Mordsknall - Micha Krämer - E-Book + Hörbuch
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Mordsknall E-Book und Hörbuch

Krämer Micha

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Beschreibung

Martin von Schlechtinger kann es nicht fassen. Er soll einen Fehler bei der Installation des gasbetriebenen Grills in der neuen Imbissbude von Rudi Rattinger gemacht haben? Das kann einfach nicht sein. Doch wer ist dann schuld an der Explosion, die an einem herrlichen Morgen das friedliche Eiland in der Nordsee erschütterte und den Imbissbesitzer das Leben kostete? Inselpolizistin Lotta Dönges und ihre Freundin Nina Moretti – eigentlich Hauptkommissarin im Westerwald und derzeit im Urlaub – nehmen die Ermittlungen auf. Schnell wird klar, dass alles ganz anders sein muss, als es zuerst den Anschein hatte.

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Zeit:10 Std. 29 min

Sprecher:Micha Krämer

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9774-0

Micha KrämerMordsknall

Prolog

Insel Langeoog/Imbiss Zum Kölschen Himmel II

Donnerstag, 16.05.2024, 1:28 Uhr

Puh, wie das hier roch. Der Gestank nach frischer Farbe lag penetrant in der Luft und raubte ihm fast den Atem. Nun gut, viel Zeit zum Trocknen war dem Lack nicht geblieben. Von der Idee, diesen Imbiss zu eröffnen, bis zur morgigen Eröffnung waren vermutlich keine acht Wochen vergangen. Spätestens in einer Woche roch die ganze Bude dann nach einer Mischung aus ranzigem Pommesfett, Bratendunst und Bier. Doch so weit würde es erst gar nicht mehr kommen. Dafür würden er und ein halbes Kilo Plastiksprengstoff schon sorgen.

Den Gestank von Imbissbuden, den konnte er noch viel weniger ab als den von frischer Farbe. Allein schon der Gedanke an fette Pommes und Bratwurst widerte ihn an. Wobei dies nicht der Grund war, dem Laden ein für allemal den Garaus zu machen. Nein, seine Beweggründe waren gänzlich andere und ziemlich schnell auf den Punkt gebracht: Sein Auftraggeber bestand darauf, dem Kerl eine Lektion zu erteilen. Dieser Rudi musste ein für alle Mal lernen, was es hieß, zu seinen Taten und dem, was man im Leben verbrach, zu stehen. Und wenn er dafür die halbe Insel in die Luft jagen musste, dann war dies eben so. Persönlich hatte er nichts gegen den Rudi. Nein. Eigentlich war der ihm sogar recht sympathisch. Ein lustiger, netter Zeitgenosse. Doch ein Auftrag war nun mal ein Auftrag, und er hatte in der Branche einen Ruf zu verlieren. Wenn man in seinem Gewerbe Erfolg haben wollte, brauchte man dazu Disziplin und einen tadellosen Leumund. Und diesen bekam man nicht, wenn man kniff, wenn es mal ernst wurde.

Mit der Taschenlampe in der Hand schritt er durch den Gastraum bis hinter die Theke und huschte dann in die Küche. Er widerstand der Versuchung, das Licht anzuschalten, und das, obwohl der Raum keine Fenster besaß. Die Gefahr, von draußen gesehen zu werden, war minimal. Noch dazu um diese Uhrzeit. Doch sie bestand. Und sicher war sicher.

Morgen, das war ebenfalls sicher, würde das kleine Eiland durch einen Wumms geweckt werden, der sich gewaschen hatte.

In aller Seelenruhe montierte er den mitgebrachten Sprengsatz direkt unter der Fritteuse und stellte ihn scharf. Wenn das Ding losging, wäre er bereits wieder auf dem Weg zum Festland. Zufrieden betrachtete er noch einmal seine Arbeit. Ja, er liebte diesen Job!

Kapitel 1

Donnerstag, 16. Mai 2024, 6:28 Uhr

Strand/Insel Langeoog

„Lumpi, mein Freund, wat is dat Leben doch schön“, sinnierte Martin von Schlechtinger und blinzelte in die noch tief stehende Morgensonne. Der Himmel über Langeoog war blau, und nur vereinzelt zogen kleine Schäfchenwolken hastig vom Meer her kommend über das kleine Eiland.

Ein perfekter Tag. In jeder Hinsicht. Martin war wahrlich zufrieden mit sich und der Welt.

„Einfach herrlich“, seufzte er noch einmal hinterher und kraulte Lumpi dabei sachte hinter den pechschwarzen Ohren.

Die treue Border-Collie-Hündin, die neben ihm im weißen feinen Sand lag, legte den Kopf schief und sah Martin freudig hechelnd an. Ja, er und seine Lumpi verstanden sich. Gemeinsam gingen sie durch dick und dünn. Da, wo Martin war, da war auch Lumpi.

Die leichte Brise, die vom Meer her wehte, war noch kalt. Ebenso das Wasser der Nordsee, in der er heute Morgen zum ersten Mal nach der langen Winterpause wieder gebadet hatte. Gut, es war gerade einmal Mai. Da durfte man selbst am schönsten Strand der Nordseeküste noch keine Temperaturen wie in der Karibik erwarten. Das war so, und auch damit konnte er sehr gut leben.

Der Strand war hier draußen, in Höhe der Melkhörndüne, wie immer um diese Uhrzeit noch menschenleer. Keine Seele weit und breit. Die meisten Urlauber lagen um diese Uhrzeit zum Glück noch in den Federn, und die Einheimischen, die bereits wach waren, gingen ihrer Arbeit nach. Martin nicht. Seine Schicht in der Ferienhausvermietung Hansen begann erst um acht Uhr. Es waren also noch gut und gerne anderthalb Stunden Zeit. Zeit, um nach Hause zu radeln und in aller Ruhe mit seiner Liebsten zu frühstücken. Ein allmorgendliches Ritual.

Martin war schon immer ein Frühaufsteher gewesen. Wobei es in seinem ersten Leben als selbstständiger Sanitärfachmann morgens wesentlich hektischer zugegangen war. Dagegen war das Arbeiten hier auf der Insel die pure Entspannung.

Klar, auch ihm fiel es gelegentlich schon einmal schwer mit dem Aufstehen. Besonders in den letzten Wochen, in denen er fast jeden Tag bis teilweise spät abends malocht hatte.

Schuld an der vielen Arbeit, wenn man denn überhaupt von Schuld sprechen wollte, war nicht seine Chefin Annemarie Hansen, sondern sein alter Kumpel Rudi Rattinger.

Der Rudi war vor einigen Wochen ganz unverhofft auf der Insel aufgetaucht und hatte Martin voller Euphorie mitgeteilt, dass er plane, auf der Insel einen Imbissbetrieb zu eröffnen. Nicht irgendeinen. Nein, das Ganze sollte eher eine bessere Kopie von Rudis Pommesbude in Köln-Kalk werden. Eine mit echten rheinischen Spezialitäten und Rudis original Kalker Currywurst.

Damit hatte der alte Freund bei Martin natürlich offene Türen eingerannt. Denn wenn er eines auf der Insel wirklich vermisste, dann waren das seine Leibspeisen Himmel und Ääd und eben die legendäre Currywurst nach Rudis Geheimrezept. Wobei man da gestehen musste, dass das Rezept nicht von Rudi selbst stammte, sondern noch auf seinen Vater Peter, genannt Der Fritten-Pitter, zurückging. Der war noch ein Metzgermeister der alten Garde gewesen.

Das Rezept für seine legendäre Currybratwurst, das hatte er, wie es sich gehörte, nur an seinen Sohn weitergegeben.

Als Martin noch in Köln lebte, war Der Kölsche Himmel, wie die Bude von Rudi geheißen hatte, für Martin wie ein zweites Zuhause gewesen. Und auch als ihn seine Frau verließ und sein Sanitärbetrieb den Bach hinunterging, hatte der Rudi immer noch ein Schälchen Pommes und Wurst für den mittellosen Martin übergehabt. So war das eben unter Freuden. Die hielten zusammen und halfen sich. In guten wie in schlechten Zeiten.

„Rudi, wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann musst du dat einfach sagen tun“, hatte Martin dem alten Freund mitgeteilt, als der vor einigen Wochen auf der Insel auftauchte. Und ja, er hatte es auch genau so gemeint.

