht hab, da wusste die noch nit mols, wer ich bin. Die hat mir immer nur vom Krieg verzällt und mich hundertmal gefragt, ob ich der Herr Bürgermeister wär“, umschrieb Martin den eher traurigen Besuch zu Ostern in seiner Heimatstadt Köln.

„Dement?“, verstand Onno.

„Jep. Dat volle Programm“, stimmte Martin zu.

„Was ist mit deiner Exfrau?“, schlug Onno vor.

„Keine Ahnung, wat mit der is. Die kann mir aber auch mal gestohlen bleiben. Dat Letzte, wat ich gehört hab, is, dat die mit ihrem neuen Lover in Spananien leben tut. Der kam ja da her“, schimpfte Martin viel lauter als gewollt.

„Okay, das kann ich verstehen, dass du die nicht anrufen möchtest“, lenkte Onno ein, „allerdings stellt sich mir die Frage, was ich für dich tun könnte. Ich kenne deine Kinder ja gar nicht.“

Martin nickte und sah zu dem Monitor auf Onnos Schreibtisch.

„Ihr von der Polente habt doch alles über jeden in eurem Computer gespeichert. Da könntest du doch einfach mal nachschauen, wo dat Mariechen und der Kevin heute wohnen tun“, erklärte Martin sein Anliegen.

Onnos Augen weiteten sich. Erstaunt sah er zu dem Rechner, dann zu Martin und fing schließlich lauthals an zu lachen.

„Du bist lustig, Maddin“, grölte Onno.

Martin verstand nicht, was daran jetzt lustig war. Konnte sich aber vorstellen, woher der Wind gerade wehte. Ihm war ja klar, dass die Polizei so etwas, wie er es gerade verlangte, im Zeitalter des Datenschutzes nicht einfach so durfte. Aber dies war nun auch mal ein Notfall.

„Onno, ich weiß ja, dat du dat offiziell bestimmt nit machen tun darfst. Aber dat is nu wirklich ein Notfall“, versuchte er es jetzt mal und setzte den Hundeblick auf. Genau so einen, wie Lumpi es immer tat, wenn sie einen Schluck von Martins Kölsch abhaben wollte. Dieser Blick funktionierte immer. Man konnte ihm einfach nicht widerstehen. Also zumindest Martin konnte das nicht. Er gab Lumpi jedes Mal nach und schüttete ihr, meist unter Protest von Annemarie, einen Schluck der Kölner Bierspezialität in den Napf. Bei Onno schien der Blick hingegen nicht zu wirken. Nein, der schüttelte lediglich den Kopf und lachte immer noch.

„Maddin, mein Lieber. Ich glaub, du schaust einfach zu viel fern. Die Polizei und der Computer sind auch nicht allwissend. Das Einzige, was ich nachschauen könnte, ist, ob die Meldeadresse deiner Kinder noch stimmt oder nicht. Dafür müsste ich allerdings die Adresse erst einmal haben“, erklärte Onno.

„Aber ich weiß doch gar keine Adresse. Dat Einzige, wat ich weiß, sind die Namen, die Geburtsdaten und dat die nach dem Auszug bei mir mit meiner Frau kurz bei meiner Schwiegermutter gewohnt haben – bevor die mit ihrem neuen Lover nach Malle, oder wohin auch immer, abgedüst ist“, jammerte Martin.

„Bei deiner Schwiegermutter? Dann frag die doch mal, wo deine Kinder sind“, überlegte Onno.

„Nä, Onno, soviel ich weiß, beguckt die sich die Radieschen auch schon längst von unten“, log Martin. Wenn er eines nämlich bestimmt nicht machen würde, dann war es das, dass er seinen ehemaligen Schwiegerdrachen anrufen würde. Die Alte hatte mehr Haare auf den Zähnen als Lumpi Fell am Leib und Martin noch nie leiden können. In ihren Augen war er ein Versager. Dass ihre Tochter sich mit der Kohle, die sie dem Versager geklaut hatte, heute ein hübsches Leben auf Mallorca machte, schien ihr dabei nicht in den Sinn zu kommen. Dass sie noch lebte, davon war er eigentlich überzeugt. Böse Frauen, wie seine Ex-Schwiegermutter, starben nicht so schnell. Die wurden minimum hundert Jahre alt und pflasterten ihren langen Lebensweg mit den Kadavern ihrer dahingeschiedenen Ehemänner. Bei seiner ehemaligen Schwiegermutter waren es immerhin schon drei an der Zahl, die sie ins Grab befördert hatte. Und ob dabei alles mit rechten Dingen vonstatten gegangen war, da wollte Martin erst gar nicht drüber nachdenken. Er würde es der alten Giftnatter zutrauen, dass die bei dem einen oder anderen sogar nachgeholfen hatte.