So war es dann gekommen, dass sie beide, nachdem Rudi die passenden Räumlichkeiten gefunden hatte, sechs Wochen lang jede freie Minute malochten, um die Bude fertig zu bekommen. Wobei der Begriff Bude eigentlich nicht wirklich passte. Nein, mit einer Pommesbude hatte das geräumige hübsche Lokal, welches sie beide auf die Beine gestellt hatten, nichts mehr zu tun. Das war ein richtiger Nobelimbiss geworden.

Heute würden ihre Mühen endlich belohnt werden. Um Punkt zehn Uhr am Vormittag öffnete Rudi die Pforten des Der Kölsche Himmel II.

„Lumpi, ich denke, mir zwei müssen mal langsam los. Dat Frau Annemarie wartet bestimmt schon mit dem Frühstück auf uns“, beschied er den Hund, klopfte seine Meerschaumpfeife aus, erhob sich von seinem Handtuch und begann damit, sich anzukleiden. Dabei achtete er wie immer sorgfältig darauf, dass da bloß kein Sand an Stellen kleben blieb, an denen man sich später etwas wund scheuern konnte.

Als Martin wenig später das alte Fahrrad vor dem Haus seiner Chefin und Gattin in Personalunion abstellte, roch es dort bereits verführerisch nach frischen Brötchen und Kaffee.

Er folgte Lumpi um das Haus herum direkt in den Garten, wo Annemarie bereits im weit geöffneten Wintergarten am gedeckten Frühstückstisch auf ihn wartete.

Seit Martin im letzten Winter auf der einstigen Terrasse eine Überdachung mit großen gläsernen Schiebetüren errichtet hatte, nahmen sie beide fast alle ihre Mahlzeiten nicht mehr in der Küche, sondern draußen in ihrem neuen Aquarium ein, wie er selbst den Wintergarten gelegentlich zu nennen pflegte.

„Da seid ihr beiden ja“, freute sich seine bessere Hälfte und legte ihr Mobiltelefon beiseite, auf dem sie bis gerade gelesen hatte.

„Jepp. Da sind mir wieder. Frisch gebadet aus der Nordsee“, bestätigte er, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss.

„Martin, du warst doch wohl nicht wirklich bei diesen Temperaturen im Wasser?“, schimpfte sie sogleich.

„Sicher dat. Wat uns nit umbringt, macht uns nur härter“, bestätigte er und nahm ihr gegenüber Platz.

Annemarie schüttelte sich.

„Nein, allein bei dem Gedanken an das kalte Wasser friert es mich schon. Du machst so lange, bis dich noch einmal der Schlag trifft, mein Lieber. Das nächste Mal hast du vielleicht nicht so viel Glück“, erinnerte sie ihn wie so oft an die Geschichte von vor einigen Jahren. Damals hatte es Martin ganz schön umgehauen. Da hätte es nicht viel gefehlt, und er wäre futsch gewesen. Doch wie so viele Dinge hatte auch sein Infarkt etwas Gutes gehabt. Ohne die OP an seinem Herzen hätte er nämlich nicht den Herrn Doktor Jan Martin Bechersheim kennengelernt. Der war heute nicht nur sein Hausarzt hier auf der Insel, sondern gehörte als Martins Schwiegersohn mittlerweile zur Familie.

„Anneschatz, du weißt doch: Unkraut vergeht nit. Einen Martin von Schlechtinger, den haut so schnell nix um“, erwiderte er und griff sich eines der noch warmen Brötchen.

Heute würde er nur eines davon essen. Weil spätestens um kurz nach zehn gab es ja die langersehnte und redlich verdiente Currywurst bei Rudi. Der hatte bereits gestern den ganzen Tag in der Küche gestanden und Unmengen an Würsten hergestellt. Das Fleisch dazu kam ausnahmslos von den Bioschweinen, die Martins Sohn Kevin von Schlechtinger drüben auf dem Festland züchtete. Das war 1a-Ware.

Bei Rudi wurde alles noch selbst von Hand gemacht. Der hatte ja auch, genau wie sein Vater und schon der Großvater, eine Lehre als Metzger absolviert. Okay, die Metzgerei der Rattingers hatte bereits geschlossen, da war Martin noch ein kleiner Junge gewesen. Die Pommesbude, die Vater Peter Rattinger an gleicher Stelle eröffnet hatte, war wesentlich lukrativer gewesen. Nur die Wurst, die hatte der alte Rattinger immer noch selbst hergestellt. Genauso wie die Soßen und die Pommes aus frischen Kartoffeln. Da kam nix aus der Tüte.

„Denkst du bitte daran, heute Vormittag nach der Toilettenspülung im Süderdünenring zu sehen?“, fragte Annemarie und unterbrach damit seinen Gedankenfluss.

„Jawohl, mein Schatz.“

„Wenn du vor Ort bist, dann schau auch bitte mal nach den Glühbirnen in der Küche von Wohnung zwei. Angeblich ist da eine defekt“, gab sie keine Ruhe.

Martin sah auf seine Armbanduhr. Es war nun kurz vor halb acht.

„Frau Hansen, der Herr von Schlechtinger hat erst in einer halben Stunde Dienstbeginn. Mir haben schließlich geregelte Arbeitszeiten. Ab acht Uhr morgens repariere ich alle Klospülungen und Lampen, die Sie wollen. Aber bis dahin is hier noch privat“, musste er ihr jetzt einfach mal sagen.

Ja, sie war seine Chefin und gleichzeitig auch seine Ehefrau. Ein Umstand, den es aber strikt zu trennen galt. Von acht bis achtzehn Uhr hatte sie das Kommando und er zu spuren. Danach bis zum nächsten Morgen war frei.

Annemarie lachte gekünstelt auf.

„Dass ich nicht lache, mein Lieber. Soll ich dir mal all die Stunden vorrechnen, die du in den letzten Wochen während deiner regulären Arbeitszeit bei diesem Hallodri Rudi verbracht hast? Wenn ich die Zeiten zusammenzähle, die du, während ich dich bezahlt habe, für diesen Kerl geschuftet hast, dann gehört mir locker ein Viertel des Lokals“, schoss sie zurück und hatte damit natürlich auch ein bisschen recht.

Er war zwischendurch tatsächlich auch mal auf der Baustelle bei Rudi gewesen. Was aber auch kein Problem darstellte, da es derzeit noch sehr ruhig war. Während der Hauptsaison hätte er für solche Dinge natürlich keine Zeit.

Martin erwiderte nichts, sondern blickte stattdessen durch die große Panoramascheibe zu den Sanddornsträuchern, in denen gleich mehrere Vögel ihre Nester gebaut hatten. Da war ja heute Morgen schon ein Gezwitscher und Gezeter!

„Hallo Erde an Martin. Wir waren …“, wollte Annemarie noch einmal nachlegen, als ein dumpfer Knall sie mitten im Satz unterbrach.

Martin zuckte erschrocken zusammen.

„Wat war dat denn für ein Bums?“, fragte er verdattert.

„Vielleicht ein Flugzeug, das die Schallmauer durchbrochen hat“, überlegte sie, erhob sich, trat die wenigen Schritte bis ins Freie und sah zum Himmel. Lumpi folgte ihr und bellte ganz aufgeregt. Die Hündin mochte solchen Krach nicht.

„Nä, Anneschatz. Dat war kein Flugzeug … also zumindest keins, wat die Schallmauer durchbrochen hat. Dat war höchstens eins, wat auf der Erd aufgeschlagen und explodiert ist“, vermutete er mal.

„Guck mal, Martin. Da steigt Rauch auf“, ereiferte sie sich mit einem Mal und deutete in Richtung Ortsmitte.

Martin erhob sich nun ebenfalls und folgte ihr auf den Rasen hinter dem Wintergarten.

Tatsächlich stieg hinter dem Dach des Nachbarhauses Rauch in den wolkenlosen Himmel. Und nicht nur ein bisschen.

„Das muss mitten im Dorf sein … ziemlich genau da, wo sich unsere Ferienhausvermietung befindet. Es wird doch wohl nichts … Ich muss das jetzt wissen“, sagte Annemarie, machte auf dem Absatz kehrt und rannte ins Haus.

Martin überlegte noch einen Moment. Könnte das tatsächlich ihr Büro sein, das da brannte? Schwer zu sagen. Seiner Meinung nach lag das von hier aus gesehen etwas mehr rechts. Doch natürlich konnte er sich da auch irren.

„Ja, Lumpi, vielleicht is dat besser, mir gehen auch mal gucken, wat da passiert ist. Nit dat uns doch noch ein Flugzeug auf dat Büdchen gestürzt ist“, fand er, zog die gläserne Schiebetüre der Einfachheit halber von außen zu und eilte um das Haus herum zur Straße zu seinem Fahrrad. Dort traf er auch wieder auf Annemarie, die nun eine Jacke und Schuhe trug und sich ebenfalls gerade auf ihren Drahtesel schwang.

Der Knall war nicht zu überhören gewesen. Inselpolizistin Lotta Dönges, die gerade ihren Sohn Eike und die einjährige Inga bei der Tagesmutter abgegeben hatte, hatte sich dermaßen erschrocken, dass sie mit ihrem Fahrrad einen solch großen Schlenker machte, dass sie beinahe gegen einen Baum geprallt wäre.

Dass da etwas Schlimmes passiert sein musste, war ihr sofort klar gewesen, weshalb sie gleich noch fester in die Pedale trat. Der Mordsknall war irgendwo aus Richtung des Ortszentrums gekommen. Dorthin war sie ja eh unterwegs gewesen. Die Wache, ihr Arbeitsplatz seit nunmehr fast neun Jahren, lag nämlich in unmittelbarere Nähe zum Wasserturm.

Nur Sekunden nach der Explosion, Lotta war sich sicher, dass es sich um eine solche handelte, entdeckte sie den Rauch, der vor ihr zwischen den Dächern der Häuser aufstieg und ihr den Weg zeigte.

Sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte, was vermutlich nicht nur an der Anstrengung lag. Nein, Lotta war fit wie ein Turnschuh, wie man so schön sagte. Der Unterschied zum Beamtenleben auf dem Festland war nämlich, dass es auf Langeoog keine Polizeiautos gab. Hier wurde jeder Weg mit dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt. Außerdem hatte sie auch noch einen Haushalt mit zwei kleinen Kindern, einem Mann und einem Hund zu schmeißen. Dies alles hielt sie wahrlich auf Trab und somit fit.

Der Wind, der auf der Insel gefühlt immer von vorne kam, trieb den Geruch von Verbranntem mit sich. Als sie wenige Hundert Meter vor dem Inselbahnhof von der Hauptstraße in eine der kleineren Gassen abbog, entdeckte sie den Ursprung des beißenden Gestanks. Das neue Restaurant von Martins Freund Rudi stand lichterloh in Flammen. Die Straße davor war mit Glassplittern und anderem Unrat übersäht. Dichter Qualm quoll aus allen Fensteröffnungen und aus dem Dach, welches nun ein riesiges Loch zierte.

Lotta trat auf die Bremse, sprang vom Rad, lehnte es an einen niedrigen Zaun und sprintete los.

Hoffentlich war da niemand mehr in dem Gebäude, hämmerte es in ihrem Kopf, während sie im Laufen ihr Handy zückte und die 112 wählte.

Vor dem brennenden Restaurant hatten sich bereits einige Schaulustige eingefunden. Ole Hinrichsen, ein pensionierter Mitarbeiter der Langeooger Schifffahrt, näherte sich mit einem Tuch vor dem Mund der nicht mehr vorhandenen Eingangstüre des Lokals. Die hatte es nämlich im wahrsten Sinne des Wortes aus den Angeln gehoben.

Der Herr in der Zentrale der Feuerwehr informierte Lotta derweil, dass der Löschzug Langeoog bereits alarmiert und auf dem Weg sei.

„Ole, nicht. Das ist viel zu gefährlich“, rief sie, nachdem sie aufgelegt hatte, und rannte dem alten Seemann hinterher.

Der hatte die Sinnlosigkeit seiner Tat allerdings selbst schon bemerkt und wich vor dem dichten Rauch, der aus dem Haus quoll, nun wieder zurück auf die Straße. Ohne Atemschutz würde es nicht möglich sein, in das Gebäude vorzudringen.

Hinter sich vernahm Lotta das Quietschen von Fahrradbremsen. Sie fuhr herum und entdeckte Martin von Schlechtinger und Annemarie Hansen. Scheppernd krachte Martins Fahrrad auf die Straße.

„Dat gibt dat doch nit“, stammelte der Kölner im Nordseeasyl fassungslos, und Lotta hatte das Gefühl, dass der wankte, als wäre er schon am frühen Morgen sturzbetrunken. Auch Annemarie schien dies zu merken und war augenblicklich bei ihm. Halten konnte aber auch sie den schweren Mann mit der Latzhose nicht. Martins Beine knickten weg, und bevor Lotta es sich versah, schlug der Kölner der Länge nach vor ihr auf den Boden. Geistesgegenwärtig wählte sie ein weiteres Mal die Notrufnummer.

Als Martin aufwachte, war es um ihn herum vollkommen ruhig. Lediglich das Ticken einer Uhr war zu hören.

„Hallo?“, fragte er, schlug die Augen auf und blickte sich um.

Er wusste sofort, wo er sich befand, hatte er die Wände des Behandlungsraumes der Arztpraxis doch eigenhändig zusammen mit seiner Tochter Gina Marie geweißelt.

„Hallo?“, sagte er noch einmal etwas lauter, da ihn wohl beim ersten Mal niemand gehört hatte.

„Hallo Martin. Wie fühlst du dich denn?“, vernahm er die Stimme seines Schwiegersohnes Doktor Jan Martin Bechersheim.

„Dat war schon mal besser. Aber wat is denn überhaupt mit mir passiert? Hab’ ich geschlafen?“, erkundigte er sich und blickte auf den Infusionsbeutel, der hoch oben an einem Gestell neben der Liege befestigt war. Ja, so langsam kam die Erinnerung wieder. Das vollkommen zerstörte Restaurant, bei dessen Anblick es ihn schier umgehauen hatte. Einfach so.

„Dich hat es ordentlich aus den Latschen gekippt, mein lieber Schwiegerpapa“, erklärte der junge Arzt und lächelte. Doch wie konnte der in diesem Moment lächeln?

Wenn Martins Kopf noch richtig funktionierte, wovon er einmal ausging, und wenn er sich das, was da passiert war, nicht eingebildet hatte, dann bestand hier und jetzt gerade kein Grund, doof zu grinsen.

„Wat is denn mit dem Rudi? Warum hat dat denn bei dem im Imbiss gebrannt?“, hakte er deshalb erst einmal nach.

Das mit ihm selbst war vermutlich nicht so schlimm. Ansonsten läge er nämlich nicht hier auf der Liege in Jans Praxis, sondern wäre bereits mit dem Heli ins Krankenhaus gebracht worden. Oder er läge auf dem Friedhof. Wobei da ja nur eher selten noch mal einer wach wurde. Er war, so wie es den Anschein hatte, dem Teufel ein weiteres Mal von der Schippe gesprungen.

„Was mit dem Rudi ist, kann ich nicht sagen. Aber wir sollten doch erst einmal schauen, was mit dir los ist“, erwiderte sein Schwiegerdoktor.

„Mir geht dat wieder blendend. Und ich müsste dann jetzt auch mal wieder los“, antwortete er, versuchte sich zu erheben und bemerkte in diesem Moment, wie es ihm wieder schwindelig wurde.

„Nein, nein, du bleibst mal noch ein bisschen liegen, bis dein Kreislauf sich wieder stabilisiert hat. So eine plötzliche Ohnmacht, die sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen“, meinte der junge Arzt und begann dann damit, Martins Blutdruck zu messen. Dass er ein solches Messgerät am Arm trug, hatte Martin bislang überhaupt nicht mitbekommen.

„Aua, dat drückt aber“, beschwerte er sich sogleich.

„Papa, jetzt stell dich nicht so an und hör auf das, was Jan dir sagt“, antwortete allerdings nun nicht sein Schwiegerdoktor, sondern eindeutig die Stimme seiner Tochter Gina Marie, die wie im Kasperletheater hinter der Schulter ihres Mannes auftauchte.

„Mariechen, mir fehlt doch nix. Ich hatte mich nur erschrocken“, wehrte er mit seiner Linken ab, an der immer noch der Schlauch mit der Infusion hing.

„Ist es wieder sein Herz?“, ging das Mädchen allerdings gar nicht auf ihn ein, sondern sprach stattdessen mit Jan Martin über ihn.

Martin kam sich wahrlich vor wie bei einem Tierarzt. Da unterhielt sich der Doktor auch eher selten mit dem Patienten, sondern zumeist mit dessen Herrchen und Frauchen.