„Okay, Martin“, meinte Onno und schob ihm einen Schreibblock sowie einen Kugelschreiber hin.

„Schreib mir auf, was du weißt, und ich schau mal, was ich machen kann.“

„Im Ernst?“ Martin glaubte sich verhört zu haben.

Onno rollte die Augen.

„Ja, ich versuche es. Ich brauche aber zumindest eine genaue Adresse, wo deine Kinder einmal gemeldet waren. Dann kann ich versuchen rauszubekommen, wohin sie von da aus verzogen sind, und vielleicht den Weg nachverfolgen bis zur heutigen Adresse. Aber versprechen kann ich nichts“, beschrieb Onno die Vorgehensweise.

„Su kompliziert ist dat? Ich hatte immer gedacht, ihr von der Polente müsst nur den Namen in den Kasten eingeben tun, und dann spuckt der alles über die Leut aus, wat der weiß“, erwiderte Martin, während er die Namen und Geburtsdaten seiner beiden Sprösslinge notierte. Als letzte Adresse kannte er nur die seines eigenen ehemaligen Hauses in Köln, von dem er wusste, dass darin heute ein Mitarbeiter der Bank wohnte, die ihm die Hütte damals unter dem Hintern hatte wegpfänden lassen. Bei der anschließenden Versteigerung hatte Martin ganz hinten im Saal gesessen und unter Tränen mit ansehen müssen, wie der Kerl den Zuschlag zu einem Spottpreis bekam. Bis heute hatte er Zweifel, dass da alles mit rechten Dingen zugegangen war. Die von der Bank hatten ihn auch beschissen. Aber egal. Köln und sein altes Leben waren weit weg. Hier und jetzt ging es um sein Mariechen und warum diese so tat, als würde sie ihn nicht kennen.

„Wat meinst du dann, wann du wat rausgefunden hast, Onno?“, erkundigte er sich, als er dem Freund den Schreibblock zurück über den Tresen schob.

Der wackelte mit dem Kopf.

„Na, ich würde sagen, wir treffen uns heute Abend gegen acht auf ein Bier in der Kaapstube. Bis dahin könnte ich schon was haben – aber du zahlst.“

„Super, Onno. Ich wusste, dat ich mich auf dich verlassen tun kann. Du bist ene echte Kumpel“, fand Martin, langte über die Theke, klopfte Onno auf die breiten Schultern und schickte sich an zu gehen. Dass er den Freund einladen würde, verstand sich selbstredend.

Als er bereits an der Tür war, fiel ihm jedoch noch etwas ein.

„Ach, Onno, mir zwei … mir treffen uns aber allein … ohne Weibsvolk. Dat Annemarie und deine Tine müssen dat ja nit jet unbedingt mitbekommen, dat ich meine Kinder suche.“

Onno lächelte und nickte.

„Hat ich mir schon gedacht, dass dir das peinlich vor Annemarie ist. Aber keine Sorge. Ich komme allein und in Zivil.“

Als Martin, gefolgt von Lumpi, die neben dem Fahrrad herlief, zurück in die Ferienhaus-Agentur Hansen fuhr, hatte er schon ein schlechtes Gewissen. Er hasste es, Geheimnisse vor Annemarie zu haben. Doch in diesem Fall ging es einfach nicht, dass er sie an seinen Gedanken teilhaben ließ. Es ging um seine Vergangenheit. Fehler, die er vor Jahren begangen hatte. Da musste er nun alleine durch. Das alles war ihm zu peinlich, um es vor ihr auszubreiten. Doch zum Glück gab es ja Freunde wie Onno. Das Gespräch mit dem Polizisten hatte ihm gutgetan. Sehr gut sogar!