Apropos Tierarzt! Hektisch begann er sich umzusehen. Er entdeckte Lumpi direkt neben seiner Liege. Der brave Vierbeiner lag dort und beobachtete ihn aufmerksam.

Seine Gedanken schweiften allerdings augenblicklich wieder zu Rudi und dessen Restaurant. Hoffentlich war dem alten Freund nichts Schlimmes passiert. Der hatte heute Morgen bereits früh anfangen wollen, alles für die große Eröffnung vorzubereiten. Es musste ja schließlich alles frisch auf den Tisch.

Das mit der Currywurst zum zweiten Frühstück würde Martin sich abschminken können. Das war ihm schon sonnenklar. So wie Der Kölsche Himmel II vorhin ausgesehen hatte, war die Arbeit der letzten Wochen für die Katz gewesen. Alles futsch! Vermutlich auch die frische Wurst, die Rudi erst gestern durch den Wolf gedreht hatte. Wobei die ja im Kühlhaus hinter der großen Edelstahltür gelegen hatte. Da bestand zumindest die Hoffnung, dass sie heile geblieben war.

„Nein, sein Herz schlägt so, wie es soll. Das EKG war unauffällig. Ich denke mal, es ist wirklich nur eine Kreislaufschwäche gewesen. Vielleicht wegen des Schocks. Er ist ja nun auch nicht mehr der Jüngste“, hörte Martin seinen Schwiegersohn sagen.

„Wer ist hier nit mehr der Jüngste? Ich glaub, ihr habt einen an der Klatsche. Ich bin im besten Alter. Außerdem kann ich hören, wat ihr sagen tut“, beschwerte er sich und begann erneut damit, sich aufzurichten. Diesmal klappte es. Zwar war ihm immer noch ein wenig duselig, aber das würde schon werden. Martin brauchte Antworten, und die würde er weder von seinem Schwiegersohn noch von seiner Tochter erhalten.

„Eieieieiei, das ist ja eine schöne Bescherung“, stellte Inselpolizist Onno Feddersen fest, als er nach Beendigung der Löscharbeiten durch den Eingang in das völlig zerstörte Haus blickte.

Von dem feinen Restaurant, welches er erst am gestrigen Abend mit seinem Freund Martin besichtigt hatte, war so gut wie nichts übrig geblieben. Da wo vortags noch neue Stühle und Tische gestanden hatten, waren jetzt lediglich noch verkohlte Reste selbiger zu sehen.

„Irgendwie bringt der Laden seinen Besitzern kein Glück“, fand die Kollegin Lotta Dönges neben ihm.

„Wie meinst du das?“, verstand er nicht.

„Na, wer hier schon alles drin war und pleitegegangen ist. Kannst du dich noch an diesen japanischen Koch mit seiner Frau erinnern? Das war damals mein erster Fall auf der Insel“, half sie ihm auf die Sprünge.

„Stimmt! Hier war ja damals dieser Japaner drinnen. Der mit den Kugelfischen“, fiel es auch Onno nun wieder ein.

„Genau, danach ein Chinese, ein Italiener und zuletzt ein Grieche“, zählte sie auf.

„Ja, der Grieche hatte ein wunderbares Gyros. Sau-lecker. Schade, dass der arme Kerl verstorben ist. Apropos verstorben, meinst du, wir müssen in diesem Fall die Kripo verständigen?“, fragte er an Lotta gewandt.

„Natürlich müssen wir die verständigen. Es könnte immerhin ein Verbrechen vorliegen. Die Bude fliegt ja nicht von alleine in die Luft“, ereiferte sich seine Kollegin.

Aus den Trümmern kamen ihnen nun zwei Männer der Feuerwehr mit schwerem Atemschutz entgegen.

„Und, könnt ihr schon sagen, was die Ursache für den Brand und die Explosion war?“, erkundigte sich Onno bei den Kerls.

„Nein. Das kann vermutlich nur ein Experte feststellen. Aber wir haben den Besitzer gefunden“, antwortete der Größere der beiden und klang mit seiner Maske vor dem Gesicht ein wenig wie dieser Darth Vader aus „Krieg der Sterne“.

„Und was sagte er? Wie konnte das passieren?“, hakte Onno nach, merkte aber bereits, bevor er den Satz vollendet hatte, dass seine Frage vermutlich ziemlich dumm gewesen war. Wenn die Burschen mit den Masken ihn im Lokal gefunden hatten, dann würde der vermutlich gar nichts mehr sagen können.

„Der sagt gar nix mehr … Weil der nun mal ziemlich tot ist“, unterrichtete ihn wie befürchtet der Kleinere und riss sich die Maske vom Gesicht. Erst jetzt erkannte Onno, dass es sich bei dem Mann um Fredy Wilhelmsen handelte. Aber wie hätte er den Besitzer der Fahrradvermietung auch unter dem Atemschutzgerät erkennen sollen?

„Ohhh … das ist jetzt aber nicht gut“, fiel Onno darauf nur ein.

„Nee, das is vor allem für den, der tot is, ziemlich kacke, wenn du mich fragen tust“, fand auch Fredy.

Kapitel 2

Donnerstag, 16. Mai 2024, 9:10 Uhr

Kriminalinspektion Betzdorf/Westerwald

Kriminaloberkommissar Thomas Kübler saß an seinem Schreibtisch und blickte an seinem Monitor vorbei auf den Kirchturm von St. Ignatius. Es war ruhig derzeit in der Dienststelle: kein Mord, kein Totschlag. Alles bestens. Auch die Tatsache, dass heute der letzte Tag vor seinem Urlaub war, sollte ihn eigentlich fröhlich stimmen. Doch das war er nicht. Schuld an seiner misslichen Lage war seine ihm angetraute Alexandra.

Sie beide waren seit nunmehr dreizehn Jahren ein Paar. Davon zwölf Jahre verheiratet. Ihre Ehe würde er als äußerst harmonisch bezeichnen. Zwei Kinder, zwei Hunde, zwei Autos, zwei Häuser. In dem einen lebten sie, das andere war vermietet und bildete einen Teil ihrer Altersversorgung. Er und Alex liebten sich noch immer genauso wie damals, als er mit ihr zusammengekommen war. Doch genau da lag das Problem!

Seine bessere Hälfte hatte es sich in den Kopf gesetzt, noch einmal zu heiraten. So richtig mit einer tollen Zeremonie, in einem tollen Kleid und mit allem Brimborium, welches man sich vorstellen konnte. Einfach nur so, um ihr Ehegelöbnis noch einmal zu erneuern. Prinzipiell ein toller Gedanke.

Damals vor zwölf Jahren hatte es Alex nicht schnell genug gehen können. Sie waren aus einer Laune heraus zum Standesamt marschiert, hatten das Aufgebot bestellt und waren bereits sieben Tage später Mann und Frau. Ohne Brautkleid, ohne einen teuren Anzug und ohne Party. Einfach so in Jeans und Turnschuhen. Mit ihren besten Freunden Nina und Klaus, die als ihre Trauzeugen fungierten, und seiner Mama waren sie im Anschluss an das Standesamt noch auf eine Pizza zum Italiener nach Gebhardshain gefahren. Okay, so im Nachhinein gesehen war das schon alles recht spartanisch abgelaufen. Doch sie waren noch immer glücklich zusammen, und das zählte doch.

Ein Freund von Thomas hatte vor Jahren auf einem Schloss geheiratet. So eine richtige Märchenhochzeit, die vermutlich das Geld für einen neuen Mittelklassewagen verschlungen hatte. Drei Monate später war Schluss mit lustig und die frisch Getrauten beide wieder Single. Von diesen Beispielen könnte er noch etliche aufzählen. Seine Erfahrungen sagten ihm: Je pompöser die Party, umso kürzer hatte das Ganze gehalten.

Aber nun gut! Das war eigentlich nicht sein Problem. Er würde seine Alex auch noch Hunderte Male immer wieder heiraten.

Im August letztes Jahr waren sie beide in Neapel gewesen. Dort hatten Alexandras Freundin Sarika und Küblers Kollege Marcelo sich das Jawort gegeben.

Seine Alex hatte während der gesamten Messe geflennt. Vor Rührung und weil es ja ach so schön war.

An diesem Tag war ihr die Idee gekommen.

„Mausbär“, hatte sie gesagt, „wir beide sollten auch noch einmal ganz groß heiraten.“

Thomas musste ihre Euphorie dann allerdings ein bisschen bremsen. Weder er noch sie waren Mitglied in irgendeiner Glaubensgemeinschaft. Einen Pfarrer zu finden, der sie kirchlich traute, könnte da eher schwierig bis unmöglich werden.

Da seine Frau handfesten Argumenten gegenüber eher unaufgeschlossen war, hatte sie das Thema nicht ruhen lassen.

Überübermorgen, am Pfingstsonntag, würde es nun so weit sein.

Hochzeit von Alexandra und Thomas Kübler die Zweite.

Nicht in einer Kirche. Nein. Auch nicht auf einem Schloss. Nein, das wäre alles viel zu einfach gewesen. Es hatte unbedingt ein Schiff sein müssen. Genauer gesagt, die ANNE II. Ein zu einem Ausflugsschiff umgebauter Krabbenkutter.

Thomas hasste Schiffe und Boote. Wobei hassen vielleicht nicht das richtige Wort war. Panik … ja, Panik würde es besser treffen. Die ANNE II gehörte Kapitän Krischan Dönges. Der war der Ziehsohn von Annemarie Hansen und Martin von Schlechtinger, zwei mittlerweile sehr guten Freunden von ihm und Alex.

Krischan würde mit ihnen und der gesamten Hochzeitsgesellschaft von der Insel Langeoog aus hinaus auf die Nordsee fahren und auf hoher See in einer feierlichen Zeremonie ihr Ehegelöbnis erneuern. Für Thomas ein absoluter Albtraum.

„Ach, Mausbär, man kann sich auch anstellen. Das wird toll“, hatte Alexandra all seine Bedenken einfach beiseitegewischt.

Dass ein Thomas Kübler und das Wasser nicht zusammenpassten, hatte er zum ersten Mal in der fünften Klasse bemerkt. Schulausflug ins Sauerland. Mit dem Bus nach Attendorn zur Atta-Höhle. Der kleine Thomas war begeistert gewesen von dem unterirdischen Labyrinth mit den Tropfsteinen. Anschließend eine Dampferfahrt auf dem angrenzenden Biggesee. Das Geläster seiner Schulkameraden, als er während der kompletten Fahrt mit dem Kopf über der Reling die Fische fütterte – das würde er niemals vergessen. Verdammt, war es ihm damals dreckig gegangen. Jedes Mal, wenn Thomas fortan auch nur einen Fuß auf irgendein schwimmendes Fortbewegungsmittel gesetzt hatte, das gleiche Drama. Ob mit seinen Eltern auf dem Königsee, mit Ingo Molly von der Jugendpflege beim Kanufahren auf der Lahn. Jedes Mal wurde ihm innerhalb von Minuten kotzübel. Hinzu kam, dass er nicht wirklich schwimmen konnte. Gut, er besaß das Seepferdchen und konnte im flachen Pool einige Züge über Wasser bleiben. Doch das war es dann auch.

Wie also bitte schön sollte er am kommenden Sonntag auf einem ehemaligen Krabbenkutter irgendwo in den Weiten der Nordsee heiraten? Das Ganze war ein einziges Dilemma.

Klar, er könnte zu Hause ein Machtwort sprechen und den Urlaub samt der Hochzeit absagen. Doch wie stände er dann da? Freunde, Familie, sie alle fuhren über das verlängerte Pfingstwochenende nach Langeoog, um mit ihnen zu feiern. Die Ferienwohnungen waren seit Langem gebucht. Das Essen bestellt und das Schiff gechartert. Wenn er jetzt kniff, würde Alex ausflippen. Bei ihr gab es seit Wochen kein anderes Thema mehr. Sie hatte sich sogar extra ein neues sündhaft teures Kleid gekauft.

Okay, vielleicht war er an alldem auch ein bisschen selbst schuld. Weil, erzählt hatte er bisher weder Alex noch sonst irgendjemandem von seiner Schiffsphobie. Auch die Tatsache, dass er nicht richtig schwimmen konnte, war außer ihm selbst niemandem bekannt.

Er hatte es bisher immer geschafft, dieses Thema geschickt zu umschiffen. Welcher erwachsene Kerl gab schon gerne zu, dass es ihm bereits auf Gewässern wie dem Biggesee, dem Königssee oder gar der Lahn speiübel wurde? Keiner!

Kurz hatte er erwogen, Alexandra reinen Wein einzuschenken, den Gedanken dann aber doch wieder verworfen.

„Kübler, du bist voll am Arsch“, flüsterte er und sah auf die Uhr über der Bürotür. Keine sieben Stunden bis zum Feierabend. Morgen früh um vier sollte es dann losgehen. Thomas hoffte, um die frühe Stunde zügig durch Lüdenscheid zu kommen, wo sie seit Jahren die A45 gesperrt hatten. Ob er die Eröffnung der neuen Autobahnbrücke noch erleben würde? Gelegentlich zweifelte er daran.

Irgendetwas musste ihm einfallen! Für die Überfahrt mit der Fähre würde er sich gleich in der Mittagspause mit allem eindecken, was es in der Apotheke gegen Reisekrankheiten gab. Morgen früh würde er nüchtern bleiben und erst etwas essen, wenn sie auf der Insel waren. Wenn nichts im Magen drin war, konnte ihm auch nichts hochkommen. Zumindest hoffte er dies.

„Puhhh … Man könnte meinen, es gäbe kein Morgen mehr“, sinnierte Annemarie Hansen, während bereits erneut das Telefon klingelte. Heute war wieder einer dieser Tage, die niemand brauchte. Wie immer, wenn es auf eines der langen Wochenenden zuging, stand das Telefon nicht mehr still. Ständig meldeten sich Gäste … oder eher solche, die es noch gerne werden würden, um nach freien Zimmern oder Ferienwohnungen zu fragen. Dabei waren sie bereits seit Monaten ausgebucht. Nur vereinzelt bestand noch die Chance, eine Bleibe für ein paar Tage im Spätsommer oder im frühen Herbst zu ergattern. Kurzfristig für sofort ging da gar nichts mehr. Zumindest so gut wie. Das Einzige, was sie ihren Kunden derzeit noch anbieten konnte, war ein freies Haus am Dorfrand, das einem sehr betuchten Kunden aus dem Ruhrgebiet gehörte. Spätestens wenn sie den potenziellen Mietern allerdings den Mietpreis nannte, wollte die Bude niemand mehr haben. Annemarie hatte das Gefühl, dass der Besitzer einen solch hohen Mietpreis nur verlangte, weil er eigentlich gar nicht vermieten wollte. Nein, der schrieb bei der Steuer munter die Verluste ab und würde das Haus irgendwann wieder gewinnbringend verkaufen. Für Immobilienpreise gab es auf der Insel nämlich nur eine Richtung. Nach oben! Anders konnte sie sich diesen Wucher nicht erklären.

Während sie der Dame am Telefon freundlich Auskunft gab, blickte sie zur Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Es war bereits nach neun, und sie hatte immer noch nichts von Martin gehört. Hoffentlich war wirklich alles in Ordnung mit ihm. Jan hatte gemeint, dass es sich nur um einen kleinen Schwächeanfall, ausgelöst durch den Schock, handele. Dennoch war Annemarie total beunruhigt.

„Hallo Anne“, hörte sie die Stimme ihrer Angestellten und mittlerweile auch Stieftochter Gina Marie Bechersheim sagen.

„Hören Sie, Frau Wittinger, es tut mir wirklich leid, aber wir sind vollkommen ausgebucht. Wiederhören“, fertigte sie hastig die Dame mit dem eindeutig schwäbischen Akzent ab und legte dann einfach auf. Einem Schwaben das Luxushaus anzubieten, war totaler Unsinn. Dieses Völkchen war nämlich noch sparsamer als die Schotten.

„Und, Liebes? Wie geht es Martin?“, musste sie außerdem jetzt unbedingt wissen, ob es etwas Neues von ihrem Mann gab.

Gina Marie ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken und winkte lächelnd ab.

„Papa ist schon wieder ganz der Alte. Der hat so lange rumgemeckert, bis Jan ihm die Infusionsnadel entfernt hat, und ist dann schnurstracks aus der Praxis marschiert“, seufzte sie.

Annemarie blickte zur Eingangstüre, wo aber weder ein Martin noch sonst jemand zu sehen war.