*

Onno hatte kein Problem damit, einem Freund zu helfen. Klar waren Daten über Bürger stets sensibel zu handhaben. Aber es hieß ja auch immer: „Die Polizei, dein Freund und Helfer“. Wenn er Martin also dabei helfen konnte, dass der wieder mit seinen Kindern ins Reine kam, dann war das ja quasi ein polizeiliches Anliegen. Nichts lag der Polizei näher, als für ein gutes Miteinander der Bürger und somit für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Wo er nicht mit gerechnet hatte, war, dass er bei der Suche nach Martins verschollenen Kindern so schnell fündig werden würde.

Als Erstes hatte er den Namen des Jungen eingegeben. Kevin war neunzehn Jahre alt und im vergangenen Herbst wegen schwerer Körperverletzung zu einem Jahr Jugendhaft verurteilt worden. Seine Haftzeit verbrachte er in einer Einrichtung in der Eifel, bei der es sich, zumindest verstand Onno dies so, nicht um einen klassischen Knast, sondern um eine Art betreutes Wohnen auf einem Bauernhof handelte. Die Suche nach der fünfundzwanzigjährigen Gina Marie von Schlechtinger gestaltete sich zumindest im Computer als noch einfacher. Die junge Dame wurde nämlich per Haftbefehl gesucht. Der Tatvorwurf lautete auf Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Was genau dem Mädchen vorgeworfen wurde und um welche kriminelle Vereinigung es sich handelte, das konnte Onno leider nicht sehen, da er auf die Akte keinen Zugriff hatte. Dennoch, der Umstand, dass Martins Kinder Verbrecher waren, hatte ihn fast umgehauen. Wie um alles in der Welt sollte er dies dem Freund bloß beibringen?

Auf jeden Fall brauchte er jetzt erst einmal Luft. Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl, schnappte sich seine Dienstmütze und verließ die Wache. Nachdem er abgeschlossen und das Hinweisschild mit seiner Telefonnummer draußen befestigt hatte, machte er sich zu Fuß in Richtung Strand auf. Der Wind, der ihm bereits entgegenblies, als er die Dünenkuppe betrat, auf der der Wasserturm thronte, tat ihm gut. Was würde Martin wohl sagen, wenn er ihm heute Abend die schlechten Nachrichten überbrachte? Sollte er es dem Freund überhaupt sagen? Er könnte behaupten, er habe einfach keine Spur der beiden gefunden. Andererseits, durfte er seinen besten Freund belügen? Nein, eigentlich nicht. Andererseits wäre es ja nur zu seinem Besten. Doch so wie er Martin kannte, würde der eh nicht locker lassen und anderweitig nach seinen Sprösslingen suchen. Wenn der dann raus­bekam, dass Onno ihn belogen hatte … nein … daran wollte er gar nicht erst denken. Onno schlenderte weiter in Richtung Nordsee. Am Strand würde er schon die Antworten finden, die er brauchte. Das war immer so. Die Nordsee, der Wind, das Salz in der Luft waren die beste Therapie bei Problemen aller Art.

*

Die Inselbahn war, zumindest für Matteo, das bisher größte Highlight der Urlaubsreise. Mit offenem Mund stand der Knirps vor einer der beiden kleinen roten Lokomotiven, deren Dieselmotor friedlich dahinbrummelte. Als er dann auch noch die zweite Lok am Ende des Zuges mit den bunten Waggons bemerkte, war er vollkommen aus dem Häuschen. Chiara ließ das Ganze eher kalt. Verträumt lächelnd sah das Mädchen zum Meer, in der kleinen Hand einen Löffelbiskuit, an dem es mehr lutschte als aß. Auch als der Zug sich in Bewegung setzte, klebten ihre Augen noch immer am Horizont, wo sich das Wasser, je weiter sie sich vom Hafen entfernten, nur noch erahnen ließ.