„Ja, und wo ist er jetzt?“, fragte sie daher bei ihrer Stieftochter nach.

Gina Marie hob die Schultern und verdrehte theatralisch die Augen.

„Keine Ahnung. Aber ich würde wetten, der ist wieder zum Kölschen Himmel … oder dem, was davon noch übrig ist.“

Annemarie schloss die Augen und ballte ihre Faust. Wäre dieser Rudi doch besser nie auf der Insel aufgetaucht! Überhaupt konnte sie nicht verstehen, wie Martin mit diesem liederlichen Zeitgenossen klarkam. Rudi Rattinger war, wie es sein Spitzname schon sagte, eine hinterlistige Ratte. Der Kerl war niemandem ein Freund außer sich selbst. Der nutzte Martin schamlos aus, und dieser merkte es noch nicht einmal.

Bestimmt würden die beiden bereits zusammenhocken und Pläne schmieden, wie sie diesen vermaledeiten Imbiss wieder klar Schiff bekamen.

Annemarie hatte es in den letzten Wochen gemieden, das Thema Kölscher Himmel zu Hause bei Martin anzusprechen. Er schwärmte davon. Sie selbst konnte dieser Lokalität nichts abgewinnen. Da waren Ärger, Zank und Streit vorprogrammiert. Da sie aber keine Lust hatte, sich mit Martin zu streiten, schaltete sie einfach auf Durchzug, wenn er wieder einmal davon erzählte. Dies war zwar nicht die feine Art, aber, wie sie fand, die nervenschonendste.

Doch noch einmal würde sie dieses Theater nicht mitmachen. Es ging nicht, dass ihr Gatte Hunderte von Arbeitsstunden in diesen Laden steckte. Nein, jetzt war Schluss. Kein Mensch benötigte einen Imbiss mit rheinischen Spezialitäten auf einer Insel mitten in der Nordsee. Außer natürlich Martin und dieser Hallodri Rudi Rattinger.

„Wirklich leiden konnte ich den Onkel Rudi ja nie. Aber so einen Abgang gönnt man trotzdem niemandem“, meinte Gina Marie und riss Annemarie damit aus ihren Gedanken.

„Ähm, wie meinst du das, so einen Abgang gönnt man ja niemandem?“, hakte Annemarie noch einmal nach, da sie ihrer Stieftochter gerade überhaupt nicht folgen konnte.

„Na ja, so wie bei Rudi. Den hat es ja förmlich total zerfetzt“, antwortete sie.

„Wie … Was … Der Rattinger ist tot? Ist das sicher?“, war Annemarie nun total erstaunt.

„Ja, also zumindest sagt das Lotta. Die hat nämlich eben bei Jan in der Praxis angerufen und ihn gebeten, vorbeizukommen, um den Totenschein auszustellen“, erwiderte die junge Frau.

Annemarie war für einen Moment sprachlos. Die Nachricht war zugleich ein Schock und eine Erleichterung.

Ja, es war schlimm, wenn ein Mensch auf so tragische Weise aus dem Leben gerissen wurde, dennoch fühlte sie gerade so etwas wie Genugtuung. Rudi Rattinger war tot und Der Kölsche Himmel II somit ein für alle Mal Geschichte. Ein Problem weniger. Ein Gedanke, für den sie sich sogleich schämte. Martin würde am Boden zerstört sein, wenn er davon erfuhr.

„Sag mal, Liebes, kann ich dich mal ein halbes Stündchen alleine lassen? Ich muss mal sehen, wie es deinem Papa geht“, fragte sie und schnappte sich dann, ohne eine Antwort abzuwarten, ihre Jacke von der Garderobe.

„Nä, dat kann doch nit sein?“, stammelte Martin, als Onno ihm berichtete, was die Feuerwehrleute im Inneren des Imbisses vorgefunden hatten.

„Doch, Martin, ich habe die Leiche selbst vorhin mit Lotta in Augenschein genommen“, erklärte der Inselpolizist und klang dabei noch ernster, als er es ansonsten ohnehin schon war.

„Aber wie kann denn so wat passieren tun? Wat is denn da so schlimm explodiert? Dat gibt dat doch nit“, verstand er das Ganze immer noch nicht. So ein Gebäude flog ja in der Regel nicht einfach so in die Luft.

„Die Jungs von der Feuerwehr gehen davon aus, dass es sich um eine Gasexplosion handelt. Vielleicht ein Leck an der Gasleitung. Das muss ich dir als Installateur wohl nicht erklären“, meinte Onno und guckte nun irgendwie merkwürdig.

„Nä, dat kann nit sein. Dat wurde von mir höchstpersönlich alles erneuert und auf dat Sorgfältigste überprüft“, musste Martin jetzt erst einmal klarstellen.

„Das mag wohl sein. Aber auch ein Martin von Schlechtinger kann mal einen Fehler machen. Menschen machen Fehler, und dann passieren nun einmal solche Unfälle“, erwiderte der Inselpolizist.

Martin glaubte sich verhört zu haben.

„Wat willst du damit sagen tun, ming Fründ? Willst du sagen tun, dat ich schuld bin, dat Der Kölsche Himmel II in die Luft geflogen is? Ich glaub, du spinnst“, ereiferte er sich nun.

„Vorsicht, Herr von Schlechtinger, Sie sprechen hier immer noch mit einer Amtsperson“, kam Onno ihm jetzt auch noch auf die ganz blöde Tour.

„Amtsperson? Sag ma, haben die dir den Scheitel mit dem Teppichklopper gezogen?“, schrie Martin nun beinahe schon.

Onno blickte sich hilfesuchend um und deutete dann auf Willi Bogner, der gerade mit einem der Feuerwehrleute aus der Eingangstüre des zerstörten Imbisses trat.

„Moin Maddin. Geht’s wieder?“, fragte der nun.

„Moin Willi. Wieso … wat meinst du, wat hier wieder gehen soll? Hier geht ja mal gerad gar nix“, verstand Martin nicht, was der jetzt meinte. Weil, dass hier etwas gar nicht ging, war ja nun einmal sehr offensichtlich. Der Kölsche Himmel II war nur noch ein Trümmerhaufen, sein Kumpel Rudi tot, und sein bester Freund Onno behauptete, Martin sei schuld an dieser Katastrophe.

„Lotta meinte vorhin, du hättest einen Zusammenbruch gehabt und wärest kollabiert.“

„Ich? Kolladingenst? Nä. Mir geht dat blendend … wenn man mal von dem ganzen Drama hier absehen tut“, stellte Martin klar.

Dass die immer alle so übertreiben mussten! Da fiel man mal kurz in Ohnmacht, und die quasselten, als stände man bereits mit einem Bein im Grab.

„Auf alle Fälle müssen wir meine Kollegen von der Kripo verständigen, dass die sich das ansehen“, sagte Willi nun.

„Ehemalige Kollegen, mein lieber Willi. Ehemalige“, erinnerte Onno den alten Kriminalbeamten im Ruhestand an diese unumstößliche Tatsache.

„Meinte ich doch“, grinste Willi.

Martin war nicht zum Grinsen zumute. Das alles war eine Tragödie. Sein alter Kumpel Rudi war tot. Könnte er, Martin, eventuell doch einen Fehler bei der Installation der Gasleitungen und dem Anschluss von Grill und Herd gemacht haben? Nein, so etwas war ihm doch noch nie passiert. Wobei Onno schon recht hatte. Menschen machten gelegentlich Fehler. Was, wenn er doch einen Fehler gemacht hatte? Je länger er darüber nachdachte, umso mehr wuchsen die Selbstzweifel in ihm. Er musste das klären. Aber wie? Der Kölsche Himmel II war, soweit er dies von hier aus sehen konnte, Schutt und Asche. Da würde die Spurensuche schwierig.

„Ich muss dat jetzt mit eigenen Augen sehen tun“, sagte er deshalb entschlossen und setzte sich in Bewegung.

„Halt! Hiergeblieben!“, hörte er Onno hinter sich rufen, doch Martin setzte seinen Weg unbeirrt fort.

Glas und Steinbröckchen knirschten unter seinen Schuhen, als er das zerstörte Lokal betrat. Trotz des Windes, der durch das nun fensterlose Gemäuer pfiff, lag der Geruch nach Verbranntem in der Luft. Von der Decke im großen Gastraum hing die Vertäfelung herab. Ein Teil davon lag auf dem Boden. Obgleich die Wände schwarz vom Ruß waren, schien es hier nicht gebrannt zu haben. Überall lagen umgestürzte Stühle, Bänke und Tische wild durcheinander. Einige der Möbelstücke waren sogar noch heil geblieben. Doch er hegte arge Zweifel, ob man diese noch einmal sauber und geruchsfrei bekam. Brandgeruch war etwas sehr Hartnäckiges.

Die Theke, hinter der es zur Küche im hinteren Teil des Gebäudes ging, hatte es umgehauen. Ebenso die Wand zwischen dem Gastraum und der Kombüse.

„Martin, du bist jetzt vernünftig und verlässt unverzüglich den Tatort“, hörte er Willi sagen.

Martin antwortete nicht, sondern stieg über die Trümmer der Theke. Der Explosionsherd, das erkannte er sofort, musste sich in der Küche direkt an der Wand zum Gastraum befunden haben. So ziemlich genau an der Stelle, an der sich die große Grillfläche befunden hatte, war nun ein großes Loch.

Martin stolperte weiter in den hinteren Teil des Lokals und wäre beinahe auf den schwarzen, verkohlten Leib getreten, der plötzlich vor ihm zwischen undefinierbarem Schutt auf dem Boden lag.

„Meine Jüte. Nä … dat kann doch nit wahr sein“, stieß er beim Anblick des zerfetzten, pechschwarzen Körpers aus. Es war wahrlich schwer vorstellbar, dass es sich bei diesem unförmigen Klumpen Fleisch um einen Menschen handelte. Noch nicht einmal einen Kopf gab es mehr, dort, wo der hätte sein sollen.

„Ja, den hat es total zerfetzt. Die Arme und einen Teil des Oberkörpers samt Kopf haben sie noch gar nicht gefunden“, meinte Onno, der nun neben ihn trat und ihn am Arm fasste.

„Onno, dat war keine Gasexplosion“, war Martin sich beim Anblick der Szenerie sicher.

„Na, was soll es denn sonst gewesen sein? Vielleicht das Fett aus der Fritteuse?“, fragte Onno und zog nun an ihm.

Martin schüttelte sich und streifte Onnos Hand von seinem Ellenbogen hinfort.

„Nä, Onno. Dat war eine Bombe. Die is hier direkt am Grill oder der Fritteuse explodiert und hät den Rudi zerrissen. So sieht keine Gasexplosion aus“, erklärte Martin ihm.

„Eine Bombe? Quatsch, Martin. Das ist doch Unsinn. Wer sollte denn hier im Lokal eine Bombe legen?“, glaubte der Polizist ihm kein Wort.

„Onno, bei Gas sieht dat ganz anders aus. Dat Gas strömt aus und verteilt sich gleichmäßig in der kompletten Küche und sogar darüber hinaus durch die ganze Bude. Wenn dat dann zündet, dann is dat eine riesengroße Entzündung im ganzen Raum oder Haus. Dat hier war aber eine Explosion … quasi auf den Punkt“, versuchte er dem Polizisten zu erklären.

„Das ist Unsinn, Martin. Aber ich verstehe dich ja. Du fühlst dich schuldig und suchst nach Argumenten, die dich entlasten“, kapierte Onno wie so oft wieder gar nichts. Martin blickte zu der Kühlraumtür. Diese war zwar stark eingedrückt, schien aber ansonsten noch ziemlich intakt zu sein.

Gina Marie mochte die Arbeit in der Ferienhausvermietung von Annemarie Hansen. Mehr noch. Sie konnte sich an keine Zeit in ihrem bisherigen Leben erinnern, in der es ihr so gut gegangen war wie seit dem Tag, als Annemarie ihr den Job in ihrem Büro angeboten hatte. Wobei, nein, eigentlich hatte die positivste ihrer bisherigen Lebensphasen bereits in dem Moment begonnen, als sie ihren Fuß auf diese Insel setzte und prompt ihrem verschollen geglaubten Papa Martin über die Füße lief. Damals war es Gina Marie wahrlich mies gegangen. Sie hatte sich auf der Flucht vor ihrem damaligen Lebensgefährten Hasan, dessen Schergen und auch der Polizei befunden. Gina Marie war nach Langeoog gekommen, um sich zu verstecken, und hatte hier mehr gefunden, als sie sich jemals erträumt hätte. Die Insel war zu ihrem Zuhause geworden, und sie konnte sich kein schöneres als dieses vorstellen.

„Hallo Mama“, riss die Stimme ihrer Tochter Hannah Gina Marie aus ihren Gedanken.

„Hallo Maus, wo kommst du denn her? Solltest du nicht in der Schule sein?“, grüßte sie verwundert zurück.

„Ja … Nee … wir haben frei bekommen. Die Frau Hülse musste zu der Beerdigung ihres Bruders. Hatte ich dir aber gestern schon gesagt“, erklärte die Zehnjährige belustigt.

Gina Marie nickte. Ja, dass der Bruder von Frau Hülse verstorben war, hatte sie mitbekommen. Gekannt hatte sie den Mann nicht, obwohl dieser offiziell auf der Insel gewohnt hatte und sogar ein Patient von Gina Maries Mann gewesen war. Sie kannte noch nicht einmal den Namen des Mannes. Angeblich war der Lastwagenfahrer gewesen und kurz vor Hamburg in seinem Lastwagen eingeschlafen. Zumindest konnte sich die Polizei die Kollision mit dem Brückenpfeiler nicht anders erklären. Eine wirklich schlimme Sache.

„Und jetzt bist du gekommen, um mir Gesellschaft zu leisten?“, riet Gina Marie und betrachtete das Kind. Hannah war groß geworden. Gina Marie hatte sogar das Gefühl, dass sie alleine in den letzten paar Wochen um einige Zentimeter in die Höhe geschossen war. Die Ärmel ihres Kapuzenshirts und auch die Hosenbeine waren viel zu kurz. Die Klamotten würde Gina Marie bei der nächsten Wäsche aussortieren, obgleich sie die erst im Frühjahr neu gekauft hatte.

Hannah schüttelte ihren blonden Wuschelkopf.

„Nee, ich wollte nur eben schnell meinen Ranzen abstellen und dann mit Frida und Gerte an den Strand.“

„An den Strand … Ja, da wäre ich jetzt auch lieber“, lachte Gina Marie und beobachtete, wie ihre Tochter sich des Ranzens entledigte und ihn neben Lumpis Hundekörbchen in die Ecke pfefferte. Das Kind kam eindeutig nach ihr. Gina Marie war auch nie wirklich pfleglich mit ihren Schulsachen umgegangen. Wobei man Hannah zugutehalten musste, dass diese im Gegensatz zu Gina Marie weitaus bessere Schulnoten nach Hause brachte. Gina Marie hatte es damals sogar geschafft, ihren Schulabschluss zu vergeigen. Nicht weil sie zum Lernen zu dumm gewesen wäre. Nein, bei ihr hatte es schlichtweg an der nötigen Motivation gelegen. Sie hatte auf Schule einfach keinen Bock gehabt und sich zu der Zeit lieber mit ihren Freundinnen in Köln herumgetrieben.

Hannah hingegen war schon unglücklich, wenn sie mal nur eine Zwei mit nach Hause brachte. Wahrlich eine kleine Streberin. Gina Marie durfte gar nicht daran denken, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem Hannah die Insel verlassen musste, um auf dem Festland zu studieren. Langeoog bot Kindern wie ihr schulisch und beruflich keine großen Perspektiven. Hannah wollte, zumindest war dies der aktuelle Stand, Medizin studieren. Genau wie ihr Stiefvater Jan Martin, den sie vergötterte. Wobei Hannah später lieber mit und an Tieren arbeiten wollte.

„Wo ist denn Oma Annemarie?“, erkundigte sich Hannah nun bei ihr.

„Die sucht den Opa, dem geht’s heute nicht so gut“, antwortete Gina Marie.

„Ach so … Ja, ich weiß. Der Opa ist bestimmt traurig, weil der Onkel Rudi gestorben ist“, war das Kind besser informiert, als Gina Marie gedacht hätte.

„Woher weißt du denn, dass der Rudi gestorben ist?“

„Oh Mama … Das war heute doch DAS Thema in der Schule. Außerdem ist Fridas Papa doch bei der Feuerwehr“, seufzte die Zehnjährige und machte dabei wieder diese altkluge Schnute.

„Ach so. Das wusste ich gar nicht“, gab Gina Marie zu.