Nina entdeckte Krischan und Lotta Dönges sofort, als die Inselbahn nach nur wenigen Minuten Fahrt vor dem Inselbahnhof stoppte. Das ungleiche Paar war aber auch wirklich nicht zu übersehen. Lotta trug ihre Uniform. Krischan steckte wie so oft in einer blauen Arbeitslatzhose und hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Von Weitem hätte man sicherlich glauben können, dass da ein Kind neben einem Riesen stände. Ähnlich wie beim Herr der Ringe, wenn Gandalf der Zauberer neben einem der Hobbits zu sehen war. Auf Krischans Schulter hockte, hoch oben, der kleine Eike und winkte. Auch Tick, der wuschelige Mischlingshund der kleinen Familie, war mit von der Partie und saß brav angeleint neben Lotta auf dem Bahnsteig. Nina spürte, wie sich beim Anblick der vier ihr Pulsschlag erhöhte und sich eine Freudenträne den Weg ins Freie bahnte. Hastig wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Jacke übers Gesicht. Wäre ja noch schöner, wenn sie hier jetzt zu flennen begann.

Als Lotta sie einige Sekunden später zur Begrüßung umarmte, passierte es dann aber doch. Chiara und Matteo schienen sich hingegen eher für Tick, die Mischlingshündin, zu interessieren. Nina mochte Hunde, doch einen eigenen Vierbeiner zu Hause bei ihnen konnte und wollte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Während sie am Gepäckschalter der Inselbahn auf ihre Koffer und den familieneigenen Bollerwagen warteten, fielen Nina wieder die beiden jungen Männer auf, die sie schon am Morgen auf der Fähre beobachtet hatte. Der eine der beiden, der rothaarige Kiffer, telefonierte etwas abseits. Während der andere, der kleine Nervöse, ziemlich energisch auf eine junge blonde Frau einredete, die ein Kind im Vorschulalter an der Hand hielt. Nein, die waren nicht zum Urlaub­machen hier. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

*

Es war voll in der Kaapstube an diesem Abend. Draußen vor den Fenstern senkte sich gerade die Nacht über die Insel und ihre Bewohner. Martin nahm nicht wahr, was um ihn herum geschah. Das, was Onno ihm gerade erzählte, zog ihm restlos den Boden unter den Füßen weg. Er wollte das alles nicht glauben. Das war doch nur ein böser Traum. Sein Mariechen sollte per Haftbefehl gesucht werden, während ihr kleiner Bruder bereits hinter schwedischen Gardinen gehockt hatte. Nein, das konnte einfach nicht sein. Es musste sich hier eindeutig um eine Verwechslung handeln.

„Dat is doch Quatsch, Onno. Dat Mariechen is doch nit bei der Mafia … und … und der Kevin … der kann doch keiner Fliege wat zuleidetun“, wehrte er ab.

Martin hatte mit einem Mal das Gefühl, als gerieten der Tisch, die Wände und vor allem der Boden unter seinen Füßen ins Wanken. Seine Kinder sollten Kriminelle sein? Wenn dem so war, dann war es seine Schuld, weil er sich nicht gekümmert hatte. Überhaupt war es ihm erst in den letzten Stunden, seit der Begegnung mit Gina Marie am Morgen, richtig bewusst geworden, dass er sich noch nie wirklich mit seinen Kindern befasst hatte. Auch früher nicht, als er noch mit ihnen unter einem Dach wohnte. Es war kein Wunder, dass sie sich nach seiner Trennung von seiner Frau von ihm abgewandt hatten. Martins Leben war damals immer nur seine Firma gewesen. Morgens war er vor den ersten Sonnenstrahlen aus dem Haus gegangen, um erst abends spät, wenn die Kinder bereits schliefen, wieder nach Hause zu kommen. Auch am Wochenende! Ob verstopftes Klo, defekte Heizung oder Rohrbruch, Martin von Schlechtinger war stets zur Stelle gewesen, um tatkräftig zuzupacken. Bei Tag oder Nacht. Selbst an Neujahr oder Heiligabend war er zu Kunden gefahren. Nur um seine Familie – um die hatte er Depp sich damals nicht gekümmert. Er hatte seine Kinder und seine Frau als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Als etwas, um das er sich nicht mehr bemühen musste, da er es ja schon hatte. Zum ersten Mal seit der Trennung empfand er heute sogar so etwas wie ein wenig Verständnis für seine Exfrau. Er, Martin, war an alldem, was passiert war, schuld. Nun gut, dass sie ihn am Schluss beklaut und abgezockt hatte, das würde er ihr niemals verzeihen können. So etwas machte man nämlich nicht. Zumindest sah er das so. Seine Mutter hatte ihn immer zur Ehrlichkeit erzogen. Aber egal. Dass es so weit hatte kommen müssen, war seine eigene Schuld. Martin bemerkte, wie Onno ihm einige Ausdrucke hinschob. Er nahm sie und besah sich das Foto auf dem ersten Blatt. Daneben standen der Name und das Geburtsdatum seiner Tochter. Es bestand kein Zweifel. Die junge Frau auf dem Bild war Mariechen.

„Und die ist wirklich bei der Mafia?“, flüsterte er und hätte in diesem Moment weinen können.

Onno winkte ab.

„Quatsch, Maddin. Das da muss gar nichts heißen. Sie ist ja nicht verurteilt, sondern wird lediglich mit einem Haftbefehl gesucht. Das ist ein riesen Unterschied. Und was mit dieser kriminellen Vereinigung gemeint ist, das steht doch da gar nicht. Es gibt ja noch mehr kriminelle Vereinigungen als die Mafia. Die kann auch bei irgendeinem andern Verein sein. Seintologie … oder wie die heißen … oder … oder vielleicht … bei den Zeugen Jehovas … was weiß ich.“

Martin besah sich noch einen Moment das Foto von Mariechen. Eine wirklich sehr hübsche Frau war aus seiner Kleinen geworden. Nein, so sah gewiss keine Kriminelle aus. Er schlug die Seite um und zog die Augenbrauen hoch. Der junge Mann, der ihn da aus gefühllosen Augen anstarrte, den hätte er, wenn er ihm auf der Straße begegnet wäre, nicht so einfach erkannt. Doch je länger er ihn betrachtete, umso mehr entdeckte er Ähnlichkeiten mit dem kleinen Kevin, dem er vor über fünf Jahren zuletzt begegnet war.

„Weißt du wenigstens, wat der Kevin getan haben soll?“, fragte er vorsichtig.

Onno nickte.

„Ja, wie es aussieht, hat dein Kevin sich in einem Kölner Nachtklub geprügelt“, berichtete er.

„Und dafür hat der sofort ein Jahr Knast gekriegt? Wegen so en bisschen Klopperei? Dat gibt dat doch nit“, schimpfte Martin, da er nichts Schlimmes daran finden konnte, wenn Jungs im Suff oder auch nüchtern mal aneinandergerieten. So etwas konnte eben mal passieren. Es war noch gar nicht mal so lange her, dass auch Martin seinem zu der Zeit noch besten Kumpel eines auf die Nase gegeben hatte. Gut, es war das erste und einzige Mal gewesen, dass ihm so etwas passierte. Außerdem waren Toni und er seitdem auch keine Kumpels mehr. Aber egal, solche Dinge konnten unter richtigen Jungs vorfallen.

„Der andere war der Betreiber des Nachtklubs und sitzt seitdem im Rollstuhl“, meinte Onno wie beiläufig und verzog das Gesicht.

„Ohh, dat is aber nit so schön“, fand Martin ehrlich. Er ließ die Unterlagen sinken und überlegte. Sein Kevin war schuld daran, dass ein anderer Mensch nicht mehr laufen konnte?

„Und warum hät der Kevin den andern so schlimm gehauen?“, interessierte es ihn.

Onno hob die Schulter.

„Keine Ahnung, Maddin. Das kann ich nicht sehen. Dafür reichen meine Befugnisse nicht aus. Da müsste ich die Akten anfordern, aber das ist eher schwierig ohne einen triftigen Grund.“

Ja, das verstand Martin nur zu gut. Er drehte sich um und winkte dem Wirt.

„Mir hätten noch gerne zwei Bier und zwei doppelte Korn.“