„Hm … Meinst du, die Oma Annemarie kommt gleich wieder?“, überlegte Hanna derweil.

„Wieso? Was willst du denn von ihr?“, war Gina Marie nun neugierig und beobachtete ihre Tochter dabei genau.

Hannah schien zu überlegen, was sie sagen sollte. Vermutlich war das, was sie mit ihrer Nennoma Annemarie zu besprechen hatte, nicht für Gina Maries Ohren bestimmt.

„Na, es ist ja, weil ich Krischan letztens beim Rasenmähen und mit der Hecke geholfen habe. Die Oma meinte, dass ich da noch was für bekomme“, rückte sie nun doch mit der Sprache heraus.

„Brauchst du Geld?“, kam Gina Marie ein Gedanke.

Hannah nickte.

„Wofür?“

Das Mädchen verdrehte genervt die Augen.

„Nur so. Für ein Eis und was zu trinken“, behauptete Hannah, und Gina Marie hatte sogleich das Gefühl, dass Hannah sie anflunkerte.

Dennoch griff sie nach ihrer Handtasche unter dem Schreibtisch, entnahm das Portemonnaie, fischte einen Fünfeuroschein heraus und hielt ihn Hanna hin.

„Fünf Euro? Für einen ganzen Nachmittag Rasenmähen?“, maulte ihre Tochter.

„Nein, fünf Euro von mir für ein Eis und eine Flasche Wasser. Das mit dem Rasenmähen klärst du bitte selbst mit Oma Anne“, erwiderte Gina Marie.

„Mama, hast du schon mal etwas von Inflation gehört?“, meinte die Zehnjährige so ernst, dass Gina Marie nicht an sich halten konnte und lauthals zu lachen begann.

„Hallo Onno, hallo Willi, habt ihr Martin gesehen?“, erkundigte sich Annemarie Hansen bei den beiden Polizisten, die gemeinsam vor dem zerstörten Restaurant standen und sich leise unterhielten.

„Ja, der war bis vor fünf Minuten noch hier“, wusste Willi Bogner.

„Und wo ist er jetzt?“, hakte sie nach.

„Ja … das ist so eine Sache …“, druckste Onno herum und sah dabei fragend zu Willi.

„Martin ist vorhin ziemlich aufgebracht abgehauen …“, übernahm Willi wieder.

„Ja, das ist er! Und dabei hat er einige Beweisstücke mitgenommen“, unterbrach Onno ihn wieder.

„Was für Beweisstücke?“, interessierte es Annemarie. Dabei hoffte sie inständig, dass Martin in seinem vermutlich emotionalen Ausnahmezustand bloß keine Dummheiten gemacht hatte, die man ihm später zur Last legen könnte.

„Ja … wie soll ich es sagen? Es geht um die Wurst“, antwortete Onno.

„… und um das Bier“, fügte Willi an.

„Welche Wurst? Welches Bier?“, kapierte Annemarie immer noch nicht.

„Die Wurst und das Bier aus dem Kühlhaus“, antwortete Willi.

„Würdet ihr mir bitte in verständlichen und ganzen Sätzen einmal erklären, was los ist?“, drängte sie jetzt.

Die beiden Polizisten blickten sich an, dann begann Willi zu berichten. Und ja, diese Kerle waren wahrlich schlimmer als eine Horde Kindergartenkinder. Allesamt!

„Am besten, du rufst ihn mal an und fragst ihn, wo er steckt. Bei mir geht er nicht ran. Der Herr ist wohl ein wenig eingeschnappt“, schlug Onno vor, als Willi geendet hatte und Annemarie recht sprachlos war.

„Na toll … So schlau wie ihr war ich schon vorher. Ich versuche ebenfalls seit geraumer Zeit, ihn zu erreichen. Aber so wie es ausschaut, hat er das Gerät entweder auf lautlos gestellt oder es wieder irgendwo liegen lassen“, schnaufte sie und schwang sich dann, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, auf ihr Fahrrad. Sie musste Martin finden, bevor der noch mehr Unsinn anstellte. Und da sie nicht alleine die ganze Insel absuchen könnte, würde sie ganz einfach Lotta, Krischan und Onkel Piet fragen, ob die ihr dabei halfen. Es war wahrlich zum Haareraufen mit diesem Kerl. Sie würde jetzt erst einmal nach Hause fahren, um dort nachzuschauen. Immerhin bestand ja doch noch die Hoffnung, dass Martin dort war. Wobei sie ihm so viel vernünftiges Handeln mitnichten zutraute. Vermutlich war der wie so oft irgendwo am Strand unterwegs. Dieser war allerdings über vierzehn Kilometer lang. Die Suche glich da einer Nadel im Heuhaufen. Einer Nadel, die sich vermutlich auch noch vom Fleck bewegte. Martin würde bestimmt nicht wie angewachsen auf einer Stelle hocken. Was, wenn er in seinem Zustand auf die Idee kam, baden zu gehen? Nicht auszudenken, wenn ihn beim Schwimmen erneut ein Schwächeanfall ereilte. Nein, Annemarie musste wissen, wo Martin war und ob es ihm gut ging. Aber um ihn zu finden, brauchte sie Verstärkung.

Kapitel 3

Donnerstag, 16. Mai 2024, 11:23 Uhr

Krischans altes Bootshaus/Insel Langeoog

„Nä, Lumpi … wat is dat heut ein Driss“, fand Martin, blickte in Richtung Strand und kraulte dabei Lumpi hinter den Ohren.

Der Streit mit Onno und Willi vorhin war dabei nur noch das i-Tüpfelchen auf der Hitliste des Tageschaos gewesen.

Er, Martin, sollte schuld sein, dass es Rudi zerfetzt hatte. Okay, kurz hatte er es ja selbst geglaubt. Doch nachdem er die Schäden im Inneren des Gebäudes begutachtet hatte, war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei der Detonation am Morgen nicht um eine Gasexplosion gehandelt haben konnte. Martin hatte als Innungsmeister und Sachverständiger damals auch schon mal an Orten arbeiten müssen, wo es zu Gasverpuffungen gekommen war. So etwas sah ganz anders aus. Gas verteilte sich im Raum, verband sich mit Sauerstoff und kroch in jede Ritze, wo es dann auch explodierte. Hier war das anders, die Kraft der Detonation war von einem Punkt ausgegangen. Von dem Punkt, an dem die Sprengladung gezündet worden war. Außerdem roch man Gas, bevor es sich entzündete. Rudi war ein alter Gastronom. Der hatte seine Imbissgerätschaften bereits in Köln mit Gas betrieben. Der hätte es sofort bemerkt, wenn da irgendwo etwas ausgeströmt wäre. Nein, je mehr Martin über all das nachdachte, desto sicherer war er sich, dass es sich bei der Zerstörung des Kölschen Himmels II nur um einen Bombenanschlag handeln konnte. Irgendwer hatte den Imbiss in die Luft gejagt. Die Frage war nur, wer und warum? Wobei das ja eigentlich auch schon zwei Fragen waren, die dazu auch noch weitere Fragen aufwarfen. Was für ein Sprengstoff war benutzt worden? So etwas Explosives bekam man ja nicht an jeder Ecke. Wie war die Bombe gezündet worden? Da gab es diverse Möglichkeiten. Zum Beispiel per Funk, durch einen Berührungssensor wie zum Beispiel einen Draht oder einen Schalter. Oder gar mit einem Zeitzünder. Wollte der Bombenleger lediglich den Imbiss zerstören oder sollte Rudi von vorneherein mit in die Luft gesprengt werden?

Martin musste bei dem Gedanken an den alten Freund schlucken. Wobei sie beide ja eigentlich nicht wirklich Freunde gewesen waren. Nein, sie beide hatten nie Dinge unternommen, die Freunde so miteinander machten. Rudi war der Wirt von Martins Stammlokal gewesen. Dort war er hingegangen, wenn er Hunger hatte oder auch nur einmal Lust auf ein Kölsch. Im Gegenzug war Rudi auch jahrelang einer von Martins Kunden gewesen. Im Kölschen Himmel hatte keine andere Sanitärfirma auch nur eine Dichtung getauscht. Auch Martins Jungs hatten dort nie gearbeitet. Der Kölsche Himmel war immer Chefsache gewesen.

Martin beugte sich vor und wendete die Würstchen auf dem Grill, den sein Freund Krischan aus einem alten angespülten Ölfass gebaut hatte.